Jagoda Marinić ist Autorin, Publizistin und Kolumnistin der Berliner Tageszeitung. Ihr Erstling Eigentlich ein Heiratsantrag (2001) war ein großer Erfolg bei Kritik und Publikum. Für den Erzählband Russische Bücher (2005) erhielt sie den Grimmelshausen-Förderpreis, ihr Roman Die Namenlose wurde vom Spiegel zu den wichtigsten Neuerscheinungen des Jahres 2007 gezählt. Nach Aufenthalten in Zagreb, Split, New York und Berlin lebt Jagoda Marinić derzeit in Heidelberg. Als Gründungsdirektorin des Interkulturellen Zentrums leitet sie das Kulturprogramm des bundesweit ersten International Welcome Centers. Sie ist Vorstandssprecherin der bundesweiten Stiftung »Internationale Wochen gegen Rassismus« und Mitglied des Interkulturellen Rats. 2013 erschien ihr international beachteter Roman Restaurant Dalmatia, der jetzt als Atlantik Taschenbuch herauskommt.
Taiye Selasi, Bye Bye Babar
http://www.welt.de/print/die_welt/politik/article13717574/Merkel-Eine-Schande-fuer-Deutschland.html
http://de.wikipedia.org/wiki/Ausschreitungen_von_Rostock-Lichtenhagen
Der Handarbeiter ist dem Kopfarbeiter gleichzusetzen.
Kurt Tucholsky
Nie hätte ich gedacht, dass ich einmal einen Text schreibe, in dem Angela Merkel gut wegkommt. Aber so ist das eben in diesen Tagen, man kann sich nicht einmal mehr auf sich selbst mit Sicherheit verlassen. Schon gar nicht beim Thema Integration, das inzwischen wirklich jede noch so diffuse Debatte meint, in der auch nur ein Ausländer oder Mensch mit Migrationshintergrund auftaucht.
Zum Thema »Integration« gehört inzwischen auch die weltweite Flüchtlingskrise, und daher möchte ich mit der »unverzichtbaren« Europäerin beginnen, wie der Economist Angela Merkel bezeichnet hat. Merkel hat letzten Sommer mit dem Slogan »Wir schaffen das!« einen neuen Kurs eingeschlagen, der sie angreifbar gemacht hat. So ein »Wir schaffen das!« ist leicht zu verneinen. Ich bin gespannt, wie lange sie standhaft bleibt, wie sie Deutschland durch diese Zeiten führen will und welche Rolle in Europa sie in Zukunft einnehmen wird. Wird sie die »starke« Frau bleiben?
Merkel, das war für mich immer die mächtigste Frau Europas, die es vor allem schaffte, bei jeder Neujahrsrede den Eindruck zu erwecken, schon so ein Dreieck aus ihren Händen zu falten sei eine größere Herausforderung für sie. Das erste Mal beeindruckt hat sie mich bei einer Veranstaltung im Deutschen Theater. Den Anlass weiß ich nicht mehr, wenn David Garrett spielt und Johannes B. Kerner moderiert, könnte es alles gewesen sein. Als ich ging, ging zufällig auch Merkel. Ich sah sie vor ihrem Dienstwagen stehen, von Männern umringt. Obwohl sie kleiner war als die meisten, sah sie auf die Herren herab. Gelassene Macht. Und weil ich damals nicht wusste, wofür diese Frau wirklich steht, hatte ich einen kurzen Moment lang Angst vor einer Zukunft mit ihr.
