Über Leonard Gardner

Leonard Gardner, geboren in Stockton, Kalifornien. Seine Erzählungen erschienen u. a. in The Paris Review, Esquire, Southwest Review. Er lebt in Nordkalifornien. Vor kurzem eröffnete er das Lido-Box-Gym in Stockton.

Gregor Hens, geboren 1965 in Köln, lehrte zwei Jahrzehnte lang an verschiedenen amerikanischen Universitäten, zuletzt an der Ohio State University. Seit 2013 lebt er als freier Autor in Berlin. Er hat zahlreiche Romane übersetzt, unter anderem von Leonard Cohen, Rawi Hage, Marlon Brando und Will Self.

Informationen zum Buch

Es gibt immer jemanden, der kämpfen will

Leonard Gardner hat mit seinem ersten und einzigen Roman gleich einen Klassiker der amerikanischen Literatur geschrieben. FAT CITY ist keine Heldengeschichte, sondern eine Verbeugung vor dem letzten Willen, der erst erwacht, wenn alle Hoffnung unter den Tisch getrunken ist. Eine Liebeserklärung an eine Zeit, in der man von der Hand in den Mund lebte.

Gregor Hens gelingt es mit seiner Neuübersetzung meisterhaft, dem Californian-Working-Class-Sound, dem trotzigen Humor und der feinen Melancholie eine deutsche Stimme zu geben.

»Gardner erzählt so überzeugend, dass wir uns nur an ihre Hoffnungen erinnern, nicht an ihre Niederlagen.« The New York Review of Books

»FAT CITY hat mich mehr bewegt als die gesamte Gegenwartsliteratur der letzten Jahre.« Joan Didion

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Aus dem Amerikanischen
von Gregor Hens

Inhaltsübersicht

Über Leonard Gardner

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Impressum

1

Er wohnte im Hotel Coma, das seinen Namen vielleicht dem Stadtgründer verdankte, einem kalifornischen Entdecker oder Pionier, oder einem vor langer Zeit verstorbenen italienischen Einwanderer, der schlicht ein Hotel gebaut hatte. Wen auch immer dieser Name ehren mochte, das Hotel war ein armseliges Denkmal, und Billy Tully hatte nicht vor, lange zu bleiben. Noch immer verwahrte er seine frische Wäsche in dem Koffer auf der Kommode, um sie schnell in ein besseres Zimmer tragen zu können. In den anderthalb Jahren, seit ihn seine Frau verlassen hatte, hatte er in fünf verschiedenen Absteigen gewohnt. Nun blickte er von seinem Fenster aus auf die gedrungene Skyline von Stockton – eine Achtzig-tausend-Einwohner-Stadt, umgeben von den Tümpeln, Flüssen und fruchtbaren Feldern des San Joaquin-Deltas. Er sah Bürohäuser, Kirchturmspitzen, Schornsteine, Wassertürme, Gasspeicher und die niedrigen Dächer der Wohnhäuser, die sich zwischen kahlen Bäumen entlang der ebenen Straßen erhoben. Der Bürgersteig unter seinem Fenster war voller Männer, die von Kneipen zu Schnellrestaurants, von Schnaps- und Second-Hand-Läden zu billigen Pensionen schlurrten. Asphaltgraue Tauben pickten im Rinnstein, flogen von Haus zu Haus, stolzierten über Simse und gurrten auf Tullys Fensterbank. Sein Zimmer war hoch und schmal. An der Tapete hinter den Eisenstäben seines Betts hatte fettiges Haar dunkle Spuren hinterlassen. Die Jalousie war zerfleddert, die Glühbirne schummrig, und seine Nachbarn waren offenbar alle lungenkrank.

Billy Tully arbeitete in der Küche eines Burger-Restaurants auf der Main Street. Sein Gesicht hatte eine jugendliche Frische, zu den Mundwinkeln hin zogen sich erste Fältchen, sein Nasenrücken hatte eine Delle. Dünne Narben schraffierten die Schläfen knapp neben den Augenbrauen. Sein dichtes kupferrotes Haar war oben kurz geschnitten und an den Seiten lang nach hinten gekämmt. Er war klein und kompakt, mit mächtigem Brustkorb, weder dick noch dünn noch besonders muskulös. Seine Knochen waren schwer, und er hatte kaum Fett, aber es war der Stiernacken, der seinen bekleideten Körper so kräftig wirken ließ – das Ergebnis jahrelangen Trainings, als er mit dem Kopfgurt Gewichte von zehn oder zwanzig Pfund gehoben hatte, einzig um die Wucht von Schlägen abzufangen.

