»Das Modell«, »Die Roboter«, »Computerwelt« oder »Tour de France«: Bei allen großen Hits von Kraftwerk war Karl Bartos als Komponist dabei. Mit seinem Einstieg im Jahr 1975 entwickelte das Düsseldorfer Quartett jene unverkennbare Soundarchitektur, die die Band weltweit so einflussreich machte. Kraftwerk waren Wegbereiter für Techno, House und auch Elektropop. In seiner Autobiografie erzählt Karl Bartos zum ersten Mal, was in den berühmten Kling Klang-Studios wirklich passierte, warum er die Band nach einem verlorenen Jahrzehnt 1990 verlassen hat und warum Kraftwerk heute ins Museum gehört.
Karl Bartos, geboren 1952 in Berchtesgaden, ist klassisch ausgebildeter Orchestermusiker und war von 1975 bis 1990 Mitglied der Gruppe Kraftwerk. Seit den Neunziger Jahren hat er mit zahlreichen anderen Musikern und Gruppen zusammengearbeitet (u. a. Johnny Marr, New Order). 2013 erschien sein Album Off The Record, das auf Platz 44 in die deutschen Album-Charts kletterte »als die beste Kraftwerk-Platte seit 30 Jahren« bezeichnet wurde (Laut.de). Und plattentest.de konstatierte: »Während Hütter mit seinen zu Recht gefeierten Auftritten in Museen wie der Tate Gallery das Erbe der Band verwaltet, schlägt Bartos den Bogen in die Neuzeit. Und ist dabei in manchen Momenten den großen, den bahnbrechenden Alben der Diskographie näher, als er selbst vielleicht wahrhaben möchte.«
DER KLANG DER
MASCHINE
AUTOBIOGRAFIE
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Originalausgabe
Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Thorsten Schulte, Berlin
Umschlaggestaltung: Christiane Hahn, www.christianehahn.de
Einband-/Umschlagmotiv: © Markus Wustmann/Bureau B
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN: 978-3-7325-2975-9
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Für Bettina
»Bäng! – It’s been a hard day’s night, and I’ve been working like a dog …« Genau dieser Song veränderte mein Leben von einem Tag auf den anderen – »A Hard Day’s Night« von den Beatles. Damals war ich zwölf Jahre alt, mitten in der Pubertät, und obwohl ich nur wenig Englisch verstand, sprach die Musik zu mir. Das war der Moment, in dem Klang für mich eine neue Bedeutung bekam und ich Musiker werden wollte.
Als ich dann begann, mir selbst das Gitarrespielen beizubringen, konnte ich mir schon bald nicht mehr vorstellen, wie mein Leben ohne Musik aussehen würde. Einen Plan hatte ich nicht, nur den Wunsch, immer besser darin zu werden und mit meinen Bands die Musik zu spielen, zu der ich mich hingezogen fühlte. Das gab meinem Leben Ordnung und Sinn.
Etwas später lernte ich am Robert-Schumann-Konservatorium in Düsseldorf das Handwerk eines Schlagzeugers, um im Orchester die Meisterwerke der klassischen Musik aufzuführen und sie lebendig werden zu lassen. Dabei begegneten mir außergewöhnliche Menschen. Ich hatte großartige Lehrer, von denen ich neben den handwerklichen und theoretischen Dingen auch die Hingabe zur Musik lernte. Nicht etwa durch lange Vorträge und Literaturhinweise, sondern dadurch, dass sie mich zum Beispiel unbürokratisch ins Orchester der Deutschen Oper am Rhein aufnahmen und mir ein Stück weit gestatteten, an ihrem Leben teilzunehmen.
In dieser Zeit begann ich, über Musik nachzudenken, und das ist bis heute so geblieben. Dieses Buch ist die Geschichte meines Lebens, es ist die Geschichte meiner Klangbiografie, und gerade deshalb ist es auch ein Buch über die Musik.
Durch einen Anruf bei meinem Lehrer am Konservatorium landete ich – ohne dass ich es angestrebt hätte – in der Musikindustrie, die sich in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts zu einem Multi-Milliarden-Dollar-Geschäft entwickelt hatte. Deshalb handelt dieses Buch auch von der Gruppe Kraftwerk und stellt unsere gemeinsame Musik in ihren zeitlichen Kontext.
Ich erinnere mich sehr gut daran, wie ich in den Bann der elektronischen Musik geriet und wie ich ein Teil des sogenannten klassischen Line-up der Gruppe Kraftwerk wurde. Anfangs bestand mein Job darin, elektronisches Schlagzeug zu spielen. Offensichtlich waren meine Beiträge einigermaßen sinnvoll und führten dazu, dass ich ab dem Album Die Mensch-Maschine bis zu meinem Abschied alle Kompositionen als Co-Autor mitgestaltete. Vor allem in diesem Zeitraum betrachtete ich mich als Mitglied der Band. Mein Beitrag, so dachte ich, ist nach innen und außen gut wahrnehmbar. Schließlich trug ich einiges an Leben und Musik ins Kling Klang Studio hinein. Als ob es gestern gewesen wäre, erinnere ich mich an unsere Writing Sessions und Soundrides und an das großartige Gefühl, einer Gemeinschaft anzugehören, bei der das Ganze mehr war als die Summe seiner Teile. Mir kam es jedenfalls so vor.
Innovationen und musikalische Ideen fallen meistens nicht vom Himmel. Beim Lesen von Musiker-Biografien finde ich es immer interessant zu erfahren, was die Inspiration für das ein oder andere Musikstück war. Deshalb nehme ich Sie hier mit ins Innere des Kling Klang Studios, zeige Ihnen einige der Quellen unserer Ideen, stelle Zusammenhänge her und beschreibe, wie wir mit kompositorischem Handwerk, Hingabe, Emotion und ein wenig Verstand unsere Musik erfanden.
In fast sechzehn Jahren wirkte ich an sechs Alben der Gruppe mit. Hinzu kommt eine Maxi-Single, die ein Sportereignis in Frankreich thematisiert und die Basis für ein weiteres Album sein sollte. Gleichwohl wurde ich für die Öffentlichkeit erst in dem Moment sichtbar und hörbar, als ich die Gruppe verließ.
Nach den Jahren im Kraftwerk-Kosmos musste ich zunächst mein Leben neu erfinden und der Frage nachgehen: Wie klingt eigentlich Karl Bartos? Auf diesem Weg hatte ich das große Glück, fantastischen Künstlern wie zum Beispiel Bernard Sumner, Johnny Marr oder Andy McCluskey zu begegnen und mit ihnen zu arbeiten.
Auch meine Zeit als Gastprofessor für Auditive Mediengestaltung im Master-Studiengang »Sound Studies« an der Universität der Künste Berlin hat mich in meiner Arbeit inspiriert und weitergeführt.