Vor bald zehn Jahren war das. Heute kriege ich mit jedem Tag mehr Angst vor einer Zukunft ohne sie. Ich bin fast zufällig auf ihrer Seite gelandet, weil sie die Einzige ist, die weitsichtige Fragen stellt, wo andere bereits nach Pseudolösungen schreien. »Welche Flüchtlingspolitik ist Europas würdig?«, immer wieder diese unbequeme Frage. Jetzt, da sie endlich tut, was man immer von ihr gefordert hat, nämlich Haltung zeigen, gerät ihre mächtige Gelassenheit ins Wanken. Das Gute: Angela Merkels Leidenschaft kommt zum Vorschein. Das Schlechte: Seit ihrer Standhaftigkeit in Sachen Flüchtlingspolitik sieht man sie immer wieder gebeugt, ratlos und klein – den Gipfel dieser Bildsprache erreichte Horst Seehofer mit seiner Rede auf dem CSU-Parteitag. Da stand sie neben ihm wie ein gescholtenes Kind. Demontage wie aus dem Lehrbuch. Anfang Oktober letzten Jahres, als viele noch auf den Bahnhöfen klatschten, stellten sich Thomas de Maizière und Wolfgang Schäuble zunächst medienwirksam gegen die Staatschefin. Ich dachte gleich an diesen Moment vor dem Dienstwagen zurück; es wird nicht leicht gewesen sein für diese Alphatiere, Merkel an sich vorbeiziehen zu sehen. De Maizière und Schäuble hat sie in kurzer Zeit wieder eingefangen. Dennoch, das Wahlvolk kippt jetzt um. Nicht die vielbeschworene Stimmung kippt, sondern ein Volk verliert seine Haltung, weil es jenen glaubt, die behaupten, man könne sich in einer globalisierten Welt seine Probleme aussuchen. Während die einen auf nationale, abschottende Lösungen pochen, versuchen die anderen, darüber aufzuklären, dass Europa nicht unschuldig ist an der einen oder anderen Misere, die Menschen zur Flucht aus ihrer Heimat treibt.
Bis vor kurzem schien Deutschland aus zwei großen Lagern zu bestehen, das eine skeptisch, das andere optimistisch. Die Silvesternacht in Köln war schließlich der Vorschlaghammer, der die Decke des gepflegten Diskurses zerschlagen hat. Die Skepsis wich zunehmend panischen Untergangsszenarien, der Ton der AfD wurde hetzender und die Rufe nach einer Obergrenze lauter. Es brauche Obergrenzen, es müsse hart abgeschoben werden, Deutschland schaffe das eben nicht. In Talkshows, Zeitungen, im Netz: Terror, Angst, sexuelle Gewalt. Wer darauf hinweist, dass die meisten Menschen in diesem Land abends unversehrt zurück in ihre Wohnungen kommen, würde derzeit vermutlich eingesperrt wegen mangelnder Hysterie. Hysterie ist Normalität geworden.
Wenn Hysteriker reden, gibt es keine Lösungen, nur mehr Aufregung, denn Hysteriker fühlen sich durch Aufregung beruhigt. Schäuble, statt zu beruhigen, will nach Köln über die Möglichkeit von Bundeswehr-Inlandseinsätzen reden. Eine Nummer kleiner wäre wohl nicht hysterisch genug. Erst wenn alle durchs Land rasen wie aufgeschreckte Hühner, findet der Hysteriker Genugtuung. Er fragt gern: »Wie soll einer, der kein Deutsch kann, hier arbeiten?« Als gäbe es keine Antwort darauf. Das ganze Hysterisieren nennt sich heute leider reden über Integration. Wenn einer bei diesem Thema nicht hysterisiert, dann hat er aus Sicht vieler einfach noch nicht verstanden.
Der naive Deutsche, heißt es angeblich im Ausland. In ganz Europa stehe Deutschland isoliert da, heißt es, Thesen wie die des verstorbenen Lord Weidenfeld, die Deutschen würden nun ihre Gräuel des Zweiten Weltkriegs wiedergutmachen wollen, machen die Runde. Auch das selbstschädigende Helfersyndrom der Deutschen wird neuerdings beschworen, nur so ließe sich die neue Hilfsbereitschaft erklären. Ich war diesen Herbst in den USA, eingeladen vom Davidson College und der Deutschen Botschaft in Washington. Als Kulturbotschafterin, Autorin und Leiterin des Interkulturellen Zentrums Heidelberg kam ich mit den unterschiedlichsten Menschen ins Gespräch. Die wenigsten hielten Merkel für die Kamikaze-Kanzlerin Europas. Im Gegenteil. Zum ersten Mal schlug mir im Ausland aufrichtige Bewunderung für Deutschland entgegen. Junge Menschen, vor allem in New York, hatten die Schnauze voll von Donald Trump und planten ein Jahr in Deutschland. Die Kritik, die Merkel für ihre Griechenlandpolitik erhalten hatte, war längst vergessen. Es wirkte fast so, als sei Deutschland allen davongelaufen, als sei Deutschland das mutigste, vitalste, interessanteste Land dieser Welt; ein Land, das Diskurs kann, das Sicherheit kann – und vor allem Demokratie. Deutschland schien mit einem Schlag das zu können, was die USA früher konnten und was Teil ihrer Anziehungskraft war: Selbsterneuerung. Roger Cohen hat diese Stimmung in der New York Times zum Ausdruck gebracht. Er schrieb, Deutschland sei »can-do Germany«. Doch die deutsche Gesellschaft kommt inzwischen selbst zu »Yes, we can’t«. Merkel sagt ja, und der Rest sagt nein. Wenn sie Deutschland nicht hinter sich hat, wird sie auch in Europa nicht führen können.