Seit ihn seine Frau verlassen hatte, hatte Tully nicht mehr im Ring gestanden, aber in der vergangenen Nacht hatte er im Ofis Inn einen Mann niedergeschlagen. Er konnte sich nicht genau erinnern, wie es zu dem Streit gekommen war, und er zerbrach sich auch nicht den Kopf darüber. Allerdings beschäftigte ihn, was er dabei über sich selbst erfahren hatte. Er hatte ein einziges Mal ausgeholt, und der Mann war zu Boden gegangen. Tully schloss daraus, dass er seine Karriere zu früh beendet hatte. Er war erst neunundzwanzig.

Er stieg die Treppe hinunter, auf der trotz des rutschfesten Gummibelags beinahe jede Nacht jemand stürzte, und machte sich auf den Weg zum YMCA, um sich am Sandsack auszuprobieren. Beflügelt vom Gefühl des Neubeginns nach einem verkaterten Morgen, lief er zügig durch die kalten Straßen.

In der Umkleide zog Tully sich aus, das Lärmen vom Schwimmbecken war bis in den Keller zu hören. Er hatte vier Tätowierungen aus seiner Zeit bei der Army, die ihn inzwischen regelrecht anwiderten: segelnd über den Brustwarzen zwei blaue Schwalben, eine grüne, um das linke Handgelenk gewundene Schlange, und auf der Innenseite des rechten Unterarms eine von einem Dolch durchstochene Rose. Mit blassblauer Sporthose und einem grauen T-Shirt schlich er auf weichen Ledersohlen durch den Korridor, wütenden Schlägen entgegen, die auf einen Boxsack trommelten. Als Tully den Raum betrat, blickte ein schlacksiger, schweißnasser Junge kurz auf, schlug ein letztes Mal gegen den Sack und setzte sich auf eine Bank. Ringsum auf dem rissigen Betonboden lagen Hanteln in allen Größen. Es war sonst niemand da. Tully schwang die Arme, lockerte den Nacken, ging in die Hocke und sprang, als er es in seinem Knie laut knacken hörte, erschrocken wieder auf. Die Stille, die von dem Jungen ausging, war beinahe greifbar. Er saß reglos auf der Bank und starrte die Wand an, nachdem er eben noch brutal auf den Sack eingeprügelt hatte. Seine Haltung signalisierte, dass er in Ruhe gelassen werden wollte, was Tully allerdings eher reizte, und so forderte er den Jungen zu einem Kampf auf, obwohl er selbst nur gekommen war, um am Boxsack zu trainieren.

Der Junge stand sofort auf und sah ihn düster an. »Bist du etwa Profi?«

Tully entging nicht, dass er seine Schläfen ansah. »War ich mal. Bin aber ganz raus. Wir gehen’s locker an, okay? Ich kann dir ein paar Sachen zeigen. Ich werd nicht hart schlagen.«

Der Junge sah ihn missmutig an und ging, um Handschuhe zu holen, und Tully wärmte sich weiter auf. Er war beinahe schon außer Atem, als der Junge zurückkehrte. Wortlos zogen sie die Handschuhe an und stiegen in den Ring. Als Tully ihm die Fäuste zum Gruß entgegenstreckte, sprang der Junge nervös zurück. Tully lächelte nachsichtig und ging ihm hinterher. Danach ging alles sehr schnell – furchtbar schnell: Schläge auf die Nase, Hiebe gegen Mund und Augen, der lange Körper, der ihm auswich und kreuz und quer durch den Ring sprang, während es Tully, der immer wieder zurückweichen und in Deckung gehen musste, kaum gelang, sich für den Konter in Stellung zu bringen. Die Wut packte ihn, er stürzte vor und schlug wild um sich, dann knickte er plötzlich ein. Keuchend vor Schmerz hüpfte er durch den Ring.

