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Der neue Landdoktor
– Staffel 3–

E-Book 21-30

Tessa Hofreiter

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74094-298-4

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Was führt diese Frau im Schilde?

Lena und Gregor decken eine unfassbare Intrige auf

Roman von Hofreiter, Tessa

»Hallo, Lena, wie geht es deinem Vater?«, erkundigte sich Anna Bergmann, als ihr die Tochter der Bergmoosbacher Tischlerei an diesem Morgen in der Apotheke begegnete.

»Es geht ihm besser, er kommt morgen schon nach Hause«, antwortete die hübsche junge Frau in dem weißen T-Shirt und der roten Latzhose. Sie hatte ihr blondes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, und in ihren hellen Augen konnte die junge Hebamme trotz der zuversichtlichen Antwort auch Verunsicherung erkennen.

»So ein Kuraufenthalt an der Nordsee kann ein kleines Wunder bewirken, wenn es um Atemwegserkrankungen geht. Auch bei einer chronischen Bronchitis, wie sie dein Vater hat«, meldete sich Egon Teuchtner, der Apotheker, zu Wort, während er die Eisentabletten, die Anna für eine werdende Mutter mitnehmen wollte, in eine Papiertüte packte.

»Leider wird es nicht so viel bewirken, dass er wieder in der Werkstatt arbeiten kann. Er verträgt den Geruch der Leime und Lacke nicht mehr.«

»Du hast die Tischlerei doch gut im Griff. Du übernimmst euer Familienunternehmen eben ein wenig früher als geplant«, sagte Anna und klopfte Lena aufmunternd auf die Schulter.

»Im Gegensatz zu unserer Angelika. Sie übernimmt die Apotheke nun später als geplant. Viel später sogar, denke ich. Zurzeit sind sie erst einmal in Alaska, und das ist erst der Anfang ihrer Reise. Ach ja, unsere Kleine. Meine Frau und ich vermissen sie schon sehr, aber so ist es halt mit der Liebe. Sobald der Richtige kommt, ziehen sie davon«, seufzte Egon und rollte das Ende der Papiertüte, bevor er sie Anna überreichte. Der kleine schlanke Mann in dem weißen Kittel schaute gedankenverloren auf die Stange mit den drei grünen Lampenschirmen, die über dem Tresen hing.

»Er ist zur richtigen Zeit gekommen«, sagte Anna, die Egons Blick gefolgt war. Natürlich dachte Egon an den Tag, als Gabriel, in den Angelika sich auf der Stelle verliebt hatte, die Apotheke zum ersten Mal betreten hatte. Damals hatte sich die Lampenstange aus der Verankerung gelöst und hätte Angelika getroffen, wenn Gabriel Angelika nicht rechtzeitig auf die Seite gezogen hätte.

»Hauptsache, unsere Angelika ist glücklich. Ganz davon abgesehen hat meine Frau sowieso schon den Verdacht geäußert, ich hätte mich zu früh von der Apotheke trennen wollen.«

»Stimmt es denn?«, fragte Anna lächelnd und sah den Apotheker mit ihren schönen grünen Augen abwartend an.

»Ja, ich denke schon«, gab Egon zu. »Dein Vater wird sich auch nicht so leicht von seinem Lebenswerk lösen. Er wird dir zur Seite stehen und dich unterstützen, auch wenn er nicht mehr in der Werkstatt sein kann«, versicherte er Lena.

»Wenn das überhaupt noch nötig sein wird«, murmelte sie und schaute kurz zu Boden.

»Ich gehe dann mal wieder. Einen schönen Tag noch, Herr Teuchtner. Mach es gut, Lena«, verabschiedete sich Anna und verließ die Apotheke. Irgendetwas bedrückt sie, und das ist nicht die Krankheit ihres Vaters, dachte sie und schaute sich noch einmal nach der jungen Frau um, bevor sie die Tür hinter sich schloss.

»Was kann ich denn für dich tun, Lena?«, fragte Egon.

»Ich muss unseren Medizinschrank in der Werkstatt wieder auffüllen.« Sie reichte ihm einen Zettel, auf dem alles stand, was ihnen bald auszugehen drohte.

»Verbandsmaterial sollte in einer Werkstatt immer ausreichend vorhanden sein«, entgegnete Egon lächelnd.

Als Lena wenig später die Apotheke verließ, stieg Anna gerade auf ihr pinkfarbenes Fahrrad. Annas Hebammenpraxis war über der Apotheke, und ihre Wohnung lag direkt darüber im Dachgeschoss des weißen Gebäudes mit den grau-weißen Fensterläden.

»Verrätst du mir, warum du glaubst, dass die Hilfe deines Vaters vielleicht nicht mehr nötig sein wird? Ich gehe nicht davon aus, dass du generell auf seinen Rat verzichten möchtest.«

»Ich würde den Ratschlag meines Vaters nie ausschlagen, aber ich weiß eben nicht, ob ich ihn noch in unserer Werkstatt brauchen werde. Er hat mich gestern Abend angerufen und so eine merkwürdige Andeutung gemacht. Er sagte, dass ich mich auf eine Überraschung einrichten solle, die unser Leben verändern wird. Ich befürchte, er plant, die Tischlerei zu verkaufen.«

»Das glaube ich nicht, Lena. Das würde er dir nicht antun. Er weiß doch, dass du sie übernehmen möchtest. Und wenn du erst einmal den Designerpreis gewonnen hast, den sie auf dieser Möbelmesse in München verleihen werden, dann wird eure Tischlerei schon bald zu den führenden in Bayern gehören.«

»Ob ich diesen Preis gewinnen werde, das steht noch in den Sternen. Aber ich möchte diese Chance natürlich wahrnehmen.«

»Es geht um ein Esszimmer, richtig?«

»Überzeugen Sie mit einer ausgefallenen Idee für ein Esszimmer. Sie haben acht Quadratmeter zur Verfügung. So lautet das Thema.«

»Hast du denn eine ausgefallene Idee?«

»Ja, ich denke schon, aber wenn mein Vater die Werkstatt verkaufen will, werde ich andere Probleme haben. Dann wird mir sicher keine Zeit mehr für diesen Wettbewerb bleiben.«

»Dein Vater liebt dich, Lena. Warum sollte er dich unglücklich machen wollen und dir die Werkstatt wegnehmen? Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Ich meine, du hast dich nach deiner Tischlerlehre noch zur Innenarchitektin ausbilden lassen. Du hast euer Angebot doch noch erweitert.«

»Vielleicht glaubt er, dass ich als Innenarchitektin auch auf andere Weise mein Geld verdienen kann. Sebastian hat neulich zu mir gesagt, dass eine chronische Krankheit einen Menschen verändern kann. Erst recht, wenn jemand durch die Krankheit gezwungen wird, sein Leben umzustellen. Was bei meinem Vater ja der Fall ist.« Lena schaute hinüber zum Marktplatz, auf dem alles seinen gewohnten Gang ging.