Natürlich konfrontierten mich Journalisten immer wieder mit meiner Vergangenheit. Allerdings waren die Ereignisse, die sich im Kling Klang Studio abgespielt haben, zu komplex, um sie in wenigen Worten erklären zu können. Ein Autobiografie-Schnellschuss in der Form einer frühen Bestandsaufnahme erschien mir dem Thema nicht angemessen zu sein. Ich wollte ein paar Schritte zurücktreten und das ganze Bild betrachten, um mir mit Abstand eine Meinung zu bilden. Irgendwann, sagte ich mir, würde ich mich der Sache ausführlich widmen.
Fast 30 Jahre nach meinem Abschied von Kraftwerk halte ich nun das fertige Manuskript – Der Klang der Maschine – in meinen Händen. Zum Glück liegen weder unbezahlte Rechnungen in meiner Schublade, noch muss ich jemandem einen Gefallen tun oder habe mich aus irgendeinem Grund zum Schweigen verpflichtet. Nein, ich bin unabhängig und kann deshalb heute alles so erzählen, wie ich es erlebt habe. Vieles, was in diesen Jahren geschah, ist in Vergessenheit geraten oder wurde wegen der außergewöhnlichen Bedingungen, unter denen wir in unserer Musikgruppe arbeiteten, niemals bekannt. Deshalb berichte ich in diesem Buch über die Schöpfung unserer Musik, betrachte unser soziales Verhalten, lasse Sie, soweit es möglich ist, an unserer Kommunikation teilhaben und versuche darzustellen, wie sich die Dinge im Lauf der Zeit entwickelten. Wenn es mir gelingt, der Musik von Kraftwerk auf diese Weise eine neue Perspektive zu geben, und ich Sie vielleicht sogar begeistern kann, ganz allgemein über das Wesen der Musik nachzudenken, habe ich mein Ziel erreicht. Ich würde mir das wünschen.
Seitdem ich den berühmten Eröffnungsakkord von »A Hard Day’s Night« gehört habe, lebe ich im Klang der Musik. Das Rätselhafte an Musik ist, dass sie für jeden von uns anders klingt und auch etwas anderes bedeutet: Für einige von uns ist sie göttlich, andere wollen mit ihr lediglich dem Alltag entfliehen. Manche weisen darauf hin, man könne etwas von ihr für das Leben lernen. Ich kenne jemanden, der nicht versteht, dass Menschen in Musik etwas anderes als Sound wahrnehmen, während Philosophen sie mit Begriffen wie Metaphysik und Psychologie definieren.
Als ich vor einigen Tagen aus einem Konzert kam, hörte ich in den Gesprächen um mich herum Adjektive wie »toll«, »großartig«, »sagenhaft« oder ähnlich bewundernde Äußerungen. Wie schwierig es scheinbar ist, über Musik etwas Verbindliches zu sagen, wird erkennbar, wenn man nachfragt, aus welchem Grund jemand diese oder jene Musik so außergewöhnlich findet.
Und doch – über Musik kann man sprechen – jedenfalls lohnt es sich, es zu versuchen. Sie lässt sich in Form der Notenschrift grafisch darstellen und studieren. Es ist auch kein Problem, ihr Frequenzspektrum dreidimensional abzubilden, um es in seinem Zeitverlauf zu analysieren. Und der Computer – die universellste Maschine unserer Zeit – ermöglicht eine sehr präzise Innenansicht musikalischer Inhalte in Form von Daten. Allerdings muss ich all jene enttäuschen, die annehmen, es sei möglich, auch nur annähernd zu erklären, was Musik wirklich ist. Dazu ist nur sie selbst in der Lage.
Karl Bartos, Hamburg, 31. Mai 2017
Zurück an den Anfang. Das Kederlehen. Die kleine Reichskanzlei. Der Berghof. Headquarters U. S. Army 1945. Gasthaus zum Untersberg. Wie aus »Bartosch« Bartos wurde. Der Neuanfang. Marktschellenberg, Kirchgasse 33. Auf Wiedersehen Berchtesgaden. Düsseldorf am Rhein. Unterbilk. Wie ich im Bildungssystem auf Maximilian treffe. Eine glückliche Familie. Die Welt in meinem Kopf. Mein Leben erhält einen Soundtrack. Radio und Fernsehen.
Kurz schaue ich in den Rückspiegel, schalte einen Gang runter und höre, wie der Motor das Tempo des Wagens drosselt. Auf dem Weg ins Tal, dort wo die Straße eine Rechtskurve macht, halte ich den Atem an. Vor mir ragen die beiden mächtigen Gipfel des Watzmanns in den Himmel, und unter mir liegt Berchtesgaden mit seinen Kirchtürmen, Häusern und Straßen. Ein Anblick genau so, als wäre ich direkt in eine Postkarte gefahren. Eingebettet in die atemberaubende Landschaft des weltberühmten Nationalparks, liegt wenige Minuten von Berchtesgaden entfernt mein Geburtsort Marktschellenberg. Die Gegend am Rande der Alpen im südlichen Bayern ist so schön, dass sie auf eine seltsame Art und Weise fast künstlich wirkt.
Für dieses Buch wollte ich an den Anfang meines Lebens zurückkehren, um die Bilder in meinem Kopf mit den realen Bildern der Gegenwart zu vergleichen.
Nachdem ich meinen Koffer ins Hotel am Luipoldpark gebracht habe, fahre ich ein paar Kilometer nordöstlich an der türkis-grün dahinfließenden Berchtesgadener Ache entlang in Richtung Untersalzberg. In etwa hundert Meter Höhe über dem Talboden befindet sich auf einem weiten, grünen Hügel das Haus Kederlehen. Das Bergpanorama ist einzigartig: Von hier aus sieht man die mächtigen Gipfel von Watzmann, Hochkalter, Reiteralpe, Untersberg, Kehlstein. Die Luft ist rein und klar, ein leichter Wind weht den harzigen Geruch des Waldes herüber.
Hier stehe ich nun: direkt vor dem Inbegriff eines bayerischen Bauernhauses. Weiß verputzte Wände im Erdgeschoss, darüber eine braune Holzverkleidung bis unters Dach. Üppig über die Balkone wuchernde Geranien sind genauso selbstverständlich wie die hölzernen Fensterläden, die ich seit meinen ersten bewussten Besuchen in Bayern mit dem Landleben verbinde. Im Wald – der direkt dahinter beginnt – rauscht ein Bergbach den Untersalzberg hinab in die Ache. Er ist so klar, dass man daraus trinken kann, denke ich, als ich seinen Sound1 mit meinem Rekorder aufnehme. Bis auf das Plätschern des Baches höre ich hier oben kein Geräusch.