Und das war es dann. Tully beugte sich vor, das Gesicht zur Grimasse verzogen, massierte seinen gezerrten Wadenmuskel und fragte mit zusammengebissenen Zähnen: »Wie heißt du überhaupt?«

Der Junge blieb hinten im Ring stehen. »Ernie Munger.«

»Und wie viele Kämpfe hast du gemacht?«

»Noch keinen.«

»Du willst mich verarschen. Wie alt bist du?«

»Achtzehn.«

Tully machte einen vorsichtigen Schritt. »Also, Junge, du hast es drauf. Ich habe gegen Fermin Soto gekämpft, ich weiß also, wovon ich rede. Bei mir ist eigentlich niemand durchgekommen. Sie kamen einfach nicht ran. Die haben geschlagen, und ich war nicht da. Du solltest anfangen richtig zu boxen.«

»Ich weiß nicht. Ich komm hier einfach runter, um mich ein bisschen auszutoben. Das hält mich fit.«

»Verschwende nicht deine besten Jahre. Geh mal rüber ins Lido und red mit meinem Manager.«

Unter der Dusche war Tully froh, dass er nicht selbst ins Lido gegangen war. Neben ihm strömte Wasser über Ernie Mungers Kopf. Die Brust des Jungen war flach und unbehaart, er hatte breite Schultern, schmale Hüften, lange, dünne Arme und Beine. Tully musterte sein hübsches, glattes Gesicht, die breite, hohe Stirn und die markante Nase, und er bedauerte, dass er nicht die Gelegenheit gehabt hatte, richtig hineinzuhauen. In der Umkleide wickelte sich Tully ein Handtuch um die Hüfte und zog eine Flasche Thunderbird aus der Sporttasche. Er wusste, wie unangemessen das hier im YMCA war, und stellte sich so hinter die Blechtür seines Spinds, dass Ernie ihn nicht sehen konnte. An der Decke kämpfte ein Ventilator erfolglos gegen den Geruch von Schweiß und Seife und muffiger Sportkleidung an.

Tully humpelte die Treppe hinauf, schimpfte leise über sein Bein und machte sich auf den Rückweg ins Hotel. Es war ein verhangener Tag gewesen, jetzt tauchte hinter der stillgelegten Werft, wo zwei mächtige Kräne schräg in den Himmel ragten, die untergehende Sonne die glatte Wolkendecke in blasses Violett. Durch die Rinnsteine taumelten Laub und Zeitungen. Boote schaukelten in den schwimmenden Schuppen des Jachthafens. Weiter unten am Kanal, fünfzig Meilen vom Meer entfernt, lag ein einsames Frachtschiff neben einem Silo.

Auf der Center Street war kaum jemand unterwegs. Im Harbor Inn war die Hälfte der Barhocker unbesetzt. Tully hielt sich an der Thekenkante fest und setzte sich vorsichtig hin. Ihm gegenüber der Hinweis

BITTE NICHT

AUF DEN BODEN SPUCKEN

STEH AUF UND SPUCK

IN DIE KLOSCHÜSSEL

VIELEN DANK

und er aß einen eingelegten Schweinefuß von einer Serviette und trank ein Glas Port. Als ein Paar, das er vom Sehen kannte, neben ihm Platz nahm, aß er gerade eine Tüte Grieben. Der Mann, ein Schwarzer mit Geheimratsecken und Menjoubart, wirkte träge und niedergeschlagen. Die Frau war weiß, ungefähr in Tullys Alter. An der Stelle der Augenbrauen hatte sie dünne Striche, ihre Nase war gebrochen wie seine eigene.

»Gehen Sie eigentlich nie nach Hause?«, fragte sie ihn.

»Ich bin gerade erst gekommen.«

Sie wandte sich an ihren Begleiter. »Worauf wartet er? Er weiß doch, dass wir hier sind. Kannst du nicht mal dafür sorgen, dass wir bedient werden?«

»Immer mit der Ruhe. Er kommt ja gleich.«

»Du feiges Arschloch, du nimmst wirklich jeden gegen mich in Schutz.« Sie stützte das Kinn in die Hände und starrte ins Leere. »Ich will einen Cream Sherry.« Dann, wieder zu Tully: »Die Sache zwischen Earl und mir ist wirklich etwas Wunderschönes. Ich liebe diesen Mann mehr, als je ein Mann verdient hat, geliebt zu werden. Ich könnte ohne ihn nicht leben. Ohne ihn würd ich’s einfach nicht aushalten. Aber meinen Sie, er würde mal die Stimme erheben, um mir einen Drink zu besorgen? Nee. Er sitzt einfach da und lässt zu, dass wir ignoriert werden.«

»Da kommt er«, sagte Earl.

»Dir haben wir das nicht zu verdanken.«

Tully schüttelte sein Bein, zuckte und seufzte leise. Die Frau sah ihn von der Seite an. »Wadenkrampf«, sagte er. Als sie nicht nachfragte, erzählte er, was ihm gerade jetzt, da er wieder in Form kommen wolle, passiert sei.

