Theodora Goss
Ins Deutsche übertragen
von Kerstin Fricke
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Text copyright © 2017, 2021 by Theodora Goss. All rights reserved.
Art Direction by Krista Vossen.
Jacket illustraton copyright © 2017 by Kate Forrester.
Titel der Englischen Originalausgabe: »The Strange Case of the Alchemist’s Daughter« by Theodora Goss, published in the United States 2017 by Saga Press, an imprint of Simon & Schuster, New York.
Deutsche Ausgabe 2021 Panini Verlags GmbH, Schlossstr. 76, 70176 Stuttgart.
Alle Rechte vorbehalten.
Geschäftsführer: Hermann Paul
Head of Editorial: Jo Löffler
Head of Marketing: Holger Wiest (E-Mail: marketing@panini.de)
Presse & PR: Steffen Volkmer
Übersetzung: Kerstin Fricke
Lektorat: Mona Gabriel
Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart
Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln
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ISBN 978-3-7367-9854-0
Gedruckte Ausgabe:
1. Auflage, Oktober 2021, ISBN 978-3-8332-4101-7
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PaniniComicsDE
Für Ophelia,
die es als Erste gelesen hat
Hier sind Monster
Mary: Wenn du mich fragst, ist das nicht der passende Sinnspruch für das Buch.
Catherine: Dann schreib du das verflixte Ding doch. Ich weiß wirklich nicht, warum ich mich darauf eingelassen habe.
Mary: Weil wir das Geld brauchen.
Catherine: Wie üblich.
1
Das Mädchen im Spiegel
Mary Jekyll blickte auf den Sarg ihrer Mutter hinab.
»Ich bin die Auferstehung und das Leben, sagt der Herr.«
Es hatte wieder angefangen zu regnen in diesem trostlosen, ewigen Nieselregen, der für den Frühling in London so typisch war.
»Spannen Sie den Regenschirm auf, meine Liebe, sonst werden Sie noch nass«, sagte Mrs Poole.
Gehorsam spannte Mary den Schirm auf, obwohl sie sich nicht darum scherte, ob sie nass wurde. Das wurden sie alle, die sich auf dem grauen Kirchhof von St. Marylebone um das rechteckige Loch im Boden versammelt hatten. Reverend Whittaker, der aus dem Gebetbuch vorlas. Schwester Adams, die grimmig aussah, aber tat sie das nicht eigentlich immer? Die Köchin wischte sich die Nase mit einem Taschentuch ab. Enid, das Zimmermädchen, schluchzte an Josephs Schulter. In dem Teil ihres Verstands, der dafür benutzt wurde, Rechnungen zu bezahlen und die Haushaltsführung mit Mrs Poole zu besprechen, dachte Mary: Ich werde mit Enid über den zu vertrauten Umgang mit einem Diener reden müssen. Alice, das Küchenmädchen, hielt Mrs Pooles Hand. Sie sah blass und ernst aus, aber auch hier stellte sich die Frage: Tat sie das nicht immer?
»Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben; der Geist spricht, dass sie ruhen von ihrer Arbeit.«
Auf dem Boden des rechteckigen Lochs stand ein Sarg, und in diesem Sarg lag ihre Mutter in ihrem Hochzeitskleid aus blauer Seide, das zur Farbe ihrer Augen passte, die nun für immer geschlossen waren. Als Mary und Mrs Poole es ihr angezogen hatten, war ihnen bewusst geworden, wie ausgemergelt sie in den letzten Wochen geworden war. Mary hatte ihrer Mutter selbst das graue, noch mit Gold durchzogene Haar gekämmt und es ihr über die schmalen Schultern gelegt.
»Denn so wie du es bei meiner Erschaffung bestimmet hast, als du sagtest, denn Staub bist du und zu Staub sollst du werden. Denn wir zerfallen alle zu Staub, und doch selbst im Grabe erschaffen wir unser eigenes Lied: Halleluja.«
»Halleluja«, erwiderten Mrs Poole, Schwester Adams, die Köchin, Joseph und Alice. Enid schluchzte weiter.
»Halleluja«, sagte Mary einen Augenblick später.
Sie reichte Mrs Poole ihren Regenschirm und zog sich die Handschuhe aus. Dann kniete sie sich neben das Grab, griff sich eine Handvoll Erde und warf sie auf den Sarg. Sie hörte, wie die kleinen Kiesel aufkamen, was sogar den plätschernden Regen übertönte. An diesem Nachmittag würde der Totengräber das Grab zuschaufeln, und es wäre nur noch ein Erdhaufen, bis der Grabstein eintraf.
Ernestine Jekyll,
Geliebte Ehefrau und Mutter
Na, das war wenigstens teilweise korrekt.
Sie kniete noch einen Augenblick länger dort, obwohl sie spüren konnte, wie das Wasser durch ihren Rock und ihre Strümpfe sickerte. Nachdem sie sich wieder erhoben hatte, nahm sie ihren Regenschirm an sich. »Würden Sie bitte alle zurück zum Haus bringen, Mrs Poole? Ich muss noch Reverend Whittaker bezahlen.«
»Ja, Miss«, erwiderte Mrs Poole. »Auch wenn ich Sie nur ungern allein lasse …«
»Bitte. Alice hat gewiss Hunger. Ich bin bald zu Hause, versprochen.« Sie würde Reverend Whittaker in die Kirche folgen und etwas für die Instandsetzung von St. Marylebone spenden. Aber zuvor wollte sie noch einen Augenblick mit ihrer Mutter allein sein. Mit dem, was von Ernestine Jekyll noch übrig war und das jetzt in einer Holzkiste lag, auf die der Regen fiel.
Mary: Ist es wirklich nötig, mit der Beerdigung anzufangen? Kannst du nicht einen anderen Auftakt wählen? Ich dachte, du wolltest direkt im Geschehen loslegen – in medias res.
Bevor Mary sie davon abhalten konnte, hockte sich Diana neben Molly Keanes Leiche, wobei sie Blut auf den Saum ihres Kleides und die Schuhspitzen bekam. Sie griff über das ermordete Mädchen nach der steifen Hand, die auf ihrem Busen lag, und öffnete die verkrampften Finger. Dann entwand sie dem kalten Griff das, was das Mädchen festgehalten hatte: einen Metallknopf.
»Diana!«, rief Mary.
Mary: Nicht so in medias res! Sie werden die Geschichte nicht verstehen, wenn du so anfängst.
Catherine: Dann hör auf, mir vorzuschreiben, was ich machen soll.