Das Kederlehen – ein uralter Bauernhof, der bereits im 14. Jahrhundert urkundlich erwähnt wurde – ist heute eine Pension. Man kann hier Zimmer mieten und seinen Urlaub verbringen, aber ohne große Mühe stelle ich mir Hühner, Schweine und Kühe vor und einen Hahn auf dem Misthaufen. Noch bis in die 1940er-Jahre führten hier Josef und Elisabeth Lankes mit ihren vier Kindern – Hans, Josef, Rosa und Elfriede – einen Hof. Die zwei Söhne Hans und Josef halfen bei der Bewirtschaftung. Als der Zweiten Weltkrieg begann, wurden die beiden zum Militär eingezogen. Für die Familie hatte das schlimme Folgen. Denn jetzt fehlte ihre Arbeitskraft, um den Lebensunterhalt zu verdienen. Darüber zerbrach die Ehe, die Eltern ließen sich scheiden, und der Hof wurde verkauft.
Tochter Elfriede war noch sehr jung und blieb bei ihrer Mutter. Über ihr weiteres Leben ist wenig bekannt. Tochter Rosa, 1940 gerade 14 Jahre alt, verließ notgedrungen die Schule und fand einen Job als Haushaltsangestellte in der Reichskanzlei, Dienststelle Berchtesgaden. Rosa Lankes war das Mädchen, das mich einmal auf die Welt bringen würde.
Nachdem ich das Kederlehen gesehen habe, fahre ich wieder runter ins Tal, am Berchtesgadener Bahnhof vorbei, ein paar Kilometer nordwestlich nach Bischofswiesen-Stanggaß in den Urbanweg 26. Hier – direkt unter dem Watzmann-Massiv – steht das Gebäude der ehemaligen Dienststelle der Reichskanzlei. Ich halte auf dem Parkplatz davor, steige aus und mache Fotos, die mir später das Schreiben erleichtern sollen. Ich staune: Der gesamte Komplex hat völlig unversehrt den Krieg überstanden und sieht noch genau wie auf den alten Fotos aus. Nur das Hakenkreuz, das der Reichsadler in seinen Krallen hielt, wurde weggemeißelt.
Das Berchtesgadener Land war immer schon ein sehr bekannter Flecken Erde. Berühmtheit erlangte es – wenn auch auf traurige Weise – jedoch erst durch Adolf Hitler. Die sogenannte kleine Reichskanzlei wurde in den 1930er-Jahren Hitlers zweiter Regierungssitz, wenn er sich auf dem Berghof, seinem Wohnhaus auf dem Obersalzberg, aufhielt. Hier waren häufig Gäste aus dem Ausland oder das Oberkommando der Wehrmacht untergebracht, die für politische Zusammenkünfte oder Besprechungen angereist waren. Meine Mutter Rosa hat mir nie erzählt, ob sie Hitler jemals begegnet ist. Sie sprach aber davon, wie sie mit anderen Kindern und Jugendlichen vom Straßenrand mit kleinen Fähnchen Autokorsos und Paraden zugewunken hat.
Ich gehe ein paarmal langsam um das Haus herum, mache Fotos und stelle mir vor, wie Rosa auf ihrem Fahrrad morgens angeradelt kommt, die Zimmer der Gäste versorgt, in der Küche hilft und im Kanzlerhaus die Geranien gießt. Vor dem Gebäude befindet sich heute ein großes Schild mit der Inschrift: »Ehemalige Reichskanzlei von 1936 bis 1945 – US-Hauptquartier von 1945 bis 1996 – ab 2001 private Wohnanlage.«
Keine Menschenseele ist zu sehen. Doch das Gelände gehört zum öffentlichen Raum, und ich weiß überhaupt nicht, warum ich hier so rumschleiche, mich ständig umschaue und fürchte, jeden Moment wird mich jemand auffordern zu verschwinden. Die Fantasie geht mit mir durch: Hitler, SS, Nazis. Nichts passiert, und ich fahre mit meinen Bildern im Kasten wieder die fünf Minuten nach Berchtesgaden zurück. Im Goldenen Bären bestelle ich mir zum Abendessen ein Brotzeit-Brettl mit Speck, Radi, Obatzda und Griebenschmalz. Berchtesgaden.
Die Bergluft hat mich gut schlafen lassen. Als ich frühmorgens aus dem Fenster schaue, ist der Watzmann hinter einer Nebelwand verborgen. Ich überspiele die Fotos und Schallaufnahmen von gestern auf meinen Laptop, packe ein paar Sachen zusammen und mache mich auf den Weg zum Obersalzberg. Dort stand früher einmal der Berghof.
Es ist September, die größte Sommerhitze ist vorbei und die Temperatur liegt mit 16 Grad im angenehmen Bereich. Im Gegensatz zum Kederlehen und der kleinen Reichskanzlei ist hier ganz schön was los.
Zwar wurde der Berghof kurz vor Kriegsende fast völlig zerstört, aber auf den Grundmauern des früheren Gästehauses am Hintereck richtete der Freistaat Bayern 1999 die Dokumentation Obersalzberg zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit ein. Zu diesem Ort fahren die großen Reisebusse mit Touristen. Klar, sie wollen sich informieren über diese Schreckensherrschaft. Aber ein ganz kleines bisschen Thrill ist auch dabei. Hier also lebte der Mann, der die ganze Welt in Brand setzte.
Hitler hatte 1928 Berchtesgaden und den Obersalzberg kennengelernt und mietete das sich in 1000 Meter Höhe gelegene Haus Wachenfeld. 1933 kaufte er es, benannte es in »Berghof« um und ließ es 1936 zu einer repräsentativen Residenz umbauen. In der Folge gruppierten sich innerhalb des sogenannten Führersperrgebiets die Wohnsitze weiterer NSDAP-Politiker um den Berghof, dazu ein Gästehaus, eine SS-Kaserne und ein Gutshof mit Gewächshaus. Die unterirdische Bunkeranlage ist heute noch begehbar und ein beliebtes Touristenziel.
Mehrere Monate im Jahr verbrachte Hitler auf dem Obersalzberg, um von Berchtesgaden aus seinen Regierungsgeschäften nachzugehen. Er empfing auf dem Berghof oder in der Reichskanzlei unzählige Staatsgäste wie zum Beispiel Chamberlain oder Benito Mussolini. Die Bild- und Filmdokumente aus dieser Zeit, die Hitler mit Staatsmännern oder im Kreise seiner Vasallen zeigen, oder die privaten Farbfilme von Eva Braun, die eine triviale Idylle darstellen, sind bekannt. Am 25. April 1945 beendete die Royal Air Force mit einigen hundert Lancaster-Bombern Hitlers Sommerfrische auf dem Obersalzberg. Sie legte den gesamten Komplex in Schutt und Asche. Das im Tal liegende Berchtesgaden blieb jedoch – und darüber bin ich dankbar – nahezu vollständig verschont.
