Inhalt

  1. Cover
  2. Über die Autorin
  3. Titel
  4. Impressum
  5. Kapitel 1
  6. Kapitel 2
  7. Kapitel 3
  8. Kapitel 4
  9. Kapitel 5
  10. Kapitel 6
  11. Kapitel 7
  12. Kapitel 8
  13. Kapitel 9
  14. Epilog
  15. Dank

Über die Autorin

Clover Stroud gilt als eine der besten Reise- und Lifestyle-Journalistinnen Englands und schreibt und interviewt regelmäßig für alle großen Magazine und Zeitungen des Landes. Doch ihr eigenes Leben ist ebenso fesselnd wie das der Berühmtheiten, die sie interviewt. Clover Stroud lebt heute mit ihrem zweiten Ehemann und vier Kindern mit Blick auf das Huffington White Horse. Pferde sind immer bei ihr.

Clover Stroud

Spur der Pferde

Die Kraft,
durch die ich mich
selbst fand

Aus dem Englischen von
Ulrike Strerath-Bolz

BASTEI ENTERTAINMENT

Kapitel 1

Ich verbrachte den heißesten Sommer meines Lebens hinter Glas. Mitte Juni war mein viertes Kind, mein zweiter Sohn Dash, zwei Monate alt, und ich fühlte mich wie in einem Gefängnis. Während alle anderen draußen in der Sonne, umgeben von einem leuchtenden Regenbogen durch den kalten Wasserstrahl aus dem Gartenschlauch rannten, die rosigen Münder weit aufgerissen vor Lachen, hockte ich mit Dash im Haus.

Ich spürte eine Faust. Dash war immer nackt, hing wie festgeklebt an meiner Brust und saugte mich aus. Milch und Tränen tropften aus mir heraus. Das hier war mein Platz, hier an seiner Seite, auch wenn ich kaum atmen konnte. Ich drückte mich an ihn, rationierte die Zeit, in der ich den Blick von seinem winzigen Gesicht abwandte und hinausblickte in eine Welt, die mir nach seiner Ankunft irgendwie abhandengekommen war.

Das Wohnzimmer und die Küche, in denen ich den größten Teil dieses Sommers verbrachte, lagen im ersten Stock unseres Sechzigerjahre-Stadthauses. Mit einem Neugeborenen und einem Kleinkind die Treppe hinunter und rauszugehen war ein enormer Aufwand, und so verwandelte sich unser Zuhause von einem Ort, an dem ich sehr glücklich war, zu meinem persönlichen Gefängnis. Dash wurde geboren, als seine Schwester Evangeline noch keine zwei Jahre alt war. Auch sie brauchte ständig Aufsicht, musste hochgehoben, gebadet, gefüttert und versorgt werden. Wir hatten keinen Garten, nur ein Stückchen Vorgarten ohne Zaun direkt an der Straße. Jimmy und Dolly, meine beiden älteren Kinder, schienen während dieser Sommerferien weit weg von den Kleinen und mir. Sie liefen nur hin und wieder einmal durchs Bild, mit Eiscreme, die ihnen über die Handgelenke lief, und mit nassen Haaren, die ihnen im Nacken klebten, tropfnass vom Planschbecken, das im Vorgarten stand. Ich saß derweil oben auf dem Sofa und stillte Dash, und die kleine Evangeline war mit uns eingesperrt, denn wenn man nicht ständig ein Auge auf sie hatte, rannte sie auf die Straße.

»Raus!«, rief Evangeline, kletterte auf die Rückenlehne des Sofas und streckte ihre klebrigen Händchen nach den großen Fenstern aus. Sie drückte so fest gegen das Glas, dass ich fürchtete, sie würde irgendwann hinunterstürzen. Aus diesem Grund hatte ich von einem Schreiner eine Art hölzernes Gitter vor den Fenstern anbringen lassen, aber dadurch fühlte sich das Wohnzimmer nur noch heißer an und die Außenwelt noch weiter entfernt.

Spät am Abend, wenn es dunkel wurde, schlichen die älteren Kinder wie Leoparden um mich herum, miauten und fauchten auf der Treppe, wenn ich mich nach ihnen umdrehte. Tagsüber ignorierten sie mich und liefen weg, wenn ich sie fragte, was sie zum Mittagessen haben wollten, aber am späten Abend, wenn Dash und Evangeline schliefen, brauchten sie mich. Das Muttersein erstickte mich regelrecht.

In diesem Sommer war Jimmy zwölf und Dolly neun Jahre alt. Als sie geboren wurden, fühlte ich mich wie eine Kriegerin, aber das dritte und vierte Kind gingen über meine Grenzen. Wenn ich Evangelines kleine Händchen anschaute, die sich vor lauter Bedürftigkeit verkrampften, oder wenn ich auf die sanft geschlossenen Augen in Dashs winzigem Gesicht sah, dann überwältigte mich die Angst zu versagen. Ich hatte entsetzliche Panik, alle Mütterlichkeit bei meinen ersten Kindern verbraucht zu haben.

Die Depression hatte sich bei mir eingenistet, als Evangeline zwei oder drei Monate alt war. Sie schlich hinter mir her zum Einkaufen, wartete am Schultor, saß neben mir im Auto, so viel ich auch blinzelte und mir immer wieder sagte: »Es ist alles in Ordnung. Es ist alles in Ordnung. Ist alles in Ordnung mit mir? Ja, es ist alles in Ordnung.«

Ich spürte genau dieselbe schmerzliche, wilde Liebe wie bei Jimmy und Dolly, diese Art von Liebe, die in mir den Wunsch weckte, meine Babys sprichwörtlich aufzufressen. Aber darunter lag ein ganz neues, fremdes Gefühl von Panik. Es weckte ein Echo, das zugleich weit entfernt, aber auch tief in mir drin widerhallte wie ein leises und doch durchdringendes Geräusch in einem entfernten Raum in meinem Kopf. Die Panik schaltete sich ein, sobald ich morgens die Augen öffnete, und schrillte den ganzen Tag. Ein innerer Alarm, der mein Denken ausschaltete, mein Sein, manchmal sogar mein Atmen. Ich war sehr weit weg von allem, was mir nahe war.