Es war sinnlos, noch länger hier herumzustehen. Damit würde sie nichts erreichen, und Mary musste heute noch so einiges erledigen. Sie sah auf die Uhr: Es war fast Mittag. Also drehte sie sich um und marschierte unter einem grauen Bogen hindurch in die Sakristei von St. Marylebone, um sich auf die Suche nach Reverend Whittaker zu machen, der schon vorausgegangen war. Zehn Pfund für die Instandsetzung der Kirche … Aber sie war Miss Jekyll und in St. Marylebone getauft und konfirmiert worden, da konnte sie nicht weniger geben.
Sie trat aus der Ruhe der Kirche in das geschäftige Treiben auf der Marylebone Road hinaus mit den vielen Kutschen und Wagen und den Obst- und Gemüsehändlern am Straßenrand, die lauthals ihre Waren anpriesen. Obwohl es ein Umweg war, ging sie durch den Regent’s Park zurück. Normalerweise bekam sie bei einem Spaziergang durch den Park bessere Laune, aber heute waren die gerade aufblühenden Rosen vom Regen niedergebeugt und sogar die Enten auf dem Teich wirkten irgendwie geknickt. Als sie das biedere, respektable Ziegelsteinhaus an der Adresse 11 Park Terrace erreichte, in dem sie ihr ganzes Leben verbracht hatte, war sie müde und trotz des Regenschirms durchnässt.
Mary ließ sich selbst herein, was Mrs Poole zweifellos entrüstet hätte, und stellte ihren Regenschirm in den Ständer, um dann vor dem Flurspiegel stehen zu bleiben und den Hut abzunehmen. Dabei warf sie unwillkürlich einen Blick hinein und verharrte, um ihr Spiegelbild genauer zu betrachten.
Das Gesicht, das ihr entgegenblickte, war blass und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Selbst ihr Haar, das gewöhnlich mittelbraun war, wirkte an diesem Vormittag blass, als wäre es vom Licht, das durch die schmalen Fenster rechts und links der Haustür hereinfiel, ausgewaschen worden. Sie sah aus wie ein Leichnam.
Ich habe innegehalten, um Ihnen zu zeigen, wie Mary in den Spiegel blickt, weil dies eine Geschichte über Monster ist. Alle Geschichten über Monster enthalten eine Szene, in der sich das Monster im Spiegel ansieht. Erinnern Sie sich an Frankensteins Monster, das vor seinem Spiegelbild in einem Teich im Wald erschrickt? Da wird ihm seine eigene Monstrosität erst bewusst.
Mary: Ich bin kein Monster, und dieses Buch ist voller Lügen. Wäre Mrs Shelley hier, ich würde ihr wegen des vielen Ärgers, den sie verursacht hat, eine Backpfeife geben.
Diana: Das würde ich zu gern sehen!
»Was wirst du jetzt tun?«, fragte Mary das Mädchen im Spiegel.
»Fangen Sie jetzt bloß nicht an, Selbstgespräche zu führen, Miss«, sagte Mrs Poole. Mary drehte sich erschrocken um. »Das erinnert mich an Ihre arme Mutter. Wie sie in ihrem Zimmer auf und ab gelaufen ist, bis der Teppich fast durchgescheuert war. Während sie mit wem auch immer redete.«
»Keine Sorge, Mrs Poole«, erwiderte Mary. »Ich habe nicht die Absicht, den Verstand zu verlieren, jedenfalls nicht heute.«
»Wie Sie darüber auch noch Witze machen können, ist mir ein Rätsel! Wo sie doch gerade erst unter der Erde liegt.« Die Haushälterin schüttelte den Kopf. »Würden Sie gern eine Tasse Tee im Salon zu sich nehmen? Ich habe Feuer gemacht. Die Köchin sagt, dass das Mittagessen in einer halben Stunde fertig ist. Und für Sie ist ein Brief eingetroffen, von Mr Guest. Er wurde während unserer Abwesenheit durch den Briefschlitz geschoben. Ich habe ihn auf dem Teetisch bereitgelegt.«
Von Mr Guest, dem Anwalt ihrer Mutter. Der nun wohl auch ihr Anwalt war, allerdings konnte sich Mary nicht vorstellen, dass er noch lange mit ihr Geschäfte würde machen wollen. Zu Lebzeiten ihrer Mutter hatte die Sache anders ausgesehen …
»Danke, Mrs Poole. Könnten Sie bitte alle in den Salon rufen? Ja, auch Alice. Und holen Sie auch … Sie wissen schon. Es sollte am besten sofort erledigt werden, finden Sie nicht auch?«
»Wenn Sie das sagen, Miss.« Mrs Poole war der Widerwille deutlich anzusehen. Allerdings ließ es sich nun mal nicht ändern. Es sei denn, dieser Brief von Mr Guest … Konnte er möglicherweise etwas an ihrer Situation ändern?
Mary betrat den Salon, nahm den Brief vom Tisch und riss den Umschlag auf – ordentlich, aber ohne erst den Brieföffner zu suchen. Vielleicht … aber nein. Wenn Sie so bald wie möglich in mein Büro kommen könnten, damit wir einige letzte Angelegenheiten hinsichtlich des Nachlasses Ihrer verstorbenen Mutter regeln können. Das war alles. Sie ließ sich aufs Sofa sinken und reckte die Hände in Richtung Feuer. Ihre Hände waren blass und dünn, und darauf zeichneten sich deutlich die blauen Venen ab. Sie musste in den letzten Wochen abgenommen haben vor lauter Sorge und ob der langen Nächte, die sie am Bett ihrer Mutter gesessen hatte, damit Schwester Adams ein wenig schlafen konnte. Am liebsten hätte sie sich auch jetzt hingelegt, wenigstens für einen Moment. Die Beerdigung war so … schwierig gewesen. Aber nein, das, was getan werden musste, sollte auch möglichst schnell über die Bühne gebracht werden. Es war sinnlos, es weiter hinauszuzögern.
»Da wären wir, Miss.« Schwester Adams führte eine Prozession an, die Mary an die aus einem Märchen erinnerte: die Köchin, der Diener, das Hausmädchen und das arme kleine Küchenmädchen als Nachhut. Mrs Poole trat als Letzte ein und blieb neben der Tür stehen, mit gefalteten Händen und der ausdruckslosen Miene einer missbilligenden Dienstbotin.
Tja, nun wurde es also ernst. Mary tat das nur ungern, hatte jedoch keine Alternative.