Ich verzichte darauf, hier oben zu fotografieren. Der Hitler-Mist macht mich krank. Stattdessen fahre ich wieder ins Tal auf die Alpenstraße in Richtung Untersberg.
Am 8. Mai 1945 war der Krieg mit der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands zu Ende. Man spricht von der Stunde Null. Rosa, mittlerweile neunzehn Jahre alt, arbeitete immer noch in der kleinen Reichskanzlei, jetzt allerdings für die U. S. Army. Sie war ein hübsches Mädchen: Mit ihren grünen Augen und den dunklen lockigen Haaren sah sie fast schon mediterran aus. Die italienische Abstammung von Vater Josef machte sich bemerkbar. Ob sie damals die Amerikaner als Besatzung oder Rettung empfand, darüber hat sie mit mir nie gesprochen.
Zumindest ihre Begegnung mit Elmar, einem GI, blieb nicht ohne Folgen – sie wurde schwanger. Ihr erstes Kind, Marietta, kam am 23. Juli 1946 in Bischofswiesen zur Welt. Elmar kehrte noch vor ihrer Geburt in die USA zurück. Meine Mutter sah ihn nie wieder. Und hat auch niemals von ihm erzählt. Mit ihren zwanzig Jahren trug Rosa nun allein die volle Verantwortung für ihr Kind, verließ das Headquarter der Amerikaner und fand im Gasthaus zum Untersberg eine neue Stelle als Zimmermädchen.
Vom Obersalzberg fahre ich immer parallel zur Berchtesgadener Ache, bis ich wenige Minuten später Marktschellenberg erreiche. Dort wo sich der Fluss in einem Wehr staut, biege ich links ein und befinde mich schließlich vor Gadringers Gasthaus zum Untersberg.
Obwohl das Gebäude heute leer steht, macht es auf mich keinen verwahrlosten Eindruck. Alles ist noch funktionsfähig, als wäre es vor Kurzem verlassen worden. Als ich um die Gebäude herumgehe, stehe ich plötzlich im ehemaligen Tanzgarten, der an einer Hauswand auf einem großen Bild festgehalten wurde. Unter der Bildüberschrift »Gasthof Untersberg – Fremdenzimmer – eigene Metzgerei – Besitzer A. Gadringer« sitzen ein Mönch, einige Männer und Frauen und drei Kinder an einem gedeckten Tisch, halten Maßkrüge in der Hand und unterhalten sich offensichtlich sehr angeregt. Ein Zitherspieler sorgt für die Musik. Über den Köpfen der munteren Gesellschaft hängen an aufgespannten Seilen Würste, Geflügel und Brezen, im Hintergrund ist der Untersberg zu sehen. Mehr Bayern, mehr Berchtesgaden geht kaum.
Ich setzte mich unter einen Baum und stellte mir vor, wie es 1946 an einem Wochenende ausgeschaut haben mag, als Rosa hier als Zimmermädchen arbeitete: Auf der Straße parken die Jeeps der GIs halb auf dem Gehweg. Der Festsaal und der Garten bieten dreihundert oder mehr Menschen Raum. Die Trachtenkapelle spielt bayerische Volksmusik im Wechsel mit einer Swing-Band, die Glenn-Miller- oder Benny-Goodman-Songs im Repertoire hat. Bayerisch mischt sich mit amerikanischen Vokabeln – Dirndl und Lederhosen mit Uniformen. Und Kellnerinnen tragen fleißig Maßkrüge in den Garten. Die Soldaten, die ihr Marschbefehl nach Berchtesgaden geführt hat, haben das große Los gezogen: Bingo!
Um die Streitkräfte zu unterhalten, wurden neben Musikkapellen auch andere Künstler engagiert. Ein junger Mann, der 1947 mit einer Varietégruppe dort auftrat, erregte Rosas Aufmerksamkeit. Sein Name war Hans-Joachim – und er sollte mein Vater werden. Hans-Joachim Bartos – Jahrgang 1923 – war in den Wirren der Nachkriegszeit im Showgeschäft gelandet. Irgendetwas faszinierte ihn immer schon an der Bühne. Während seiner Jugend hatte er Klavierunterricht erhalten und in der Leipziger Staatsoper als Statist gearbeitet. Der alte Reisepass beschreibt sein Erscheinungsbild in knappen Worten: Gesichtsform: oval. Farbe der Augen: blau. Größe: 1,78 Meter. Besondere Kennzeichen: keine. Die brünetten Haare trug er kurz geschnitten aus dem Gesicht nach hinten gekämmt. Hans-Joachim war schlank und sah gut aus.
Wie bei den meisten jungen Männern seiner Generation hatte der Zweite Weltkrieg seine Pläne für die Zukunft zerstört. Er wurde 1943 zum Wehrdienst an die Ostfront eingezogen und geriet in russische Gefangenschaft. Über den Krieg und seine Jahre in Kriegsgefangenschaft hat mein Vater nie gesprochen. 1945 wurde Hans-Joachim mit 22 Jahren in die Heimat entlassen. Er war frei, blieb aber für den Rest seines Lebens gezeichnet. Im Grunde hat er sich nie mehr von den Strapazen erholt. Viel mehr als an den Erfrierungen seiner Füße und den heftigen Malariaanfällen, mit denen er noch Jahre nach dem Krieg kämpfte, litt er an den psychologischen Folgen seiner Kriegserfahrungen und Gefangenschaft. Heute würde man das eine posttraumatische Belastungsstörung nennen. Damals war das ein kollektiver Zustand.
Hans-Joachim schloss sich einer kleinen Theatergruppe an, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. 1947, bei einem Engagement im Gasthaus zum Untersberg in Marktschellenberg, lernte er Rosa Lankes kennen. Viel weiß ich nicht über die Begegnung von Rosa und Hans-Joachim. Auf den wenigen Portraits aus dieser Zeit sehen sie aus, als wären sie füreinander bestimmt gewesen. Offensichtlich verliebten sie sich ineinander und wurden ein Paar. Ich kann mir gut vorstellen, dass Hans-Joachim die hübsche Rosa überredete, in sein Künstler-Ensemble einzusteigen.
Rosa und Hans-Joachim waren nun nicht nur ein Paar, sondern auch Kollegen beim Varieté. Gemeinsam reisten sie im Januar 1948 zu ihrem nächsten Engagement nach München. Das war das erste Mal, dass Rosa das Berchtesgadener Land verließ. Am 28. Februar 1948 heiraten Rosa und Hans-Joachim in Leipzig, dem Wohnsitz seiner Eltern Martha und Alfred Bartos.