Die Bergmoosbacher waren mit Einkaufstaschen unterwegs, die Touristen saßen in den Cafés und ließen es sich gut gehen. Der vergoldete Wetterhahn auf dem Rathausturm blitzte in der Sonne, und ein strahlend blauer Himmel spannte sich wie ein schützendes Dach über dem Dorf und den Gipfeln der Allgäuer Alpen.

»Warte doch erst einmal ab, welche Überraschung auf dich zukommt. Sie könnte dir doch auch gefallen.«

»Etwas, das unser Leben verändert, seines und meines, das muss etwas mit unserem Betrieb zu tun haben. Ich wüsste nicht, was das sonst sein sollte.«

»Selbst wenn, kann es doch trotzdem etwas Gutes sein. Dein Vater hatte jetzt ein paar Wochen Zeit, über vieles nachzudenken. Vielleicht bringt er eine Idee mit nach Hause, die euer Leben auf irgendeine Weise erleichtert.«

»Ja, mag sein, aber seit dem Tod meiner Mutter und der Krankheit meines Vaters habe ich ständig diese Angst, etwas zu verlieren.« Sie trat einen Schritt zur Seite, als ein junger Mann mit einer Tortenschachtel in den Händen die Straße überquerte und an ihr und Anna vorbeiging.

»Ich glaube, du brauchst einfach nur ein wenig Aufmunterung. Dich hat wohl schon lange niemand mehr in den Arm genommen?«

»Das kann ich aber gar nicht glauben«, sagte der Fremde und betrachtete Lena mit einem verschmitzten Lächeln.

»Das verlangt auch keiner von Ihnen«, entgegnete Lena und wich seinem Blick aus.

»Aber ich könnte es ändern. Halten Sie bitte mal«, wandte er sich an Anna und drückte ihr die Tortenschachtel in die Hand.

Anna fasste automatisch zu, so verdutzt sie auch über diese Bitte war. Aber das, was dieser fremde junge Mann dann tat, verblüffte sie noch weitaus mehr. Er ging auf Lena zu, legte seine Arme um ihre Taille, zog sie sanft an sich und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange.

»Es sollte jemanden geben, der ständig den Wunsch verspürt, Sie zu umarmen«, sagte er.

Was soll das denn werden?, dachte Lena, aber als sie in seine blauen Augen schaute, fühlte sie sich auf einmal ganz weit fort, eingebettet in eine Welt aus blauen Wolken. Doch dann gewann ihr Verstand wieder die Oberhand. »Entschuldigen Sie, kennen wir uns?«, fragte sie und wich vor ihm zurück.

»Nein, leider noch nicht, aber das könnten wir ändern. Wie wäre es mit einem Kaffee? Ich lade Sie ein, und dann stellen wir uns einander vor«, sagte er.

»Ich habe aber keine Zeit«, erwiderte Lena noch immer völlig verwundert über das, was gerade passiert war.

»Schade, dann vielleicht ein anderes Mal. Danke für Ihre Hilfe«, wandte er sich mit einem freundlichen Lächeln an Anna und nahm ihr die Tortenschachtel wieder aus der Hand.

Wie gebannt schauten sie und Lena zu, wie der Fremde mit den dunklen Locken in den schwarzen Sportwagen stieg, der ein paar Meter von ihnen entfernt auf dem Seitenstreifen parkte.

»Österreichisches Nummernschild«, stellte Anna fest, als sie dem Auto nachschauten.

»Er hatte aber keinen österreichischen Akzent«, sagte Lena.

»Vielleicht wohnt er nur dort, oder das Auto gehört nicht ihm. Oder was auch immer es noch bedeuten könnte.«

»Auf jeden Fall bedeutet es, dass ich ihn nicht wiedersehen werde. Glücklicherweise. Ich meine, jemand, der eine fremde Frau im Vorbeigehen küsst, der ist schon ziemlich verwegen.«

»Seine Verwegenheit hat dich aber beeindruckt.«

»Nein, hat sie nicht«, widersprach Lena.

»Doch, hat sie. Wer war das, Lenchen?«, wollte Miriam Holzer wissen, die mit einem Aktenordner unter dem Arm über die Straße kam und den Vorfall beobachtet hatte. Die Erbin des Sägewerks war wie immer elegant gekleidet. Das weiße Cocktailkleid mit den feinen goldfarbenen Streifen und die goldfarbenen Pumps betonten die schlanke Figur der schönen jungen Frau.

»Ich habe keine Ahnung, wer der Mann war. Es ist mir auch egal«, antwortete Lena ihrer Cousine, die sie wie alle in der Familie hin und wieder Lenchen nannte.

»Das klingt, als würden dir jeden Tag gut aussehende Männer um den Hals fallen.«

»Ehrlich gesagt, ich habe gerade andere Sorgen, als mich über merkwürdige Begegnungen zu wundern.«

»Welche Art Sorgen?«, erkundigte sich Miriam.