»Ich möchte Ihnen allen danken, dass Sie zur Beerdigung gekommen sind«, begann Mary. »Und ich danke Ihnen ferner für Ihre … Ihre Fürsorge und Treue, insbesondere während der letzten Wochen.« In denen Mrs Jekyll geschrien und sich die Haare ausgerissen hatte, nichts mehr zu sich nehmen wollte und schließlich ihrer letzten Krankheit erlegen war. »Ich wünschte, ich hätte Sie hier nur zusammengerufen, um mich zu bedanken, aber das ist leider noch nicht alles. Ich muss Sie nämlich bedauerlicherweise alle entlassen.«
Die Köchin nahm die Brille ab und putzte die Brillengläser. Enid schniefte und weinte in ein großes Taschentuch, das Joseph ihr reichte. Alice sah aus wie ein verschrecktes Kaninchen.
Wie furchtbar das Ganze doch war! Noch schlimmer, als sie es sich vorgestellt hatte. Aber Mary fuhr dennoch fort. »Vor dem Tod meiner Mutter habe ich mich mit Mr Guest zusammengesetzt, der mir meine finanzielle Lage dargelegt hat. Die Köchin wird sich daran erinnern, da sie schon zu Lebzeiten meines Vaters hier war, aber alle anderen wissen vermutlich nichts davon … Mein Vater war ein wohlhabender Mann, aber als er vor vierzehn Jahren starb, fanden wir heraus, dass sein Vermögen verschwunden war. Er hatte seine Wertpapiere der Bank of England verkauft und das Geld auf ein Konto in Budapest transferiert. Als sein damaliger Anwalt, Mr Utterson, die Budapester Bank kontaktierte, teilte man ihm mit, dass das Konto nicht auf Dr. Jekyll lief, die Bank nie von einem Dr. Jekyll gehört hatte und man ohne Anweisung der österreichisch-ungarischen Regierung keine Informationen über ihre Kunden herausgeben könne. Mr Utterson versuchte, eine derartige Anweisung zu erwirken, was sich jedoch als unmöglich erwies. Die österreichisch-ungarische Regierung hatte nicht das geringste Interesse an einer verwitweten Mutter und ihrem Kind im fernen London. Ich war damals erst sieben, daher erinnere ich mich an kaum etwas davon. Aber als ich älter wurde und meine Mutter zunehmend … nun ja … unfähiger war, sich um ihre Finanzen zu kümmern, erklärte mir Mr Utterson die Sachlage. Mein Vater hatte ihr ein gewisses Einkommen hinterlassen, das ausreichte, um uns einen bescheidenen Komfort zu ermöglichen.«
Sie musste nicht näher erklären, wie bescheiden dieser war. Die Dienstboten waren zweifellos über ihre wirtschaftliche Lage im Bilde, auch wenn sie versucht hatte, sie gut zu ernähren und zu versorgen. Dass sie sonntags Fleisch auf dem Tisch und immer Kohlen im Keller hatten. Doch es war ihnen gewiss nicht entgangen, dass immer wieder Bücher aus den Regalen in der Bibliothek verschwanden und Silber durch einfaches Geschirr ersetzt wurde. Im Laufe der Jahre hatte sie Porzellanschäferinnen, goldene Uhren und sämtliches Tafelsilber verkauft, auch den Tafelaufsatz, den ihre Mutter vom Erzbischof von York als Hochzeitsgeschenk erhalten hatte. An den Wänden zeichneten sich die Umrisse der Gemälde ab, die einst dort gehangen hatten. Einmal hatte Enid angemerkt, wie schön es wäre, dass sie weniger Figuren abzustauben habe, um dann rasch »Entschuldigen Sie vielmals, Miss!« auszustoßen und in der Küche zu verschwinden. Das Einkommen ihrer Mutter hatte nicht ausgereicht, um die Haushaltsausgaben sowie die Kosten für ihre Medizin und Schwester Adams zu decken.
»Doch dieses Einkommen wurde nur zu ihren Lebzeiten ausgezahlt. Mit ihrem Tod ist es versiegt. Ich bekomme nichts davon.«
Einen Augenblick lang herrschte Stille, die nur vom Knistern des Feuers durchbrochen wurde.
»Dann seid Ihr also mittellos, Miss?«, fragte Enid, die Romanzen der billigsten Sorte liebte.
»Tja, so könnte man es wohl ausdrücken«, antwortete Mary. Was für eine Art, es auszudrücken! Und doch entsprach es durchaus der Wahrheit. Sie war vielleicht nicht gänzlich mittellos, doch auch nicht weit davon entfernt. Ihr Großvater, der vor einigen Jahren gestorben war, hatte gewiss nicht damit gerechnet, dass seine Enkelin aufgrund der Bestimmungen seines Testaments verarmen könnte. Er war ihr letzter lebender Verwandter gewesen – nun gab es niemanden mehr, an den sie sich wenden konnte. Das war es also. Ruiniert war also kein so ganz unpassender Ausdruck für ihre Lage.
Beatrice: Die Gesetze hinsichtlich weiblicher Erben sind in diesem Land schlichtweg barbarisch. Warum kann man männlichen Erben direkt ein Vermögen hinterlassen, weiblichen aber nur ein Einkommen auf Lebenszeit? Was passiert, wenn ihre Gatten sie verlassen, wie es häufig vorkommt? Oder wenn sie ihr Vermögen nach Budapest transferieren? Wer kümmert sich dann um ihre Kinder?
Diana: Ach, Herrgott noch mal! Wenn sie erst einmal damit anfängt, hört sie gar nicht mehr auf.
»Würden Sie mir bitte die Umschläge bringen, Mrs Poole?« Sie hatten sie am Vortag im Zimmer der Haushälterin eingeschlossen, nachdem Mary zur Bank gegangen war, um … sie mochte gar nicht darüber nachdenken, wie viel Geld sie abgehoben hatte. Mrs Poole zog die Umschläge aus ihrer Schürzentasche und reichte sie ihr. »In jedem dieser Umschläge befinden sich Ihr Lohn für vierzehn Tage sowie ein Empfehlungsschreiben. Sie müssen keine zwei Wochen mehr bleiben. Sobald Sie eine andere, und wie ich hoffe, bessere Anstellung gefunden haben, sind Sie frei zu gehen, und das mit meinem Segen. Es tut mir so leid.« Sie setzte sich und sah sie schweigend an, da sie nicht wusste, was sie noch sagen sollte.