Die Familie Bartos war gegen Ende des 19. Jahrhunderts aus Ungarn zuerst nach Polen und dann nach Deutschland immigriert. Hier wurde aus dem ungarisch ausgesprochenen »Bartosch« das deutsche »Bartos«. Im Verlauf des Ersten Weltkriegs arbeitete Alfred als Lokomotivführer beim Deutschen Heer und wurde nach 1918 von der Reichsbahn übernommen. In den 1920er-Jahren heiratete er die aus dem Riesengebirge stammende Martha und zeugte mit ihr ihr einziges Kind, Hans-Joachim, der 1923 das Licht der Welt erblickte. Ab 1930 wohnte die Familie Bartos in Leipzig. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurden beide Männer in die Wehrmacht einberufen.
Ich kenne meinen Großvater nur korrekt gekleidet: Anzug, Hemd und Krawatte, Mantel mit Fellkragen. Ein großer Redner war er nicht, was ihn allerdings später nicht daran hinderte, ausgiebig mit dem Fernseher – am liebsten mit Politikern der SPD, die er für Kommunisten hielt – zu sprechen. Martha, meine Oma, war ein paar Jahre jünger als Alfred und wesentlich agiler. Sie liebte es, sich schick anzuziehen, und sorgte dafür, dass sie am öffentlichen Leben teilnahmen und nicht zu Hause versauerten. Sie nahm Klavierstunden und meldete auch Hans-Joachim bei ihrer Lehrerin an.
Nach der Hochzeit von Rosa und Hans-Joachim in Leipzig folgen zwischen Juli und November 1948 weitere Varieté-Engagements in München, schließlich lebte die junge Familie ab 1949 ganz dort. Diese Episode im Leben meiner Eltern habe ich erst lange nach ihrem Tod bei der Durchsicht ihrer Unterlagen entdeckt. Nie haben sie über ihre Zeit als Varietékünstler gesprochen.
1951 gaben Rosa und Hans-Joachim ihre Jobs beim Varieté auf und kehren ins Berchtesgadener Land, Rosas Heimat, zurück. Hans-Joachims Eltern siedelten ebenfalls um – gemeinsam ist man stärker. In Marktschellenberg fand die gesamte Familie Bartos eine neue Bleibe. Hans-Joachims Vater bekam allerdings mit seinen 53 Jahren dort keine Arbeit mehr. Doch Not macht erfinderisch, und schon bald hatte sich die Familie eine Maschine für die Herstellung von Kleidung aus Wolle organisiert und gründete eine Firma. Als Schellenberger Strumpfstrickerei warb der Familienbetrieb für »Anfertigung, Versand und Verkauf von Strümpfen aller Art«. In der Wohnung in Marktschellenberg befand sich die Strickerei, ein Ladengeschäft eröffneten sie dann direkt in Berchtesgaden.
Schon bald erschien ich als Verstärkung auf der Bildfläche. Am 31. Mai 1952 wurde ich in Marktschellenberg, in der Kirchgasse 33, der Firmenzentrale, geboren. Es wurde aber auch Zeit.
Ich habe keine Ahnung, wie lange ich im Tanzgarten des Gasthaus Untersberg gesessen habe – bestimmt einige Stunden. Das nächste Ziel meiner Reise in die Vergangenheit ist die Kirchgasse. Schon nach ein paar Metern den Berg hinauf sehe ich mein Geburtshaus.
Ein passender Name für mich war im Angesicht des Untersbergs schnell gefunden, denn der Sage nach thront Kaiser Karl der Große mit seinem Gefolge in einer prächtigen Spalte im Inneren des Untersbergs. Also sollte ich Karl heißen. Für meine Großeltern schien damals aber Heinz der passende Name zu sein und so fanden meine Eltern einen Kompromiss – man ahnt es schon: Karlheinz.
Noch ein paar Tage verbringe ich in Berchtesgaden. Ich streife durch den Ort, sehe mir die Kirchen an, höre die Mönche im Franziskanerkloster singen, lese die Namen auf den Grabsteinen des Friedhofs. Und ich kehre an den Ort zurück, wo ich irgendwann in den Sechzigern eine meiner ersten Schallplatten gekauft hatte – »Get Off Of My Cloud« von den Rolling Stones.
Natürlich versäume ich auch nicht, nach vielen Jahren wieder einmal das berühmte Echo vom Königsee zu hören. Das Echo darf nicht fotografiert werden, zwinkert der Reiseführer auf dem Ausflugsboot mir zu – dann packt der Spaßvogel sein Flügelhorn aus und legt los. Tatsächlich kann ich in den Spielpausen ein Echo mit einer langen, aber leisen Rückkopplung hören. Wie immer habe ich meinen Rekorder dabei. Zu dumm nur, dass ich vergesse, aus dem Standby-Modus auf Aufnahme zu schalten, ich alter Elektrolurch. Mit der Aufnahme wird es also nichts. Aber ich habe es ja gehört, und für mich wird dieser Moment unwiederholbar bleiben.
Am Abend des letzten Tages erlebe ich noch ein Konzert einer original bayerischen Blaskapelle direkt neben dem Wirtshaus Goldener Bär. Dann geht es zurück durch Berchtesgaden und Marktschellenberg in Richtung Salzburg, wo ich den nächsten Flieger nach Hamburg nehme – den Anfang meiner Autobiografie im Kopf und ein ambivalentes Heimatgefühl im Herzen.
Anscheinend wollten die Menschen in Berchtesgaden keine neuen Strümpfe kaufen. Vermutlich hatten sie noch genügend alte im Schrank. Obwohl ich mich mit Händen und Füßen dagegen sträubte, das Berchtesgadener Land zu verlassen, beschlossen meine Eltern, nach Nordrhein-Westfalen umzusiedeln. In der Boomtown Düsseldorf würde es leichter sein, die Familie zu ernähren. Im November 1954 machten wir uns also mit unserem gesamten Hab und Gut auf nach Düsseldorf. Zunächst fanden wir alle zusammen in Bilk, einem Arbeiterviertel in der Nähe des Rheins, in der dritten Etage eines Mietshauses in der Friedenstraße, Ecke Bilker Allee, eine Wohnung. Die drei Zimmer waren für sechs Personen natürlich auf Dauer zu klein. Deshalb atmeten wir auf, als die Großeltern in eine eigene Wohnung im Zooviertel zogen.
Von meinem dritten bis zum siebzehnten Lebensjahr bin ich in Unterbilk aufgewachsen. Das ist der Ort meiner Kindheit. Die Straßen der Umgebung waren meine Welt. Ich würde nicht so weit gehen, unser Viertel als malerisch zu bezeichnen, aber es war lebendig. Die alten Häuser mit ihren Hinterhöfen, die zahlreichen Ruinen und Baustellen. Deutsche Eckkneipen mit Butzenscheiben oder ehemals weißen Stores vor den Fenstern, das Kopfsteinpflaster, das im Regen glänzte, die Litfaßsäulen mit ihren Werbebotschaften. Manchmal hörte ich sogar den Klang einer Drehorgel, mit der ein Leierkastenmann durch die Straßen zog.