»Papa hat mir eine Überraschung angekündigt.«

»Du liebe Güte, Lenchen, eine Überraschung ist doch kein Grund, sich Sorgen zu machen. Wenn Onkel Hans dir eine Überraschung ankündigt, dann möchte er, dass du dich auf diese Überraschung freust. Meinst du nicht?«

»Anna sagt auch, ich soll mich nicht verrückt machen.«

»Soso, die gute Anna ist mit mir einer Meinung. Wie viele Kinder wirst du denn heute wieder auf die Welt holen, du beste aller Hebammen?«, wandte sich Miriam mit einem abschätzenden Blick an Anna. »Wirst du es allein schaffen oder muss Sebastian dir wieder zur Seite stehen?«

»Rufe mich heute Abend an, falls du es wirklich wissen willst«, antwortete Anna. »Macht’s gut, ihr beiden.« Sie setzte ihren Helm auf, überprüfte noch einmal den Sitz ihres hellblauen Rucksacks und lenkte ihr Fahrrad um die beiden Cousinen herum auf die Straße.

»Du könntest dich endlich damit abfinden, dass sie und Sebastian sich nahestehen«, sagte Lena, als Anna außer Hörweite war.

»Ach, Lenchen, du verstehst so gar nichts von der wahren Liebe«, seufzte Miriam.

»Du offensichtlich auch nicht, sonst wüsstest du, dass du bei Sebastian keine Chance hast.«

»Es gibt immer eine Chance, gerade in der Liebe. Aber reden wir von dir. Ich an deiner Stelle hätte diese Einladung zum Kaffee nicht abgelehnt. Du bist wirklich ein kleines stures Mädchen, das, warum auch immer, einen riesengroßen Bogen um die Liebe machen will. Sollte sich dir wieder einmal so eine Gelegenheit bieten, dann entscheide dich für die Einladung. So, ich muss weiter. Ich bin schon ein bisschen spät dran. Mein Steuerberater erwartet mich.«

»Hast du dich für den alten Herrn Grossner so herausgeputzt?«

»Natürlich nicht, abgesehen von seinem Alter sind mir diese Zahlenfuchser zu langweilig. Aber ich bin nachher zu einem Brunch bei einem Kunden in der Stadt eingeladen. Dort sind sicher einige interessante Leute.«

»Dann wünsche ich dir viel Spaß.«

»Danke, und mein Rat für dich. Falls dieser Mann noch einmal auftaucht, halte ihn fest. Bis dann, ­Lenchen«, verabschiedete sich Miriam mit einem Lächeln von ihrer ­Cousine.

Vielleicht haben die beiden recht. Ich sollte mich auf diese Überraschung freuen, dachte Lena, als sie sich auf den Weg zur Tischlerei machte. Ihr Vater hatte den kleinen Handwerksbetrieb, den er von seinem Vater übernommen hatte, im Laufe der Jahre zu einer Möbeltischlerei mit einem großen Kundenstamm ausgebaut. Der Betrieb lief gut, alle waren zufrieden. Nein, es gab keinen Grund, ihn aufzugeben. Sie machte sich ganz unnötig verrückt.

Die Tischlerei Meisner lag in Sichtweite des Sägewerks, gleich auf der anderen Seite des Bachs am Ortsausgang. Sie war in einem aus Kiefernholz erbauten Flachbau untergebracht, der sich den Hof mit dem Wohnhaus der Familie teilte, einem schönen älteren Haus mit Lüftlmalerei und einem Balkon, der den gesamten ersten Stock umrundete.

Schon von weitem hörte Lena das Hämmern und Sägen, das durch die geöffneten Fenster der Werkstatt nach draußen drang. Noch nie hatte sie diese Geräusche als störend empfunden. Sie war mit ihnen aufgewachsen. Sie bedeuteten, dass etwas voranging, dass alles in Ordnung war.

Nein, das war eine einmalige Begegnung, ich werde ihn nicht wiedersehen. Jeder weitere Gedanke an ihn wäre Verschwendung, dachte sie, als sie wieder den Fremden vor sich sah, der sie vor der Apotheke umarmt hatte. Er war ein Tourist auf der Durchreise, der sich nur einen kleinen Scherz erlaubt hat. Ja, genauso war es, dachte sie und versuchte, dieses schöne Gesicht mit den hellen blauen Augen aus ihrem Gedächtnis zu verbannen.

*

»Guten Morgen, alle zusammen!«, begrüßte sie ihre Mitarbeiter, als sie wenig später die Werkstatt betrat.

Alle schauten auf und lächelten ihr zu. Lena hatte für jeden ein freundliches Wort übrig. Sie ging an den Hobelbänken und Arbeitstischen vorbei, an denen die vier Gesellen und die beiden Lehrlinge, ein Mädchen und ein Junge, schon fleißig arbeiteten. Die Gesellen hatten alle bei ihrem Vater gelernt und waren nach der Ausbildung auch geblieben. Nur Josef Ortler, der Meister, war erst seit einigen Monaten bei ihnen. Sie hatten ihn eingestellt, als sich herausstellte, dass ihr Vater nicht länger in der Werkstatt arbeiten konnte. Der junge Mann aus dem Nachbardorf verstand sein Handwerk, und sie konnten sich auf ihn verlassen.

An seiner Arbeit hatte Lena nichts zu bemängeln. Es war ihr aber unangenehm, dass er keinen Hehl daraus machte, dass er sich für sie interessierte. Ein Interesse, das sie nicht erwiderte. Josef war ihr sympathisch, aber mehr nicht. Einmal hatte sie sich von ihm zum Essen einladen lassen, was sie inzwischen bereute. Er gab sich seitdem noch vertraulicher ihr gegenüber.

»Der Schreibtisch für Benedikt Seefeld ist fertig. Bevor wir ihn liefern, sollte er ihn sich noch einmal anschauen. Vielleicht möchte er noch das eine oder andere Detail geändert haben«, sagte Josef, als Lena auch neben ihm kurz stehenblieb.

»Ich werde ihn anrufen. Gibt es sonst etwas, was ich wissen müsste?«

»Nur, dass ich noch immer auf den nächsten Abend mit dir warte«, antwortete Josef und ließ seinen Blick über sie gleiten.

»Ich habe wirklich viel zu tun, Josef.«

»Sicher«, sagte er und wandte sich wieder den Entwürfen zu, die sie für einen Kunden angefertigt hatte, der eine Küchenbank in Auftrag gegeben hatte.

