Edel Elements
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Copyright © 2016 by Rebecca Maly
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Covergestaltung: Designomicon
Lektorat: Barbara Krause
Korrektorat: Martha Wilhelm
Konvertierung: Datagrafix
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.
ISBN: 978-3-95530-814-8
Rebecca Maly
Tausend Wellen fern
Die Neuseeland-Saga 2
Edel Elements
Über das Buch:
Das Schicksal führt die junge Irin Kaylee auf abenteuerliche Wege. Sie findet sich auf einem Walfangschiff wieder. An Bord herrschen raue Sitten, doch sie weiß sich zu behaupten und kommt ihrem eigentlichen Ziel Neuseeland langsam näher. Bei Landgängen lernt sie an der Seite des Matrosen Timothy MacFarley die raue Schönheit der Südinsel kennen. Doch in Gedanken ist sie immer bei ihrer verschollenen Mutter – wird sie sie wiederfinden?
Über die Autorin:
Rebecca Maly, geboren 1978, arbeitete als Archäologin und Lektorin, bevor sie sich ganz der Schriftstellerei widmete. Die Kultur der Maori lernte sie bereits im Studium kennen, eine Faszination, die bis heute geblieben ist. Die Autorin kann sich nichts Schöneres vorstellen, als ferne Länder zu bereisen und deren Kultur kennen zu lernen. Unter ihrem realen Namen Rebekka Pax hat sie bereits erfolgreich mehrere Romane veröffentlicht.
Timothy stand im Krähennest und hielt Ausschau nach Walen. Schon seit ihrem Landgang auf der Mittelinsel hatten sie keinen mehr gesehen. Vielleicht stimmte es, was manche behaupteten: Die Wale wurden weniger.
Eigentlich war es unvorstellbar. Das Meer schien so weit und so endlos. Unzählige Wale und Fische dürften dort unter der Wasseroberfläche leben. Und doch fingen sie hin und wieder Tiere, die bereits verrostende Harpunen im Leib hatten oder gar Steinwaffen der Maori. Es musste lange dauern, bis sie zu ihrer beachtlichen Größe herangewachsen waren. Er hatte gehört, dass die Kolosse weit über hundert Jahre alt werden konnten.
Timothy vertrieb die schwermütigen Gedanken und nahm erneut das Fernglas zur Hand, um den Horizont abzusuchen. Es gab mehrere Anzeichen, die auf die Anwesenheit von Walen hindeuten konnten. Konzentrationen von Seevögeln und der Blas der Wale, wenn sie zum Atmen an die Oberfläche kamen.
So früh am Tag, wenn die Sonne noch tief stand, fing sich ihr Licht oft als Halo im feinen Sprühnebel.
Die Tasmansee schimmerte glatt und grau wie Blei.
Timothy liebte es hier oben. So fern von allem.
Ein Sturmvogel saß unter ihm auf der obersten Rahe des Hauptmastes und putzte sein Gefieder. Plötzlich flog er auf.
Timothy setzte wieder das Fernglas an und wurde stutzig. Da trieb etwas auf den flachen Wellen. Oft gab es so nahe der Küste Treibholz. Aber das sah anders aus. Das war ein Mastbaum, wenn er es richtig erkannte.
Und dort schwamm etwas Eckiges. Eine Kiste vielleicht, und dort drüben weißgestrichene Planken.
Das war kein gutes Zeichen. Der Sturm hatte sicher seine Opfer gefunden.
Die Tangaroas Speer segelte ohnehin in diese Richtung. Kein Grund, dem Kapitän eine Kursänderung durchzugeben.
Mit erhöhter Aufmerksamkeit suchte Timothy die Wasseroberfläche in der Nähe der Trümmer ab. Sie waren immer deutlicher zu erkennen. Doch es blieb bei den Trümmern. Er konnte weder Leichen noch Überlebende ausmachen.