Unser Mietshaus war ein Neubau und hatte allen Komfort der Fünfzigerjahre zu bieten. Wir lebten jetzt zu viert auf sechzig, siebzig Quadratmeter. Ein Bad und eine Zentralheizung waren schon eine erhebliche Verbesserung zu unserer Unterkunft in Marktschellenberg. Das Kinderzimmer teilte ich mir mit Marietta.
Zunächst versuchten meine jungen Eltern mit ihrer Strickmaschine weiter Kleidung herzustellen, gaben es jedoch schließlich auf. Ohne Ladengeschäft funktionierte das nicht. Meinem Vater fiel es in dieser Zeit des Wirtschaftswunders aber nicht schwer, Arbeit zu finden. Und meine Mutter bekam schon bald von einer Änderungsschneiderei Aufträge, die sie zu Hause erledigen konnte. Sie mochte ihre Arbeit. Zufrieden hörte ich sie beim Nähen ihre Lieder aus Berchtesgaden singen.
Nach einiger Zeit wurde das Rheinland unsere Heimat – für mich sowieso. Und schon bald sagte man bei uns zu Hause nicht nur »Grüß Gott«, sondern auch »Tschüss«. Noch heute überzieht der rheinische Dialekt wie ein Firnis meine Sprache. So beschrieb das jedenfalls mal ein Journalist in einem großen Interview.
Nur zu gerne stromerte ich durch die Straßen in meinem Stadtteil. Vor der Einschulung begleitete ich meine Mutter oft beim Einkaufen. Es gab zwar schon ein Kaiser’s-Kaffee-Geschäft, aber die Zeit der Supermärkte war noch nicht gekommen. In unserem Haus befand sich ein großes Ladenlokal mit der Neonschrift Radio & Fernsehen Mende. Doch Herr Mende verkaufte nicht nur Radios und Fernseher, sondern auch Plattenspieler, Schallplatten und diverse Küchengeräte. Eine wirklich besondere Adresse war der Gemüsehändler auf der Bilker Allee. Das Geschäft hatte für die damalige Zeit üppige Auslagen und übte eine große Anziehungskraft auf Marietta und mich aus, weil der Händler im Hinterhof in einem Stall zwei Pferde hielt: Iron Bill und Sinai. Marietta war verrückt nach Pferden und hatte die Erlaubnis erhalten, sich um die beiden Tiere zu kümmern. Sie brachte sie auf eine nahe gelegene Weide und durfte dort sogar auf ihnen reiten.
Auf der Bilker Allee in Richtung Kronprinzenstraße lag ein kleiner Laden für alltägliche Bedürfnisse. Dort gab es Tabak, Zeitungen und Getränke – ein Büdchen, wie man im Rheinland sagt. Für alle anderen einfach ein Kiosk. Ich habe keine Ahnung, wie viele Wundertüten für zehn Pfennig ich dort während meiner Kindheit erstanden habe. Es war für uns eine Art Sport, die Inhalte der Tüten zu tauschen. Aber wir kauften dort auch ständig Glasmurmeln oder Brausewürfel, die wir dann aus der Hand mit etwas Spucke schlürften.
Das Fahrradgeschäft gegenüber hatte neben den normalen Rädern und Waschmaschinen ein paar Highlights parat: Mopeds der Marke Kreidler. Das war natürlich der Hammer! Wir schlichen dort vor allem um die »Florett« herum und schauten sie uns immer wieder an. Die älteren Jungs aus der Umgebung hatten ähnliche Maschinen. Interessanterweise fuhren dann auch Mädchen auf dem hinteren Sitz mit. Mhmmm! Später, als ich ein Fahrrad hatte, versuchte ich, die Kiste mit farbigen Zierspiralen an den Bremszügen und einem Fuchsschwanz in diese Richtung zu frisieren. Allerdings nur mit mäßigem Erfolg.
Der unvermeidliche erste Schultag 1958 hinterließ bei mir keine nennenswerte Erinnerung. Lediglich ein Foto, das mich mit einer überproportional großen Schultüte zeigt, belegt, dass er tatsächlich stattgefunden hat. Aber, na klar, jetzt änderte sich etwas in meinem Leben.
Die evangelische Volksschule war eine gemischte Schule. Jungen und Mädchen wurden allerdings getrennt unterrichtet. Die Klassen waren rappelvoll. Alle Schüler und Schülerinnen kamen aus Unterbilk, die meisten wie ich aus kleinen Verhältnissen. Immerhin konnte ich die Schule zu Fuß erreichen. In knapp zehn Minuten war ich dort.
Wohlgefühlt habe ich mich im Unterricht nicht. Manchmal frage ich mich, ob ich überhaupt dort war. Auf einer Schiefertafel lernten wir Schreiben und Lesen – und was sonst noch so alles dazugehört. Zunächst von unserem Klassenlehrer Maas. Er war ein Mann, der mit Vorliebe British Tweed trug, er mochte das Englische. Außerdem machten wir recht bald Bekanntschaft mit Maximilian, seinem circa 60 Zentimeter langen Rattanstock. Wenn jemand mal wieder unaufmerksam, laut oder frech war, musste er aufstehen und dem Lehrer seine Hände ausgestreckt entgegenhalten – Handrücken nach oben. Dann gab es mit Maximilian ein paar Schläge. Weitere ausgefuchste pädagogische Maßnahmen waren das Kneifen in die Backen und Ohrenlangziehen. Davon verstand Lehrer Maas etwas.
Und dann war da noch meine erste Begegnung mit dem Schulfach Musik. Die vergeblichen Bemühungen meines Lehrers, uns die Notenschrift näherzubringen, wären bestimmt eine furchtbar komische Comedy-Nummer gewesen. Leider hatte keiner von uns Schülern auch nur die geringste Lust, sich mit den fünf Linien und den schwarzen Punkten mit den lustigen Fahnen auseinanderzusetzen. Wozu sollte das gut sein? Dieser erste, nur theoretische Ansatz, losgelöst von einer sinnlichen Wahrnehmung, brachte mir Musik nicht näher. Sie ging total an mir vorbei.
Zu Hause teilte ich mir mit meiner Schwester ein Zimmer, und im Allgemeinen vertrugen wir uns. Marietta war sechs Jahre älter und kümmerte sich um ihren kleinen Bruder. Sie war katholisch – ich evangelisch. Aber eigentlich spielte die Religion bei uns zu Hause keine entscheidende Rolle. Die verschiedenen Konfessionen hatten jedoch dazu geführt, dass wir auf unterschiedlichen Schulen gelandet waren. Marietta besuchte die katholische Volksschule.