Manchmal nahm ich Evangeline mit zu mir ins Bett und tat so, als würde ich schlafen. Die Decken fühlten sich an wie ein Versteck im Wald, in das ich hineinkriechen konnte, vergraben zwischen den Würmern, während Käfer über mich krabbelten und die nasse Erde meine Kleider durchdrang. Das Schuldgefühl klebte an mir, und auch wenn ich einschlief, fand ich keine Ruhe, aber es brachte den Alarm für eine Weile zum Schweigen.

Freunde kamen zu Besuch, um mein drittes Baby zu begrüßen, und einige sagten: »Du musst unheimlich glücklich sein.« Und dann nickte ich und schluckte die Antwort hinunter. »Ja, ich muss unheimlich glücklich sein.« Was sie meinten, war: Du musst unheimlich glücklich sein, denn für eine Weile sah es ja so aus, als hättest du es echt vermasselt, Clover. Es war uns ziemlich unheimlich, wie du damals gelebt hast.

Und sie hatten recht, denn wenn ich mit meinem Baby da in der Stille lag, dann war ich glücklich. Aber zugleich spürte ich auch noch etwas Namenloses und Düsteres tief in meinem Innern, formlos und doch so hart wie ein Feuerstein. Ich lebte eine Version meiner selbst und hatte dabei die ganze Zeit über das Gefühl, mein wahres Ich würde aus der Ferne zuschauen und über mich urteilen. Ich stand, im wahrsten Sinne des Wortes, neben mir.

In der Küche musste ich das scharfe Messer, mit dem ich die Zwiebel schnitt, hinlegen und mich abwenden aus Angst, meine Hand könnte es still und leise in den Kopf meines Babys gleiten lassen. Ich stellte mir vor, wie das Messer den Kinderkopf in Scheiben schnitt wie eine Melone, und fragte mich, ob ein Babykopf wohl dasselbe leise, schmatzende Geräusch von sich geben würde, wenn man ihn aufschnitt. Hohe Fenster oder Brücken machten mich ganz schwindelig vor Verlangen, mein Baby sanft über die Brüstung zu schubsen. Ich schob die Hände unter die Achseln, um mich daran zu hindern. Einmal musste ich mich im hohen Treppenhaus einer Freundin auf den Boden setzen, um den Drang niederzukämpfen, mein Kind hinunterzuwerfen. Wenn ich mit meinem Baby im Tragetuch am Fluss spazieren ging, stellte ich mir vor, wie ich meine Manteltaschen mit Steinen füllte und ins Wasser watete, um ganz gemütlich und eng aneinandergekuschelt gemeinsam mit ihm aus dieser Welt zu gehen.

Ich liebte meine Kinder von ganzem Herzen, aber mit einer verzehrenden Leidenschaft, die mir Angst machte.

Und mehr als alles andere erfüllte mich ein Gefühl von Heimweh nach einer Mutter und einem Zuhause, die ich seit mehr als zwanzig Jahren nicht mehr hatte. Ein Heimweh, von dem ich dachte, es würde mich umbringen.

»Stellen Sie sich manchmal vor, sich selbst wehzutun?«

Die Frau von der Fürsorge ließ diese Frage in unser Gespräch hineinfallen wie ein Eigelb, das lautlos in eine Schüssel mit Mehl fällt. Ich goss gerade in der Küche kochendes Wasser über die Teebeutel.

»Natürlich«, erwiderte ich und stellte den Kessel vorsichtig wieder hin, ohne ihr in die Augen zu sehen. »Ich stelle mir die schlimmsten Dinge vor, die ich meinem Baby antun könnte. Und dann stelle ich mir vor, wie ich mich selbst umbringe. Ist das nicht normal?«

Ich hatte ihr von meinen Gedanken erzählt, war aber der Meinung, es müsse doch sonnenklar sein, dass ich nichts davon in die Tat umsetzen würde. Sie war es doch, die die ganze Zeit von Achtsamkeit redete, da musste sie mich doch verstehen. Das waren schließlich nur Gedanken, die mich an dunkle Orte führten und mir zeigten, wie man ins Licht zurückkam. Sie waren nicht die Realität.

Die Sozialarbeiterin schickte mich zu einem Psychiater, der mich filmte, während ich mit Evangeline mit einem Mini-Teeservice spielte. In der ersten Minute war mir der Klang meiner eigenen Stimme peinlich, die schon seit Wochen irgendwie fremd klang, als hätte eine tiefere, strengere Stimme meine Kehle in Besitz genommen. Ich beugte mich zu meiner Tochter hinüber und hielt ihr eine Plastiktasse hin, während ich mich fragte, was eine gute Mutter jetzt sagen und wie sie klingen würde.

»Evangeline, wo ist deine Teetasse? Ist das die Teetasse?« Evangeline starrte mich aus kobaltblauen Augen an, als wäre ich jetzt wirklich so verrückt geworden, wie ich mich die ganze Zeit fühlte. Sie schnappte sich die Tasse, schlug damit gegen einen Stapel bunter Untertassen, sodass die über die Matte flogen, und ihr Gesicht verzog sich zu einem rosigen Grinsen. Ich klatschte in die Hände, tat so, als würde ich aus der Tasse trinken, und sie lachte wieder. Ich vergaß die Kamera, und ein paar Augenblicke lang konnte ich mit meiner Tochter spielen, als würde ich nicht beobachtet und meine Fähigkeiten als Mutter würden nicht untersucht werden.

Eine Woche darauf, in der nächsten Sitzung, spielte mir der Psychiater den Film vor. Aber ich sah nicht mich selbst, sondern eine fremde Frau, die Evangeline anlächelte, den Kopf schief legte und ihr sanft übers Haar strich, bevor sie sich über sie beugte und sie küsste. Und in diesem Moment fühlte ich, wie sich ein Faden in mir, der verknotet gewesen war, auf einmal straffzog. Die Vergangenheit wurde schrill und scharf, wundervoll und schrecklich zugleich, in mein Blickfeld gezogen, und ich sah meine Mutter an meiner Stelle. Als ich beobachtete, wie ich Evangeline küsste, verstand ich, dass sie mich auf diese Weise geküsst hatte, dass sie sich so um mich gekümmert und mit mir gesprochen hatte. Dass sie mich auf diese Weise geliebt hatte.

Denn natürlich ging es um meine Mutter. Um meine Mutter, die lebendig und tot zugleich war.

»Wohnt Ihre Mutter in der Nähe? Könnte sie vielleicht vorbeikommen und Ihnen ab und zu eine Pause verschaffen?«, fragte die Frau von der Fürsorge, als wir wieder in meiner Küche standen. Sie hatte rote Haare, so dick wie ihr irischer Akzent. Ein schwerer Pony hing ihr bis in die Augen, und sie trug geschnürte Lederstiefel mit flachen Sohlen, die mich an ein Paar erinnerten, das Mum getragen hatte, als ich noch ein Kind gewesen war. Grünes Leder mit Haken und Ösen und schwarzen Schnürsenkeln. Ich hielt inne und drückte den Löffel so fest gegen den Teebeutel am Tassenrand, dass der Teebeutel riss und schwarze Teeblätter im Wasser kreisten.

»Ich habe natürlich eine Mutter, aber sie ist nicht hier. Ich meine, sie lebt gar nicht weit von hier in einem Pflegeheim bei Swindon, aber sie ist nicht richtig da, oder hier, oder überhaupt irgendwo. Sie hat vor Jahren bei einem Reitunfall einen Hirnschaden erlitten und kennt niemanden mehr. Nein, sie kann mir nicht helfen. Sie kann nicht mal reden oder selbstständig essen oder laufen. Sie ist inkontinent und hat epileptische Anfälle und keine Zähne mehr, weil sie Geschwüre im Mund hat, sodass ihr alle Zähne gezogen werden mussten, und …« Ich nahm einen Schluck Tee und sprach schnell weiter, bevor sie etwas sagen konnte. Ich wollte es loswerden, wie eine Straßenkarte, die man beim Fahren über das Lenkrad breitet, weil man den Weg verloren hat. »Sie weiß nicht, wer ich bin, sie kennt niemanden, und so ist es schon, seit ich sechzehn war. Seitdem kann sie nicht mehr sprechen oder überhaupt kommunizieren. Allerdings hat sie während meiner Studienzeit mal versucht, sich umzubringen, mit einer Überdosis von dem Medikament gegen die Krampfanfälle. Danach lag sie ein paar Tage im Koma, und als sie wieder wach wurde, war es noch ein bisschen schlimmer als vorher. Seit zwanzig Jahren lebt sie in Krankenhäusern und Pflegeheimen, aber es ist okay. Wirklich, es ist okay. Ich meine, ihr geht es natürlich nicht gut, aber ich komme damit klar, weil es schon so lange so ist. Also, jetzt verstehen Sie vielleicht, was ich meine. Sie ist nicht tot, aber auch nicht wirklich hier. Es war ein Unfall. Ein schlimmer Reitunfall.«

Ich lächelte, wie um zu beweisen, dass alles in Ordnung war. Ich hatte diese Erklärung in meinem Leben schon so oft abgegeben und immer das Gefühl gehabt, ich müsste dem Menschen, der gefragt hatte, bestätigen, dass ihm die Antwort nicht peinlich sein musste.

Die Sozialarbeiterin legte die Hände um ihren Becher und warf einen kurzen Blick auf ein kürzlich aufgenommenes Foto von Jimmy, der ein Pony die Straße entlangführte. Sie legte den Kopf schief und sah noch besorgter aus als ein paar Minuten zuvor.

»Und Sie … Sie reiten noch, oder?«

Keine Ahnung, wie unsere Kindheit ausgesehen hätte, wenn Mum nicht mit uns aus der Stadt aufs Land gezogen wäre. Ich kann mir mein Leben ohne den Einfluss, den Ponys und später Pferde auf mich hatten, nicht vorstellen. Sie haben ihren eigenen Faden in jeden einzelnen Teil meines Lebens eingewoben, auch dort, wo ich gar nichts davon weiß. Als ich sieben Jahre alt war, zogen wir von Oxford in ein Dorf in Wiltshire, und wenn ich meiner Phantasie erlaube, das Geflecht anderer Wege zu durchschreiten, die ich auch hätte einschlagen können, dann kann ich mir alles vorstellen, außer einem Leben ohne Pferde.

Mein Leben ohne Pferde wäre ganz und gar anders verlaufen, denn wenn wir nicht aufs Land gezogen wären, dann hätte es niemals diesen Unfall gegeben. Oder jedenfalls wäre es kein Reitunfall gewesen. Es hätte vielleicht andere Schrecken gegeben, denn bei den meisten Menschen gibt es irgendwelche Schrecken, aber es wäre wohl nicht so ein Unfall gewesen, der seither jedem einzelnen Tag eine andere Farbe gegeben hat. Und obwohl ich weiß, dass mein Leben ohne den Unfall einen ganz und gar anderen Verlauf genommen hätte, will ich kein anderes Leben. Ich will nur dieses Leben mit dem Unfall, der sich durch alles zieht, was ich tue. Der Tag des Unfalls hat das Wort »Trauma« in mich eingebrannt, und ich habe dieses Wort nie ausradiert, denn es ist ein Teil von mir, und es gehört zu mir.

Manchmal ist mein Gefühl für Mum so eng mit dem Unfall verbunden, dass ich ein Wort daraus mache – Mumsunfall. Mumsunfall war ein einzelner Dominostein, der am 25. November 1991 umfiel, als ich sechzehn Jahre alt war, und eine lange Reihe von schwarzen Steinen mit sich riss, die seitdem unaufhaltsam durch die Zeit stürzen.

Das Seltsame daran ist, dass meine Mutter wirklich niemals die Absicht hatte, uns wehzutun. Sie war nie streng, sie kritisierte uns nicht. »Meine Mutter ist ein Biest«, sagte meine Freundin Sarah einmal im Schulbus zu mir, und ich verstand gar nicht, was sie meinte. Mum war nie eine von diesen Müttern gewesen, über die sich die Töchter beschweren. Ich wünschte mir nie, sie würde mich einfach in Ruhe lassen. Ich wollte nie, dass sie sich um ihren eigenen Kram kümmerte, ich wollte sie bei mir haben.

Mums Liebe war weit. Ihre Liebe war riesig und großzügig und allgegenwärtig, sodass jeder Tag als ihre Tochter sich anfühlte, als lebte man unter einem hellen Lichtstrahl, der einen beschützte. Vom Tag meiner Geburt an, dem 16. April 1975, lebte ich 6067 Tage lang so. Dann schaltete der Unfall den Lichtstrahl aus, und damit fiel ein heller Raum in Finsternis. 6067 Tage, das sind 866 und eine halbe Woche, 145.608 Stunden, 8.736.480 Minuten, 524.188.800 Sekunden. Nicht genug.

Gelegentlich träume ich von Mum, aber die Zeit in meinen Träumen ist unbestimmt, und wenn ich aufwache, fühlt es sich an, als wäre sie im zähflüssigen Sirup des Schlafs bei mir gewesen, aber nach ein paar Minuten verschwindet sie einfach. Vielleicht weiß mein schlafendes Ich das, denn wenn ich aufwache, ist mein Gesicht immer nass von Tränen. Gebt mir nur fünf von diesen 8.736.480 Minuten mit ihr zurück, und ich verspreche, ich werde mich nie wieder über irgendetwas beklagen.

Ich weiß nicht, ob Mum mit Absicht diesen Zauber in unsere Kindheit brachte, aber genau so war es. Mit dem Wort »Hausfrau« ist sie nur unzureichend beschrieben, denn dabei denke ich an staubige Besen, die zu lange in der Kammer unter der Treppe gestanden haben. Sie hätte sich auch sicher gegen das lyrischere amerikanische Wort home-maker gewehrt, aber genau das war sie. Sie schuf ein Zuhause. Als wir klein waren, hat sie hin und wieder ein paar Stunden als Sekretärin im Institut für Psychologie an der Universität in Oxford gearbeitet. Einmal, als ich fünf war, nahm sie mich mit ins Büro, als Mrs Sandles krank war, die Frau, die unser Haus sauber hielt und sich um meine Schwester Nell und mich kümmerte, wenn Mum unterwegs war. Nell ging zu einer Freundin zum Spielen, mich setzte Mum in den Kindersitz hinten auf ihrem Fahrrad und radelte mit mir ins Büro.

Ich kroch unter ihren Schreibtisch und zeichnete ein Bild von einem Haus auf ein Blatt liniertes Papier. Dazu benutzte ich einen Bleistift und ein Lineal. Das Haus war zu schmal und sah nicht so aus, als wollte irgendwer darin wohnen, also nahm Mum mich auf den Schoß und riss ein frisches Blatt von ihrem Block ab.

»Schau, was hältst du von ein paar schönen dicken Strichen wie diesen hier?«, fragte sie, hielt mein Handgelenk und zeichnete ein Haus auf das Blatt. Ich hatte mit Hilfe des Lineals versucht, einen Baum zu zeichnen, aber Mum malte einen ganzen Garten und ein Haus mit Kamin und großen Fenstern und einer offenen Tür mit ein paar großzügigen Strichen. »Du brauchst einen Garten und jede Menge Zimmer für deine Kinder und Rauch, der aus dem Kamin kommt, damit es gemütlich wird.« Ihre langen braunen Locken glitten an meinem Gesicht entlang, während sie zeichnete. Und die ganze Zeit über hielt sie meine Hände vorsichtig in ihren. Wenn sie mich umarmte, duftete sie nach Chanel No. 5 und nach noch etwas, das nur zu ihr gehörte und mir das Gefühl gab, alles würde immer gut sein.

Nach dem Unfall, als sie im Koma lag, ging ich zu dem Schrank in ihrem Zimmer und drückte mein Gesicht in ihre Schals, um ihren Geruch wiederzufinden. Die orange- und pinkfarbenen Wirbel eines Seidenschals, den sie zu ihrem Tweedmantel trug, drehten sich vor meinen Augen, während das Schweigen in ihrem Zimmer mich einschloss. Ich drückte mein Gesicht dagegen, aber der Schal roch nicht mehr nach ihr.

An dem Tag, als Mum mit mir im Büro das Haus zeichnete, war ich nicht zum ersten Mal dort im Psychologischen Institut. Als ich ein Jahr alt war, nahm Mum freiwillig an einer Studie über die Bindung zwischen Mutter und Kind teil. Seitdem hing ein Schwarz-Weiß-Foto von mir über ihrem Bett. Es war ein Ausdruck aus einer Filmsequenz, und unter der Aufnahme stand eine Nummer. Auf dem Bild blicke ich mit großen, aufmerksamen Augen in die Kamera.

»Wir haben zum Beispiel geschaut, ob du meinem Blick folgst, wenn ich in eine bestimmte Richtung sehe, oder ob du auf meine Hand schaust, wenn ich auf ein paar Bilder zeige«, erzählte sie mir später. »Viele Mütter und Babys haben an der Studie teilgenommen, aber wir beide hatten die höchste Punktzahl.« Für mich klang das, als hätten wir in einem großen, wichtigen Wettbewerb gewonnen, und ich stellte mir die lange Reihe von Müttern vor, die auf Dinge zeigten, um zu beweisen, wie sehr sie ihre Kinder liebten. Ich erzählte anderen Leuten von dieser Studie: Stell dir vor, als ich ein Jahr alt war, da war ich enger mit meiner Mutter verbunden als jedes andere Baby mit seiner Mutter.

Mum sagte, wir hätten sogar eine telepathische Verbindung gehabt. Als ich sieben Jahre alt war, hatte sie beim Schulfest einen Stand, wo man die Zahl der Süßigkeiten in einem Glas raten sollte. Sie benutzte dafür ein Spaghettiglas, das mein Vater mal nach den Dreharbeiten für einen Film von einer Schauspielerin geschenkt bekommen hatte.

»Du lieber Himmel, wer tut denn Spaghetti in ein Glas? Spaghetti soll man essen, nicht ausstellen«, sagte Mum und packte das Glas voll mit Bonbons, Schaummäusen und anderen Dingen, die wir in weißen Papiertüten im Laden gekauft hatten. Sie sagte meiner Schwester Nell und mir nicht, wie viele Süßigkeiten es waren. »Außerdem macht ihr sowieso nicht mit, denn ich will dieses schreckliche Ding nicht wieder in meiner Küche sehen«, erklärte sie. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob es wirklich das Glas war, das sie störte. Mein Vater hatte auch ein gerahmtes Foto auf dem Sims in seinem Arbeitszimmer stehen, das die sonnengebräunten, schlanken Füße einer Frau zeigte. Daran klebte ein Schildchen mit einer eleganten Schrift: »Du wolltest doch ein Foto von meinen Füßen, nicht wahr, Rick?« Das Foto war ein Geschenk einer anderen Schauspielerin, mit der er zusammengearbeitet hatte, und Mum gefiel auch das nicht besonders.

Wir nahmen das Spaghettiglas also mit zum Schulfest, und nachdem ich am Flohmarktstand mein Taschengeld für eine Puppe in einem Strickkleid ausgegeben und Nell in der Tombola eine Flasche Rotwein und ein Fondueset gewonnen hatte, überredete ich Mum, die gähnend hinter ihrem Stand hockte, mich auch mal raten zu lassen. Ich wusste, dass ich richtig geraten hatte, als ich diesen überraschten, leicht gereizten Ausdruck auf ihrem Gesicht sah. Aber sie sagte es mir erst später, als ich alt genug war, um zu verstehen, was Telepathie bedeutete. Das Spaghettiglas bekam ein Kind, dessen Vater beim Reparieren der Dachrinne vom Dach gefallen und gestorben war. Aber Mum hielt auf dem Heimweg beim Laden an und kaufte Zitronenbrausebonbons für Nell und mich.

Vielleicht ist es irreführend, dass eine meiner frühesten Erinnerungen an meine Mutter die mit der Zeichnung im Institut für Psychologie ist. Denn ich erinnere mich gar nicht daran, dass sie sich jemals hinsetzte, um zu zeichnen oder sonst etwas zu tun. Sie stand eigentlich immer – im Garten, um die verblühten Köpfe der Rosen abzuschneiden, oder am Küchentisch, um den Teig für das Brot zu kneten, das sie fast jeden Tag buk – dicke braune Laibe mit knuspriger Kruste, die sie für uns aufschnitt, wenn sie noch warm waren. Und dann kamen Scheiben von kalter gelber Butter darauf, so dick, dass sie aussahen wie Cheddar-Käse. Sie stand auch am Herd und kochte Fischsuppe mit ein paar Händen voll Muscheln und Krabben, und sie stand am Tor und beobachtete Nell und mich auf den Ponys, wenn wir um die Wiese hinter dem Haus galoppierten, sobald das Heu eingebracht war.

Sie war keine Mutter, die bastelte oder sich zu uns auf den Teppich setzte, um mit Puppen zu spielen. Ich erinnere mich auch nicht an Brettspiele, höchstens einmal, als wir sie als Teenager zwangen, mit uns Monopoly zu spielen, obwohl sie viel lieber Dallas gesehen hätte. Sie stand nämlich auf JR. Mum spielte eigentlich nie, sie war nur einfach immer da.

»Ist es nicht toll, wie sie Eierschachteln ineinanderstecken können, ohne dass ihnen die Hände zittern?«, sagte sie. Sie war gerade aus dem Garten gekommen, die Hunde dicht auf den Fersen. Nell und ich lagen auf den Sesseln mit Überwürfen aus alten Laura-Ashley-Stoffen, die Beine über die Seitenlehnen gehängt, und balancierten Toast mit Marmite auf unseren Bäuchen, während wir Blue Peter im Fernsehen anschauten. Leute in bunten T-Shirts mit interessanten Frisuren bauten ein Dorf aus Schachteln, grünem Filz und Plakafarbe. Mum trat von einem Fuß auf den anderen, und ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie uns vor dem Fernseher erwischt hatte, obwohl sie es viel lieber gesehen hätte, wenn wir noch ausritten, bevor es dunkel wurde. »Wunderbar, wirklich, diese Leute können Pappdeckel zusammenbauen, ohne dass ihnen der Kopf platzt«, sagte sie und ging in die Küche, um gekochte Schafsknochen für die Hunde aufzuschneiden.

Wenn ich Mum finden will, muss ich im Kopf nach Minety zurückkehren, das Dorf in Wiltshire, in das wir zogen, als ich sieben Jahre alt wurde. Genau an meinem Geburtstag. Nell und ich bekamen zwei Kätzchen, die Tibs und Tats hießen, und zwei Ponys, Marble und Pudding. Es war ein bisschen, als wären wir plötzlich Kinder aus einem dieser altmodischen Bücher, die Mum uns laut vorgelesen hatte, als wir noch in Oxford gelebt und von Ponys nur geträumt hatten. The Black Riders von Violet Needham oder Jill’s Gymkhana von Ruby Ferguson. Zum Vorlesen setzte sie sich übrigens hin, und ihre Stimme klang so stetig und leise wie die Flamme der Petroleumlampe, die sie manchmal in unserem Zimmer als Nachtlicht anzündete, wenn sie uns etwas Gutes tun wollte, nicht nur, wenn wir krank waren.

Wenn ich an das tröstliche Gefühl denke, wirklich nach Hause zu kommen, dann muss ich in meinem Kopf nach Minety zurückkehren. Minety oder Myntey stammt von dem englischen Wort minty, minzig, denn überall in den Gräben und auf den feuchten Wiesen rund um das Dorf wuchs wilde Minze. Mum brachte mir auch bei, Königskerzen, Leimkraut, Hundsrosen und Hasenglöckchen zu erkennen. Wir lebten in Hovington House, aber Mum fand den Namen zu hochtrabend und mochte ihn nicht. Deshalb ist es in meiner Erinnerung für immer Minty, Myntey, Minety – ein lyrisches Wort aus der Kindheit, das mich nicht zuletzt aufgrund der Dinge verfolgt, die dort geschehen sind.

Aber nach Minety zogen wir erst, als ich sieben war, und der einzige Ort, an den ich mich aus der Zeit davor erinnere, ist Mums Schoß, während ich die Arme um ihren Hals schlang. Dabei lebten wir natürlich in Oxford. Das ist ein ganz anderes Wort, es schmeckt nach Kopfsteinpflaster, turmhohen Bibliotheksbauten und roten Ziegelhäusern mit einer einzelnen Glühbirne, die irgendwo in einem Fenster der oberen Stockwerke brennt. Als Kind in Oxford beschränkte sich der Begriff »Wildnis« auf die Mauern unseres Gartens und ist lange nicht so lebendig in meiner Erinnerung oder zieht so schmerzhaft an meinem Herzen wie Minety. Ich war dort, aber irgendwie existierte ich nur im Schatten meiner Schwester Nell. Die Leute sagten immer, Nell sei ein halber Junge, weil sie ein blaues Aertex-Hemd und dunkelbraune Baumwollshorts trug und den ganzen Sommer über barfuß lief. Ihre kurzen dunkelblonden Haare sahen wirklich aus wie bei einem Jungen, und wenn sie sich konzentrierte, zum Beispiel wenn wir eine Höhle bauten oder Pfeile schnitzten oder unseren Collie vor den Schlitten spannten, dann biss sie sich immer auf die Zungenspitze.

»Ich und Nell, wir denken genau dasselbe«, sagte ich einmal zu Mum, als ich fünf oder sechs Jahre alt war. Doch die Beziehung zwischen uns Schwestern hatte auch eine klare körperliche Dimension. Als wir klein waren, steckten wir uns den Finger in den Hals und würgten, bis uns die Tränen kamen – vor Übelkeit, aber auch vor Begeisterung über die seltsamen Dinge, die unsere Körper taten, wenn wir sie ließen. Nell stoppte, wie lange ich eine Brausebombe in der Wange behalten konnte, selbst wenn die Säure in meinem Mund brannte. Und sie forderte mich heraus, von immer höheren Ästen an den Bäumen in unserem Garten hinunterzuspringen. Ich tat stets, was sie sagte, auch wenn der Schmerz durch meine Beine schoss, weil der Ast mal wieder zu hoch gewesen war.

Wir liebten und stritten uns auf die gleiche Weise, und so gab es eben auch Backpfeifen, atemloses Kneifen mit Fingernägeln in Armen und Beinen und den stechenden Schmerz des Haareziehens.

»Nicht streiten, seid nett zueinander. Seid nett«, sagte Mum, wenn wir auf dem kratzigen Wollteppich zu ihren Füßen lagen und auf dem Heizkörper in der Küche malten, wo die Wachsmalstifte so schön schmolzen. Von Nell lernte ich, dass Freude und Liebe auch schmerzhaft sein können. Wir stritten heftig, aber zugleich liebte ich sie über alles, und ich wusste, sie hätte ihr Leben für mich gegeben.

»Komm, wir bauen eine Höhle«, sagte sie jeden Tag, an jedem Wochenende. Wir waren wie besessen davon, im Garten oder im Haus Nester zu bauen, die uns allein gehörten. Meine Hände fühlten sich heiß und seltsam nah an meinem Gesicht an, wenn wir durch Tunnel krochen, die wir aus den Daunendecken in unserem Schlafzimmer gebaut hatten und in denen unsere Teddybären und Bücher plötzlich riesig wirkten, ganz anders als auf den hohen Regalen im Spielzimmer unten, wo alles durcheinander stand und wo es immer schrecklich unordentlich aussah.