Es ist das traurigste Europa, seit es Europa gibt. Die Flüchtlinge, die gekommen sind, bilden nicht einmal die Spitze des Eisbergs. Die Menschen in Not werden sich aus dem Elend zu einem neuen Leben aufmachen, ganz gleich, welche Grenzen Europa zieht, innen oder außen. Wer jetzt Obergrenzen fordert, der muss noch im selben Atemzug beantworten, ob er bereit wäre, Menschen vor seinen Grenzen sterben zu lassen, sie mit Gewalt fernzuhalten und die alten Zustände vor Lampedusa hinzunehmen.
Die Reife einer Demokratie zeigt sich an ihrem Vertrauen in die eigene Fähigkeit, noch im größten Stimmengewirr eine Richtung herausarbeiten zu können, der viele trotz unterschiedlicher Positionen folgen können. Kurz: Die Reife zeigt sich an der Zuversicht. Nicht mehr und nicht weniger bedeutet Merkels »Wir schaffen das«. In ihrem Vertrauen auf Vernunft wirkt Angela Merkel fast würdevoll, etwas, das ihr in den faden Neujahrsansprachen nie gelungen ist. Der Rückhalt schwindet trotzdem. Gleichzeitig finden sich Menschen wie ich, die sie immer kritisiert haben, plötzlich auf ihrer Seite wieder. Vielleicht muss sie jetzt nur wieder gelassen werden. Dafür müsste sie sich jedoch auch auf die Gelassenheit ihres Volkes verlassen können, und diesen Punkt haben derzeit viele hinter sich gelassen, vor allem jene, die öffentlich Gehör finden.
Eine Kolumne in der Berliner tageszeitung, in der ich es wagte, Zuversicht zu formulieren, wurde diese tausendfach geteilt. Wenn ich Vorträge halte und nicht das Jammerlied der misslungenen Integration singe, erhalte ich danach oft Briefe aus dem Publikum, deren Absender dankbar sind für den Funken Zuversicht. Es sind nicht zuletzt die im Stillen arbeitenden, haupt- und ehrenamtlich tätigen Bürgerinnen und Bürger, die zum tagtäglichen Gelingen der Integration beitragen, deren immense Leistungen durch den einseitigen Diskurs unsichtbar gemacht werden. Millionen Menschen setzen sich derzeit dafür ein, Deutschland ein menschliches Antlitz zu verleihen. Sie demonstrieren nicht mit ausländerfeindlichen Plakaten, sie gehen in die Flüchtlingsunterkünfte, an die Bahnhöfe, in die Erstaufnahmestellen, und tragen Helfer-Shirts. Ohne diese Menschen wären die letzten Monate in diesem Land nicht so friedlich verlaufen, wie sie verlaufen sind. Doch ein paar Tausend, die montäglich in Dresden spazieren, finden politisch mehr Gehör, die Neuwähler der AfD, die in den etablierten Parteien partout kein politisches Zuhause mehr finden wollen, jagen genau die etablierten Parteien vor sich her. Die wiederum versäumen es, den Dialog mit den Bundesbürgerinnen und -bürgern zu führen, den die rechten Kräfte anbieten, sie versäumen es, jene zu würdigen und in den Vordergrund zu stellen, die derzeit die Lage mit den Behörden und Wohlfahrtsverbänden meistern. Das Gelingende hat leider einmal mehr zu wenig Platz in der deutschen Selbstwahrnehmung. Interessanterweise sind es oft gerade jene, die unter anstrengenden Bedingungen helfen, die schockiert sind über den rauen Ton in der Flüchtlingspolitik. Die Gegner der humanen Flüchtlingspolitik bestimmen derzeit den Diskurs, obwohl sie die Arbeit von anderen machen lassen. Wo genau Deutschland an seine Grenzen stößt, wird zu wenig mit jenen diskutiert, die in der »Flüchtlingskrise« als Helfer und Mitarbeiter integriert sind, sondern gerne mit jenen, die weder mit Flüchtlingen noch mit der ganzen problematischen Weltlage etwas zu tun haben wollen. Can-do Germany kann das besser.