Was aber auch Vorteile hatte: Als Katholikin hatte Marietta Zugang zur Pfarrbibliothek der Friedenskirche. Regelmäßig am Sonntag nach dem Morgengottesdienst lieh sie sich dort ein neues Buch aus, aus dem sie mir dann unermüdlich vorlas. Auf diese Art lernte ich die Romane von Enid Blyton kennen. Die Fünf Freunde-Reihe oder die Geheimnis um-Serie. Und dann selbstverständlich die Romane von Karl May: Winnetou 1 bis 3, Old Surehand, Der Schatz im Silbersee und, und, und. Mariettas Vorträge beeindruckten mich enorm.
Im Rückblick erscheint mir diese Zeit wie ein Märchen. Denn alles war so, wie es sein sollte. In den Fotoalben aus dieser Zeit sehen wir aus wie eine glückliche Familie. Und das waren wir auch.
Als ich zu Weihnachten 1961 eine elektrische Eisenbahn geschenkt bekam, hatte ich wie fast jeder kleine Junge einen Mordsspaß. »Einsteigen und die Türen schließen« war mein Lieblingsspruch. Mein Interesse schwand aber rasch und wurde abgelöst von der Freude, die Landschaft meiner kleinen Eisenbahnwelt zu gestalten. Der Berg, ohne den kein Tunnel möglich war, ein kleiner See, der Bahnhof, die umliegenden Häuser und die Miniaturmenschen aus Elastolin, die den Bahnhof und die Wege bevölkerten.
Diese Minimenschen faszinierten mich. Dann entdeckte ich beim Spielzeughändler meines Vertrauens noch andere Figuren. Die Charaktere der Karl-May-Romane sahen wirklich gut aus. Und schon bald gehörten Old Shatterhand, Winnetou, Old Surehand und all die anderen zu meiner Sammlung. Eine weitere Gruppe waren die Figuren um Prinz Eisenherz: Ritter, Knappen und Burgfräulein. Die dritte Gruppe waren Soldaten der unterschiedlichen Waffengattungen und jede Menge Panzer, Lkws und Jeeps der Deutschen Wehrmacht, der Roten Armee und der amerikanischen Streitkräfte.
Das Sammeln an sich interessierte mich gar nicht so. Mein eigentliches Interesse galt der Holzkommode mit den drei Schubladen, in die ich drei unterschiedliche Landschaften baute. Oben der Wilde Westen, in der Mitte eine Wüste mit dem Afrikakorps von Rommel, unten ein Rittersaal mit Prinz Eisenherz und einigen Rittern der Tafelrunde – Burgfräulein waren zugelassen. Eigentlich spielte ich nicht mit den Figuren. Es kam mir darauf an, diese geheimen Landschaften in den Schubladen zu haben.
Irgendwann führten auch die Lesestunden mit Marietta aus dem großen Repertoire der Enid-Blyton-Bücher bei mir zu einer ganz individuellen Freizeitbeschäftigung. Wie der Protagonist der Geheimnis um-Reihe, Dicki, wollte ich Detektiv werden. Vom Theaterfrisör besorgte ich mir Schminke, einen künstlichen Bart, Mastix zum Ankleben und Polster für die Backen. Zusätzlich legte ich mir eine zweite Garderobe zu. Um da wirklich überzeugend zu wirken, studierte ich sogar ein Buch über Maskenbildner in der Oper. Derart verkleidet ging ich dann auf die Straße, verfolgte Passanten ein paar Häuserblocks und schrieb gewissenhaft auf, was sie taten. Hier überlasse ich es gerne der Fantasie der Leser, sich die Szenerie näher vorzustellen. Damals war ich jedoch felsenfest davon überzeugt, dass mich niemand erkennen würde.
Es ging mir gut. Ich verfolgte meine jeweils aktuellen Projekte, und auch die Anforderungen der Schule waren kein Problem für mich. Solange meine Zeugnisse okay waren, ließen mich meine Eltern tun und lassen, was ich wollte – wenn ich am Abend nur pünktlich zu Hause war. So seltsam es auch klingt, ich glaube fast, niemand bemerkte mich wirklich. Ich rutschte überall durch – in der Schule und auch bei meinen Eltern –, als wäre ich unsichtbar gewesen. Nicht dass sie mich nicht lieb gehabt hätten, aber unser Leben verlief wie mit einer Schablone gezeichnet. Meine Eltern kannten nichts außer ihrer Arbeit, den Feiertagen und ihrem Jahresurlaub.
In den Sommerferien fuhren wir regelmäßig auf der damals noch vergleichsweise wenig befahrenen Autobahn in Richtung Süden zurück in die Heimat meiner Mutter. Urlaub auf dem Bauernhof hieß das Motto. Von 1960 an machten wir mehrere Jahre hintereinander Sommerferien in Berchtesgaden. Natürlich bin ich im Rheinland aufgewachsen, sozialisiert und fühle mich als Rheinländer, aber dem Berchtesgadener Land bleibe ich trotzdem für immer verbunden. Ist es meine Heimat? Sagen wir mal so: Immer wenn ich dort bin, fühle ich mich wie ein Rheinländer, der in seiner zweiten Heimat zu Gast ist.
In der Rückschau hatte meine Kindheit bis jetzt noch keinen Soundtrack. Oder doch? Natürlich nahm ich einen großen Teil der Geräusche und Klänge meiner Umgebung über mein Gehör auf, als akustische Information, ohne darüber nachzudenken. Aber ab wann habe ich Sound bewusst wahrgenommen?
Wie jede Mutter hat mir auch meine Mutter die ersten Lieder vorgesungen. Das war schon immer so und wird vermutlich immer so bleiben. Es ist Teil unserer menschlichen Kultur, überall auf der Welt. Wenn ich mich in meine Kindheit zurückversetze, höre ich ganz am Anfang die Stimme meiner Mutter Rosa und dann … was höre ich dann?
Die Glocken der nahen Bilker Friedenskirche: Ich erinnere mich, dass ich als kleiner Junge auch schon hingehört habe, wie zunächst eine Glocke langsam anfing zu läuten. Wie dann eine zweite und eine dritte in anderen Intervallen gestimmt hinzukamen, sich mischten, schneller wurden, sich verdichteten und dann auf eine nicht berechenbare Weise durcheinanderklangen, um nach einiger Zeit langsamer zu werden und schließlich wieder zu verstummen. Dann gab es die in regelmäßigen Abständen fahrenden Straßenbahnen mit ihrem Bimmeln, Klappern, Quietschen und Rattern. Unermüdlich schienen sie mit lautem Getöse auf der Bilker Allee hin- und herzufahren.
Der Mädchenchor der Konkordiaschule ist eine weitere musikalische Erinnerung an meine Kindheit. Die hohen Stimmen der Mädchen, aber auch die Ordnung der Aufführung, diese gemeinschaftliche Darbietung, beeindruckten mich. In diesem Zusammenhang steht natürlich auch die Orgelmusik während der Schulgottesdienste, an denen unsere Klasse jeden Donnerstag teilnahm.