»Earl?«, sagte sie über ihre Schulter hinweg.

»H-hm.«

»Der Kerl hier ist ’n Boxer.«

»Ach ja?«

»Meine Güte. Warum habe ich’s dir überhaupt gesagt? Was weißt du schon darüber?«

»Nicht viel.«

»Siehst du. Wollte dich nicht stören. Warum habe ich überhaupt den Mund aufgemacht? Tut mir leid. Also, was willst du noch? Ich hab mich ja entschuldigt. Was soll ich denn noch tun?«

Earl starrte in den Spiegel hinter der Bar, aus dem eine Reihe von bedrückten Gesichtern in den Raum blickte. »Ich hab schon verstanden, Baby.«

»Siehst aber nicht so aus.« Sie seufzte und nahm ihr Glas. »Manchmal frage ich mich, weshalb ich mich mit ihm abgebe. Diese Schwarzen, das sind im Grunde genommen alles misstrauische Menschen. Wenn Sie wüssten, was ich für diesen Mann alles tue, aber das juckt den gar nicht. Wenn du nicht so schwarz bist wie er, dann bist du bei ihm unten durch. Es geht ihm gegen den Strich, dass ich mit Ihnen rede, das weiß ich. Aber mit irgendjemandem muss ich ja reden.«

»Der Junge könnte irgendwann mal richtig Geld verdienen«, fuhr Tully fort. »Er ist ein Naturtalent.«

»Wie heißt er denn?«, fragte Earl, der sich mit teilnahmslosem Blick vor die Frau gebeugt hatte.

»Und selbst wenn er’s dir sagt? Du würd’st ihn ja doch nicht kennen.«

»Ich frag ja nur.«

»Der will immer alles wissen. Jetzt sagt er gar nichts mehr. Jetzt ist er nämlich sauer. Quatscht erst dazwischen, und dann kommt nichts mehr. Ich hätt das gern gehört.«

»Mehr gibt’s da nicht zu erzählen. Der Junge ist halt ein Naturtalent, ’ne echte Ausnahmeerscheinung.« Tully war ganz gut gelaunt, er bestellte sich noch einen Drink.

»Er ist mies drauf. Ich unterhalte mich nett, das ist es, was ihn ärgert. Ich weiß nicht, warum ich nicht ein bisschen Spaß haben soll. Soll er halt da sitzen und vor sich hin schmoren, ist mir doch egal. Soll er machen, von mir aus, aber ich? Ich finde, jeder hat ein Recht, sein eigenes Leben zu leben. Also, ihr könnt mich alle mal.«

Sie drückte den Rücken durch, ihre Stimme wurde lauter. »Ich möchte etwas sagen. Ich möchte auf diesen Herrn hier anstoßen. Ich mach’s kurz, nur ein paar Worte. Auf Ihre Gesundheit. Gott schütze Sie bei all Ihren Unterfangen.«

Niemand rührte sich, als sie das Glas erhob. Mit großen, feurig-dunklen Augen blickte sie Tully an, bis er, aus Scham und von erotischer Neugier gepackt, ebenfalls sein Glas erhob.

»Oda?«

»Was ist?«

»Nichts.«

Sie fuhr herum. »Verdammt, was ist denn jetzt schon wieder? Darf ich mich überhaupt mit niemandem mehr unterhalten?«

»Ich sag ja gar nichts.«

»Stimmt, du sagst gar nichts. Oh nein, du sitzt nur da und hältst deine jämmerliche Fresse, bis ich anfange, ein bisschen Spaß zu haben. Ich hab dein Gemaule so was von satt. Kann ich was dafür, dass du dich mit keinem verstehst? Kannst du dich nicht einfach raushalten? Das gilt für euch alle genauso. Ich scheiß auf euch, euch kann man doch alle in die Tonne treten.« Sie rutschte von ihrem Hocker und ging nach hinten.

Tully war unwohl bei der Sache, er betrachtete die von Kippen verbrannte Theke. Jemand stellte ein Glas Port neben seine Hand. »Danke.«

»Keine Ursache«, sagte Earl. »Ich gebe mich nicht für mehr aus, als ich bin. Du kannst vielleicht boxen, ich bin Polsterer.«

»Wie das so ist.«

»Der eine hat Muskeln, der andere Ausdauer. Kommt alles aufs Gleiche raus.«

Sie tranken schweigend. Als die Frau zurückkehrte, stand Tully auf und ging. Er überquerte die dunkle Straße zu seinem Hotel und humpelte die Treppe hinauf. Als er im schummrigen Licht auf dem Bett lag und das Husten von der anderen Seite des Gangs hörte, wurde ihm klar, dass er Ernie Munger talentierter dargestellt hatte, als er tatsächlich war. Er hatte es getan, um weiter an seinen Körper glauben zu können, aber er hatte – mehr war es eigentlich nicht – seine Reflexe eingebüßt, und er spürte, dass er am Ende war. Es hatte Zeiten gegeben, da war er überzeugt gewesen, dass ihm die Fünfziger großen Ruhm bringen würden. Jetzt waren sie beinahe vorüber, und er war ausgebrannt. Er drehte sich auf die Seite. Auf dem verschlissenen Linoleum lagen zwei Hefte, True Confessions und Modern Screen, Zeitschriften, von denen er nicht geglaubt hatte, dass sie ihn eines Tages interessieren könnten. Doch inzwischen erkannte er in den Geschichten von Verführung und Betrug, von Ehebruch und Scheidung und den Sorgen der Stars die Freudlosigkeit seiner eigenen Liebe wieder.

Tully hatte seine Frau bei Newby’s Drive-In kennengelernt, einem flachen, schwarz gepunkteten Gebäude in der Mitte einer von Maulbeerbäumen beschatteten Asphaltfläche. Trotz der Beeren, die Flecken auf seinem gelben Buick Cabrio hinterließen, war er jeden Abend hingefahren, um sie zu sehen. Sie ging mit den Bestellungen von Wagen zu Wagen und bot in ihrer engen schwarzen Hose und der weißen Bluse einen spektakulären Anblick. Er konnte an nichts anderes mehr denken. Er trug teure Kleidung, er gewann seine Kämpfe, und er wusste, dass er sie einfach besitzen musste. Er war ein stolzer Ehemann, besonders wenn sie ihn zu Kämpfen in der Stadt begleitete, bei denen er nur Zuschauer war. Auf den Rängen johlten und pfiffen die Leute, wenn sie an seinem Arm in die Halle trat, im knappen Strickkleid – in Orange oder Weiß – oder sonst einem tief ausgeschnittenen Kleidchen, das von winzigen Trägern gehalten wurde, mit hochhackigen Sandaletten und hoch aufgetürmtem, kastanienbraunem Haar. Er rechnete schon mit diesem Tumult, wenn er mit ihrem Mantel auf dem Arm hereinkam. Es war die schönste Zeit seines Lebens, auch wenn er es damals nicht wusste. Sie verflog, ohne dass ihm Zeit zum Nachdenken blieb, und endete, als er noch glaubte, dass es immer weiter aufwärts gehen würde. Er hatte nicht verstanden, dass ihm nie mehr vergönnt sein würde als das bisschen Talent und lokaler Ruhm. Und auch sein Manager hatte es nicht gesehen, als er ihn gegen landesweit erfolgreiche Gegner aufstellte. Diese Erkenntnis war Tully erbarmungslos eingeprügelt worden. In einem halben Dutzend Kämpfen, wenn er ausholte und nicht mehr traf, mit zugeschwollenen Augen. Er hatte zu seiner Frau geschaut in der Hoffnung auf irgendeine Form der Bestätigung, ein ängstlich besorgtes Verständnis für die Schmerzen und das Opfer, das er doch nur ihretwegen auf sich nahm, auf irgendeine immer verweigerte Anerkennung dieses Männlichkeitsrituals. Wenn er auf den nächsten Kampf wartete, trank er. Nach sechs Monaten stieg er noch einmal in den Ring und wurde von einem völlig unbedeutenden Mann k. o. geschlagen. Dann begann er sich nach jemandem zu sehnen, der ihm die Unversehrtheit und Leichtigkeit des frisch verheirateten Mannes wiedergeben könnte, aber es war ein Gefühl, das ihm für immer abhanden gekommen war, und er begriff, dass es sein Fehler gewesen war, überhaupt daran zu glauben. Und so hatte er sie verloren – auf der Suche nach diesem Gefühl. Ohne sie kam er morgens nicht aus dem Bett. Er verlor seine Stelle in der Kartonfabrik und fand eine neue als Lastwagenfahrer. Als er wieder gefeuert wurde – der Lastwagen lag umgestürzt in einem Graben, zusammen mit hundert Kisten Aprikosen – musste er auch sein Auto abgeben. Jetzt nahm er gelegentlich eine Frau mit aufs Zimmer, aber keine von ihnen konnte ihm etwas von dem geben, was er mit seiner Frau gehabt hatte, weshalb er sie alle verachtete.

Seit er den ominösen Bescheid erhalten hatte, in dem er als Beklagter bezeichnet wurde, als wären seine ehelichen Unzulänglichkeiten krimineller Natur gewesen, hatte Tully über seine Frau nur das erfahren, was ihr Bruder Buck ihm erzählt hatte, als er ihn eines Abends auf der El Dorado Street traf, eingehakt zwischen zwei Feldjägern. Der Stabsgefreite war wohl mit offenem Hosenstall herumgelaufen, alle dreizehn Knöpfe standen offen. Tully war zu ihm geeilt und hatte ihn gefragt, was aus Lynn geworden sei. Die Feldjäger wollten ihn wegschicken, es kam zum Streit, und Buck, der sich mal trotzig, mal gehorsam zeigte, erzählte ihm, dass Lynn einen Barkeeper in Reno geheiratet hatte. Tully konnte es gar nicht glauben, und zu der Zeit hatte ihn die Nachricht stark mitgenommen. In den melancholischen Nächten, wenn es ihm schien, als könnte er sein Leben nur durch Versöhnung retten, war er überzeugt, dass sie niemanden lieben konnte außer ihm.

Draußen vor seiner Tür quietschten Sohlen. Tully gingen wieder und wieder alte Unsicherheiten und Fehler durch den Kopf, er starrte auf seine Zeitschriften. Er nahm eine Ausgabe der Modern Screen und setzte sich im Bett auf, sein Hinterkopf drückte zwischen die Eisenstangen des Betts. Auf dem Titel war ein übertrieben lachendes Filmsternchen im Badeanzug. Sie hatte Bleistiftpunkte auf den Brüsten und eine gekritzelte Spalte zwischen den Beinen. Auf der anderen Seite des Gangs wurde ununterbrochen gehustet. Es war höchste Zeit, das Hotel zu wechseln.

2

Das Lido befand sich im Keller eines dreistöckigen Hotels, dessen Backsteinfassade mit maurischen Bögen, Säulen und bunten Kacheln verziert war. Hinter dem Hotel, zwischen Windhafer und vertrockneten Brennnesseln, standen ein paar Autos, eines aufgebockt und ohne Räder. In einem offenen länglichen Schuppen aus verwitterten Brettern und Wellblech standen einige ältere Männer mit Hüten, die Boccia spielten und sich lautstark auf Italienisch unterhielten. Ernie Munger, in der Hand eine große Papiertüte, ging die vermüllte Betontreppe hinunter. In einem Ring unter einer Balkendecke, unter Kabeln, Wasser- und Abflussrohren, trainierte ein einzelner Schwarzer im Licht der Neonröhren. Am Ring standen drei Männer in Straßenkleidung – einer hatte eine Glatze, der zweite tief zerfurchte Wangen, der dritte trug einen schwarz-weiß karierten Hut mit einer schmalen, aufgebogenen Krempe. Sie sahen zur Tür.

»Willst du kämpfen, Junge?«, fragte der mit den zerfurchten Wangen.

»Sind Sie Ruben Luna?«

»Ich bin Gil Solis. Was wiegst du? Du hast ja ’ne ordentliche Reichweite. Suchst du einen Trainer?«

Der Mann mit dem Hut trat zu ihnen. Er war Mexikaner wie Solis, etwa vierzig Jahre alt. Er hatte ein rundliches, entspanntes Gesicht und glatte Haut, sein Lächeln war breit, harmlos und unerschütterlich. »Ich bin Luna. Suchst du mich?«

»Ich hab gedacht, dass ich mal hier trainiere. Vielleicht können Sie mal gucken, wie Sie’s finden. Billy Tully hat mir gesagt, ich soll hier vorbeischauen.«

»Du kennst Tully?«

»Ich habe vor ein paar Tagen im YMCA mit ihm geboxt.«

»Trainiert er wieder? Wie ist’s denn gelaufen? Du hast dich bestimmt ganz gut geschlagen, oder?«

Jetzt kam auch der Glatzkopf und flüsterte heiser, und Luna legte Ernie die Hand auf die Schulter und nahm ihn zur Seite. »Hast du deine Sachen dabei? Dann können wir gleich loslegen.« Sie gingen auf Hacken durch den nassen Duschraum, ein Abfluss war verstopft. In einem engen, unverputzten und fensterlosen Raum, der nach Körpern und Sportkleidung und Schimmel roch, saßen einige halb bekleidete Männer, allesamt Schwarze und Mexikaner. Sie sahen nur kurz auf und unterhielten sich weiter.

