DIE REISE
DES ZEICHNERS
ROMAN
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Originalausgabe
Copyright © 2016 by Eichborn Verlag in der Bastei Lübbe AG, Köln
Umschlaggestaltung: Christina Hucke, www.christinahucke.de
Einband-/Umschlagmotiv: @akg-images
E-Book-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7325-2985-8
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»Lebt man denn, wenn andre leben?«
Goethe
Am frühen Morgen des 29. November 1777 brach der achtundzwanzigjährige Johann Wolfgang Goethe von Weimar aus zu einer Reise in den Harz auf. Er reiste unter falschem Namen, nannte sich Weber und gab sich als Zeichner aus. Einzig seine Freundin Charlotte von Stein weihte er vorher in dieses Unternehmen ein. Doch auch ihr verschwieg er den genauen Tag seines Aufbruchs. Inkognito wollte er in Wernigerode einen jungen Mann aufsuchen, der ihm zwei Briefe geschrieben hatte, auf die der Adressat jeweils keine Antwort folgen ließ. Nach dem Besuch der Bergbaureviere bei Goslar und Clausthal wollte Goethe am 10. Dezember den Brocken besteigen – als erster Mensch im Winter.
Am Abend des 16. Dezember war Goethe wieder in Weimar. Unmittelbar nach seiner Rückkehr vollendete er ein Gedicht mit dem Titel »Harzreise im Winter«. Es gilt als eines der rätselhaftesten und schwierigsten Gedichte aus Goethes Feder. An Frau von Stein schrieb er von der Reise mehrere Briefe, darunter die Zeilen:
Mir ists eine sonderbaare Empfindung, unbekannt in der Welt herumzuziehen, es ist mir als wenn ich mein Verhältniss zu den Menschen und den Sachen weit wahrer fühlte.
Das Gebirge, aus der weiten Ebene aufragend, von weißen Wäldern bedeckt. Buchen, Eschen, Tannen, mit Schnee beladen. Dazwischen, verstreut, Höfe, Weiler und Dörfer, versprengte Siedlungen.
Dünner Kaminrauch steigt aus einzelnen Schornsteinen auf. Als hauste dort eine kleine Schar Zurückgelassener, vor langer Zeit ausgesetzt und vergessen, ohne Verbindung zur übrigen Welt. Schmale Wege führen aus den Siedlungen hinaus, werden vom Wald verschluckt.
Eine eingeschneite Lichtung. Rings im dunstigen Hintergrund Nadelwald. Dicht gestaffelt unter dem Schneedach die schwarze Armee der Baumstämme. Düstere Enge unter dem weißen Behang. Ein klirrend kalter, diesiger Nachmittag, der sich zum Abend neigt. Dunkelheit mischt sich ins schwindende Licht. Tief hängende Wolkenmassen. In der Höhe kreist ein großer grauer Vogel.
Vom Waldrand her ein Reiter. Er kommt nur langsam voran. Von der Kälte erschöpft, setzt das Pferd schwerfällig einen Schritt vor den anderen und stößt regelmäßig die weiß dampfende Luft aus den Nüstern. Die Winter sind lang und frostig. Man schreibt den 30. November 1777, Schauplatz ist der südliche Harz.
Der Reiter ist eine Reiterin. Erst im Näherkommen kann man die Frau unter dem weiten durchnässten Umhang erkennen. Sie reitet über das Feld, reitet vorbei, über die unberührte Schneefläche hinweg. Das dumpfe Stampfen der Hufe im Schnee. Es wird deutlicher, nähert sich, entfernt sich. Mund und Kinn der Frau sind mit einem dicken Schal umwickelt. Sie ist noch jung. Sie sitzt in gerader Haltung auf dem Pferd. Daran kann man den jahrelangen Reitunterricht erkennen. Und doch weicht sie von der Etikette ab. Sie reitet nicht, wie ihr mutmaßlicher Stand es verlangen würde, im Damensitz. Sie sitzt auf dem Pferd wie ein Mann.
Sie überquert die Lichtung. Der Ton der auf den Schnee aufschlagenden Hufe wird schwächer. Pferd und Reiterin verschwinden im Wald.