Er wird schon irgendwann aufgeben, dachte Lena und betrat das Büro, das mit seiner breiten Fensterfront einen guten Überblick über die Werkstatt bot. Zwei große Schreibtische aus Kiefernholz mit den Längsseiten aneinander gestellt, Regale und ein verschließbarer Aktenschrank.

»Guten Morgen, Renate«, begrüßte sie die ältere Frau, die an einem der beiden Tische saß. Sie war klein und zierlich, hatte halblanges silbergraues Haar und leuchtend blaue Augen. In der hellen Jeans und der weißen Bluse wirkte sie noch recht jugendlich.

»Dir auch einen wunderschönen guten Morgen, Lenchen«, antwortete Renate und betrachtete Lena mit einem liebevollen Lächeln.

»Ich räum’s ein.« Renate kam hinter ihrem Schreibtisch hervor und nahm Lena den Karton ab, in den der Apotheker ihre Einkäufe eingepackt hatte.

»Danke, dann kann ich gleich ein paar Anrufe erledigen.« Renate gehörte zu den Menschen, die immer gleich wussten, was zu tun war.

Lena hatte Renate gern. Sie war eine Freundin ihrer Mutter gewesen und hatte schon in der Tischlerei gearbeitet, als sie noch gar nicht geboren war. Renate kümmerte sich um die Buchhaltung und die anfallenden Büroarbeiten. Sie war seit einigen Jahren verwitwet. Da sie keine Kinder hatte, fühlte sie sich manchmal einsam und blieb länger im Büro, als es notwendig war.

Während Renate das Verbandsmaterial in den weißen Schrank räumte, der in der Werkstatt gleich neben dem Büro stand, arbeitete Lena die Liste mit ihren Anrufen ab. Zuerst wählte sie die Nummer der Seefelds.

»Bruckner bei Seefeld«, meldete sich Traudel, die Haushälterin der Familie.

»Hallo, Traudel, hier ist Lena. Der Schreibtisch ist fertig. Doktor Seefeld kann jederzeit vorbeikommen und ihn sich anschauen. Dann können wir auch gleich einen Liefertermin vereinbaren.«

»Ich richte es ihm aus, danke für deinen Anruf. Ich denke, dass er kurz vor Feierabend zu euch kommen wird. Er hat heute die Hausbesuche übernommen. In der Praxis ist Ultraschalltag für die werdenden Mütter. Da ist Sebastian ja ausgelastet.«

»Wir leben hier offensichtlich in einer kinderfreundlichen Umgebung. Was mir allerdings erst richtig bewusst geworden ist, nachdem Anna vor ein paar Jahren ihre Hebammenpraxis bei uns eröffnet hat.«

»Das liegt daran, dass sie vorher alle in die Kreisstadt zum Gynäkologen gefahren sind. Wenn es einmal bei dir so weit ist, vertraust du hoffentlich auch auf Anna und Sebastian«, setzte Traudel die kleine Unterhaltung mit Lena fort.

»Das wird aber noch dauern. Bisher habe ich nicht einmal den passenden Vater für meine Kinder gefunden.«

»Geh, den musst du doch nicht suchen. Er wird eines Tages einfach vor dir stehen.«

»Soll ich wirklich an dieses Wunder glauben?«

»Freilich sollst du, weil es irgendwann eintreffen wird«, entgegnete Traudel zuversichtlich. »Aber jetzt sag, wie geht es deinem Vater?«

»Gut, er kommt morgen nach Hause.«

»Richte ihm schöne Grüße aus. Wenn er das nächste Mal in die Praxis kommt, soll er sich bei mir sehen lassen.«

»Das wird er tun, bis bald, Traudel«, sagte Lena und legte den Hörer auf.

Ihr Vater, ihre Mutter, Renate, Traudel und Carla, Benedikt Seefelds Frau, sie waren derselben Jahrgang, waren zusammen zur Schule gegangen und hatten sich immer gut verstanden. So gut, dass aus der kindlichen Zuneigung ihrer Eltern sogar Liebe wurde. Renate hatte einen Zimmermann aus dem Nachbardorf geheiratet. Traudel und ihre Cousine Carla hatten sich beide in denselben Mann verliebt. Benedikt aber hatte nur Augen für Carla gehabt. Traudel fand sich damit ab und gönnten den beiden ihr Glück von ganzem Herzen. Als Carla dann bei der Geburt ihres Sohnes starb und Benedikt Traudel bat, sich um das Kind zu kümmern, übernahm sie diese Aufgabe.

»Worüber denkst du denn so intensiv nach?«

»Ich?« Lena schreckte hoch, als Renate wieder hereinkam.

»Ja, du? Ganz verklärt hast du gerade ausgesehen«, stellte Renate lächelnd fest.

»Ich habe eben mit Traudel telefoniert. Sie hat nach Papa gefragt, und auf einmal habe ich an ihre alte Freundschaft denken müssen. Und an Mama und Carla Seefeld.«

»Es ist schon recht traurig, dass zwei von uns nicht mehr unter uns sind«, seufzte Renate.

»Vielleicht ist es besser, sich nie zu verlieben, dann bleibt einem wenigstens diese Art des Verlustes erspart.«

»Das Leben ohne die Liebe ist traurig.«

»Oder bedeutet weniger Kummer.«

»Zu lieben bedeutet, auf Wolken zu schweben.«

»Bis einer von der Wolke hinunterfällt oder abspringt.« Oder in sein Auto steigt und davonfährt, dachte Lena und erschrak über sich selbst.

»Deine Eltern waren dir doch ein gutes Beispiel, wie es mit der Liebe sein kann.«

»Ja, schon.«

»Na also, dann solltest du der Liebe nicht aus dem Weg gehen. Auch wenn sie irgendwann zu Ende sein sollte, die Erinnerung bleibt dir. Ich bedaure jeden, der dieses Glück niemals erleben durfte. Egal, wie kurz es sein mag, es macht dein Leben reicher. Ich bin absolut sicher, dass dir irgendwann jemand begegnen wird, der dir deine Zweifel nimmt. Nein, er ist es nicht.« Renate war nicht entgangen, warum Lena plötzlich zur Seite schaute. Sie wollte Josef Ortlers Blick ausweichen, den er auf sie gerichtet hatte.