Mum ließ uns schon im Vorfrühling früh morgens im Schlafanzug durch den Tau auf der Wiese laufen, damit wir Grün unter unseren Füßen spürten. Wenn es dann wirklich Frühling wurde, zerrten wir die Daunendecken und Schlafsäcke mit den verknautschten orangefarbenen Kreisen in den Garten, kuschelten uns hinein und legten uns in die Sonne. Schwitzend lagen wir auf dem Bauch und überlegten, was wir einmal werden wollten, wenn wir groß waren. Ich wollte immer ein Cowgirl sein, aber Nells Ehrgeiz bestand darin, Affen-Dompteurin zu werden. Sie schlief auch mit Spielzeugaffen auf ihrem Kopfkissen.

»Sag mir, wenn du die Augen schließt, dann tue ich es auch«, flüsterte ich ihr zu, wenn wir im Dunkeln in unseren Betten lagen. Nell ist zwei Jahre älter als ich, sie ging also auch früher zur Schule, und Mum bestand darauf, dass ich einen Mittagsschlaf hielt, auch als ich schon vier war. Manchmal hörte ich Hufklappern auf dem Pflaster, und dann kroch ich leise aus dem Bett und setzte mich auf das breite Fensterbrett, um zu schauen, was draußen auf der Straße los war. Vielleicht kam ja ein Pony die Straße hinunter. Aber dann war es zu meiner Enttäuschung doch nur eine Frau mit hohen Absätzen, die im Vorbeigehen eine Zigarette rauchte.

Die Meilensteine unseres Lebens in Oxford waren die Stelle am Ende des Gartens, wo Dad sein Feuerchen machte, die roten Ziegelmauern rundum und das graue Pflaster vor dem Haus. Wenn wir größere Abenteuer planten, gingen wir bis zum Briefkasten am Ende der Straße, aber das war schon eine Art Niemandsland, in das Mum uns eigentlich nie allein gehen ließ.

Als wir aufs Land zogen, gab Mum alle Grenzen auf. Aus dem Straßenpflaster wurden die Wiesen rund ums Haus, der überwachsene Garten mit dem Stall und der Sattelkammer, in der es nach Leder roch, und der Teich mit den schmuddeligen Enten, die im flachen Wasser planschten. Aus dem Briefkasten wurde der Dorfladen, wo wir Cola-Fläschchen und Krabbenchips kauften. Und Nell lief immer noch ständig barfuß, selbst wenn wir mit den Ponys ausritten.

Was Mum bei dem Unfall am 25. November 1991 passierte und was in der langen Zeit danach kam, war so grausam wie eine Feuerwalze, die durch ein Haus rast und alles verbrennt, das sich darin befindet. Am Ende war mein Herz schwarz wie Holzkohle. Aber in den ersten sechzehn Jahren meines Lebens war Mum einfach nur Liebe.

»Liebst du mich mehr als tausend Affen?«, fragte Nell sie, wenn sie barfuß auf den Küchenfliesen stand, während Mum Käse in die Soße für den Fischauflauf rührte.

»Mehr als alle Juwelen dieser Welt«, erwiderte Mum und schlug die Soße mit dem Schneebesen auf.

»Mehr als eine Million Pfund?«, fragte ich und drängte mich vor Nell, um auch etwas abzubekommen.

»Das ist doch gar kein Vergleich!«, lachte Mum, während die Soße eindickte, und zog den Topf vom Herd. »Geld kann man nicht mit Liebe vergleichen. Ich liebe dich mehr, als du dir vorstellen kannst, mehr als jede Zahl, die du dir ausdenken kannst«, fuhr sie fort und gab die Soße über den Fisch und die hartgekochten Eier. Dann öffnete sie die Tür zum Garten, sodass die Sonne auf den Fliesenboden schien und wir ins warme Licht blinzelten.

Minety war kein vornehmes Haus, aber es war groß, eine Ansammlung von Zimmern, einige mit zwei oder drei Türen, sodass jeder, der ins Spielzimmer kam, den Ausruf zu hören bekam: »Mach die Tür zu, es ist kalt draußen!« Es gab auch zwei Treppenhäuser, sodass man stundenlang Verstecken spielen konnte, und genug Schlafzimmer, damit unsere älteren Geschwister Emma, Tom und Sophy am Wochenende auch noch Platz fanden, selbst wenn Mums Citroën, mit dem sie sie am Freitagabend vom Zug abholte, schon randvoll mit Freunden war.

Jeden Freitag atmete das Haus neue Leute ein. Mein Vater Rick arbeitete die Woche über in London, kam aber am Wochenende mit dem Zug nach Hause, und dann saßen jede Menge Leute am Küchentisch, und Mum verteilte Rindfleischeintopf und flaschenweise Rotwein, die sich so schnell leerten, wie die Kerzen herunterbrannten und gelbe Wachsseen auf dem Tisch hinterließen.

Mum gestaltete alles wie jemand, der kleine, bunt glasierte Kuchen auf einer karierten Decke verteilt. Sie ließ das Gras rund ums Haus wachsen und mähte nur die Wege zu den Ställen, wo die Pferde im Schatten stampften, und weiter zum Teich und zum Kräutergarten, vorbei an einem Gestrüpp aus Jungfernrebe, das den Stamm einer großen Eibe umrankte. Ich zerdrückte die blutroten Beeren der Eibe gern zwischen meinen Fingern, um das Gift auf meiner Haut zu betrachten.

In Minety gab es kein System, keine Einheitlichkeit. Die Zimmer, die ohne jede Ordnung in kalte, geflieste Flure und enge Treppenhäuser übergingen, waren voll mit Büchern und Aquarellen, neben denen Plakate mit Kaffeereklame und Pop-Art-Poster hingen, die Rick in seinem Arbeitszimmer gemalt hatte. Drei der Wände dort waren mit Regalen voller Videobänder bedeckt, allesamt sorgsam mit Etiketten versehen, auf die mein Vater mit seiner energischen Handschrift die Filmtitel geschrieben hatte. Die Zerstörung der Talsperren. Paris, Texas. Die Brücke von Arnheim. The Rocky Horror Picture Show. Spiel mir das Lied vom Tod. Nashville. Unter der Woche, wenn er nicht da war und die Vorhänge zugezogen waren, ging ich nicht gern in Ricks Arbeitszimmer, aber am Wochenende war es ein aufregender Ort, vor allem als ich älter wurde und mit Rick, Mum und Nell nach dem Abendessen noch Filme anschauen durfte. Auf seinem Schreibtisch standen eine Handgranate und ein Weinglas mit drei aufgemalten Zigaretten. Die hatte er geschenkt bekommen, als er aufgehört hatte zu rauchen. Bevor er meine Mutter kennenlernte, rauchte er hundert Zigaretten am Tag. Damals war er einundzwanzig und studierte noch, und sie war zweiunddreißig, geschieden und hatte drei Kinder: meine Geschwister Emma, Sophy und Tom.

Mum brachte die Liebe ins Haus, Rick den Glamour und die Aufregung. Er duftete nach London und hatte dort, in Soho, ein Büro mit einem gläsernen Schreibtisch und glänzend poliertem Holzfußboden. Er sprach über Schauspieler und Drehpläne, und wenn ich mit ihm einen Film ansah, den er gedreht hatte, dann gab er mir das Gefühl, als wäre ich selbst dabei gewesen. Er erzählte mir von der Kameraführung und vom richtigen Licht und davon, dass der Casting Agent genau die richtigen Leute ausgesucht hatte. Wenn er zu Dreharbeiten unterwegs war, schickte er mir Postkarten mit selbst gemalten Figuren, und wenn er nach Hause kam, lachte Mum besonders viel.

Im Sommer nach unserem Umzug von Oxford nach Minety kamen eine Menge Freunde meiner Eltern zu Besuch und brachten ihre Kinder mit, die blinzelnd und gähnend aus den Autos stiegen und dann mit mir und Nell in den Tiefen des Gartens verschwanden, um Höhlen zu bauen. Mums Freundin Candida blieb eine Weile. Sie kam mit der Kutsche und ihrem Pferd, einem hellbraun-weißen Pony, den ganzen Weg von ihrem Haus in der Nähe vom Ridgeway bis nach Minety.

Ich kannte Candida gut, weil Mum und Rick oft mit uns bei ihr und ihrem Mann Rupert zum Essen eingeladen waren. Sie wohnten in einem riesigen Haus und hatten fünf Kinder, die meinen älteren Geschwistern ziemlich ähnlich waren. Es war ein einschüchterndes, schönes Haus. Die Zimmer waren in leuchtenden Farben gestrichen, und hinten durch den Garten verlief ein breiter Fluss. Nach dem Mittagessen nahm Candida uns oft mit zu einer Kutschfahrt am Ridgeway. Sie hatte eine elegante offene Kutsche mit riesigen Rädern und eine mit Verdeck, auf dem die Namen all ihrer Kinder aufgemalt waren. Aber mir gefiel die kleine zweirädrige Tonneau am besten. Sie hatte hinten eine hübsche Tür mit einem Messinggriff, durch die man einsteigen konnte. Ich durfte dieses Wägelchen selbst fahren und war ganz aufgeregt, weil es so hoppelte, wenn Candidas Pony über die Wiese am Haus galoppierte, auch wenn es mir ein wenig Angst machte und ich mich gut festhalten musste.

Als Candida mit der Kutsche in Minety ankam, sah ich zu, wie sie Eimer und Schwämme holte, um das verschwitzte Pony auf dem Hof abzuwaschen. Meine Jodhpur-Stiefel waren schlammig und meine Jeans mit Sattelfett verschmiert, und ich beneidete Candida, die bei all der Arbeit mit dem verschwitzten Pferd immer noch so schön aussah. Sie trug braune Cowboystiefel und einen langen roten Rock mit einem dicken Ledergürtel und einer goldenen Schnalle, passend zu dem kleinen goldenen Herz, das sie an einer Kette um den Hals trug, und den kleinen goldenen Ohrsteckern in Herzform. Wenn sie lächelte, konnte ich all ihre Zähne sehen, und sie sagte »Darling« zu mir, auch wenn sie dabei gleichzeitig mit ihrem Pferd sprach.

Rick hatte aus Hohlblocksteinen und einem Brett unter dem Haselnussbaum im Garten einen Tisch gebaut. Mum und Candida saßen im Schatten unter den hellgrünen Blättern, und Mum rauchte eine von den Silk Cuts, die mein Bruder am Wochenende vergessen hatte. Candida schüttelte den Kopf, als Mum ihr auch eine anbot, und sagte, sie habe damit gerechnet, nach dem Tod ihres Vaters wieder mit dem Rauchen anzufangen, aber dann habe sie es doch nicht getan. Mum brach ein Stück Brot ab, scheuchte die Fliegen von den Käsenudeln und warf den Hühnern, die in der Nähe scharrten, ein paar Brotkrumen zu. Die Hunde lagen unter dem Baum ausgestreckt und hechelten in der schweren Spätsommerhitze. Mum und Candida sprachen über die Namen der Rosensorten und die Kräuter, die Mum anbauen wollte. Und wo man im Garten am besten eine Party feiern könnte.

»Es ist himmlisch hier«, sagte Candida und legte den Kopf in den Nacken, sodass ihre blonden Haare wie ein Seidenvorhang über ihren Rücken fielen. »Absolut himmlisch. Ich will nie wieder irgendwo anders hin.«