Noch immer kreist der Raubvogel über dem Areal. Die Dunkelheit nimmt mit jeder Minute, die vergeht, zu. Der Vogel in der Höhe stößt einen Schrei aus. Dann ist es ruhig. Eine unheimliche Stille, eine Stille, wie sie nur der tiefe Schnee erzeugen kann. Das Geräusch der bewegten Schwingen des Vogels legt sich einmal schwach hörbar darüber. Wieder ein Schrei. Fast dunkel jetzt.
Der Frost zieht an. Minuten vergehen, eine halbe Ewigkeit, seit einer Viertelstunde schon ist die Reiterin im Wald verschwunden.
Aus der Baumreihe, die sie aufgenommen hat, kommt ein Reiter hervor. Er überquert in entgegengesetzter Richtung das Schneefeld. Er ist nicht viel schneller unterwegs als sie. Nähert sich beinahe genauso langsam der Mitte der Lichtung. Er ist in einen dunkelgrauen Umhang gehüllt. Ein elegantes Kleidungsstück, auf dem die Feuchtigkeit an einigen Stellen gefroren ist.
Sein Gesicht ist fast zur Gänze von schwarzem Tuch verhüllt. Es bedeckt auch noch seinen Oberkörper und fällt über seine Beine und über seinen Rücken bis auf den Rücken des Pferdes. Sein breiter Hut ist ebenfalls schwarz. In seinen Haaren, die hinten zu einem stattlichen Zopf gebunden sind, hängen Eiskristalle. Er sitzt nicht so gerade im Sattel wie die Frau. Aber auch ihm ist die standesgemäße Haltung zu Pferde anzumerken. Auch er ist jung.
Er hat für seine Reise einen falschen Namen angenommen. Niemand soll ihn erkennen. Sein wirklicher Name ist seit Kurzem bekannt. Sein Gesicht ist es nicht. So kann er sich unters Volk mischen und herausfinden, was es umtreibt, was und wie es denkt. Vor allem, was es von ihm denkt. Wie einst die Kalifen im Orient, die als Bettler verkleidet auf den Markt gingen. Die Leute sagen, was sie wirklich denken nur, wenn sie sich in vollkommener Sicherheit wiegen.
Wer über ihn Bescheid wüsste, würde sagen, er sei jung und berühmt.
Feudale Herrscher waren oft jung, sehr jung zuweilen, wenn sie auf den Thron kamen. Aber ein Bürger musste etwas vorweisen, etwas erfinden, eine von alters her gültige und scheinbar unumstößliche Wahrheit widerlegen, bevor er wenigstens ein gewisses Maß an Bekanntheit erlangen konnte. Er aber ist jung und mit einem Schlag berühmt geworden, und das ist etwas noch nie Dagewesenes. Es kam wie ein Schock über die Zeitgenossen. Wie die Ankündigung von etwas noch viel Bedeutenderem, von dem noch niemand sagen konnte, was es wäre.
Ein besonderes Schicksal sei über ihn verhängt. Das hat er häufig und von verschiedenen Seiten gehört. Zuerst von seiner Großmutter. Die sagte das auch zur Schwester und zu anderen Kindern. Für die Großmutter war die Welt ein magischer Ort. Es konnten einem die wunderlichsten Dinge geschehen, und jedes Kind stand unter einem besonderen Stern. Dann aber sagte das auch das Fräulein von Klettenberg. Auch sie, die schöne Seele aus Frankfurt, glaubte an seine Einzigartigkeit. Eine Freundin der Familie, die im Jahre neunundsechzig zu ihm kam, als es ihm schlecht ging, so schlecht, dass sie ihn schon fast aufgegeben hatten, dass sie für seine Seele beteten und das wunderliche Fräulein ihm auf dem Krankenlager den Pietismus lehrte. Von da an kam ihm das Wort vom besonderen Schicksal immer wieder entgegen. Seitdem spekulieren immer mehr Menschen über sein Schicksal. Als sei es ihnen wichtiger als ihr eigenes.
Er glaubte dann irgendwann selbst daran. An den verheißenen Glücksstern, der über ihm stehe. Der immer heller leuchte, bis er ganz in seinem Licht erscheinen würde. Ein Anwärter für eine neue Himmelfahrt.