Erst am Mittag zeichnete sich ein weißer ovaler Fleck ab.
Ein Rettungsboot! Und wenn er es richtig erkannte, waren mehrere Personen an Bord und es bewegte sich gegen den Wind. Also musste jemand die Ruder benutzen. Der gewählte Kurs war gut, wenn sie ihn beibehielten, würde er sie irgendwann an Land bringen.
„Kapitän!“, rief er, um Hobbarts Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. „Ein Rettungsboot, eine halbe Meile voraus, zehn Grad Steuerbord.“
Hobbart korrigierte den Kurs. Er rief der Mannschaft etwas zu, doch zu Timothy drangen nur einzelne Wortfetzen hinauf.
Er hielt sein Fernglas starr auf das Rettungsboot gerichtet. Es waren ein Mann und zwei Frauen, alle drei trugen Rettungswesten. Dem Aussehen nach mussten sie von einem Personenschiff stammen. Auf dieser Route fuhren meistens die großen Kompanien von oder nach Australien und Europa.
Timothy lief es eisig den Rücken hinunter.
Er suchte noch einmal das Meer ab, doch es blieb dabei. Ihr Rettungsboot war das einzige weit und breit.
Und das konnte nur bedeuten, dass Dutzende, vielleicht gar über hundert Menschen im Unwetter den Tod gefunden hatten.
Schnell hatten sie die Überlebenden erreicht. Timothy stieg aus dem Krähennest und die Takelage hinunter.
Als er das Deck erreichte, hatten die Männer schon Seile hinabgeworfen und das kleine Boot längsseits an Backbord vertäut. Soeben warfen sie eine Strickleiter hinunter.
Timothy lehnte sich über die Reling und sah in sonnenverbrannte Gesichter. Es waren wirklich nur drei Menschen. „Schaffen Sie es allein hinauf oder brauchen Sie Hilfe?“, rief er hinunter.
Der junge Mann sprach mit den beiden Frauen, die mit ihm auf dem Boot waren. „Wir schaffen es allein. Aber wir haben zwei Tote an Bord.“
„Darum kümmern wir uns. Kommen Sie erst einmal rauf.“
Er winkte eine der Frauen heran und half ihr, die ersten Tritte der Strickleiter zu erklimmen.
Ihr Rock verhedderte sich dabei immer wieder in den Sprossen, doch sie schaffte es hinauf und ließ sich von zwei Männern an Bord heben.
Der Mann war der Nächste, weil die andere junge Frau offenbar zögerte. Sie setzte sich sogar wieder auf eine Ruderbank. Der Schiffsuntergang musste sie sehr verstört haben.
„Sie will nicht“, sagte der Gerettete und streckte Timothy die Hand hin. „Fred Law, das ist meine Frau Elanore, Ellie genannt. Vielen Dank für Ihre Hilfe.“
„Willkommen an Bord der Tangaroas Speer, ich bin Timothy MacFarley, der Kapitän Mr Hobbart wird Sie gleich begrüßen. Was ist mit Ihrer Begleiterin?“
„Sie weigert sich von Bord zu gehen. Sie hat einen Tag im Wasser getrieben, bevor wir sie herausgefischt haben. Das arme Ding, vielleicht ist sie …“
„Verrückt geworden“, ergänzte Elanore Law und verzog mitleidig das Gesicht. Sie nahm ihre Situation offenbar viel leichter als die Fremde. „Sie heißt Kaylee Heagan, so viel haben wir aus ihr herausbekommen können.“
„Die Männer werden Ihnen alles geben, was Sie fürs Erste brauchen. Ich versuche, Miss Heagan zu überzeugen.“
Timothy stieg behände die Strickleiter hinab. Im Boot angekommen, stach ihm sofort der Verwesungsgeruch in die Nase. Sie würden sich wirklich dringend um die beiden Verstorbenen kümmern müssen.
„Sie wollten die nicht über Bord werfen“, sagte Miss Heagan und sah ihn aus großen braunen Augen an. „Ich hab ihnen gesagt, sie sollen sie ins Meer werfen, aber die haben sich geweigert.“
„Ich verstehe“, sagte Timothy vorsichtig und setzte sich nicht weit von ihr auf die Ruderbank.
„Nein, Sie verstehen ganz und gar nicht, aber ich mache Ihnen keinen Vorwurf.“
„Dann erklären Sie es mir.“
Kaylee Heagan strich sich das braune Haar aus dem Gesicht. Die Sonne hatte es ein wenig ausgeblichen und rötliche Reflexe hineingewirkt. Ihr Mund war trocken und rissig. Sie leckte mit der Zunge darüber, bevor sie weitersprach. „Wissen Sie, die anderen Toten, all die vielen Menschen, sind doch auch im Meer, was macht es für diese zwei schon für einen Unterschied.“
„Nichts. Wir können sie auch nur auf See bestatten.“
„Das haben die Laws nicht verstanden.“
„Das Schiff, mit dem Sie unterwegs waren …“
„Die SS Christophorus.“
„Ja. Was ist passiert?“
„Wir sollten auf Rettungsboote steigen, mitten im Sturm. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht gab es ein Leck. Wir waren die Ersten, dann ist der Mast heruntergekommen … vom Blitz getroffen. Ich fiel ins Wasser. Ich denke, ich war lange ohnmächtig.“
„Ich habe die Trümmer gesehen“, sagte Timothy mit belegter Stimme. Wenn ihr Rettungsboot das erste gewesen war, das sie zu Wasser gelassen hatten, und das Schiff danach auseinandergebrochen war … Wahrscheinlich war es für die anderen Menschen zu spät gewesen.
Miss Heagan räusperte sich wieder.
„Sie müssen durstig sein“, sagte Timothy.
Die junge Frau hob den Blick, die Augen wund, als wolle sie weinen und könne nicht mehr. Es krampfte ihn in der Brust, sie so zu sehen, dabei kannte er sie gar nicht. Und dennoch, wenn er sich vorstellte, an ihrer Stelle zu sein, wurde ihm weh ums Herz.
„Kommen Sie an Bord, Miss, bitte.“
Als sie nicht reagierte, nahm er ihre Hand, die voller Schwielen war, alle offen und entzündet vom Salzwasser. Das musste ziemlich schmerzen. Aber sie zuckte nicht zurück, und er ließ sie nicht los.
„Ich helfe Ihnen, Miss. Wenn Sie oben sind, können Sie sich ausruhen. Die Männer kümmern sich um die Toten, das müssen Sie nicht mit ansehen.“
„Muss ich nicht“, wiederholte sie bleiern und ließ zu, dass er sie auf die Beine zog. Das Boot schwankte kurz, und sie zuckte erschrocken zusammen. „Ich habe Sie, ich lasse nicht zu, dass Sie noch einmal ins Wasser fallen, das verspreche ich.“
***
An Bord der Tangaroas Speer
Wieder auf einem Schiff. Die Laws haben recht behalten. Wir sind gerettet worden. Welch ein Wunder!
Doch Kaylee fiel es schwer, sich zu freuen. Eigentlich fühlte sie fast gar nichts. Sogar die Trauer um Erin war dumpf, als sei der Schmerz zu groß für sie, zu übermächtig, um Einlass in ihr Herz zu finden.
Sie hatten ihr eine winzige Kabine zugeteilt. Dies war kein Passagierschiff. Sie wusste nicht, was für ein Schiff es war, vielleicht ein Handelsschiff, aber außer dem geretteten Paar und ihr schien es keine weiteren Gäste an Bord zu geben.
Kaylee hatte die Tür von innen verriegelt und zwei Tranlampen angezündet, um genug Licht zu haben.
Sie hatten ihr eine große Waschschüssel mit warmem Wasser gebracht, Seife und eine fettige Creme für die offenen Stellen an ihren Händen.
Auf der schmalen Schlafkoje lagen ein weißes Hemd von Mr MacFarley, das er eigentlich für Kirchgänge reserviert hatte, und ein helles Leinentuch mit dunkelroten Mustern, aus dem sie sich mit etwas Geschick und einem Stück Schnur einen Rock binden konnte. Es gab auch einen kleinen Handspiegel. Er war verkratzt und mit einem abgewetzten Holzrahmen eingefasst und sah aus, als diene er der halben Mannschaft als Rasierspiegel.
Kaylee wusch sich mit einem kleinen Lappen. Es tat gut, das Salz von der Haut zu bekommen. Der Kräuterduft der Seife gab ihr auch das Gefühl, sich von innen zu reinigen. Sie ließ ihre Hände brennen. Der Schmerz war eine der ersten Empfindungen, die sie nicht wie durch eine dämpfende Glocke wahrnahm.
Vorsichtig tupfte sie sich mit einem Leinentuch trocken und sah in den Spiegel. Ihr Gesicht war gerötet. Auf Wangen und Nase schälte sich die Haut. Die vielen neuen Sommersprossen sahen aus wie kleine Brandflecke.
Mama hatte immer so viel darauf gegeben, dass sie sich nicht zu sehr dem Mittagslicht aussetzte.
Die Trauer blieb ein drückend schwerer Stein in ihrer Brust.
Sie musste flach daran vorbeiatmen, damit sie überhaupt Luft bekam.
Kaylee presste das Wasser aus den gewaschenen Haaren und zerrte die vielen Knoten auseinander, denn einen Kamm besaß sie nicht. Schnell flocht sie einen Zopf, aus dem es noch tropfte, und zog MacFarleys Hemd an. Es roch nach der gleichen Seife wie diejenige, die sie soeben benutzt hatte.
Sich einen Rock zu binden, gestaltete sich schwieriger. Das Material des Tuchs war ungewöhnlich, vielleicht eine Art Flachs, und dem Schnitt nach eher als Umhang gedacht.
Als sie es geschafft hatte, reichte der Stoff nur bis etwa eine gute Handbreit über die Knie. Unschicklich, aber anders ging es nicht. Und was machte es auch, besaß sie doch noch nicht einmal Schuhe. Einer war verloren gegangen, als sie die Nacht ohnmächtig im Meer getrieben hatte. Den anderen zu tragen, wäre ein lächerlicher Versuch, den Schein zu wahren.
Sie war fertig. Man erwartete, dass sie nun mit dem Kapitän sprach und etwas aß. Am liebsten wäre sie einfach hiergeblieben und hätte sich auf der Matratze zusammengekauert. Aber das war unmöglich. Sie war es diesen guten Leuten schuldig.
Als sie die Tür aufschloss, war sie überrascht, nicht allein zu sein. Timothy MacFarley lehnte an der Wand im schmalen Flur und schien auf sie gewartet zu haben.
Er fuhr sich durch das wirre blonde Haar. „Entschuldigen Sie, Miss, falls ich Sie erschreckt habe, aber …“
„Das haben Sie nicht“, sagte sie schnell. „Nun gut, vielleicht ein wenig.“
„Die Tangaroas Speer ist zwar nicht riesengroß, aber verwinkelt. Ich begleite Sie zur Offiziersmesse, wenn es recht ist.“
Er schien sich wirklich Mühe zu geben, sich gewählt auszudrücken, aber es wirkte wie der Akt eines schlechten Schauspielers.
„Ja, gehen Sie voraus, bitte.“
Das Schiff war in der Tat verwinkelt, kein Vergleich mit der SS Christophorus. Dies war eindeutig kein Passagierschiff, es kamen ja kaum zwei Menschen aneinander vorbei, ohne sich berühren zu müssen.
„Was ist das für ein Schiff?“, fragte sie schließlich.