Was man nicht unterschätzen sollte: Im Rheinland spielen Schützenvereine eine große Rolle. Bei den Schützenfesten, die ein paarmal im Jahr stattfinden, wird auf Zielscheiben geschossen und zur Belohnung oder aus Frust amtlich gesoffen. Davor und danach ziehen die Marschkapellen vorzugsweise in den frühen Morgenstunden durch die Straßen – mit Piccoloflöten, Glockenspiel, Marschtrommeln, Rührtrommeln, Basstrommeln, Marschbecken und Schellenbaum.
Wenn ich mich an den Sound meiner Kindheit erinnere, darf der Rheinische Karneval natürlich nicht fehlen. In dieses Volksfest mit den damit verbundenen Ritualen wächst man unweigerlich hinein. Man begreift schnell: Es ist die fünfte Jahreszeit, die Über-Feier, das rheinische Lebensbekenntnis und Mega-Ritual schlechthin. Dabei werden allerdings auch die Grenzen des Alltags und des guten Geschmacks überwunden. Sexuelle Freizügigkeit versteht sich dabei von selbst. Für uns Kinder zählte mehr der Spaß am Verkleiden. Ich war meistens Indianer. Natürlich hatte ich Pfeil und Bogen, Perücke und Make-up. So ausgestattet spielten wir im Park, kämpften gegen vereinzelte Cowboys und die Armee der Südstaaten. Nach getaner Arbeit schauten wir uns den Rosenmontagszug in der Altstadt an. In meiner Erinnerung spielen die Spielmannszüge der Schützenvereine ohne Unterbrechung und in allen Variationen »Freut euch des Lebens«. Aber natürlich werden beim Karneval auch andere Lieder gesungen und gespielt – es gibt kein Entrinnen, wenn eine ganze Stadt einstimmt. So lernt man schon als Kind automatisch – und ohne sich dessen bewusst zu sein – die Texte der zahllosen Karnevalslieder auswendig.
Das Medium dieser Zeit war zunächst noch das Radio. Der Apparat wurde von mir aber nicht als ein Übermittler von Musik oder Nachrichten wahrgenommen, er stand einfach auf der Kommode und machte irgendwie Sound. Was da zu hören war, war nicht wirklich wichtig. Es war eher eine Frage von »Radio an – Radio aus«. Der Apparat machte keinen großen Eindruck auf mich.
Dann kam der Tag, an dem mein Vater uns mit einem Schwarz-Weiß-Fernseher überraschte. Da flimmerten die Serien aus Amerika über den Bildschirm: Lassie, Fury und 77 Sunset Strip. Oder die deutschen Serien für Kinder, Krimi-Straßenfeger und Kitsch-Filme: Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer, Samstagnachmittag zu Hause, Stahlnetz, Ein Platz für Tiere, Die Mädels vom Immenhof und natürlich Sissi.
Zum Pflichtprogramm gehörte ab 1961 die Sportschau, die in der ARD erst sonntags und nach Einführung der Bundesliga auch samstags über die aktuellen Sportereignisse informierte. Zwei Jahre später konterte das ZDF mit Das aktuelle Sportstudio am späten Samstagabend – bis heute der Klassiker der Wochenendunterhaltung. Bemerkenswert finde ich übrigens, dass sich die Titelmelodie des Sportstudios – »Up To Date«, eingespielt von Max Greger und seinem Orchester – bis heute gehalten hat und zum musikalischen Kanon Deutschlands gehört.
Mit elf oder zwölf Jahren erlebte ich schließlich den Anfang der großen Samstagabend-Unterhaltungsshows. Meistens erschien ich frisch gebadet und gekämmt im Schlafanzug im Wohnzimmer, wo wir uns alle vor dem Fernseher versammelten, um diese fast schon heiligen Sendungen anzuschauen: Einer wird gewinnen, Vergißmeinnicht und Der goldene Schuß.
Das neue Medium brachte neben Unterhaltung noch etwas anderes in unser Wohnzimmer: Werbefilme. Diese kurzen Botschaften – mit ihren Tonfolgen und Slogans der verschiedenen Markenprodukte – haben sich wohl auch für ewig in mein Gedächtnis eingebrannt und lassen sich noch heute abrufen. Lese ich einen der alten Werbesprüche, kommt mir sofort die dazugehörende Melodie in den Sinn: »Wer wird denn gleich in die Luft geh’n? Greife lieber zu HB«, »Täglich Underberg – und man fühlt sich wohl«, »Nichts geht über Bärenmarke – Bärenmarke zum Kaffee«.
Genau wie in den USA entstand auch in Deutschland eine gigantische Werbeindustrie, die das Wirtschaftswunder immer weiter befeuerte. Deutschlands Wirtschaft brummte in den Sechzigerjahren auf Hochtouren. Es herrschte Vollbeschäftigung, und alle Familien in unserem Haus an der Friedenstraße konnten sich ein Auto, Telefon, eine Waschmaschine und ein Fernsehgerät leisten. In der zweiten Etage wohnte die Familie Eberstaller mit ihren Söhnen Martin und Michael. Martin war 1963 wie ich elf Jahre alt. Beim Spielen meinte er nebenbei: »Willste mal was Tolles hören? Mika hat ’ne Schallplattensammlung, und er ist ganz verrückt nach dieser neuen Musik.« Michael, sein Bruder, war ein paar Jahre älter als wir und offensichtlich Musikfan. Genauer gesagt liebte er Rock ’n’ Roll. »Da gibt’s so einen Sänger aus Amerika«, erklärte Martin, »der ist klasse – Elvis Presley heißt er.« Ich gab zu: Von dem hatte ich noch nichts gehört. Martin legte auch schon eine 7″-Single auf den Plattenspieler und schaltete ihn ein. Wir hörten »Jailhouse Rock«, »Blue Suede Shoes«, »Return To Sender« von Elvis und noch »Ready Teddy« von Cliff Richard – »Och, das ist so’n anderer«, sagte Martin.
Martin spielte die Platten nur an, wir hörten vielleicht eine Minute, und schon legte er die nächste auf. Als DJ war er ein blutiger Anfänger. Und nach dieser kurzen akustischen Einlage wendeten wir uns wieder unseren Spielzeugen zu und beobachteten vom Fenster aus die Nachbarjungs gegenüber, die an ihren Kreidler-Mopeds rumbastelten. Meine Mutter nannte sie abschätzig »die Halbstarken«.
Und die Musik? Ja, irgendwie fand ich diese Rock ’n’ Roll-Musik schon interessant. Vielleicht auch deshalb, weil sich Martins großer Bruder für sie begeisterte? Keine Ahnung. Aber sie erreichte mich nicht. Meine Rezeptoren waren scheinbar noch nicht auf Empfang gestellt.