Er schiebt es auf die Kälte und die Müdigkeit, dass er zu fantasieren beginnt. Jetzt holt ihn wieder der Größenwahn ein. Berühmtheit und Himmelfahrt. Und eine Vision, die er manchmal hat: Klopstock als Gartenzwerg vor ihm im Schnee und er selbst hoch zu Ross. Der Alte schimpft von unten herauf. Alles werde zugrunde gehen, in die Barbarei werde man zurückfallen, und er, der Junge, sei ganz allein schuld daran. Der Reiter beachtet ihn nicht und reitet weiter. Der zeternde Gartenzwerg versinkt hinter ihm im Schneetreiben.
Seit er an einer Kreuzung den Wegweiser nach Quedlinburg gesehen hat, muss er immer wieder an Klopstock denken. Er geht dagegen an, versucht den Gedanken zu verdrängen, schafft es aber gerade nicht. Klopstock steht ihm vor Augen in seiner ganzen überlebten Autorität. Niemand in Deutschland fühlt sich berechtigt, Goethe öffentlich zu kritisieren – außer Klopstock. Er muss bei Sinnen bleiben. Sein größter Feind ist die Selbstüberhebung. Weiter, einfach weiterreiten, alle Fantasien ausblenden, nicht nachdenken, nicht zurückdenken. Kein Genie mehr sein. Kein Genie mehr sein wollen. Kein Glückskind. Kein Höfling. Kein Liebhaber. Niemand mehr. Er gibt seinem Pferd einen Tritt in die Seite. Es zeigt keinerlei Reaktion und verändert sein Schritttempo nicht im Geringsten. Pferd und Reiter verschwinden zwischen den Bäumen. Möglich, dass ihm im Wald die Reiterin begegnet.
Niemand wusste in Weimar von seiner Abreise. Weder der Herzog noch die Stein. Er hat Zettel hinterlassen. Er liebt es, Zettel zu hinterlassen. Er sieht sie vor sich, die Zurückgebliebenen, mit seinen Zetteln in Händen, wie sie sich fragten, was seine Mitteilungen zu bedeuten hätten. Er würde nur wenige Tage allein unterwegs sein, zwei Wochen, mehr nicht, um dann zur Jagdgesellschaft des Herzogs hinzuzustoßen, die zur Wartburg nach Eisenach aufgebrochen war.
Der Vogel über ihm kreist immer noch. Goethe bringt sein Pferd zum Stehen. Er schaut hinauf. Wie der Geier, geht es ihm durch den Kopf, so wie der Flug des Geiers müsste sein, was ich mache. Schweben soll es, nach Beute Ausschau halten, erhaben, allein und unantastbar in der Höhe. Im Geheimnis bleiben.
Dem Geier gleich. Diese Worte gehen ihm durch den Kopf. Der Volksmund hier nennt Greifvögel kurzerhand Geier. Obwohl es im Harz gar keine Geier gibt. Ihm ist das bewusst, er nennt den Vogel trotzdem oder gerade deswegen Geier. Die Römer beobachteten den Vogelflug, um Zeichen des Schicksals herauszulesen. Der Geier, der sie faszinierte und den sie am genauesten beobachteten, gab ihnen am meisten zu denken. Könnte auch er das Kreisen des Vogels über sich deuten? Er ist kein Römer. Er sieht nur einen kreisenden Raubvogel und kann nicht sagen, was seine Flugbahn bedeutet. Es fällt ihm sogar schwer zu glauben, dass sie etwas zu bedeuten haben soll.
Die Lichtung hat er jetzt überquert. Er reitet in den Wald hinein. Niedrige Tannen, die dicht beisammenstehen. Der Schnee drückt ihre Zweige nach unten. Der schmale Pfad, den er einschlägt, wird durch die herabhängenden Äste noch enger. Manchmal streift ein Ast seine Schulter oder greift ihm ins Gesicht. Dann fällt der Schnee in kleinen, dichten Wolken wie zerstäubendes Mehl zu Boden. Hinter ihm schlagen die Äste zusammen. Den Schnee haben sie abgeworfen. Ich hinterlasse eine Spur, denkt er. Aber niemand wird sie finden, niemand ihr folgen.
In Nordhausen hat er gleich am ersten Tag viel gezeichnet. Die Stadtmauer, Gebäude, Menschen. Seit Nordhausen ist ihm kein Mensch mehr begegnet. Den ganzen Tag nur Kälte und Wälder. Im Wald ist es jetzt schon ganz dunkel. Leichter Schneefall setzt ein. Schnell ist die Spur, die er zieht, vom frischen Schnee gelöscht.