»Es gibt bisher auch niemanden«, sagte Lena und beugte sich wieder über ihre Telefonliste. Weil ich nicht einmal weiß, wer er ist, dachte sie gleich wieder an den Fremden vor der Apotheke.

»Das wird sich alles finden«, murmelte Renate und setzte sich wieder an ihren Schreibtisch.

*

»Warte, ich komme mit, Opa!«, rief Emilia, die mit Nolan über die Wiese vor dem Seefeldhaus tobte, als Benedikt sich auf den Weg zur Tischlerei machen wollte.

»Wenn du das möchtest, bitte sehr«, sagte Benedikt, ging um das Mercedes Cabriolet, einem Modell aus den fünfziger Jahren, herum und hielt seiner Enkelin die Beifahrertür auf.

»Du bleibst bei Traudel, Nolan.« Emilia schaute den jungen Berner Sennenhund an und deutete auf die Terrassentür, die den Garten mit der Küche verband.

»Du hast es gehört, mein Kleiner. Wo sollten wir beiden Prachtexemplare auch noch in diesem verwegenen Auto Platz finden. Die Rückbank ist nicht für uns gemacht.« Traudel war aus dem Haus gekommen, stemmte die Arme in die Hüften und schaute zu, wie das schlanke junge Mädchen neben dem groß gewachsenen sportlichen älteren Mann Platz nahm.

»Wenn du mitkommen willst, ich setze mich nach hinten«, sagte Emilia.

»Aber nein, ich wollte doch nur Nolan trösten«, antwortete Traudel lachend und pustete ihre grauen Löckchen aus der Stirn. Sie war zwar ein bisschen rundlich, was aber unter dem weiten Rock des grünen Dirndls nicht auffiel.

»Und er will dich trösten«, stellte Emilia lachend fest, als der Hund auf Traudel zuschoss, sich neben sie hockte und mit seinen dunklen Augen anschaute.

»In einer Stunde ist das Abendessen fertig!«, rief Traudel, nachdem Benedikt schon den Motor angelassen hatte.

»Wir sind rechtzeitig zurück!« Emilia drehte sich noch einmal um und winkte Traudel und Nolan.

»Irgendwann kommt einer und nimmt unsere Kleine für immer mit«, seufzte Traudel und schaute auf das Mädchen in dem roten Baumwollkleidchen, dessen kastanienfarbenes Haar im Wind wehte. »Nein, doch nicht gleich, das dauert noch lange, sie ist doch erst vierzehn.« Traudel beugte sich zu Nolan herunter, als er plötzlich bitterlich jaulte, so als hätte er verstanden, was sie gerade gesagt hatte. »Und selbst, wenn einer kommt, dann nimmt sie dich bestimmt mit, was die Angelegenheit aber für uns nicht wirklich einfacher machen würde«, sagte sie und streichelte über den dicken Kopf des Hundes.

»Welche Angelegenheit?«, fragte Anna, die aus der Arztpraxis kam, die in dem verklinkerten Flachbau im Hof untergebracht war.

»Nolan und ich hatten darüber gesprochen, wie es wohl sein wird, wenn Emilia eines Tages das Haus verlässt, um eine eigene Familie zu gründen.«

»Was aber noch eine Weile dauern wird.« Auch Anna beugte sich über Nolan und streichelte ihn.

»Du lässt dich aber ganz schön verwöhnen.«

»Wuff«, machte Nolan, als Sebastian kurz nach Anna den Hof überquerte und zu ihnen kam.

»Er weiß eben, wer es gut mit ihm meint«, sagte Traudel, während sie sich aufrichtete und dabei die junge Hebamme ansah.

Anna trug ein himbeerfarbenes Kleid, das lange dunkle Haar reichte ihr fast bis zur Taille. Als sie hochsah und Sebastian anschaute, lag ein Strahlen in ihren grünen Augen, das jedem verriet, dass sie ihn liebte.

»Wir wissen alle, wer es gut mit uns meint. Und mit dir meint es jeder gut, Traudel«, sagte Sebastian.

»Ich hoffe es«, antwortete sie ein wenig verlegen, als der junge Arzt sie liebevoll in den Arm nahm.

Auch wenn er für sie wie ein Sohn war, fiel auch ihr auf, was andere Frauen in ihm sahen. Einen attraktiven Mann, groß, schlank und mit wundervollen grauen Augen. Grau wie das Meer in einer stürmischen Nacht, wie Anna einmal zu ihr gesagt hatte, als sie von ihm sprachen.

»Setzt euch ein bisschen auf die Terrasse, ich muss wieder in die Küche«, sagte Traudel.

Wie immer an diesen Ultraschalltagen blieb Anna zum Abendessen bei den Seefelds. Erst dann war die Familie wirklich komplett, wie Traudel fand.

»Kann ich dir helfen, Traudel?«, fragte Anna, als auch sie sich wieder aufrichtete.

»Nicht nötig, ruht euch aus, ihr beiden.« Traudel streichelte über Annas Rücken und drückte kurz Sebastians Hand, bevor sie in der Küche verschwand.

»Wir sollten ihr nicht widersprechen«, sagte Sebastian und fing Annas Blick auf.

Es war einer dieser Blicke, der sie nervös machte und ihr Herz schneller schlagen ließ. »Nein, das sollten wir nicht«, entgegnete sie und schaute auf das weiße Haus mit den hellgrünen Fensterläden, so als würde sie es das erste Mal sehen. »Ich habe heute Morgen Lena Meisner getroffen. Sie hat erzählt, dass sie ihren Vater schon morgen erwartet.« Anna begann sofort ein unverfängliches Gespräch, nachdem Sebastian und sie auf den bequemen Stühlen Platz genommen hatten, die zu dem runden Tisch auf der Terrasse gehörten. Sie musste sich von ihren Gefühlen ablenken.