Über sechzehn Millionen Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund leben derzeit in Deutschland, vorwiegend in Westdeutschland. Viele von ihnen sind in Deutschland geboren, sind deutsche Staatsbürger. Nichtsdestotrotz wird derzeit unterschiedslos von Ausländern, Flüchtlingen und Menschen mit Migrationshintergrund gesprochen. Als unlängst ein Schwimmbad im österreichischen Mödling Probleme mit der Disziplin von Besuchern hatte, die zum ersten Mal da waren, hing wenig später von offizieller Seite ein Schreiben am Eingang: Menschen mit Migrationshintergrund haben nur Zutritt in Begleitung. In diesem Fall wären damit auch viele österreichische Staatsbürger gemeint. Nicht jede Pauschaldiskriminierung hat solchen Unterhaltungswert und wird umgehend vom Spott in den sozialen Medien abgestraft.
Die meisten scheinen nicht zu wissen, von wem sie reden. Das verdanken wir der Tatsache, dass viel zu lange viel zu wenig differenziert über Einwanderung gesprochen wurde. Es sind alle einfach Ausländer oder inzwischen »Menschen mit Migrationshintergrund« – viele verwenden diese beiden Begriffe, als würden sie die gleiche Gruppe beschreiben. Dabei ist ein Mensch mit Migrationshintergrund sehr oft gerade kein Ausländer, sondern Deutscher. So wird häufig kaum klar, von wem eigentlich die Rede ist, und es erreichen einen abstruse Meldungen wie: »Ausländer zahlen jetzt Mautgebühr!« – abstrus klingt das, denn auch Gastarbeiter, die seit vierzig Jahren in Deutschland leben, sind Ausländer. Es klingt nach allen, die hier leben und keinen deutschen Pass haben. Gemeint waren jedoch jene, die Deutschland als Durchfahrtsland passieren und nicht hier leben.
Was mich angeht, muss ich zugeben, dass mich die Nachrichtenflut und die Entwicklung im Bereich Integration in den letzten Jahren völlig überrollt haben, von den letzten Monaten ganz zu schweigen. Wo geht es eigentlich lang, so im Großen und Ganzen? Vor ein paar Jahren erst setzte sich ein neuer Diskurs in Bewegung, der mich hoffnungsvoll gestimmt hat: Ja, man begann darüber nachzudenken, ob Staatsbürgerschaftsrechte nicht nur vererbbar sind. Deutschland setze dazu an, die Einwanderung der letzten Jahrzehnte und deren Folgen für diese Gesellschaft aufzuarbeiten. Das alles hatte weitreichende Folgen für das Selbstverständnis dieses Landes, das deutsche Staatsbürgerschaftsrecht hat sich grundlegend verändert und mit ihm das Deutschsein. Junge Menschen, die hier geboren wurden, erhielten die Option für zwei Pässe, mussten sich aber später entscheiden. Die Optionspflicht, auch das hat man in den letzten Jahren politisch entschieden, brachte nur unnötige Loyalitätskonflikte mit sich und ist inzwischen weggefallen. Einmal Deutscher, immer Deutscher, das ist für eine ganze Generation Einwandererkinder beinahe eine revolutionäre Errungenschaft, die fast zu leise vonstatten ging. Diese Errungenschaften haben entscheidend dazu beigetragen, Deutschland in den letzten Jahren zum Einwanderungsland zu machen. Viel Lärm hingegen gab es um Ideen wie »Willkommenskultur« und »Anerkennungskultur«, all das wurde geboren, um Deutschland zu öffnen, nicht nur für neue Fach- und Führungskräfte, sondern vor allem auch für die eigene Gegenwart: In vielen Städten liegt die Zahl der Kinder mit Migrationshintergrund derzeit bei vierzig Prozent oder mehr. Der Migrationshintergrund wird künftig das neue »normal« sein, und doch behandelt man diese knappe Hälfte aller Schulkinder in den Debatten wie eine Minderheit.