Auf der Lichtung ist es noch etwas heller. Die Reiterin ist zurückgekehrt. Der Raubvogel hat aufgehört zu kreisen und sich auf einem Baum niedergelassen. Schnarrende Schreie der Krähen, die zwischen den Bäumen auffliegen. Sie sieht ihnen nach. Wie sie schwarz die schwarzen Bäume umfliegen und in der Finsternis des Nadelwalds verschwinden.
Sie steigt ab, füllt mit den Händen Schnee in eine der Satteltaschen, holt dann aus der anderen ein Stück Papier heraus, eine kleine handgezeichnete Landkarte, auf der kaum etwas zu erkennen ist.
Mit dem letzten Schein des Tages versucht sie herauszufinden, wo sie sich befindet. Sie hat sich wohl verirrt. Die Karte gibt keine verlässliche Auskunft. Aber sie weiß, dass hier ein kleiner Ort ganz in der Nähe liegen muss. Da muss sie vorhin vorbeigeritten sein. Hat sie nicht Kaminrauch aus einer Mulde aufsteigen sehen? Sie war davon überzeugt, sie könne es noch eine Ortschaft weiter schaffen, doch in der hereinbrechenden Dunkelheit hat sie die Orientierung verloren. Also zurück. Jetzt erkennt sie die noch frische Spur eines Pferds, die vom Neuschnee schon wieder überdeckt wird. In der Richtung, in die diese Spur führt, müsste das Dorf liegen. Sie beschließt, ihr zu folgen, solange die herabsinkende Nacht es zuließe.
Gestern ist er aufgebrochen, allein zu Pferd. Es kommt ihm schon wie eine kleine Ewigkeit vor. Seidel, der Diener, hat ihm das Pferd morgens um fünf bereitstellen müssen. Seidel beschwerte sich über die frühe Uhrzeit. Er fluchte leise und spuckte aus. Fluchte lauter, während er das Pferd zäumte. Er schlug das Pferd mit der flachen Hand, wenn es nicht das tat, was er wollte. Das Pferd ging ein paar Schritte zurück, um den Schlägen auszuweichen. Der Diener fluchte wieder, spuckte noch einmal aus.
Er würde Seidel in die Wüste schicken, wenn er das hier hinter sich hätte. Doch der nächste Diener wäre vielleicht noch schlimmer. Manchmal fragt er sich, ob der Beruf des Dieners nicht bald aussterben werde. Er beschloss, jetzt nicht weiter darüber nachzudenken.
Es regnete heftig bei seinem morgendlichen Aufbruch. Hin und wieder ging der Regen in Schnee über. Schwere nasse Flocken, die seinen Mantel nach wenigen Minuten durchweichten. Die Feuchtigkeit drang ihm bald bis auf die Haut. Das Pferd kletterte den Ettersberg hoch. Oben hielt er an und blickte durch den dichten Schneeregen zurück auf das schlafende Weimar. Seine Stimmung verdüsterte sich. Etwas Bitteres stieg in ihm auf. Dieser Drang, sein Leben gegen das der anderen abzugrenzen, war in ihm gewesen, seit er denken konnte.
Was war das denn, dieses Wohnen und Schlafen, dieses Aufstehen und Weitermachen? In wessen Auftrag wurde das angestoßen und in wessen Interesse läuft es unentwegt weiter? Wem gehört denn die Zeit, die sie geliehen bekommen haben? Manchmal sprangen ihn Momente bitterer Verstörung an, in denen alles augenblicklich seinen Wert verlor. Herrschen und Beherrschtwerden? Geborenwerden und Überlebenwollen? Warum? Kein Mensch und auch kein Gott gaben darauf Antwort. Ein Gefühl zwischen Überdruss und Ekel stellte sich ein.
Es würde vergehen. Er würde es vergessen, wenn er erst unterwegs und weit genug von Weimar entfernt wäre. Der Aufbruch, das Abenteuer, die Ungewissheit, das Überstehen von Gefahr, das war es, was die düsteren Gefühle vertrieb. Jetzt aber, beim Zurückschauen auf die Stadt, aus der er Reißaus genommen hatte, erkannte er das Hoffnungslose, das ihn umgab und erschrak erneut darüber. Wie schon viele Male.
Warum leben, wenn andere leben? Diese Frage verließ ihn nie. Manchmal versteckte sie sich zynisch hinter den Masken des Alltags. Dann drang sie lange gar nicht durch die zähen Stoffmassen des Erlebten. Aber sie war immer da. Sie lauerte darauf, an die Oberfläche zu treten. Sie wartete darauf, sich dort auszubreiten wie ein Schuss schwarzer Tinte ins klare Wasser.
Dem Lenz allein traute er neben Cornelia zu, diese Wortfolge richtig zu verstehen. Damals zumindest. Heute würde er diese Frage nicht mehr vor ihm preisgeben. Auch Lenzens Scharfsinn scheiterte letztlich an ihr. Auch seine Vorstellungskraft war nicht groß genug, um ihr standzuhalten. Nachdem er festgestellt hatte, dass auch der Freund nicht begriff, was damit wirklich gemeint war, sank der einstige Bruder im Geiste rapide und unwiderruflich in seiner Wertschätzung.
Er ahnte, dass es diese Frage wäre, auf die er in seiner Lebenszeit eine Antwort würde finden müssen, es wäre die Bestimmung seines Wesens, die darin läge und aus der heraus er all seine Schriften schreiben und all seine Taten unternehmen würde: Warum leben, wenn andere leben?
Er kannte das Gefühl, das aus der Schonungslosigkeit dieser Worte hervorging, nur zu gut. Es war jedes Mal, als täte sich ein Abgrund vor ihm auf. Als stürzte man in eine unabsehbare Tiefe. Dieser Abgrund. Er begleitete ihn auf Schritt und Tritt. In Wetzlar war er so nah und drohend gewesen, dass er sich einen Dolch in den Nachttisch gelegt hatte. Jeden Abend beim Zubettgehen versuchte er, die Klinge einen Zoll tief unterhalb der linken Brustwarze in seine Haut zu drücken. Manchmal drangen ein paar Tropfen Blut aus der Stelle.
Die Idee eines Selbstmords aus eigener Anstrengung beschäftigte ihn. Beispiele dafür gibt es nur wenige. Die meisten Selbstmörder lassen äußere Kräfte auf sich einwirken. Die Römer stürzten sich in ihr aufgestelltes Schwert. Aber sich selbst aus freiem Willen und mit eigener Kraft den Dolch in die Brust zu stoßen, wer brächte das fertig?
Dann fand er es wieder lächerlich, einen Dolch im Nachttisch liegen zu haben. Wer war er denn, dass er vor sich selbst damit kokettierte, sich jederzeit erstechen zu können? Spielten nicht alle seine männlichen Altersgenossen mit dieser verbotenen Vorstellung? Und musste man nicht damit rechnen, dass einmal einer ernst machen würde?
Er hatte seine Pistole einem Assessor am Gericht geliehen, einem jungen Mann, den er kaum kannte. Der Kollege wollte verreisen und eine Pistole mitnehmen. Zu seinem Schutz, sagte er. Der Assessor war unglücklich verliebt, das wusste man in Wetzlar. Aber wer von den jungen Leuten war denn nicht unglücklich verliebt? Die Liebe war seit einiger Zeit zu einer Art Kult geworden, dem die Jugend bedingungslos huldigte. Bis zu seiner Rückkehr war Goethe fest davon überzeugt, der Assessor würde sich erschießen. Er tat es nicht und kam wohlbehalten von seiner Reise zurück. Goethe sah ihn verwundert an, als der das Gericht wieder betrat. Als habe er einen vor sich, den es gar nicht mehr geben dürfte.
Ein anderer Kollege vom Gericht hat sich dann just in diesen Tagen tatsächlich mit einer von Goethes Wetzlarer Freund Kestner ausgeliehenen Pistole erschossen. Auch dieser junge Mann war unglücklich verliebt.
Goethe hat das in seinen Roman übernommen und wurde mit der Geschichte berühmt. Er hat einen Roman über die Selbsttötung aus unglücklicher Liebe geschrieben und schon geahnt, dass er damit einen Nerv treffen würde, der gerade überall bloß lag. Aber was dann passierte, hatte er nicht ahnen können. Einen Sturm der Begeisterung aus Ergriffenheit, wie es ihn noch nie gegeben hatte, löste das Buch aus. Binnen weniger Wochen wurde er zum Idol für eine ganze Generation. Sein Ruhm verbreitete sich in rasender Geschwindigkeit über ganz Europa.
Was seinen Ekel nur noch verstärkte. Später würde er schreiben, er habe sich vor dem Abgrund der Selbsttötung gerettet, indem er den Roman geschrieben habe. Während sich andere aufgrund der Lektüre dieses Buchs tatsächlich erschossen hätten. Auch diesen Zynismus sollte man ihm noch als brillante Volte auslegen. Warum leben, wenn andere leben?
Sein strahlender Stern ging auf, die fahle Sonne der anderen ging unter. So könnte man es sehen. Bald überstrahlte er alles, die Politik, den Klatsch, die Philosophie, die Literatur, das ganze Zeitalter. Eine neue Art von Einsamkeit stellte sich ein. Ein tieferes, kälteres, endgültigeres Alleinsein. War er denn noch er selbst, der Halbjurist aus Frankfurt, den die Juristerei nicht wirklich interessierte? Der Dichter der kleinen Blumen und der bunten Bänder, der in Sesenheim neben der Pastorentochter auf der Holzbank vor dem Pfarrhaus saß? War er nicht ein anderer geworden?
Jetzt hatte er wieder eine Pistole im Gepäck. Allerdings nur wegen der Gefahren, die ihm unterwegs begegnen könnten. Wegelagerer, Räuber, Tiere. Jetzt war er weit davon entfernt, die Waffe gegen sich zu richten. Auch wenn sein Lebensekel nicht gewichen war und anscheinend niemals weichen wollte.
Lebensekel, das Wort hat er von Wieland gelernt, ausgerechnet von Wieland, der wie kaum ein Zweiter dem Leben seine behaglichsten Seiten abzugewinnen versteht. Für den ist es nur ein Wort, über das er verfügt, wie über viele andere Wörter auch. Ein Wort, das Wieland korrekt einzusetzen versteht, für das ihm aber die Erfahrung fehlt.
Weimar lag schlafend unter ihm, dunkel. Einer nach dem anderen würden sich die jetzt noch in ihren Betten liegenden Menschen erheben. Keiner von ihnen wusste, was der neue Tag wirklich bringen würde. Er wollte in ein paar Tagen zurück sein. Das hatte er sich vorgenommen. Aber vielleicht kehrte er auch nie mehr nach Weimar zurück. Vielleicht behielt ihn der Berg. Er lacht kurz auf. Seine alte Schwäche für Orakel.
Den Berg hatte er zu seinem Ziel erklärt. Gegenüber Charlotte. Den Brocken hatte er zu seinem Berg der Berufung gemacht. Wie es in der Heiligen Schrift heißt. Da wolle, müsse er hinauf, hatte er ihr erklärt. Als erster Mensch im Winter auf dem Gipfel stehen und auf das Leben herabsehen.
Es passt in ihr Bild von ihm. Sie nennt ihn manchmal ihren Jesus. Ein seltsamer Zug von Wertschätzung, findet er. Wenn sie ihn ›ihren Jesus‹ nennt, ist sie am weitesten von ihm entfernt, wird sie für ihn zu einer Fremden, ein wenig auch zu einer Verrückten. Sie will einen Heiligen ausgerechnet aus ihm machen, aus ihm, dem Frankfurter Patriziersohn, einen Anwärter für die nächste Himmelfahrt. Dass er berühmt, talentiert, klug und schön ist, bedeutet ihr nichts. In ihm lägen doch ganz andere Möglichkeiten, meint sie.
Hufgetrappel durchbrach die Stille auf dem Ettersberg. Ein Pferd sprengte samt Reiter durch die Dunkelheit heran. Der Mann galoppierte auf ihn zu. Er kam rasch näher und hielt in einem Abstand von etwa zehn Metern an, indem er die Zügel herumriss. Das heiß gerittene Pferd, das in der dunklen Kälte dampfte. Der weite Umhang des Reiters, der durch die Eisluft rauschte. Der ihn umwirbelte, als er das Pferd herumriss. Es drehte sich noch einmal um seine eigene Achse. Ging vorn leicht in die Höhe. Trabte unruhig hin und her, ohne dass der Reiter die Ruhe verlor. Er versuchte es zum Stehen zu bringen. Es gelang ihm nach einem kurzen Manöver. Das Pferd schien kaum zu bändigen. Es schnaubte schwer und beruhigte sich nur langsam.