»Ich hoffe, dass die Kur seinen Zustand verbessert hat. Wenn er Glück hat, kann er vielleicht irgendwann wieder in der Werkstatt arbeiten. Zumindest für ein paar Stunden.«

»Lena befürchtet, er könnte die Werkstatt verkaufen wollen.«

»Wie kommt sie darauf?«

»Weil er eine Überraschung angekündigt hat«, sagte Anna und erzählte ihm von ihrer Unterhaltung mit Lena vor der Apotheke.

»Dass ich gesagt habe, er würde möglicherweise sein Leben verändern, das würde in diesem Fall nur bedeuten, dass er sich ganz zurückzieht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es irgendetwas oder irgendjemanden gibt, der Hans Meisner dazu bringen würde, die Tischlerei seiner Familie in fremde Hände zu geben.« Genau wie Anna war auch Sebastian davon überzeugt, dass Lena sich umsonst Sorgen in dieser Richtung machte.

»Morgen wird sie erfahren, womit er sie wirklich überraschen will, dann wird sie wieder beruhigt sein«, sagte Anna.

»Ungewissheit ist nur schwer auszuhalten, besonders dann, wenn wir eine schlechte Nachricht erwarten.«

»Ich wünschte, es gäbe nur gute Nachrichten, immer und überall.«

»Wenn es so wäre, dann würde mir mein Beruf noch weitaus besser gefallen. Wenn ich allen, die in meine Sprechstunde kommen, sagen könnte: Es ist alles in Ordnung mit Ihnen. Ich denke, Sie werden noch Ihren 120. Geburtstag bei bester Gesundheit feiern – das wäre wundervoll.

»Womit würdest du dann dein Geld verdienen? Du hättest nämlich nichts mehr zu tun.«

»Doch, hätte ich, ich wäre der Verkünder der guten Nachricht. Für gute Nachrichten zeigen die Leute sich gern erkenntlich.«

»Das klingt nach einem Orakel, das in einer Höhle auf seine Gläubigen wartet.«

»In einer Höhle? Müsste ich mich denn verstecken?«, fragte Sebastian und gab sich verblüfft.

»Ja, das müsstest du.«

»Und warum?«

»Weil sonst der Andrang zu groß wäre«, sagte Anna, und dieses Mal hielt sie seinen Blick fest.

»Möchtet ihr ein Gläschen Brombeerlikör vor dem Essen?«, fragte Traudel, die mit einer Flasche von ihrem selbst hergestellten Likör und drei kleinen Gläsern auf die Terrasse kam.

»Ja, gern«, sagte Sebastian, ohne sich von Annas Blick zu lösen.

»Ja, für mich auch«, schloss sich Anna an.

»Wie wär’s denn, wenn du mir auch ein Schluckerl von deinem Likör anbieten würdest?« Gerti Fechner, die langjährige Sprechstundenhilfe der Seefelds, hatte inzwischen auch die Praxis verlassen. Sie schaute über die Hecke, die den gepflasterten Weg zur Straße hinunter und die Wiese vor dem Seefeldhaus voneinander trennte.

»Wie wär’s mit einem Flascherl für dich und deine Schwester?«

»Ernsthaft?«

»Freilich, komm her, ich bin heut in Geberlaune.«

»Ich komme.« Die kleine pummelige Frau in dem roten Faltenrock und der weißen Bluse hielt den Riemen ihrer großen Umhängetasche fest umklammert und lief den Weg zum Hof wieder hinauf.

»Ihr wisst ja, unsere Gerti braucht heute wieder ein bisserl Trost. Diese Ultraschalltage erinnern sie halt immer daran, dass sie es nicht selbst zu einer Familie gebracht hat«, raunte Traudel Anna und Sebastian zu. »Auch wenn es mir furchtbar wehtut, wie es dazukam, durfte ich erleben, wie es ist, ein Kind großzuziehen«, sagte sie und betrachtete Sebastian mit einem zärtlichen Blick.

*

»Er ist wirklich schön geworden.« Emilia strich über das glatte Buchenholz, aus dem der Schreibtisch für ihren Großvater gefertigt war.

Er hatte abgerundete Ecken und in die massive Tischplatte waren Fächer für Stifte und Notizzettel eingelassen. Es gab auch eine Vertiefung, in der der Laptop Platz fand, wenn er nicht mehr gebraucht wurde.

»Ich glaube, mein Schreibtisch sollte auch mal ausgetauscht werden«, sagte Emilia und schaute ihren Großvater an, dem sein neues Möbel ebenso gut gefiel wie ihr.

»Dann solltest du mit deinem Vater darüber sprechen, mein Schatz.«

»Soll ich ihm wirklich mit so einer Kleinigkeit seine Zeit stehlen?«

»Ja, sollst du«, antwortete Benedikt lachend. Natürlich hätte sie bei ihm leichtes Spiel. Er würde sie gern auf der Stelle mit Lena Meisner über einen neuen Schreibtisch sprechen lassen. Aber Sebastian war ohnehin schon der Meinung, dass er und Traudel Emilia zu sehr verwöhnten, womit er wohl auch recht hatte. Er wollte ihn nicht noch weiter darin bestärken. Da ertrug er lieber Emilias enttäuschtes Gemurmel.

»Ich würde noch ein, zwei Jahre warten, bis du dir einen Schreibtisch nach Maß anfertigen lässt«, mischte sich Lena in das Gespräch ein.

Sie war mit den beiden allein in der Werkstatt, niemand hörte ihnen zu. Sogar Renate war schon gegangen. Sie wollte einen Nusskuchen mit Schokoladenglasur für Hans backen. Es war sein Lieblingskuchen, mit dem sie ihn am nächsten Tag begrüßen wollte. Auch Lena hatte noch einiges vor. Sie wollte die Wohnung ihres Vaters noch einmal gründlich saugen und alles für seine Rückkehr vorbereiten.

»Warum soll ich noch so lange warten?«, fragte Emilia, nachdem sie erneut um den Schreibtisch herumgegangen war, der neben dem Eingang zum Büro stand.

»Weil du erst in ein, zwei Jahren ausgewachsen bist. Erst dann können wir den Tisch genau nach deiner Größe anfertigen.«

»Es gibt höhenverstellbare Beine.«

»Ich dachte, du wolltest ein Möbel nach Maß«, entgegnete Lena lächelnd.