Trotz allem hatten die Debatten der letzten Jahre fast etwas Verspieltes: Es ging um Begriffe, Schlagfertigkeit (»Was heißt hier Migrationshintergrund, ich habe einen Migrationsvordergrund«, sagte Dunja Hayali.). Es ging auch um Semantik – zum Beispiel mit der Frage, ob man nicht lieber Inklusion statt Integration sagen könnte, damit die Menschen bleiben können, wie sie sind. Ein neues Selbstbewusstsein wuchs in den selbst organisierten Gruppen, die mehr Teilhabe forderten, wie zum Beispiel die Neuen deutschen Medienmacher, die mehr Journalisten mit Migrationshintergrund in den Medien fordern und eine differenziertere Darstellung des Themas. Selbst die Regierungsparteien merkten, dass Integration keine Einbahnstraße ist. Doch entgegen der bis dahin vorherrschenden Rhetorik richtete sich dieser Satz nun auch an die deutsche Gesamtbevölkerung: Integrationsleistungen erbringen nicht nur die Einwanderer, sondern auch jene alteingesessenen Deutschen, die sich an den Gedanken einer vielfältigen Republik noch nicht gewöhnt haben. Einer der liebsten Sätze, die Angela Merkels Integrationsbeauftragte Aydan Özoğuz bei unterschiedlichsten Anlässen mit einem durchaus ernst gemeinten Zwinkern von sich gab, war: Integration, das betrifft nicht nur die 16 Millionen Menschen mit Migrationsgeschichte, sondern die ganze Bevölkerung.
Ausländer, Migranten oder Menschen mit Migrationshintergrund? Die Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts, die Einführung der Begriffe Willkommens- und Anerkennungskultur sowie das Konzept des »gesellschaftlichen Zusammenhalts« schienen eine neue Ära einzuläuten. »Einheit in Vielfalt« wurde, nicht selten inspiriert durch Akteure aus der Wirtschaft, das neue Integrationsmodell für das Einwanderungsland Deutschland, das sich trotz jahrzehntelanger Einwanderung nie als solches gesehen hat. Deutschland war durch die politische Praxis, Arbeiter aufzunehmen, gewissermaßen unfreiwillig – und ohne das Einverständnis breiter Teile der Bevölkerung – zum Einwanderungsland geworden. Politisch versicherte man den Bundesbürgern stets, ihr Land würde sich durch die Einwanderer nicht verändern, bis auf die Palette an Restaurants und Cafés. Den Gastarbeitern wurde bis heute kein Wahlrecht eingeräumt, ohne Rita Süssmuths Engagement in der sogenannten »Süssmuth-Kommission« der CDU hätten die politischen Parteien über Einwanderung als Gesellschaftsthema noch weitaus länger nicht konzeptionell nachgedacht, schließlich waren hier keine Mehrheiten zu holen. Kohl betete stattdessen das Mantra »Deutschland ist kein Einwanderungsland« regelmäßig herunter. Die deutsche Einheit ließ die Einwanderer und ihre Anliegen noch einmal in die zweite Reihe treten. Es hat eine gewisse Tragik, das just in dem Moment, da Deutschland versucht, durch vorbildhafte Zuwanderungsgesetze und Neuerungen im Staatsbürgerschaftsrecht die Fehler der Vergangenheit wiedergutzumachen, die Dringlichkeit der Ereignisse des letzten Jahres eine sachliche Debatte unmöglich macht. Es kann – schon wieder – nicht normal über das Einwanderungsland Deutschland gesprochen werden, weil die Stimmung so aufgeheizt ist und die Dimension der neuen Herausforderungen dazu führt, dass nicht nur die alten Akteure wie z.B. Edmund Stoiber aus der Versenkung geholt werden, sondern auch die alte Rhetorik. Edmund