»Such dir einen freien Spind«, sagte Ruben Luna. »Nächstes Mal bringst du am besten ein Vorhängeschloss mit, so eins mit Zahlen. Die kriegt man nicht so leicht geknackt. Zieh dich um, ich warte draußen.«

Ernie, der an einer Tankstelle arbeitete, zog Lederjacke, ölverschmierte Arbeitshose und Hemd aus. In Shorts und Tennisschuhen kam er in die Halle, und Luna schickte ihn gleich in den Ring. Ernie begann sich aufzuwärmen, etwas zaghaft, während um ihn herum mehrere Boxer tänzelten, immer darauf bedacht, einander nicht in die Quere zu kommen. Ihre ins Leere zielenden Schläge wurden von lautem Schnaufen begleitet.

»Wie wär’s mit ein, zwei Runden?«, fragte Ruben Luna, nachdem er ihn ans Seil gerufen hatte. »Ich will dich nicht drängen, ich will nur mal sehen, wie du dich bewegst.«

»Mit wem denn?«

»Mit ’nem anderen Anfänger. Kämpf einfach, wie du mit Tully gekämpft hast. Mit dem schwarzen Jungen da.«

Vor einem langen Spiegel boxte ein Junge in einem bunt bedruckten Trikot und weißen Boxerstiefeln, sein geglättetes Haar schimmerte rötlich.

Ernie sah auf die Stiefel und schob die Hände in die Trainingshandschuhe, die ihm offen hingehalten wurden. Er stieg in einen ledernen Tiefschutz, ein Kopfschutz wurde ihm auf die Stirn gedrückt. Geschnürt und gepolstert, das Gesicht mit Vaseline eingeschmiert, einen Zahnschutz aus Gummi im Mund, wartete er, während im Ring zwei gedrungene Männer aufeinander einschlugen und klammerten. Dann kletterte er hinter den dunklen Beinen seines Gegners in den Ring. Zwei Runden boxte er und fing Schläge ein, der Kopfschutz schob sich über seine Augen, der Tiefschutz rutschte runter. Als es vorbei war, lehnte sich Ruben Luna über die Seile, um Gil Solis zuvorzukommen, der schon nach der Schnalle des Kopfschutzes greifen wollte.

Sie nahmen ihm die Handschuhe ab, und er nickte, während Ruben Luna breitbeinig, mit vorgestrecktem Bauch und hochgeklappter Hutkrempe vor ihm stand und flinke, elegante Handbewegungen und Schritte demonstrierte. »Du hast ’ne gute Linke. Hast du verstanden, ja? Setz den Jab mit einem Ausfallschritt. Hast du verstanden, ja? Und dann geh mit dem Körper hinterher. Bamm! Hast du verstanden, ja? Also, du triffst ihn mit der Führhand, und sein Kopf geht nach hinten, und du machst einen Schritt – Hast du verstanden, ja? – und setzt noch einmal nach, jetzt mit der Rechten. Bamm! Locker bleiben, immer in Bewegung, geh wieder drauf, bamm, bamm! Verstanden, ja? Nutz deine Führhand, lass sie für dich arbeiten. Dann täuschst du mit der Linken an und schlägst mit der Rechten. Bamm! Verstanden, ja? Führhand und antäuschen, so findet er keinen Stand. Antäuschen. Du zerstörst seine Deckung und greifst an. Bamm, bamm, poff! Verstanden, ja?«

Im überschwemmten Duschraum sprach ihn ein kleiner Mexikaner an, der reglos unter der zweiten Brause stand. »Wie sind die Weiber hier?«

»Nicht so gut. Wo kommst du her?«

»L. A.«

»Wie sind die Weiber da?«

»Ganz gut.«

Es gab keine Seife, sie ließen das Wasser auf ihre gebeugten Rücken prasseln.