»Ei der Daus, der Herr Rat. Schon so früh unterwegs?«
Goethe erkannte durch die Dunkelheit hindurch den jungen Mann sofort. Oberforstmeister Wedel. Wie immer hellwach, zuverlässig gut gelaunt und neugierig. Auch zu dieser frühen Stunde.
»Verzeihen Sie, ich lebte in der Annahme, seine Exzellenz begleiten den Tross des Herzogs nach Eisenach«, rief Wedel.
Goethe ließ eine Pause entstehen, bevor er antwortete.
»Wir leben oft in Irrtümern, verehrter Oberforstmeister. Ich werde nachkommen, der Herzog weiß das«, gab er knapp zurück.
»Aber der Herzog wird sich sans aucun doute langweilen ohne seine Exzellenz.«
»Wohl kaum. Bei der Jagd wird meine Abwesenheit ihm gar nicht auffallen. Sie wissen doch selbst, dass er alles vergisst, wenn das Jagdhorn erschallt.«
»Selbstverständlich. Ich bin auch schon ganz kribbelig, wenn ich an die vielen Wildschweine denke, die wir erlegen werden, Exzellenz. Es ist da wirklich alles voller Wildschweine. Die brechen rudelweise in die Dörfer ein, und sogar in die Häuser. Kürzlich, heißt es, habe ein Bauer ein Wildschwein in seinem Bett vorgefunden. Anstelle seiner Frau. Ha, ha. Aber jetzt wird aufgeräumt.«
Goethe sagt dazu keinen Ton. Oberforstmeister Wedel scheint das nicht zu irritieren. Er braucht Goethes Antwort nicht.
»So eine Sau zu erlegen ist doch das Schönste, was es gibt auf Erden, nicht wahr? Man drückt ab, das Schrot rast in den flüchtenden Körper, die Sau explodiert förmlich und der sterbende Leib stürzt mit einem Schlag dumpf zur Erde und bleibt in seiner ganzen Pracht liegen. Jagen, Goethe, das ist es, das ist das Leben, verstehen Sie? Die Wildsau ist tot und man selber lebt weiter, lebt, weil man sie erlegt hat, weiter, man verleibt sie sich ein, später, und spürt es dann noch einmal besonders stark, dass man lebt, weil man sie getötet hat.«
Wedel geriet schier außer sich vor Begeisterung. Goethe wusste nichts darauf zu antworten. Er war kein Liebhaber der Jagd. Wenn eine herzogliche Treibjagd durch ein Gebiet gezogen war, lag das Land verwüstet, die Ernte fiel aus, die Bauern verarmten, die Kinder hungerten. Aber so einen wie Wedel interessierte das nicht. Den interessierte nur seine kleine Erregung, der Nervenkitzel, die lange Vorfreude, das kurze Vergnügen.
Den Herzog interessierte auch nicht, was mit den Bauern geschah, wenn die Jagd durch ihre Ländereien gezogen war. Niemanden im gesamten Adel interessierte das. Das war schon immer so gewesen. Die betroffenen Bauern rührten sich nicht. Niemand führte Beschwerde. Alles war in Ordnung. Man konnte mit ihnen machen, was man wollte. Wenn einer von ihnen aus der Rolle fiel, kerkerte man ihn ein. Dann war wieder Ruhe. Jahrzehntelang. Aber irgendwann würde sich die Jagd umdrehen und dann wären sie die Beute, sie, die sich von Gott selbst eingesetzt glauben, würden in die Kerker wandern, würden gehängt, geköpft und gepfählt werden. Die Bauern würden staunend dabeistehen und es nicht begreifen, aber kein Gott würde sich der Herrschaft erbarmen.
»Dann also Weidmannsheil, Oberforstmeister Wedel!«
»Weidmannsdank! Eure Exzellenz hat sicher zuvor etwas sehr Wichtiges zu erledigen, wenn er sich das entgehen lässt«, sagte Wedel und Goethe glaubte ein kesses Zwinkern in seinem rechten Auge zu bemerken.
Uhrzeit und Ort sprachen für sich. Wenn jemand so früh bei diesem Wetter unterwegs war, dann hatte das aller Wahrscheinlichkeit nach mit einem geheimen Abenteuer zu tun.
Ging nicht der Herzog als Vorbild seiner Entourage voran? Es heißt, er sei, vor seiner Vermählung, schon bevor Goethe da war, nachts mit kleiner Begleitung über die Dörfer geritten und habe junge Frauen aufgesucht, deren Schönheit ihm in der Stadt oder unterwegs aufgefallen sei.
Er habe dann Erkundigungen eingezogen. Um wen es sich handle und wo und unter welchen Bedingungen die Erwählte wohne.
Dafür hatte er seine Leute. Die nannte man bei Hofe Berater. Die spürten jeden Leckerbissen auf. Wer eine mit gewissen Reizen ausgestattete Tochter hatte, musste darauf gefasst sein, blaublütigen Besuch zu bekommen. Grundsätzlich ohne Anmeldung ging der Herzog in die Häuser. Meist blieb er nur eine knappe Stunde. Draußen, in einiger Entfernung, warteten die Begleiter, tranken Wein aus Schläuchen und spielten im Fackelschein Würfel und Karten. Dann kam der hochwohlgeborene Freier heraus und drängte zum Aufbruch. Zuvor stürmte er wort- und grußlos an den Zimmern vorbei, in denen die Eltern des Mädchens vor der Willkür der Majestät zitterten und hofften, dass es schnell und vor allem folgenlos vorübergehen würde.
Niemand fragte je danach, welche Folgen diese Besuche für die Frauen und ihre Familien hatten. Manchmal hörte man von Kindern, die ohne Väter bei ihren Großeltern aufwuchsen. Ihre Mütter waren sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Einige Male in den letzten Jahren spülte die Ilm die ertrunkenen Leichen sehr junger Frauen an. Sie seien aus Gram ins Wasser gegangen, hieß es hinter vorgehaltener Hand. Weitere Nachfragen verboten sich. Nach seiner Heirat soll der Herzog seine Jagdgewohnheit eingestellt haben. Aber auch das ist nur ein Gerücht.
Goethe sah griesgrämig unter seinem breiten Hut hervor, der sein Gesicht fast ganz verdeckte, und schwieg. Wedel jetzt zu treffen war ihm lästig. Wedel würde in ganz Weimar von dem Treffen mit dem Geheimrat berichten und es entsprechend kommentieren. Es würde kaum jemanden geben in der Stadt, den das nicht interessierte.
Vor wenigen Monaten ist Goethe Legationsrat am Hof in Sachsen-Weimar geworden. Im Handumdrehen ernannt. Sämtliche Instanzen, die dabei mitzureden gehabt hätten, waren vom Herzog übergangen worden. Ein Gartenhaus an der Ilm gab’s als Geschenk dazu. Der Neid, den er damit auf sich gezogen hat, war grenzenlos. Und ist es immer noch.
Freiherr von Fritsch, der mächtigste Minister im Geheimen Rat, stimmte gegen Goethes Berufung. Es nützte nichts. Die Mehrheit knickte ein und stimmte dafür. Doch niemand außer dem Herzog war wirklich dafür; der Hof kochte vor Missgunst. Eine versteckte Feindschaft, die sich seither zu einem öffentlichen Urteil verstetigt hat. Die ganze Stadt zerreißt sich das Maul über den Günstling. Womit hat er diese Förderung verdient? Wer ist er, dass ihm das alles in den Schoß fällt? Was hat er denn, das die anderen nicht haben?
Wedel spürte schnell, dass aus dem Mann nichts herauszuholen wäre.
Er fasste sich zum Gruß an den Hut und setzte sein Pferd in Bewegung. In Goethe sah er einen arroganten bürgerlichen Emporkömmling, der Weimar für seine Zwecke ausbeuten würde, um dann weiterzuziehen. Mit großem Vergnügen dachte der Oberforstmeister an die Möglichkeit, gerade diesen kapitalen Keiler zur Strecke zu bringen. Er sprengte in wildem Galopp in die Stadt hinunter. Sein schwarzer Mantel wehte wild hinter ihm her.
In den Häusern wurden erste Lichter angezündet. Der Tag begann und der Reisende war noch nicht weit gekommen. Er gab dem Pferd sachte Tritte in die Seite. Es trabte los.