Stoiber hat in seinem Kabinett kaum je mit einem Menschen mit Migrationsgeschichte aufwarten können. Bis heute ist der Zusammensetzung der bayrischen Landespolitiker die fehlende Integrationsleistung abzulesen, und das in einem Bundesland und einer Großstadt, die mehr Menschen mit Migrationsgeschichte beheimatet als Berlin – dennoch wird er nun als Kompetenz in diesem Bereich befragt. Die Identitätsfrage, die Deutschland gerade erst angestoßen und zu lösen begonnen hatte, weicht nun zunehmend einem immer polemischer werdenden Diskurs. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, das in diesem Bereich, in dem es um Teilhabe, Partizipation und Antidiskriminierung geht, viel angestoßen hat, wird nun reduziert auf seinen zweiten, immer schon kritischer betrachteten Teil: die Zentralbehörde des Gelingens oder Versagens im Meistern der Bürokratisierungen und der entsprechenden Verwaltbarkeit der sogenannten Flüchtlingskrise.
1999, ich war gerade 21 Jahre alt, erschien mein erster Zeitungskommentar mit dem Titel: »Kurz eingemischt«. Ich studierte in Heidelberg als sogenannte »Bildungsinländerin«, was Menschen bezeichnen sollte, die zwar deutsche Bildung genossen hatten, aber nicht zum Land gehörten. Ich wollte Lehrerin werden und hätte mich für den Staatsdienst entschieden. Plötzlich, mit Anfang zwanzig, war da ein Konflikt, den ich nicht erwartet hatte: dass ich als »Bildungsinländerin« eben nicht so einfach Lehrerin werden konnte wie meine deutschen Freunde. Gerade da wurden die ersten Forderungen nach der doppelten Staatsbürgerschaft laut, ich war aufgeregt, ein Mal näherte sich die Politik meiner Lebensrealität an. Ich war gemeint, selten genug. Die CDU sammelte damals Unterschriften gegen die doppelte Staatsbürgerschaft. Ich schrieb einen Artikel, um zu zeigen, wie diese Politik auf einen jungen Menschen wirkt, der hier seinen Weg gehen will. Im Jahr 2001 konnte man wegen so einer kurzen Einmischung noch prompt in den Bundestag eingeladen werden, weil es in den Zeitungen kaum Texte gab von »Menschen wie mir« – wir werden auch gerne »Betroffene« genannt, was mich nur dann amüsiert, wenn Hape Kerkeling daraus einen Sketch macht. Wovon genau sollen wir betroffen sein?
Seit 2001 ist viel geschehen. Mehr Menschen mit Migrationserfahrung sind Teil des öffentlichen Lebens. Nachrichtensprecherinnen, Autorinnen, Sportler, Politiker. Natürlich, viele Missstände wurden nicht einmal thematisiert. Doch gerade nach Thilo Sarrazins unfassbarem Erfolg mit seiner Schrift Deutschland schafft sich ab setzte ein Wandel ein. Junge Menschen mit Migrationsgeschichte eroberten sich ein neues Selbstbewusstsein und mit ihm eine neue Öffentlichkeit. Es war an der Zeit, sich dagegen zu wehren, nicht zu dem Land gezählt zu werden, in dem man aufgewachsen ist. Dennoch führte das Thema Integration ein Nischendasein, man sprach von »Feigenblättern«, die Integrationsbeauftragten wurden oft spöttisch als Trostpflaster für politische Aspiranten mit Migrationsgeschichte belächelt.
Im Jahr 2016 wird Deutschland von den Ereignissen überrollt, und keiner kommt mehr um das Thema Integration herum. Es ist sogar möglich, allein mit dem Thema Einwanderung Parlamente zu erobern und in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit zu gelangen. Sei es in Deutschland, Europa oder den USA11