»Und die Männer hier? Hart drauf?«

»Geht so. Und da unten?«

»Knallhart.«

»Bist du neu hier?«

»Ja, war gestern in ’ner Bar, und da war dieser Typ, der sich mit allen anlegen wollte. Jeder war ’n Arschloch. Also bin ich raus und hab auf ihn gewartet. Der kommt raus und ich frag, ob er mich auch gemeint hat. Sagt der, ja. Also hab ich’s ihm gegeben. Ich mein, ich bin ja gerade erst in die Stadt gekommen. Was für’n Empfang. Weiß nicht, irgendwie gibt’s immer Ärger, egal, wohin ich gehe.«

Auf einmal fing der Mexikaner an zu singen, wiederholte immer wieder dieselbe Zeile, seine Stimme kletterte von tiefem Stöhnen und Jauchzen bis zu falsettoartigem Lamento. Earth Angel, Earth Angel, will you be mine? In der Umkleide tremolierte er weiter und beim Anziehen improvisierte er dann ein wenig: Baby, Baaaby, Baaaby, uh Baby, uuh, oh yeah, BAAAAAAABY, I WANT you. Nackte Gestalten gingen ein und aus, und der Dampf quoll durch die Türöffnung des Duschraums. Ernie, müde und grün und blau geschlagen, zog glücklich die Hose hoch und wusste, dass er jetzt ein Mann war – einer von ihnen.

3

Ernies Veilchen verblassten von Dunkelrot zu Grüngelb und wurden von neuen überdeckt. Seine Wimpern wuchsen aus blutunterlaufenen Lidern, die Augenwinkel waren schmal und rot-gerändert, die Nase wirkte breiter als früher. Doch Ruben Luna, der an den Seilen stand und zusah, wusste, dass dieses Sparring mit Kopfschutz und Trainingshandschuhen mit einem richtigen Kampf noch wenig zu tun hatte.

»Nicht so zaghaft, schlag zu, keine Rücksicht!«, rief er, und Ernie, der sich zu seinem Trainer umdrehte und nickte, kassierte sofort einen Treffer. Er umkreiste seinen Gegner in der Grundstellung, täuschte an, wich zurück, wenn der andere ihm gefährlich wurde, und schlug plötzlich ohne erkennbaren Anlass wild drauflos, als hätte er nicht auf eine Lücke in der Deckung gewartet, sondern auf Inspiration. Jeden Tag ließ er sich die Nase blutig schlagen, entweder von einem anderen Amateur oder von den beiden Profis in seiner Gewichtsklasse. Der eine war etwas leichter, der andere etwas schwerer, aber beide waren phlegmatisch.

Ruben Luna sah ihm geduldig zu, er war überzeugt, dass jede Bewegung, wenn sie nur etwas taugte, am Ende perfektioniert werden konnte. Er reichte Handtuch und Trinkflasche, stemmte sich mit der Brust gegen den schweren Boxsack, rief seine Anweisungen und drückte, wenige Zentimeter von Ernies schmatzenden Fäusten, die Wange ans Leder. Zum Abschluss jeder Trainingseinheit faltete er das Handtuch zu einem kleinen Polster und legte es auf den Boden. Während Ernie seinen Kopfstand machte und den langen Hals zu beiden Seiten dehnte, hielt Ruben Luna seine Fußgelenke und sah mit dem versunkenen Blick eines Mannes, dessen Aufmerksamkeit am Ende des Tages nicht mehr benötigt wird, durch das V der Beine hindurch in die Halle.

Er geht nach Hause zu seiner Familie. Er isst zu Abend, während seine Kinder streiten und sinnloses Zeug faseln und von seiner Frau ausgeschimpft werden. Er geht früh ins Bett, steht früh wieder auf und fährt zum Gewerkschaftshaus, wo er sich im kalten Morgengrauen einer Kolonne zuteilen lässt. Den Tag verbringt er damit, im Hafen Gabelstapler zu fahren. Um zwölf kauft er Kaffee und süße Teilchen bei einem Mädchen, das eine Gabardinehose trägt und jeden Tag mit ihrem Imbisswagen kommt. Nach der Arbeit fährt er quer durch die Stadt zum Studio und lässt sich in einem Café von einer hochgewachsenen Kellnerin mit blondem Haar ein Stück Kuchen servieren. Erst danach geht er über die Straße zu seinen Boxern.

»Aus meinem weißen Jungen könnte was werden«, erzählte er seiner Frau.

»Prima.« Sie hatte sich vorgebeugt, um die weiße Satindecke zurückzuschlagen, ihre breiten Hüften waren von