IMPRESSUM
Titel
Verdachtsmomente
Der zweite Fall von Giovanni und Co.
Autor
Carlo Schäfer
Titelbildmotive
Waldlichtung – © Denis Potschien/Fotolia.com
Wegweiser – © Klaus-Peter Adler/Fotolia.com
Illustrationen
Norbert Höveler
Verlag an der Ruhr |
Für Jugendliche ab 12 Jahre
Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwendung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.
© Verlag an der Ruhr 2010
E-Book ISBN 978-3-8346-3263-0
eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net
DIE HAUPTPERSONEN
Giovanni Sessa
15 Jahre, Hauptschüler, gut aussehend,
faul und ganz und gar nicht schüchtern.
Er lernt gerne Stadtpläne auswendig.
Maximilian Buchwald
15 Jahre, Gymnasiast, leidet an der Glasknochenkrankheit. Er kann sich sehr leicht etwas brechen. Damit ihm nichts passiert, muss er mit einem Gehwagen rumlaufen und kann manchmal Dinge, die andere Jugendliche tun, nicht mitmachen. Er lernt auch gerne Stadtpläne auswendig.
Suna Bart
15 Jahre, Hauptschülerin, die keine sein will.
Manchmal will Suna nicht einmal Suna sein – obwohl sie sich, seit sie Giovanni und Maximilian kennt, mittlerweile ein wenig mehr mag.
Suna findet nicht, dass sie eine Streberin ist.
Alle anderen schon.
KAPITEL 1
Giovanni, Suna und Maximilian mussten das dritte Mal umsteigen. Das war mit Maximilians Gehwagen eine mühselige Angelegenheit, auch für Giovanni, denn er trug Maximilians Tasche. „Sag mal, Massimo“, sagte er stöhnend, „du hast nicht zufällig ein paar Steinplatten dabei?“ „Du bist doch stark!“, rief Suna vergnügt.
„Kannst gerne helfen!“
MMM hieß der Verein: „Menschen mit Mut“. Vor ein paar Wochen war der Brief gekommen, an jeden Einzelnen von ihnen und auch gleich an die Schulen, Giovannis und Sunas Hauptschule und Maximilians feines Gymnasium.
Die Hauptschüler der achten Klasse waren dort immer noch „zu Gast“. Ihre Schule war im letzten Jahr abgebrannt.
Zunächst war ihre Geschichte ohne Namen in die Zeitungen gekommen, aber nach ein paar Wochen hatte sich das regionale Fernsehen gemeldet und sie interviewt, eine Zeit lang war das Interview sogar im Netz. So hatte der Verein sie gefunden.
„MMM veranstaltet seit Jahren kostenlose Freizeiten für junge Menschen, die mutig für andere einstehen“, hatte Lehrer Böttiger aus dem Brief vorgelesen und dabei Giovanni angeschaut, als habe er ihn schon immer für einen ganz besonders guten Menschen gehalten, dabei war das Gegenteil der Fall – und zwar gegenseitig.
„Natürlich“, hatte Böttiger dann gesagt, „werden Giovanni und Suna für Montag, Dienstag und Mittwoch vom Unterricht befreit. Am Donnerstag ist die Schule dann ja vorbei, und so kurz vor den Sommerferien läuft eh nichts mehr.“
Diese unerwarteten Ferientage hatten Giovanni überzeugt, mitzufahren. Außerdem waren seine Eltern stolz auf ihn, das kam nicht allzu oft vor. Große Lust hatte er dennoch nicht.
Mit Maximilian und Suna war es ja okay, aber er wurde das Gefühl nicht los, dass da eine Menge Streber sein könnten. Und der Ort sagte ihm gar nichts. Und es regnete.
Inzwischen hatten sie im Regionalzug Platz gefunden, das war nicht schwer gewesen, denn der Waggon war fast leer – bis auf drei geschniegelte Typen. Solche, die Giovanni sofort verabscheute, wahrscheinlich spielten sie Geige, Schach und Querflöte. Ihm fiel ein, dass Maximilian Querflöte spielte, er entschied, dass man mal eine Ausnahme machen kann. Dann fiel ihm noch was ein – nämlich, dass die drei Klassikbuben sehr wahrscheinlich dasselbe Ziel wie sie hatten. Er hatte es ja gewusst. Er seufzte. „Hört mal“, sagte Suna eifrig, die sich natürlich einen Reiseführer für die Gegend gekauft hatte. „Es finden sich Siedlungsreste aus römischer Zeit …“
„Halt’s Maul!“, rief Giovanni. „Ich mag keine Römer.“
Suna lachte: „Aber du bist doch Italiener!“
„Sizilianer.“
„Und ziemlich schlecht gelaunt. Was ist denn los?“, fragte Maximilian.
„Ach, Mann!“, Giovanni schlug gegen die Fensterscheibe. „Wenn ich rausgucke, sehe ich bloß Kühe! Beschissene Kühe! Und wenn ich nach vorne schaue, sehe ich dahinten drei Schwuchteltypen, die wahrscheinlich auch zu diesem MMM fahren … Wahrscheinlich haben die, was weiß ich gemacht. Hey!“, schrie er und stand auf. „Fahrt ihr auch zu der Scheißfreizeit?“ „Wieso?“, rief einer zurück. „Arbeitest du dort als Putzmann?“
„Ich geb’ dir gleich was zum Aufputzen!“, brüllte Giovanni und trat in den Mittelgang. Auch der andere Junge war aufgestanden und ging langsam auf ihn zu. Und wie er so näher kam, musste Giovanni einsehen, dass der Andere ziemlich groß und breitschultrig war. Aber gut, er trug das Hemd in der Hose, richtig gefährlich war er also nicht.
„Was habt ihr denn gemacht, dass ihr dahin geht?“, fragte der Große.
„Wir haben einen geistig Behinderten gerettet“, sagte Suna. „Und du?“
Immerhin, sie schien den Typen auch nicht zu mögen.
„Wir haben drei Mädchen aus dem Wasser gezogen, die beim Schlittschuhlaufen eingebrochen sind.“
„Herzlichen Glückwunsch!“, sagte Giovanni. „Drei zu eins!“
„Danke!“, sagte der Große. „Ich bin Lars.“
„Giovanni“, sagte Giovanni, auch die anderen beiden stellten sich vor.
„Ich würde da nicht drei zu eins sagen“, sagte Lars und machte ein kluges Gesicht. „Ist ja kein Fußball. Da gewinnt Italien ja tatsächlich öfters, wenn auch unverdient.“ Er wandte sich um: „Wir sehen uns!“
„So ein Idiot!“, murmelte Giovanni. „Wichser!“
„Na ja, er war doch eigentlich ganz nett!“, versuchte es Maximilian.
„Ganz nett!“ Giovanni schaute aus dem Fenster. „Schon wieder Kühe!“
Der Zug wurde langsamer.
„Ah, ja!“, Suna las wieder eifrig in ihrem Reiseführer. „Jetzt sind wir schon in …“
„Ich will nicht wissen, wo wir sind!“ Er fasste sich an den Kopf. „Und dafür habe ich eine Familienfeier abgesagt. Übermorgen fährt meine ganze Familie zum Siebzigsten von meiner Tante, alle sind da. Meine Cousins, alle. Drei Tage wird gefeiert!“
„Magst du deine Cousins denn plötzlich so gerne?“
„Nein, die meisten sind voll die Ochsen. Aber das wär’ besser als … nichts! Nichts! Hier ist nichts!“ Verzweifelt deutete er nach draußen, wo tatsächlich nur eine leere Plakatwand zu sehen war.
„Aber hier gibt’s …“
„Ist mir scheißegal!“
„Sag mal!“ Suna klappte den Führer wütend zu. „Du lernst doch immer Stadtpläne auswendig!“ „Stadtpläne!“, Giovanni musste sich beherrschen, um nicht gleich wieder zu brüllen. „Stadtpläne, aber keine Ackerpläne und …“, verzweifelt deutete er auf den leeren Bahnsteig. „Pläne von … von gar nichts!“
„Jetzt sei mal ruhig, sonst setz’ ich mich weg!“, auch Maximilian klang jetzt ziemlich genervt. „Dann vergiss deinen Porsche nicht“, zischte Giovanni und trat gegen den Gehwagen.
Giovannis Handy klingelte, er riss es aus der Hosentasche, klappte es wie ein Messer auf: „Ja? Moment!“ Er nahm das Handy vom Ohr und wandte sich an Suna und Maximilian: „Hat der Scheißzug Verspätung?“
Suna schaute aus dem Fenster auf die Anzeigentafel am Bahnsteig.
„Nein, wieso?“
Giovanni hob abwehrend die Hand und sprach wieder ins Handy. „Nein, hat er nicht. Und warum rufen Sie gerade mich an?
— Aha. —
Tschüss.“
Er steckte das Handy wieder ein. „Das war der von MMM, weil er uns abholen will.
Anscheinend sind nicht nur die Arschlöcher hier, sondern alle im Zug verteilt.“
„Und wieso?“, fragte Suna.
„Wahrscheinlich gibt es da in Arschbackenwalde keinen Flugplatz!“, sagte Giovanni.
„Nein, wieso hat er dich angerufen?“
„Ach so“, Giovanni gähnte. „Haben nicht alle ihre Nummer angegeben, da auf dem Anmeldezettel. Und dann hat er noch gesagt: ‚Bella Italia!‘ Der spinnt. Was ist, Massimo, bist du sauer wegen Porsche oder was?“
Maximilian antwortete nicht.
Sie fuhren schon wieder einige Zeit. „Entschuldigung“, sagte Giovanni. „Entschuldigung, Massimo!“
„Ist recht“, Maximilian schaute ihn nicht an. „Das nächste Mal, wenn du mich beschimpfen willst, wäre es nett, wenn du mal meine Behinderung weglässt.“
„Mach’ ich!“, Giovanni nickte gehorsam. „Ich sag’ dann einfach, dass du ein Hurensohn bist.“ „Genau“, sagte Maximilian. „Da freu’ ich mich schon drauf.“
„Ich war auf den Arsch da vorne sauer … Also, alleine, was der über Fußball gesagt hat, der hat doch keine Ahnung! Der hat nicht seine Handynummer vergessen einzutragen. Der hat bestimmt gar kein Handy, sondern so eine Dose mit Schnur. Haben wir im Kindergarten gehabt.“ „Ich hab’ meine Handynummer auch nicht angeben“, sagte Maximilian.
„Wieso das denn nicht?“
Maximilian zuckte mit den Schultern: „Geht niemanden was an. Und außerdem …“
„Du kannst deine Nummer nicht auswendig und warst zu faul, nachzugucken.“ Giovanni lachte laut auf: „Lernt Latein und kann seine Telefonnummer nicht! Latein! Voll die Scheißsprache!“ „Nun“, sagte Maximilian, „Italienisch stammt von Latein ab.“
„Ja, klar doch. Und Italien hat die letzte WM aus Zufall gewonnen.“
Maximilian schaute ihn angriffslustig an:
„Das Halbfinale war Glück!“
Giovannis Augen wurden ganz groß, und seine Stimme klang auf einmal fast sanft: „Massimo! Das war kein Glück!“
„Lehmann war fast dran! Natürlich war das Glück, so kurz vor Schluss zwei Tore zu schießen.“ „Hurensohn. Behinderter Hurensohn.“
Den Rest der Fahrt schwiegen alle drei. Irgendwann war es dann Suna, die sagte:
„Wir sind da.“