»Ich für meinen Teil muss gestehen, dass mich das nicht überrascht, Miss Jekyll«, ergriff Schwester Adams als Erste das Wort. »Sobald Ihre Mutter anfing, von diesem Gesicht am Fenster zu sprechen, wusste ich Bescheid. So fängt es immer an, wenn Sie mir die Bemerkung erlauben – sie sehen Dinge, die gar nicht da sind. Ich dachte, die arme Frau wird keinen Monat mehr überleben, und ich hatte recht. In solchen Dingen kenne ich mich eben aus! Daher habe ich mit meiner Agentur gesprochen, und man hat mir mitgeteilt, dass soeben eine Position frei geworden ist, um einen älteren Gentleman in die deutschen Kurorte zu begleiten. Ich werde morgen abreisen, wenn es Ihnen recht ist.«
»Ja, natürlich«, erwiderte Mary. »Und vielen Dank noch mal. Ich weiß, dass die letzten Wochen sehr schwer für Sie waren.« Was hätte sie nur ohne Schwester Adams gemacht? Nur mit Mrs Pooles Hilfe hätte Mary ihre Mutter nicht beruhigen können, als sie geschrien und geweint hatte wegen dieses Gesichts, des blassen Gesichts … Selbst in ihren letzten Tagen, als sie zu schwach gewesen war, um das Bett zu verlassen, hatte Mrs Jekyll noch im Schlaf deswegen gewimmert.
»Und was mich und Enid angeht, Miss«, schaltete sich Joseph ein, »so wollten wir es Ihnen in dieser schwierigen Zeit gar nicht sagen, aber wir haben vor, zu heiraten. Mein Bruder hat einen Gasthof in Basingstoke, der viel zu gut läuft, als dass er allein damit zurechtkommt, und ich habe zugestimmt, sein Geschäftspartner zu werden. Wir hatten darauf gehofft, dass Sie uns Ihren Segen geben.«
»Ach, das sind ja wundervolle Neuigkeiten«, sagte Mary. Sie war um Enids willen heilfroh, dass es sich nicht bloß als Tändelei herausgestellt hatte. »Ich freue mich sehr für Sie beide. Und was ist mit Ihnen?« Sie sah die Köchin an, die ihr die größten Sorgen bereitete.
»Nun, ich muss Ihnen ehrlich gestehen, dass ich darauf gehofft hatte, noch eine Weile bleiben zu können«, gab die Köchin zu. »Aber meine Schwester liegt mir schon länger in den Ohren, dass ich zu ihr nach Yorkshire ziehen soll. Ihr Mann ist letztes Jahr gestorben, und ihre Töchter sind erwachsen und stehen in Diensten, daher ist sie ganz allein. Zwei alte Frauen, die zusammenwohnen – ich werde mich ohne das rege Treiben in London zu Tode langweilen. Vielleicht fange ich sogar an zu stricken! Aber ich lasse Sie nur ungern in dieser Situation zurück, Miss. Schließlich kannte ich Sie schon als kleines Mädchen, als Sie in meine Küche gestapft kamen und Marmeladentörtchen genascht haben!«
»Nein, mir tut es leid«, beharrte Mary. Sie waren alle so freundlich zu ihr, obwohl sie ihnen mitteilen musste, dass sie kein Zuhause mehr hatten. Alice konnte wenigstens zu ihrer Familie aufs Land zurückkehren. »Du kannst deine Mutter wiedersehen«, sagte sie zu dem Küchenmädchen. »Und deine Brüder ebenso wie die Henne, die du so vermisst hast – wie war doch gleich ihr Name?« Sie schenkte dem Mädchen ein ermutigendes Lächeln, doch Alice fummelte nur an ihrer Schürze herum.
Nachdem sie ihnen die Umschläge überreicht hatte und Mrs Poole sie zum Mittagessen nach unten scheuchte, wobei sich Schwester Adams entschuldigte und um ein Tablett bat, das ihr aufs Zimmer geschickt wurde, damit sie sich ans Packen machen konnte, lehnte sich Mary auf dem Sofa zurück und betrachtete das Bild ihrer Mutter auf dem Kaminsims. Ernestine Jekyll mit ihrem langen goldblonden Haar und den Augen in der Farbe von Kornblumen lächelte auf eine Art und Weise auf sie herab, wie Mary sie zu ihren Lebzeiten nie erlebt hatte. Solange Mary sich erinnern konnte, hatte sich ihre Mutter fast ausschließlich in dem großen Zimmer aufgehalten, in dem sie schlief, seit sie Dr. Jekyll geheiratet hatte und aus Yorkshire nach London gezogen war – um dort auf und ab zu gehen und sich mit unsichtbaren Gefährten zu unterhalten. Manchmal hatte sie sich gekratzt, bis sie blutete. Dann wieder riss sie sich Haare aus, die büschelweise auf dem Boden lagen. Einmal hatte Schwester Adams vorgeschlagen, sie zu ihrer eigenen Sicherheit in eine Anstalt einweisen zu lassen. Mary hatte sich geweigert, sich in den letzten Wochen allerdings gefragt, ob das wirklich die richtige Entscheidung gewesen war. Was hatte diese heftigen Krampfanfälle und dieses nächtliche Kreischen verursacht? Was hatte diesen schnellen letzten Niedergang eingeleitet?
Selbst als kleines Mädchen hatte Mary nur selten geweint. Ihr war schon vor langer Zeit gewahr geworden, dass das Leben schwierig sein konnte. Es musste mit Mut und gesundem Menschenverstand angegangen werden, und Sentimentalität wurde nicht belohnt. Als sie daran denken musste, wie ihre Mutter dort auf dem Kissen gelegen und friedlicher ausgesehen hatte als seit Jahren, schlug Mary die Hände vor das Gesicht. Aber sie weinte nicht, ebenso wenig wie sie bei der Beerdigung Tränen vergossen hatte.
Diana: Weil unsere Mary niemals weint.
Mrs Poole: Miss Mary ist eine Lady. Sie bekommt nie Wutanfälle, anders als andere, die mir da einfallen würden.
Mary: Es ist nicht meine Schuld, dass ich nicht weinen kann. Ihr wisst ganz genau, dass ich nichts dafür kann.
Catherine: Ja, das wissen wir.
Marys »so bald wie möglich«, wie sich Mr Guest in seinem Brief ausgedrückt hatte, ließ sich erst eine Woche später bewerkstelligen. Zuerst musste Schwester Adams verabschiedet werden, dann Joseph und Enid und zu guter Letzt die Köchin. Eines Nachmittags betrat Mrs Poole das sonnige Wohnzimmer, in dem Mary die Konten ihrer Mutter durchging. »Alice ist fort.«
»Wie bitte?« Mary merkte auf. »Was soll das heißen, sie ist fort?«
»Das heißt, dass sie ihre Sachen gepackt hat und verschwunden ist, ohne sich zu verabschieden. Sie hat wie üblich all ihre morgendliche Arbeit erledigt, ohne einen Ton von sich zu geben. Ich ging eben in ihr Zimmer, um ihr mitzuteilen, dass der Tee fertig ist, und musste feststellen, dass nichts mehr da ist. Nicht dass sie viel besessen hätte, doch der Raum ist leer.«
»Na, dann haben ihre Brüder sie zweifellos abgeholt. Hatte sie nicht gesagt, dass alles arrangiert wäre?«
»Ja, aber sie hätte sich wenigstens verabschieden können. Immerhin habe ich sie hier aufgenommen und ausgebildet. Ich hätte nicht mit einer solchen Undankbarkeit gerechnet, erst recht nicht von Alice! Und ohne eine Adresse zu hinterlassen. Ich hätte ihr wenigstens gern eine Weihnachtskarte geschickt.«
»Sie ist noch sehr jung, Mrs Poole. Mit dreizehn waren Sie gewiss auch noch recht sorglos. Nein, wenn ich es mir recht überlege, waren Sie das vermutlich nicht. Und das mit Alice tut mir leid. In den nächsten Tagen trifft gewiss ein Brief von ihr ein, in dem man uns mitteilt, dass sie sicher zu Hause eingetroffen ist und wie gut es ihr gefällt, wieder auf dem Land zu leben. Nun gut, ich bin hier fertig. Es wird Zeit, sich Mr Guest zu stellen. Es regnet wieder. Könnten Sie mir bitte meinen Regenmantel bringen?« Sie klappte das Kontenbuch zu und seufzte. Eigentlich hatte sie nicht die geringste Lust, sich mit dem Anwalt zu treffen, aber das, was getan werden musste, konnte auch schnellstmöglich erledigt werden. Jedenfalls hatte Miss Murray, ihre Gouvernante, sie das gelehrt.
Mrs Poole wartete im Flur und reichte ihr Regenmantel und -schirm. »Ich wünschte, Sie würden eine Droschke nehmen. Sie werden völlig durchnässt sein, und wenn ich mir vorstelle, dass Sie allein durch diese Straßen gehen …«
»Sie wissen, dass ich mir keine Droschke leisten kann, und ich muss ohnehin nur zum Cavendish Square. Außerdem schreiben wir schon die Neunziger. Die meisten angesehenen Damen sind allein unterwegs. Oder fahren mit ihren Fahrrädern durch den Park!«
»Und sehen entsetzlich aus!«, beschwerte sich Mrs Poole. »Ich hoffe, Sie ziehen nicht in Erwägung, auch einen Hosenrock zu tragen oder sich eines dieser Geräte zuzulegen.«
»Nun, heute ganz bestimmt nicht. Sehe ich in Ihren anspruchsvollen Augen angemessen respektabel aus?« Mary betrachtete ihr Spiegelbild und richtete sich den Hut, allerdings eher aus Gewohnheit und nicht, weil er gerichtet werden musste. Sie versuchte gar nicht erst modisch auszusehen, und selbst wenn das ihre Absicht gewesen wäre, hätte es nicht funktioniert. Nicht wenn ich aussehe, als hätte ich einen Geist gesehen, dachte sie.
»Sie sehen immer respektabel aus, meine Liebe«, erklärte Mrs Poole. »Sie sind eine geborene Dame.«
Mrs Poole: Ich protestiere. Nie im Leben hätte ich Miss Mary derart respektlos mit »meine Liebe« angesprochen!
Diana: Ach, halten Sie doch den Rand! Sie machen das die ganze Zeit, ohne es zu merken.
»Eine Dame sollte in der Lage sein, die Rechnung des Metzgers zu bezahlen«, erwiderte Mary. Zwölf Pfund, fünf Schilling, drei Pence: Das war ihr aktuelles Guthaben auf der Bank. Sie hatte es fein säuberlich in ihr Kontenbuch eingetragen, und jetzt konnte sie nicht aufhören, daran zu denken. Die Zahl ging ihr immer wieder durch den Kopf, als wäre sie eine stehen gebliebene Uhr. Auf dem Schreibtisch ihrer Mutter stapelten sich die Rechnungen, und Mary hatte keine Ahnung, wie sie sie bezahlen sollte.
»Mr Byles weiß, dass er sein Geld schon bekommen wird«, sagte Mrs Poole. »Hat er diesen Haushalt nicht schon vor dem Tod Ihres Vaters mit Fleisch versorgt?«
»Da gab es aber auch noch einen Haushalt zu versorgen.« Mary knöpfte sich den Regenmantel zu, nahm ihre Geldbörse vom Flurtisch und hängte sich den Regenschirm über den Arm. »Mrs Poole, Sie sollten wirklich noch einmal darüber nachdenken …«
»Ich werde Sie nicht verlassen, Miss«, fiel Mrs Poole ihr ins Wort. »Ich lasse Sie nicht ganz allein in diesem großen Haus zurück. Mein Vater war hier Dr. Jekylls Butler, und meine Mutter kam mit Mrs Jekyll vom Land. Sie war das Kindermädchen Ihrer Mutter, müssen Sie wissen. So wie ich das Ihre war, als Sie noch mit einem Lätzchen herumliefen. Das hier ist mein Zuhause.«
»Aber ich kann Sie nicht bezahlen«, erwiderte Mary verzweifelt. »Ich konnte der Köchin, Joseph und den anderen nur mit Müh und Not den Lohn für vierzehn Tage auszahlen. Sie können mich nicht wie Mr Byles anschreiben lassen. Und eine erfahrene Haushälterin findet schnell eine neue Stelle, selbst in Zeiten wie diesen. Ich bin diejenige, die man beim Arbeitsamt nicht will. Sie hätten diese Frauen mit ihren geschürzten Lippen sehen sollen, als sie mir mitteilten, ich wüsste nicht genug, um als Gouvernante zu arbeiten – was durchaus der Wahrheit entspricht –, oder dass die Arbeit in einem Geschäft ›nichts für jemanden wie Sie ist, Miss‹!«
»In dieser Hinsicht kann ich ihnen nur zustimmen«, meinte Mrs Poole.
»Oder dass sie irgendwann schon etwas für mich finden würden, wenn ich einen zweiwöchigen Schreibmaschinenkurs absolviere, der zehn Schillinge kosten soll. Aber ich habe keine zehn Schillinge übrig, und ich habe auch keine zwei Wochen! Ich habe Mr Leventhal angerufen, doch er meinte, es wäre angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Lage aussichtslos, dieses Haus verkaufen zu wollen. Er meinte, meine einzige Hoffnung wäre ein Käufer, der die Ausgaben nicht scheut, hier einzelne Wohnungen zu schaffen.«
»Wohnungen!« Mrs Poole war ernsthaft entrüstet. »Das Haus eines Gentlemans in Wohnungen zu unterteilen! Was ist nur aus dieser Welt geworden? Na, vielleicht hat Mr Guest ja gute Nachrichten für Sie.«
»Das ist höchst unwahrscheinlich«, erwiderte Mary und blickte abermals in den Spiegel. Schirm, Regenmantel, Gummistiefel. Sie war bereit für den Wolkenbruch.
Und ein Wolkenbruch war es in der Tat. Der Regen prasselte gnadenlos auf ihren Schirm. In den Rinnsteinen floss das dunkle Wasser schnell dahin. London ging seinen täglichen Geschäften nach: Läden waren geöffnet, Wagen rumpelten über die Straßen, Zeitungsjungen riefen: »Noch ein schrecklicher Mord! Dienstmädchen am freien Tag ohne Kopf aufgefunden! Mehr darüber in der Daily Mail!« Aber die Straßenkehrer sahen durchnässt und trübsinnig aus, und die Kutschpferde schüttelten die Köpfe, um das Wasser aus den Ohren zu bekommen. Auf den Bürgersteigen stießen die Regenschirme aneinander.
Als hätte Gott abermals beschlossen, die Welt zu ertränken, dachte sie und wünschte sich fast, es wäre wirklich so. Manchmal glaubte sie tatsächlich, die Welt müsse ertränkt werden. Aber sie verdrängte diesen lieblosen Gedanken und warf einen schnellen Blick auf die Uhr, um sich zu vergewissern, dass sie rechtzeitig zu ihrem Termin kommen würde. Ihre Stiefel machten schmatzende Geräusche auf dem nassen Straßenpflaster, als sie sich den Weg durch Marylebone bahnte.
Utterson & Guest, Anwälte lag an einer der ruhigen, angesehenen Straßen in der Nähe des Cavendish Square. Mary betätigte den Türklopfer aus poliertem Messing. Ein Angestellter öffnete die schwere Holztür und führte sie durch den langen, getäfelten Korridor zu Mr Guests Büro. Zu Lebzeiten ihrer Mutter war Mr Guest zu ihnen nach Hause gekommen, doch die verarmte Miss Mary Jekyll war nicht wichtig genug für einen Hausbesuch.
Mr Guest war so groß, schlank und schütteren Hauptes wie eh und je. Er erinnerte Mary immer an einen Kadaver; sie stellte sich das getäfelte Büro mit den Reihen aus in Leder gebundenen Büchern als den Sarg vor, in dem man ihn begraben hatte. Er beugte sich über ihre Hand und sagte mit seiner leichenartigen Stimme: »Ich bin Ihnen sehr verbunden, dass Sie mich infolge meines Briefes aufsuchen, Miss Jekyll. Noch dazu bei diesem Regen!«
»Ich schätze, das hat nichts mit meiner finanziellen Situation zu tun?«, erwiderte Mary. Sie konnte auch gleich zum Thema kommen. Er wusste ja ganz genau, dass sie kein Geld hatte.
»Nein, nein, Ihre finanzielle Lage ist leider unverändert.« Mr Guest schüttelte bedauernd den Kopf, aber Mary meinte, ein gewisses Vergnügen in seiner Stimme mitschwingen zu hören. »Bitte setzen Sie sich doch, da diese Angelegenheit etwas Zeit in Anspruch nehmen dürfte. Ich habe Sie hergebeten, weil ich das hier erhalten habe.« Mr Guest nahm hinter seinem Schreibtisch Platz und zog eine Ledermappe zu sich heran, die neben dem Tintenfass gelegen hatte. »Die Bank Ihrer Mutter hat mich angeschrieben – nicht die Bank of England, sondern eine andere Bank, bei der sie ein Konto eröffnet hatte, eine Art Genossenschaft in Clerkenwell. Ohne mein Wissen, wie ich hinzufügen möchte.« Er missbilligte es offenkundig, wenn seine Klienten Konten eröffneten, ohne ihn darüber zu informieren, erst recht, wenn sich die fragliche Bank in einem derart verrufenen Stadtteil befand.
Mary starrte ihn verblüfft an. »Ein weiteres Konto? Das ist unmöglich. Meine Mutter hat ihr Zimmer vor ihrem Tod viele Jahre lang nicht verlassen.«
»Ja, natürlich«, stimmte Mr Guest ihr zu. »Doch dieses Konto muss eröffnet worden sein, bevor Ihre Mutter … sich von der Welt abgesondert hat.« Bevor sie verrückt geworden ist, wollten Sie wohl sagen, dachte Mary.
»Bei der Kontoeröffnung hat Ihre Mutter eine gewisse Summe eingezahlt und festgelegt, dass ein Teil davon jeden Monat an einen bestimmten Empfänger gehen solle. Als der Bankdirektor die Todesanzeige in der Times sah, hat er Kontakt zu mir aufgenommen, wie es sich gehört. Ich bat ihn, mir alle Informationen zuzusenden, die er mir überlassen kann, und eine Woche später erhielt ich diese Dokumente. Darunter befindet sich auch das Kontobuch.«
Er öffnete die Mappe und entnahm ihr ein Buch, wie es Bankangestellte zur Kontoführung verwendeten, um es vor Mary auf den Tisch zu legen. Sie saß auf dem sehr unbequemen Stuhl, den Mr Guest für seine Gäste bereithielt, stellte ihr Täschchen auf ihrem Schoß ab und schlug das Buch auf der ersten Seite auf. Oben stand geschrieben: DATUM – TRANSAKTION – SUMME – ZWECK. Jede Transaktion war am Monatsersten durchgeführt worden und stets auf dieselbe Weise aufgeführt: Bezahlung an die Gesellschaft von St. Mary Magdalen – 1 £ – Für Unterhalt und Pflege von Hyde.
Hyde! Beim Anblick des Namens keuchte Mary auf. Auf einmal hatte sie ein Bild aus Kindheitstagen vor Augen: ein Freund ihres Vaters namens Edward Hyde – ein blasser, behaarter, deformierter Mann mit niederträchtigem Grinsen, bei dem es ihr immer kalt den Rücken heruntergelaufen war.
Mary: Das ist ziemlich melodramatisch, findest du nicht auch?
Catherine: Na, du hast dich in seiner Gegenwart jedenfalls stets unwohl gefühlt. Und er war entsetzlich unhöflich.
»Dieses Konto gehört jetzt Ihnen«, sagte Mr Guest. »Wie Sie sehen können, wurden ursprünglich einhundert Pfund eingezahlt. Seitdem hat man monatlich Geld abgehoben, und zwar zu einem Zweck, den ich nicht begreife.« Er hielt kurz inne, als warte er darauf, dass Mary ihm den Grund dafür erklären würde. Doch selbst wenn sie eine Ahnung gehabt hätte, worum es dabei ging, hätte sie den Anwalt nicht eingeweiht. Daher fuhr er fort. »Es enthält noch die Summe, die nach der letzten Abhebung übrig ist; ich meine, der aktuelle Kontostand beläuft sich auf dreiundzwanzig Pfund. Das ist leider keine besonders hohe Summe.«
Nein, das war es nicht, doch Mary hatte plötzlich die Vision, dass sie den Metzger und den Krämer und selbstverständlich Mrs Poole bezahlen konnte. Möglicherweise wäre sie sogar in der Lage, die Köchin wieder einzustellen, die dann nicht bei ihrer Schwester in Yorkshire leben musste! Dann würde sich Mrs Poole nicht mit dem Ofen herumärgern oder versuchen müssen, essbare Mahlzeiten anhand eines Kochbuchs zuzubereiten, das für sie ein Buch mit sieben Siegeln darstellte. Aber nein, das war zu ambitioniert. Dreiundzwanzig Pfund waren zwar deutlich mehr Geld, als sie im Augenblick besaß, aber lange konnte man davon dennoch nicht leben – jedenfalls nicht in 11 Park Terrace. Nichtsdestotrotz war die Panik, die sie gepeinigt hatte, ein wenig gelindert worden. Die Skepsis hatte sich hingegen nicht gelegt.
»Für Hyde?«, überlegte sie laut. »Was könnte meine Mutter nur mit Hyde zu schaffen gehabt haben? Ich war noch ein Kind, aber ich erinnere mich trotzdem, dass die Polizei in unser Haus kam und meinen Vater seinetwegen befragt hat.«
»Ich war damals Mr Uttersons Angestellter«, erklärte Mr Guest. »Daher erinnere ich mich sehr gut an die Umstände, auch wenn ich Mr Hyde glücklicherweise nie begegnet bin. Das ist natürlich auch der Grund, aus dem ich Sie gebeten habe, mich schnellstmöglich aufzusuchen, wenngleich ich Sie nur sehr ungern in der Trauerzeit belästige, Miss Jekyll.« Er sah sie ernst an, doch sie bildete sich ein, unter seiner professionellen Maske ein Grinsen zu erspähen. Mr Guest gehörte zu der Sorte Mensch, die sich am Elend anderer ergötzten. »Doch da ist noch mehr: Ihre Mutter hat diese Dokumente bei der Bank aufbewahrt.«
Er schob ihr die Mappe zu. Darin befanden sich alle möglichen Dokumente: noch ein Buch, Umschläge, die wahrscheinlich Briefe enthielten, Papiere, die wie Quittungen aussahen. Sie wollte schon das andere Buch aus der Mappe ziehen, bemerkte dann jedoch Mr Guests neugierige Miene. Er hatte vermutlich davon abgesehen, in den privaten Unterlagen seiner Klientin herumzuschnüffeln, auch wenn es ihm unübersehbar in den Fingern kribbelte. Tja, was auch immer ihre Mutter zu verbergen versucht hatte, würde Mary ihm jetzt garantiert nicht zeigen.
Sie klappte die Mappe zu und verschloss sie. »Vielen Dank, Mr Guest. Wäre das dann alles?«
»Ja, das ist alles«, antwortete er stirnrunzelnd – er war zweifellos frustriert und enttäuscht, dachte Mary. »Wenn Sie mir die Frage erlauben, Miss Jekyll: Was gedenken Sie in dieser Angelegenheit zu unternehmen?«
»Ich werde selbstverständlich das Konto auflösen«, erklärte Mary. Sie würde gleich morgen nach Clerkenwell fahren – kam man dort mit dem Omnibus hin? – und die restliche Summe abheben. Fünfunddreißig Pfund, fünf Schillinge und drei Pence. Sie konnte nicht anders, als Erleichterung über diese neue Zahl zu empfinden.
»Das ist gewiss die beste Vorgehensweise«, meinte Mr Guest. »Wofür auch immer dieses Konto eingerichtet wurde, so halte ich es für das Beste, wenn Sie nicht damit in Kontakt kommen. Und wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf – junge Damen in Ihrer Situation empfinden es oftmals als Erleichterung, wenn sie ihre Angelegenheiten in die Hände von Personen legen können, die weltgewandter und in solchen Dingen bewandert sind. Kurz gesagt, Miss Jekyll: Da Sie seit Kurzem volljährig sind, könnten Sie über eine Ehe nachdenken. Eine junge Dame mit Ihrer Anziehungskraft sollte doch gewiss einen Gatten finden, der keinen besonderen Wert auf eine vermögende Gattin legt.« Mr Guest warf ihr einen bedeutungsschwangeren Blick zu.
Grundgütiger!, dachte Mary. Er will mir doch jetzt wohl keinen Antrag machen? Sie hätte beinahe laut losgelacht, aber nach den Ereignissen der vergangenen Woche wäre das vermutlich eher als Hysterie angesehen worden. Das war alles … ein bisschen zu viel. »Vielen Dank, Mr Guest.« Sie erhob sich und reichte ihm die Hand. »Ich bin mir sicher, dass Sie sehr klug und weltgewandt sind. Und ich weiß Ihren Ratschlag zu schätzen. Würden Sie Ihren Angestellten bitten, mir meinen Regenschirm und meinen Regenmantel zu bringen?«
Es regnete noch immer, als Mary die Anwaltskanzlei verließ. Sie ging durch die geschäftigen Straßen zurück und trug die Mappe unter dem Arm, damit wenigstens diese nicht nass wurde. Als sie zu Hause ankam, war sie müde, durchnässt und dankbar dafür, dass Mrs Poole im Salon bereits den Kamin vorbereitet hatte.
Beatrice: Oh, dein Londoner Regen! Als ich das erste Mal in London war, glaubte ich schon, ich würde die Sonne nie wiedersehen. Es war so kalt, nass und trostlos! Da habe ich Padua sehr vermisst.
Diana: Wenn es dir hier nicht gefällt, kannst du ja wieder zurückgehen. Niemand hält dich davon ab!
Catherine: Bitte achtet doch darauf, dass eure Kommentare etwas mit der Geschichte zu tun haben. Und es ist nicht »mein« Londoner Regen. Ich kann ihn ebenso wenig leiden wie Beatrice.
Mary wechselte ihr schwarzes Bombasinkleid gegen ein altes Tageskleid aus, zog ihre Hausschuhe an und schlang sich einen Schal um die Schultern, der einst ihrer Mutter gehört hatte. Mit einem Streichholz aus der Schachtel auf dem Kaminsims entzündete sie das Feuer. Wie schäbig der Salon doch aussah! Sie hatte Mr Mundy von Mundy’s Furnishings and Bibelots gefragt, was er noch verkaufen könne, aber er hatte nur den Kopf geschüttelt und erwidert, dass schlichtweg nichts von Wert mehr übrig wäre. Es sei denn, Miss Jekyll wolle das schöne Porträt über dem Salonkamin veräußern? Mary hatte allerdings nicht vor, sich von dem Porträt ihrer Mutter zu trennen.
Sie setzte sich aufs Sofa, zog den Teetisch vor sich, öffnete die Mappe und zog die Dokumente heraus. Es wäre einfacher gewesen, alles auf dem Schreibtisch ihrer Mutter durchzugehen – sie konnte nicht anders, als ihn weiterhin als den Schreibtisch ihrer Mutter anzusehen, obwohl sie daran schon seit Jahren die Haushaltsbuchführung machte. Aber in diesem Zimmer war der Kamin leer, und sie hatten auch nicht mehr viele Kohlen im Keller. Darüber hinaus wollte sie die Rechnungen jetzt nicht sehen.
Bei dem Buch handelte es sich eher um ein Notizbuch: das Notizbuch, das ihr Vater im Labor benutzt hatte, stellte sie fest, als sie darin herumblätterte. Sie erkannte seine Handschrift, dieselbe kantige Schrift, in der er an den Rändern seiner Bücher Anmerkungen hinterlassen hatte. Die Umschläge waren an Dr. Henry Jekyll, 11 Park Terrace adressiert. Sie mussten Briefe enthalten, die man ihm zu seinen Lebzeiten geschickt hatte – möglicherweise ging es darin um seine wissenschaftlichen Experimente? Er hatte oft mit anderen Wissenschaftlern in England und Europa korrespondiert. Zwischen den Umschlägen lagen mehrere Quittungen, größtenteils von Maw & Sons, dem Unternehmen, das die Chemikalien für seine Experimente geliefert hatte. Mary machte sich daran, die Dokumente zu sortieren, und nahm kaum zur Kenntnis, dass Mrs Poole ihr das Abendessen brachte, das aus einem Kotelett mit Erbsen und Kartoffeln bestand. Sie legte die Unterlagen aufs Sofa, damit Mrs Poole den Tisch decken konnte, und bedankte sich geistesabwesend bei der Haushälterin.
Als Mrs Poole zum Abräumen zurückkehrte, lehnte sich Mary auf dem Sofa zurück. »Ich glaube, Mr Guest hätte mir heute beinahe einen Antrag gemacht. Oder er wollte andeuten, dass ich einen Mann heiraten soll, der sich um meine Angelegenheiten kümmert, da junge Damen ja vollkommen weltfremd sind.«
»Dabei führen Sie dieses Haus, seitdem Sie alt genug sind, um mit dem Namen Ihrer Mutter zu unterschreiben!«, echauffierte sich Mrs Poole. »Ich habe nie viel von Männern gehalten, und da zeigt sich wieder einmal, wie weise das war. Diener mögen in ihren weißen Strümpfen beim Abendessen durchaus von Nutzen sein, aber mir ist ein gutes Küchenmädchen tausendmal lieber. Allerdings hat sich Joseph durchaus nützlich machen können, das muss ich ihm lassen.«
»Wenn ich mir doch nur ein gutes Küchenmädchen leisten könnte!«, sagte Mary. »Ich habe Alice nur ungern gehen lassen, aber sie ist bei ihrer Familie besser dran. Würden Sie sich bitte einen Augenblick zu mir setzen, Mrs Poole? Ich weiß, ich weiß, das steht Ihnen nicht zu. Aber, bitte tun Sie es trotzdem, denn es gibt da etwas, das ich Sie fragen muss.«
Widerstrebend ließ sich Mrs Poole in einem der Ohrensessel am Feuer nieder und faltete die Hände im Schoß, als würde sie auf einer der Kirchenbänke in St. Marylebone sitzen. »Worum geht es denn, Miss?«
Mary beugte sich vor und starrte ins Feuer. Sie wusste nicht genau, wie sie es formulieren sollte … aber eine direkte Frage war eigentlich immer am besten. Sie drehte sich zu Mrs Poole um. »Was fällt Ihnen zu Edward Hyde ein?«
Anmerkung der Autorin: Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich es bereue, dass ich Mary und den anderen dieses Manuskript während des Schreibens gezeigt habe. Zuerst kommentierten sie das, was ich zu Papier gebracht hatte, und dann bestanden sie darauf, dass ich entsprechend ihrer Kommentare Änderungen vornehme. Tja, das können sie jedoch vergessen. Ich werde ihre Kommentare in der Erzählung belassen. So können Sie, werter Leser, mit eigenen Augen sehen, wie lästig und unsinnig die meisten sind, und gleichzeitig hin und wieder eine bessere Einsicht in einen Charakter gewinnen. Das ist eine neue Art, einen Roman zu schreiben, und warum auch nicht? Wir leben schließlich in den Neunzigern, wie Mary so treffend angemerkt hat. Es wird Zeit, dass wir neue Arten zu schreiben für das neue Jahrhundert entwickeln. Wir leben nicht länger im Zeitalter von Charles Dickens oder George Eliot. Wir sind modern. Und natürlich monströs …