»Okay, ich gebe mich geschlagen. Ihr habt recht. O Mann, Erwachsene mit ihrer Logik«, stöhnte Emilia, aber sie konnte schon wieder lächeln. »Da kommt jemand«, sagte sie, als sie sich umdrehte und durch die geöffnete Tür in den Hof schaute.

»Das ist Papa. Er wollte doch erst morgen kommen«, wunderte sich Lena, als sie die dunkelblaue Limousine sah, die vor der Werkstatt anhielt.

»Dann hat er es wohl nicht mehr ausgehalten. Geh zu ihm, wir sind doch hier fertig«, sagte Benedikt.

»Aber ich möchte nicht, dass Sie sich von mir gehetzt fühlen, Doktor Seefeld.«

»So empfinde ich das auch nicht. Es ist doch alles in Ordnung.«

»Wir könnten Ihnen den Schreibtisch morgen gegen neun liefern.«

»Wunderbar, ich werde da sein.«

Gleich darauf verließen sie gemeinsam die Werkstatt. Hans Meisner, ein großer kräftiger Mann mit kurzem grauen Haar und sonnengegerbten Gesicht, lief auf Lena zu und nahm sie herzlich in die Arme. »Es ist schön, wieder zu Hause zu sein«, sagte er und drückte sie liebevoll an sich.

»Ich freue mich auch, dass du da bist, Papa. Ich wollte zwar noch in deiner Wohnung staub wischen und saugen, bevor du kommst, aber das kann ich auch machen, während du dich im Garten von der Fahrt ausruhst.«

»Lass mal gut sein, mein Schatz, darum musst du dir keine Gedanken machen.«

»Hallo«, sagte Emilia und hob nur kurz die Hand, als Hans seine Tochter wieder losließ.

»Grüß dich, Emilia«, antwortete er lächelnd und wandte sich Benedikt zu.

»Du siehst erholt aus«, stellte Benedikt fest, als Hans ihn mit einem festen Händedruck begrüßte.

»Mir geht es auch gut. Ihr habt etwas zu besprechen?«, fragte er und sah zuerst Lena und danach Benedikt an.

»Emilia und ich haben uns nur noch einmal meinen Schreibtisch angeschaut, der morgen geliefert wird. Wie immer ist es euch gelungen, ein Möbelstück genau nach meinen Vorstellungen herzustellen«, lobte Benedikt die Arbeit der Tischlerei.

»Mit einer Innenarchitektin, die den Tischlerberuf erlernt hat, sollte es auch so bleiben«, entgegnete Hans.

Nein, seine Überraschung hat nichts mit der Werkstatt zu tun, dachte Lena, als sie sah, wie viel Stolz in den Augen ihres Vaters zu erkennen war, als er sie anschaute.

»Wir lassen euch dann mal allein. Pass auf dich auf, Hans. Und wenn irgendetwas sein sollte, dann komm vorbei. Nicht einfach tapfer sein und alles aushalten«, riet Benedikt ihm.

»Freilich nicht. Ich möchte meinem Madl doch noch lange erhalten bleiben«, antwortete Hans und streichelte Lena über das Haar. »Aber bevor ihr geht, möchte ich euch noch jemanden vorstellen«, sagte er und tat auf einmal ganz geheimnisvoll.

»Geht es um die Überraschung, von der du gesprochen hast?«, fragte Lena.

»Schon. Ich hoffe, du wirst dich freuen.« Hans ging zu seinem Auto und öffnete die Beifahrertür.

»Hallo, miteinander«, sagte die Frau, der Hans die Hand reichte, um ihr aus dem Wagen zu helfen.

»Wer ist denn das?«, flüsterte Emilia und schaute auf die Fremde, die sie zuvor nicht hatten sehen können, weil die Sonne genau auf Hans’ Wagen schien und sich in den Scheiben spiegelte.

Die Frau war vielleicht Mitte vierzig, hatte streichholzkurzes braunes Haar und dunkle Augen, die sie mit schwarzem Kajal und Wimperntusche auffällig betonte. Das enganliegende cognacfarbene Kleid und die braunen Wildlederpumps betonten ihre sportliche Figur.

»Lena, das ist Edeltraud, meine Verlobte«, verkündete Hans und strahlte vor Glück.

»Deine Verlobte?«, wiederholte Lena verblüfft.

»Ich habe ihm gesagt, er soll dich vorwarnen. Ich darf doch du sagen?«, fragte Edeltraud und reichte Lena die Hand.

»Ja, sicher«, antwortete Lena, obwohl es ihr schwerfiel, überhaupt ein Wort herauszubringen.

»Müller, Edeltraud Müller«, stellte sich Hans’ Verlobte Benedikt vor.

»Benedikt Seefeld«, antwortete Benedikt, der ebenso überrascht von dieser Verlobten war wie Lena.

»Der Herr Doktor, das ist aber schön, dass ich Sie hier antreffe. Da kann ich mich doch gleich persönlich bei Ihnen bedanken, dass Sie meinen Hans zur Kur an die See geschickt haben. Hätten Sie das nämlich nicht getan, dann hätten wir uns sicher niemals kennengelernt. Aber so kam er eines Tages in mein Café und ich an seinen Tisch und dann ging es wundervoll weiter«, plauderte Edeltraud munter drauflos und unterbrach ihren Redefluss nur einige Male durch ein gekünsteltes Lachen.

»Sie haben ein Café an der Nordsee?«, fragte Emilia.

»Nein, mein Kind, es gehört nicht mir, ich habe nur dort gearbeitet.«

»Und jetzt arbeiten Sie nicht mehr dort?«

»Nein, natürlich nicht. Hans lebt doch hier. Was hätte denn aus uns werden sollen, wenn ich dort oben geblieben wäre? Wer ist denn diese kleine neugierige Dame, wenn ich fragen darf?«

»Meinen Sie mich?«, fragte Emilia und schaute sich im Hof um. Sie war doch kein Kleinkind mehr, das sie auf diese Weise ansprechen konnte.

»Das ist Emilia Seefeld«, übernahm Hans schnell die Antwort.

