Denn so ist es in der Gegenwart: ein rasch erworbener und noch
unbewältigter Reichtum neuer Gedanken, neuer Ansätze und
Forschungsmöglichen hat den krisenartigen Zustand der Psychologie
heraufbeschworen. Es ist, wenn nicht alles täuscht, keine
Zerfalls-, sondern eine Aufbaukrise, ein embarras de richesse, wie
er das Ausholen zu einem umfassenden Gemeinschaftswerke begleiten
kann. Gelingt es, eine Konkordanz herzustellen, dann dürfen wir
Großes von der Zukunft erwarten.
Es geht um beides zugleich, die Axiomatik und die Methode der
Psychologie.
Wer einmal die Geschichte unserer Krise schreiben sollte, wird zweckmäßig den Stand um 1890 zur Basis erwählen. Denn damals gab es etwas wie ein gemeinsames Programm und eine gemeinsame Hoffnung. 1890 ist z. B. der erste Band der Zeitschrift für Psychologie erschienen, deren 100. Band wir heute vor uns haben.
Immerhin läßt sich das eine sagen, daß alle neuen Bewegungen, die
hier besprochen werden sollen, kurz vor oder kurz nach der
Jahrhundertwende entstanden sind und das Bedürfnis fühlten, sich
mit jener ungeschriebenen Gesamtauffassung von 1890
auseinanderzusetzen oder sich wenigstens als etwas Neues,
Andersartiges von ihr abzuheben. Das gilt in gleicher Weise von
Dilthey wie von Freud, von der Denkpsychologie wie vom
Behaviorismus der Amerikaner.
Husserl und Ll. Morgan, um zwei extrem verschiedene, aber gleich einflußreiche, moderne Denker nebeneinander zu stellen, wahren bei allem Neuen, das sie bringen, eine Tradition, die bis auf Aristoteles zurückgeht. Auf Aristoteles, dem wir heute, wenn die Grundgedanken dieses Buches richtig sind, in vielen Punkten wieder nahe kommen.
Bleibt freilich immer noch zu erwägen, ob die Natur uns in diesen
Gesetzmäßigkeiten auf eine mehr oder minder gescheite Frage
geantwortet hat. Fragen kann man viel, und statistische Regeln sind
billig wie Brombeeren, woran auch der Nachweis, daß man sie im
Schweiße seines Angesichts gepflückt hat, nichts ändert. Es gibt
vielsagende und wenigsagende statistische Regelmäßigkeiten.
Die klassische Assoziationstheorie wird in ihrem Fortgang das
Zerflattern, das Zerstäubungsmoment, das in ihrem ersten Ansatz
enthalten ist, nicht mehr los. Wir werden später an der
Psychoanalyse das genaue Gegenteil, eine Überdeterminiertheit, ein
Übermaß von Zentripetalität, eine Überfülle von Sinn, Übersinn und
Tiefsinn, aus dem man sich kaum mehr zu retten vermag, kennen
lernen. Das eine ist so fatal wie das andere.
Ebbinghaus hat einmal den verblüffenden und angreifbaren Satz
formuliert: ,,Geordnetes Denken, kann man sagen, ist ein Mittleres
zwischen Ideenflucht und Zwangsvorstellungen".
Vielleicht hat er ahnend damit doch Richtiges, nämlich eine gewisse
Zweiheit von Prinzipien getroffen, die wir anerkennen müssen, um
den Tatsachen gerecht zu werden.
Solch ein Entdeckerblick ist den forschenden Psychologen unserer
Zeit mehr als je vonnöten. Wer unter ihnen z. B. daran geht, das
Gesamtgepräge der Menschen, Charaktere, Temperamente, Begabungen
mit den Mitteln der Wissenschaft zu erfassen, der prüfe sich zuvor,
ob er den Blick, mit dem allein man Typen entdecken kann, besitzt
oder nicht. Wenn nicht, dann muß er sich ein anderes Forschungsfeld
aussuchen oder sich darauf beschränken, nachzuprüfen, was andere
vor ihm entdeckt zu haben glauben.
Gedanken sind mehr, sind etwas anderes als Vorstellungsbilder und
sie folgen im wohlgeordneten, disziplinierten Denken nicht dem
Assoziationsgesetz, sondern den Forderungen der gedachten
Gegenstände. Freilich nur im Grenzfall rein, fehlerfrei und auf den
kürzesten Wegen.
Wenn der historisch interessierte Theoretiker von heute die
psychologischen Erstlingswerke Freuds, das Traumbuch, die
Psychologie des Alltagslebens und das etwas langstilige, aber
historisch aufschlußreiche Buch über den Witz wieder vornimmt,
gerät er in eine Spannung eigener Art. Als Ausgangsbasis findet er
die ihm wohlbekannte Herbartsche Vorstellungsmechanik in der Form,
die sie zuletzt von Lazarus und Steinthal erhalten hatte.
Grundbegriffe wie Hemmung, Verdichtung, Verschiebung, Verdrängung
stammen aus diesem Arsenal.
Freud wandte sich den animalischen Trieben im menschlichen Wesen
zu, schob einen, vielleicht den vehementesten von ihnen, in den
Vordergrund und errichtete ein erstaunliches Ganzes von Theorien
über die Wege, den Wandel, die Geschichte und Modifikationen der
Libido. Wenn heute ein Preis für lebenslängliche, unbeirrbare
Konsequenz im Ausdenken einer Jugendidee unter die lebenden
Psychologen zu verteilen wäre, ich glaube, Freud käme mit nur
wenigen in die engste Konkurrenz.
Machen wir uns klar, daß von all dem der Aufbau und die alten
Ringmauern der Psychologie nicht angetastet werden. Die Psychologie
war seit Descartes und Locke gedacht als die Wissenschaft von den
Erlebnissen, als eine Theorie dessen, was der sogenannten inneren
Wahrnehmung, der Selbstbeobachtung zugänglich ist. Jeder hat sein
eigenes Ich und sein Gesichtsfeld der inneren Wahrnehmung, in das
ihm kein Nachbar unmittelbar hineinschauen kann. So war die
Psychologie ihrem Ausgangsgegenstand nach eine solipsistisch
aufgebaute Wissenschaft.