»Soso, das Töchterchen, also«, sagte Edeltraud und fuhr Emilia über den Kopf.

»Nein, das Enkelchen«, verbesserte Emilia sie. Hört die auch mal auf zu reden?, dachte sie. Diese Edeltraud war ihr kein bisschen sympathisch.

»Wir müssen dann los. Einen schönen Abend noch«, verabschiedete sich Benedikt und nahm Emilia an die Hand.

»Schöne Grüße an die Familie«, sagte Hans, während er seinen Arm um Edeltrauds Schultern legte.

»Bloß weg hier, Opa«, flüsterte Emilia, als Benedikt ihr die Beifahrertür seines Cabriolets aufhielt.

»Ja, so schnell wie möglich«, raunte Benedikt ihr zu.

»Schade, dass der Herr Doktor es so eilig hat. Wir hätten ihn sonst auf ein Glas Wein einladen können. Ich möchte doch deine Freunde bald kennenlernen«, sagte Edeltraud und schaute Benedikt und Emilia nach.

»Du wirst sie schon kennenlernen. Das Wichtigste ist doch, dass du erst einmal meine Lena kennenlernst«, antwortete Hans und küsste sie zärtlich auf die Wange.

»Aber ja, natürlich, Schatz, das ist das Allerwichtigste«, stimmte Edeltraud ihm zu. »Was haltet ihr davon, wenn Lena sich um das Abendessen kümmert, während wir beide uns ein wenig frisch machen?«

»Guter Vorschlag«, sagte Lena.

»Du wohnst in der Wohnung über Hans, richtig?«

»Richtig.«

»Ich sehe dort einen schönen Balkon, dort könnten wir doch gemütlich zusammen sitzen.« Edeltraud schaute auf den Balkon, der sich rund um das Haus zog.

»So machen wir es. Von dort oben hast du auch einen ausgezeichneten Blick auf Bergmoosbach«, stimmte Hans seiner Verlobten gleich zu.

»Wunderbar, ganz wunderbar«, säuselte Edeltraud. »Dann zeige mir jetzt dein Reich, mein Liebling«, bat sie ihn mit einem verführerischen Lächeln.

»Ich muss noch kurz etwas erledigen«, sagte Lena. Ich brauche fünf Minuten für mich, dachte sie. Sie huschte in die Werkstatt, schloss die Tür hinter sich und lehnte sich an die Wand. Von dieser Überraschung ihres Vaters musste sie sich erst einmal erholen.

*

»Papa, Anna, Traudel! Stellt euch mal vor, Hans Meisner ist verlobt!« Emilia war kaum aus dem Auto gestiegen, als die Neuigkeit auch schon aus ihr herausplatzte.

»Verlobt? Mit wem denn?«, fragte Traudel erstaunt, die mit Anna und Sebastian am Tisch saß und sich auch ein Gläschen Brombeerlikör vor dem Abendessen genehmigte.

»Sie heißt Edeltraud Müller, und ihr Lachen ist grauselig«, erzählte Emilia und ließ sich auf den Stuhl neben Anna fallen.

»Edeltraud Müller? Müssen wir die Dame kennen?«, fragte Sebastian.

»Nein, müsst ihr nicht. Hans hat sie während seiner Kur kennengelernt«, klärte Benedikt die anderen auf.

»Ein Kurschatten, also«, stellte Traudel fest.

»Nicht wirklich. Sie war nicht dort zur Kur, sie hat in einem Café gearbeitet«, erzählte Emilia.

»Hat?«, hakte Traudel nach.

»Sie hat gekündigt, damit sie mit ihrem Hans zusammen sein kann.«

»Könnte es sein, dass du diese Dame nicht magst, Spatzl?«, fragte Traudel.

»Richtig, ich mag sie nicht. Die arme Lena, mit dieser Edeltraud wird sie sicher einiges auszuhalten haben.«

»Was ist mit dir? Was hältst du von der Verlobten?«, wollte Traudel von Benedikt wissen.

»Ich schließe mich Emilia an«, antwortete er ohne zu zögern.

»Dann ist das wohl die Überraschung, von der Hans Meisner gesprochen hat. Zumindest muss sich Lena keine Gedanken mehr über die Zukunft der Werkstatt machen. Sie hatte doch befürchtet, dass ihr Vater möglicherweise an einen Verkauf denkt«, sagte Anna.

»Diese Edeltraud macht auf mich aber nicht den Eindruck, als hätte sie vor, ein gemütliches Leben an der Seite eines Handwerkers im Ruhestand zu führen.«

»Krass, Opa, genau das denke ich auch«, stimmte Emilia ihrem Großvater sofort zu.

»Da dein Großvater die Frauen kennt, kommen wohl keine guten Zeiten auf die Meisners zu«, seufzte Traudel.

»Darf ich davon ausgehen, dass sich aber trotzdem niemand von euch einmischt?« Sebastian lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schaute alle nacheinander direkt an. Erst seinen Vater, danach seine Tochter, Traudel und schließlich Anna.

»Die drei sind erwachsen, sie werden sich schon zu helfen wissen«, sagte Anna.

»So ist es«, stimmte Benedikt ihr zu, während Emilia und Traudel eifrig nickten.

»Ich nehme den Auflauf aus dem Ofen. Es könnte jemand den Salat aus der Küche holen«, sagte Traudel.

»Ich mache das!«, rief Emilia. Sie sprang sofort auf und folgte Traudel.

»Ich gehe mir rasch die Hände waschen«, sagte Anna.

»Wir sehen nicht einfach nur zu, falls Lena in Schwierigkeiten gerät. Oder?«, flüsterte Emilia, als Anna die Küche durchquerte.

»Natürlich nicht«, sagte Anna und zwinkerte Traudel zu, die mit einem Lächeln antwortete.

»Ich befürchte, ich habe gerade ins Leere gesprochen«, stellte Sebastian fest, als Emilia die Salatschüssel auf die Terrasse brachte und ihn mit verschwörerischer Miene anschaute.

»Ach, Papa, du kannst doch auch nicht zugucken, wenn ein Unheil anrollt«, sagte Emilia und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange.