Seit jeher prägen die Gezeiten den Menschen, waren Projektionsfläche von Fantasie und Objekt der Wissenschaft. Im Jahr 322 vor Christus stürzte sich Aristoteles verzweifelt in die Wellen, so eine Überlieferung. Er konnte zwar erkennen, dass die Gezeiten nicht vom Wind bestimmt wurden, hinter ihr Geheimnis kam er jedoch nicht. Auch wenn viele der Mythen, die die Gezeiten umgeben, heute von der Naturwissenschaft aufgeklärt werden können, gibt es nach wie vor offene Fragen. Denn die Wissenschaft von den Ozeanen ist jung. Von Aristoteles über Galilei und Newton bis zu unserem modernen Verständnis von Ebbe und Flut ist die naturwissenschaftliche Erklärung der Gezeiten hier eingebettet in den kulturellen Kontext und verbunden mit Orten, die auf besondere Weise von den Gezeiten geformt wurden.

Der Autor porträtiert die faszinierendsten und am meisten gefürchteten Tide-Orte unseres Planeten – von den stärksten Gezeiten in Nova Scotia in Kanada bis zur zerfallenden Küste Ostenglands. Er beweist auf eindrückliche Weise, dass die Gezeiten eine Macht sind, die der moderne Mensch nach wie vor unterschätzt. Nehmen Sie Platz, das große maritime Drama mit einer Länge von 12 Stunden und 30 Minuten beginnt.

 

Hanser E-Book

Hugh Aldersey-Williams

 

FLUT

 

Das wilde Leben der Gezeiten

 

Aus dem Englischen von Christophe Fricker

 

 

Carl Hanser Verlag

INHALT

Vorbemerkung

 

Einleitung

 

Ein Blick auf entspannte Gezeiten

Dreizehn Stunden

Erste Ebbe

Der Schlick erwacht

Eine unberechenbare Macht

 

Jenseits des Mikromareals

Philosopher’s End

Mediterrane Gezeiten Skylla und Charybdis

Der Kaiser experimentiert Alexander und Pytheas

Ein größeres Reich

 

Ufer des Unwissens

Der König lädt zur Flut

Der Wortschatz der Gezeiten

Byrhtnoths letztes Gefecht

Die Schlacht davor

Bedas Zeitgefühl

Ein lösbares Rätsel

 

Auswegloses Wasser

Anderswo

Küstenlinien

Herzmuscheln

Grausame und unerhörte Strafen

Mönche des Mittelalters

Der Führer der Königin

 

Terra infirma

Galilei in der Klemme

Acqua alta

Flut über Flut

Die venezianische Barriere

 

Der Schlamm der Themse

Charles Dickens’ Fluss

Newtons Quaestiones

Die Himmelsleine

Auf der Jagd nach Monddaten

Dreckspatzen

 

Das Auf und Ab des Handels

Billighäfen

Spät erst reisen die Pilger

Teepreise, Teil I

Sur le flux et reflux de la mer

Frankreichs Newton

Entdeckungsreisen

Teepreise, Teil II

Ein Bild der Gezeiten

 

Ein Ort der Resonanz

Bore oder Börchen?

Die höchste Flut der Welt

Kunst und Kraft

Der viktorianische Alleswissenschaftler

 

In großen Wassern

Gerechtigkeit des Meeres

Liebe und Verlust

Die große Welle

Geheime Landung

 

Mitfahrgelegenheiten

Die Knutts kommen

Wettlauf der Grunions

Die Kalendermethode

Gezeitensinn

Ein Meer des Wissens

 

Über den Mahlstrom

Ein Platz in der Literatur

Prinz Breackans Kessel

Norden

Eine Brücke über schwerem Wasser

Der Nabel des Meeres

Mythos und Mathematik

 

Signal und Geräusch

Die Suche nach dem Meeresspiegel

Merkwürdigere Gezeiten

Isolierte Variable

Reförmchen

Klimaziele

 

Diluvion

Auf der Shinglestraße

Reiner Wahnsinn

Die Rückkehr des Meeres

Letzte Ebbe

 

Dank

Glossar

Abbildungsverzeichnis

Literaturauswahl und Quellen

Register

 

 

Für John

 

 

»Es ist gut, den Blick vom Gezeitentümpel

zu den Sternen schweifen zu lassen

und dann wieder zurück.«

 

John Steinbeck, Logbuch des Lebens

VORBEMERKUNG

Die Gezeitenstände, die einzelnen Abschnitten vorangestellt sind, wurden mithilfe der »Admiralty Easytide«-Webseite des britischen Hydrographischen Dienstes errechnet (www.ukho.gov.uk/easytide). Ausnahmen: die Werte für Dover, deren Quelle im entsprechenden Kapitel genannt wird, und die Angaben für Stockholm, die ich Martin Ekman verdanke.

Datumsangaben entsprechen in der Regel dem zur jeweiligen Zeit gebräuchlichen Bezugssystem (also zum Beispiel dem julianischen Kalender). Nur im Zusammenhang mit Gezeitenständen wurden alle Datumsangaben in den heutigen, gregorianischen Kalender übertragen.

EINLEITUNG

Wer an der Küste der nordenglischen Grafschaft Northumberland der Dammstraße durch das Watt und das Marschland folgt, um zur Burg und Abtei der heiligen Insel Lindisfarne zu gelangen, erreicht auf halber Strecke einen kleinen Unterstand. Hölzerne Stufen führen hinauf zu dieser Hütte auf Stelzen. Hinweisschilder an der Tür erklären, wozu das eigenartige Gebäude da ist. Es diene jenen Reisenden, die auf der fünf Kilometer langen Strecke von der Flut überrascht werden. Zwischen den Schildern hängt ein sonnenvergilbter Comic aus der Lokalzeitung. Man sieht eine auf dem Autodach kauernde Familie – das steigende Meerwasser schwappt schon an die Fenster. Ein Elternteil sagt zu dem anderen: »Ich wusste ja nicht, dass die Gezeiten auch Touristen betreffen.«

Auf den Britischen Inseln sind wir von Wasser umgeben. Es steigt und sinkt nach Gesetzen, die den meisten von uns ein Rätsel sind. Wir treiben in einem Meer, dessen Bewegungen wir nicht verstehen. Fast jeden Sommer zerren die Gezeiten an meinem Norfolker Küstenabschnitt ein Kind aufs offene Meer hinaus, das Tage oder Monate später meilenweit entfernt tot wieder angespült wird. Die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in Küstengegenden, die den Gezeiten ausgesetzt sind, und dennoch achtet kaum einer von uns, die wir unseren Lebensunterhalt nicht mit dem Meer verdienen, auf ihre eigenartigen Rhythmen und verborgenen Triebkräfte.

Deshalb verstehen wir auch nicht, warum der Vergnügungsdampfer am Sonntagmorgen nicht fährt, obwohl wir doch Wochenendpläne hatten. Wir verstehen nicht, warum der schöne Sandstrand, den wir noch von früher kennen, zu einem wenig einladenden Geröllfeld geworden ist. Wir verstehen nicht, dass ein einziger Gezeitenwechsel den Ausgang einer Seeschlacht oder eines Angriffs vom Meer aus entscheidend beeinflusst hat und dass wir deshalb so leben, wie wir heute leben, und die Sprache sprechen, die wir heute sprechen. Wir verstehen nicht, warum die Auster, deren Nährstoffzufuhr von den Gezeiten abhängt, früher einmal ein Arme-Leute-Essen war. Wir verstehen nicht, dass wir auf die beeindruckende Artenvielfalt der Gezeitenzone angewiesen sind, und wir vergessen allzu leicht, dass das Auf und Ab der großen Ozeane die Evolution selbst beeinflusst, weil es erst die Bedingungen dafür schuf, dass aus der richtigen Mischung chemischer Zutaten die ersten Organismen entstanden.

Die Gezeiten? Die sind doch so unwichtig, wie wenn in China ein Sack Reis umfällt! Oder eine Kiste Tee nicht richtig zu ist. Mit den Säcken und Kisten haben die Gezeiten vielleicht nicht so viel zu tun, wohl aber mit den Preisen, die man für Tee aus China bezahlen muss. Denn als die mit Tee beladenen Schiffe sich ein Wettrennen um das Kap der Guten Hoffnung lieferten, weil sie als Erste die neuesten Blätter nach London oder Boston bringen wollten, konnte der Gezeitenstand über Sieg oder Niederlage entscheiden. Und nur wer als Erster einlief, konnte seine Fracht zu guten Preisen verkaufen. Die Gezeiten hatten immer wieder etwas damit zu tun, wo wichtige Meeresressourcen zu finden waren. Im Lauf der Jahrhunderte waren sie oft der Grund dafür, dass große Häfen hier statt dort entstanden und dann mehr oder weniger erfolgreich waren.

 

Meine prägende Begegnung mit den Gezeiten spielte sich vor der Isle of Wight ab, jenem geradezu absurd ruhigen Ort, an dem das Wasser an eine Spielzeuginsel voller Gartenzwerge und Modelleisenbahnen schwappt. Ich bin heute noch verblüfft, dass wir hier in tödliche Gefahr gerieten.

Wir segelten in jenem hölzernen Boot von Weymouth nach Yarmouth, das mein Vater in zwölfjähriger Handarbeit gebaut hatte. Die Entfernung von fast fünfzig Kilometern entsprach für unser kleines Gefährt etwa einer Tagesreise – ostwärts an der Küste von Dorset entlang, an der Isle of Purbeck (eigentlich eine Halbinsel) und an Bournemouth vorbei und dann durch den Needles Channel in den Solent, die Meerenge zwischen Isle of Wight und englischem Festland. Der Needles Channel ist schwierig zu navigieren. Auf der einen Seite liegen die Shingles, eine Reihe von Kiesbänken, auf der anderen die scharfen Felsvorsprünge der Isle of Wight. Die Strömung ist schnell, vor allem bei Hurst Point, einem weit ins Meer hinausragenden Stück Festland, wo sich das Wasser durch eine weniger als eine Meile breite Öffnung zwängt.

Auch weil es sich um eine der meistbefahrenen Schifffahrtsrouten der Welt handelt, gibt es hier jede Menge Bojen – rote backbord und grüne steuerbord sowie die sogenannten kardinalen Zeichen, die auf unter Wasser liegende Hindernisse hinweisen. Nichts davon ähnelt den weichen Plastikbojen, die man von Ankerplätzen in geschützteren Wassern kennt. Platziert werden sie von Trinity House, der für die Sicherheits-»Beschilderung« auf dem Wasser zuständigen Behörde. Für schwimmende Objekte sind sie ganz schön groß – besonders die kardinalen Zeichen sind imposante Stahlstrukturen: Bis zur Höhe eines Doppeldeckerbusses ragen sie als Gerüste aus den Wellen, und unter Wasser ist noch einmal ebenso viel Eisen in Schwimmkästen und Ballast versteckt. Sie haben einen Durchmesser von ungefähr drei Metern und wiegen sechs Tonnen. Kein Schiff legt sich gern mit ihnen an, egal, wie groß es ist. Für eine kleine Holzyacht gilt das erst recht.

Als Segler muss man sich vor dem Ablegen über die Wetterverhältnisse informieren, besonders über Windstärke und -richtung und die Gezeitenbewegungen unterwegs. Was unter günstigen Bedingungen nur ein paar Stunden dauert, kann bei widrigem Gezeitenstand unmöglich sein. Im Ärmelkanal läuft das Wasser, wie in den meisten Küstengewässern der Welt, etwa sechs Stunden auf und dann die nächsten sechs Stunden ab. Unsere fünfzig Kilometer lange Route war so lang, dass uns die Strömung nicht immer begünstigen würde.

Die Herausforderung bestand für uns darin, eine Abfahrtszeit zu wählen, bei der die Strömung möglichst lange in unsere Richtung wirkte, besonders dort, wo sie besonders schnell sein konnte. Sonst würden wir zum Stehen gebracht oder gar zurückgedrängt. Vor allem mussten wir so planen, dass das »Tidetor« bei Hurst Point uns nicht gefährlich werden konnte. Hier werden Fließgeschwindigkeiten von bis zu vier Knoten erreicht – so schnell konnten wir kaum segeln, und selbst unter Motor und in ruhiger See waren wir nicht so schnell.

Wir wussten alles, was wir wissen mussten. Wir hatten die richtigen Karten: Bill of Portland to The Needles und Solent: Western Approaches. Meine Mutter tat alles dafür, dass sie auf dem neuesten Stand waren, und trug Korrekturen, die sich aus den wöchentlichen »Admiralty Notices to Mariners« ergaben, mit einer besonderen, lilafarbenen Tinte ein. Wir hatten auch einen Gezeitenatlas, eine jener Broschüren, die einen vollständigen, zwölfstündigen Gezeitenzyklus für ein bestimmtes Gewässer zeigten – eine Seite für jede volle Stunde vor und nach dem Hochwasser. Pfeile verschiedener Stärke zeigten die erwartete Geschwindigkeit und Richtung der Strömung im gesamten abgebildeten Gebiet an.

Mein Vater rechnete und rechnete, und dann legten wir an jenem Septembermorgen um zehn nach acht bei ablaufendem Wasser in Weymouth ab. Der Plan: gegen die Strömung segeln, wo sie schwach war, nämlich in Weymouth Bay, dann durch Stillwasser und schließlich mithilfe der Strömung in den Solent. Wenn alles gutging, war uns die Strömung am Tor eine Hilfe. Vor Einbruch der Dunkelheit wären wir in Yarmouth.

Morgens kam kaum Wind auf, und wir mussten mehrere Stunden lang unter Motor fahren, bis eine sanfte westliche Brise uns anregte, den Spinnaker zu setzen. Wir kamen quälend langsam voran. Erst im Laufe des Nachmittags konnten wir im Dunst endlich die Konturen der Isle of Wight ausmachen.

Einige Stunden später passierten wir die Needles. Die Sonne ging schon unter. Wir waren gegen eine sanfte Strömung vorangekommen, nun aber hatte sie sich zu unseren Gunsten gedreht. Wir hielten Ausschau nach den nächsten Anhaltspunkten: Shingle Elbow würde backbord vor uns liegen, steuerbord eine Boje namens Bridge. Letztere war ein Kardinalzeichen am westlichen Ende einer unter Wasser verlaufenden Felsenkette, die von den Needles ausging (und sich, geologisch gesprochen, bis zu den Kreidefelsen von Purbeck erstreckte, die wir längst hinter uns gelassen hatten). Wenn wir die Bridge-Boje gut gesehen hätten, wären wir westlich daran vorbeigefahren, gemäß den aufeinander zu zeigenden Kegeln oben auf der Boje. Weil es aber schon fast dunkel war, erkannten wir die Boje nur an ihrem Licht, das auf der Karte als VQ (9)10s gekennzeichnet war. Das bedeutet, dass sie alle zehn Sekunden neun kurze Lichtsignale aussendet. Es war schwer zu sehen, wie weit sie entfernt war, aber allem Anschein nach ziemlich weit steuerbord.

Wir segelten langsam durch das zähe Wasser, das Licht der Boje kam mit jeder Blitzsequenz näher. Diese Lichtstrahlen blieben aber nicht, wie wir angesichts der uns vorwärts tragenden Strömung erwartet hätten, steuerbord hinter uns zurück, sondern standen uns in gleichbleibender Entfernung vor Augen. Alle zehn Sekunden wurden sie heller und größer, und sie blieben stur an derselben Stelle vor unserem Bug. Langsam dämmerte uns, was da geschah. Unser Boot glitt zur Seite, während wir vorwärtssegelten. Die Strömung brachte uns nicht in den Kanal, sie drängte uns ostwärts, auf die unter der Wasseroberfläche lauernden Felsen zu. Wir bewegten uns mit Absicht vorwärts und unabsichtlich seitwärts und im Ergebnis auf Kollisionskurs auf die Boje. Wir kamen allerdings kaum voran. Es wirkte so, als wäre die Boje viel schneller, und das begriffen wir auf einmal, denn wir hörten ihre »Bugwelle« näher kommen.

Vom Land aus hatte ich oft beobachtet, wie die Strömungen des Solent an den küstennahen Bojen zerrten, deren auf dem Meeresgrund verankerte Vertäuungen sie kaum festhalten konnten. Zwischen all dem Schaum wirkten sie wie hastige Fähren. Oft hörte ich, wenn es abends stürmte, beim Einschlafen den fernen Glockenton einer wellenumspülten Boje, obwohl sie eine ganze Meile weit entfernt war. Erbarmungslos wechselten die Gezeiten einander circa alle sechs Stunden ab, und all die Bojen pendelten wieder zurück. Kurz vor oder nach dem Gezeitenwechsel, beim sogenannten Stauwasser, lagen sie still und schwer im Wasser, als könnte keine Macht der Erde sie in so hektische Bewegung versetzen. Zweifellos würde die Bridge-Boje in ein oder zwei Stunden ebenfalls zur Ruhe kommen. Aber das nützte uns nichts.

Um gegen die Strömung anzukommen, setzten wir hektisch einen neuen Kurs, mein Vater stieß die Pinne um, wir anderen trimmten die Segel in der Hoffnung, uns enger an den Wind zu legen und die Boje zu überholen. Es funktionierte nicht. Noch immer hielt unser armes Holzboot auf sechs Tonnen Trinity-House-Stahl zu. Die nächste, »sehr schnelle« Lichtsequenz wirkte umso bedrohlicher. Mir wurde plötzlich klar, dass wir nicht auf der richtigen Seite vorbeikamen. Das Boot würde einfach zum Stillstand kommen. Wir wären völlig machtlos. Instinktiv griff ich nach der Pinne und zog sie entschieden luvwärts, sodass das Boot sich aus dem Wind drehte und wir auf der »falschen« Seite ganz knapp an der Boje vorbeischossen.

Weil wir in unserem Übermut dachten, dass man auf einem Schiff ein Logbuch führen muss, hatte einer von uns noch auf der kleinsten Exkursion alle Einzelheiten festgehalten: Wetterverhältnisse, Abfahrts- und Ankunftszeiten und so weiter. Manchmal war es etwas Aussagekräftiges wie die Geschwindigkeit, die wir in einem bestimmten Wind erreichten, indem wir dieses statt jenes Segel setzten, oder Informationen über die Anlegeplätze in einem unvertrauten Hafen. So mancher Messwert hatte damit zu tun, wie wir unter Motor möglichst schnell sein konnten. Wir notierten Propellersteigungen und Umdrehungszahlen, mit denen wir möglichst nah an die ersehnten vier Knoten kamen, die offenbar eine Art Höchstgeschwindigkeit waren. All das zeigte, dass wir irgendwie schon wussten, wie schnell die Strömung hier sein konnte und dass wir ihr unter Umständen hilflos ausgeliefert sein würden.

Über das Drama jener Septembernacht steht im Logbuch fast nichts. Eine Fahrt von 52,77 nautischen Meilen findet sich dort festgehalten, was fast dem Doppelten der eigentlichen Distanz entspricht. Wir hatten also einen Großteil der Fahrt mit einem langsamen Kampf gegen die Strömung zugebracht, die unserem Fortkommen eher im Weg stand, als ihm zu nützen. »Fast ganz dunkel«, steht unter 20.00 Uhr. »Beinahezusammenstoß mit Bridge-Boje aufgrund des Gezeitensinns, während wir uns an den Richtfeuern von Hurst orientierten.« Zwischen den Zeilen steht: Mit unserer Unerfahrenheit oder Unfähigkeit hatte das alles natürlich gar nichts zu tun! Wir taten schon das Richtige, indem wir uns an den Lichtsignalen orientierten. Der »Gezeitensinn« war schuld! Die Gezeiten, jene unberechenbare, bösartige, weltbewegende Macht …

 

Dies ist kein Buch über das Meer. Es geht nicht um Mast und Skorbut, Walfänger und Piraten, Schiffszwieback und Rum. Niemand kämpft hier gegen Hurrikane und Taifune. Es geht nicht um Männer, deren Schicksal es ist, ihr Leben lang über die Ozeane zu segeln, und auch nicht um Meerjungfrauen, die sie verführen. Es geht nicht um die tiefsten Tiefen und die oft eigenartigen Gründe, aus denen der Mensch die Auseinandersetzung mit ihnen sucht.

Und doch ist dies ein Buch über das Meer. Es geht um das Meer, das wir alle kennen: den Strand, die Küste, die letzten Ausläufer und Vorposten des Festlands. Das Meer, das wir im Urlaub aufsuchen und das wir doch kaum verstehen. Das Meer, auf dem wir uns vorsichtig bewegen und das uns auf geheimnisvolle Art und Weise körperlich und seelisch bewegt.

Die Gezeiten sind kompliziert, und manche meinen, dass die Mathematik sie am elegantesten erkläre. Aber auch wenn man die Symbole und Gleichungen nachvollziehen kann, spürt man in ihnen nicht das Auf und Ab der Meere und die Macht, die die Gezeiten über menschliche Vorstöße auf dem Meer haben. Die Gezeiten sind stärker als ein kleines Boot auf hoher See, aber manchmal auch stärker als unsere Wahrnehmung und unser Denkvermögen. Wer von Bord eines landnah in einem Gezeitengewässer vor Anker liegenden Bootes seinen Blick schweifen lässt, setzt sich eindringlichen Halluzinationen aus. Denn während die Strömung stark in die eine oder andere Richtung wirkt, scheint das Boot die Wellen ganz aktiv zu zerteilen, obwohl unser Verstand doch weiß, dass es sich gar nicht fortbewegt. Der Eindruck ist stark und verwirrend, und Lichteffekte auf dem strömenden Wasser oder das rhythmische Schaukeln des Bootes oder Hunger und Durst verstärken die hypnotische Wirkung noch. Wir blinzeln, um nüchtern zu werden, aber wenn wir die Augen wieder aufmachen, ist der Eindruck noch da: Ganz bestimmt bewegt sich das Boot vorwärts, einschließlich der Ankerkette, an der das Meer so beharrlich arbeitet wie ein Narwal mit seinem Stoßzahn.

Irgendwann stellt sich unser Gehirn auf das Trugbild ein. Zwischen all den funkelnden kleinen Wellen denkt es, dass das Wasser stillsteht und wir und das Boot und das ferne Land auf ein gemeinsames Ziel zurasen. Die Wasseroberfläche mag glatt wie Glas sein oder von der Strömung ganz leicht in Bewegung gebracht oder so aufgewühlt, wie wenn der Wind gegen die Strömung anweht und die Spannung zwischen Luft und Wasser kurze, steile Wellen aufwirft. Egal. Wir haben weiterhin den Eindruck, dass das Wasser eigentlich stillsteht. Welche riesige Macht könnte auch solche Wassermassen hin und her bewegen, ohne dass man irgendwo sieht, wie einer sich anstrengt?

Wir lernen natürlich in der Schule, dass der Mond und seine Gravitationskraft daran schuld sind, und als Erwachsene sind wir mit dieser Information zufrieden. Wir haken die Gravitation einfach ab und staunen allenfalls über moderne Verrücktheiten wie dunkle Materie oder die Quantentheorie. Aber die gigantische, unsichtbare Gravitationskraft erscheint uns dann doch sehr eigenartig, wenn wir einmal darüber nachdenken. In Ebbe und Flut haben wir einen sichtbaren, nassen und unbezweifelbaren Ausdruck dieser eigenartigen Kraft vor uns.

Bevor die Wissenschaft sich ihrer annahm, haben Mythen und Geschichten sie schon auf ihre Art verstanden. Schon weil die Gezeiten Seeleute wirklich in den Tod reißen, sind die Geschichten von Sirenen und die Tentakel von Kraken so spannend. Das Meer ist auf die Mithilfe böswilliger Kreaturen nicht angewiesen. Ungebildete Seeleute haben sie erfunden, weil sie eine glaubwürdige Geschichte erzählen mussten, damit keiner dachte, dass etwas so Banales und Berechenbares wie die Gezeiten einen Menschen umbringen könnten. Die fabelhaften Seeungeheuer auf den Rändern früher Weltumseglerkarten könnten doch unbekannte Tiefseefische sein, die die Gezeiten ans Licht gebracht haben, und die Gezeitenwellen mancher Flüsse haben ihnen den Namen eines Gottes oder Monsters eingetragen.

Die Wissenschaft hat inzwischen manches erklärt, aber die Geschichten leben weiter. Naturwissenschaftler beschäftigen sich mit den Geheimnissen der Ozeane, aber sie stehen noch ganz am Anfang: Die Meereskunde ist eine der jüngsten Wissenschaften, und ihr Arbeitsgebiet ist riesig. Auch bedeutet eine solche Beschäftigung nicht, dass wir die Meere zähmen. Theoretisch können wir die Gezeiten sehr genau vorhersagen, und zwar noch viel genauer, als wir sie je erfahren werden, denn in unser eigenes Erleben spielt noch vieles andere hinein. Warum sind wir also so besessen von der Präzision? Vielleicht weil die Gezeiten ein so gutes Beispiel für ein komplexes Problem sind, das eine genaue Lösung zu haben scheint. Wir kennen alle Teile, jetzt müssen wir nur noch das Ganze ausrechnen. Die Gezeiten sind eine unwiderstehliche mathematische Herausforderung, und wohl deshalb haben sie über Jahrhunderte hinweg die besten Physiker und Astronomen fasziniert. Aber auch aus praktischen Gründen gibt es einen Bedarf an Antworten, der über die Bedürfnisse von Seeleuten und Fischern hinausgeht, und diese Antworten sind für unser aller Zukunft relevant.

Dass es noch kein allgemein verständliches Buch über die Erforschung der Gezeiten gibt, hat seinen Grund. Das Thema wächst sehr schnell über das hinaus, was die Sprache erfassen kann. Die wenigen diesbezüglichen Bemerkungen in einem Exkursionsführer für die Salzmarschen Neuenglands tragen die trockene Überschrift: »Eine vielleicht für dieses Buch unnötig detaillierte Darstellung der Gezeiten«. Ich kann mir vorstellen, was der Autor durchgemacht hat. Mit ihren schönen und vielseitigen Gleichungen können Naturwissenschaftler effektiv arbeiten. In Ihrem und in meinem eigenen Interesse gehe ich aber einen anderen Weg.

Ich werde versuchen, die Geschichte der Gezeitenforschung von den Anfängen bis heute in Geschichten zu erzählen. Die Reise führt mich von den frühsten wissenschaftlichen Projekten des Aristoteles, der sich in die Wellen gestürzt haben soll, weil ihm die griechischen Gezeiten ein Rätsel blieben, über die faktenreicheren Untersuchungen von Galilei und Newton bis zu einem naturwissenschaftlichen Forschungsstand, der uns heute jene so genaue Voraussage der Gezeiten erlaubt, die über die Bedürfnisse von Seeleuten hinausgeht und die Auswirkungen unseres eigenen Handelns auf den so wasserreichen Planeten Erde sichtbar macht. Unterwegs legen wir auch in weniger bekannten Häfen an und lernen die Beiträge kennen, die zum Beispiel Beda der Ehrwürdige oder Thomas von Aquin zum Verständnis der Gezeiten geleistet haben. Beide waren nicht in erster Linie Wissenschaftler, konnten sich dem kosmischen Rätsel der Gezeiten aber auch nicht entziehen.

Den wissenschaftlichen Teil meiner Erzählung habe ich um zwei weitere ergänzt: einerseits um historische, künstlerische oder gänzlich fiktive Ereignisse, für die die Gezeiten eine wichtige Rolle spielen, andererseits um meine eigene Suche nach Orten, die von den Gezeiten geschaffen wurden. Durch diese beiden Aspekte will ich Ihnen zeigen, dass die Gezeiten nicht nur eine Herausforderung für die Wissenschaft sind, sondern auch eine physische und psychologische Macht ausüben, die aus unserer Kultur nicht wegzudenken ist. Die Gezeiten haben Schlachten beeinflusst und Dichter und Künstler inspiriert und tun dies bis auf den heutigen Tag.

Ich weiche manchmal von der Chronologie ab, um thematische Querverbindungen aufzeigen zu können. Was ich aus wissenschaftlicher Perspektive sage, ist hoffentlich leicht zu verstehen, ohne eine unzulässige Vereinfachung darzustellen. Dies ist kein Schulbuch, sondern ein Buch der Reisen und Geschichten. Ich würde mich freuen, wenn Sie seinen Rhythmen folgen könnten. Gegen die Gezeiten sollte man sich nicht auflehnen.

 

Was ist älter, die Zeit oder die Gezeiten? Da gibt es keine klare Antwort. Beide Wörter haben ähnliche Wurzeln. Tide und Zeit sind phonetisch miteinander verwandt. Im Englischen hatte tide früher nicht unbedingt etwas mit dem Meer zu tun, eher mit wichtigen Zeitpunkten oder Zeiträumen, und einige etwas altertümliche Bezeichnungen haben sich im kirchlichen Kalender gehalten: Whitsuntide ist im gehobenen Wortschatz Pfingsten (das man auch »Whitsun« nennen kann). Das altenglische heahtid ist »Hoch-Zeit« im Sinne eines Feiertags. Für alle, die am Meer leben und deren Schicksal vom Meer abhängt, hatte tide aber immer mit Hoch- und Niedrigwasser zu tun.

Im Englischen bezeichnet tide wohl erst seit dem 14. Jahrhundert die Gezeiten. Damals ergänzte dieser mittelalterliche Neologismus die aus dem Altnordischen und Urgermanischen stammenden Wörter ebba und flod, Ebbe und Flut, die wahrscheinlich sogar indogermanische Wurzeln haben. Flut ist im engeren Sinne das auflaufende Wasser. Die weitere Bedeutung »gefährlich hoher Wasserstand« steht nicht im Widerspruch dazu, auch wenn das hohe Wasser nicht unbedingt vom Meer stammen muss. Ebbe ist das ablaufende Wasser. Bis ins 15. Jahrhundert zurück gehen die übertragenen Bedeutungen von Ebbe und Flut, beispielsweise flood of tears (Tränenflut) und das ebbing als Schwinden von Möglichkeiten.

Jonathan Raban spekuliert in seinem gezeitenreichen Abenteuerbuch Passage nach Juneau, dass der Mensch mit der Erfindung des Kompasses auf die kühne Idee kam, das Meer auf einer geraden Linie zu überqueren. Darauf weisen mittelalterliche Portolankarten hin, deren Routen von Dutzenden kerzengeraden Loxodromen – das sind Kurven auf der Erdoberfläche, die die Meridiane im geographischen Koordinatensystem immer unter dem gleichen Winkel schneiden – gekreuzt werden. Ein eher naturverbundener Segler versuchte dagegen vielleicht, die Strömung unter dem Bug zu erspüren und zu seinem Vorteil auszunutzen, ohne sich darum zu kümmern, wie sein Kurs auf einer Karte aussehen würde. Womöglich war es auch erst die Uhr, mit deren Erfindung das abstrakte Konzept der »Zeit« die viel greifbareren Gezeiten als Orientierungsmaßstab ablöste.

In unserem Wortschatz gibt es noch einige Spuren aus jenen Tagen, da die Technik Zeit und Gezeiten noch nicht voneinander getrennt hatte. In der englischen Umgangssprache bedeutet »someone will tide me over«, dass jemand mich eine Zeitlang unterstützt, meistens finanziell. Die Formulierung hat einen nautischen Ursprung: »Tide over« hieß, hohe Wasserstände auszunutzen, um ein Boot über Sandbänke oder andere seichte Stellen zu steuern, die sonst nicht passierbar waren.

Weil die beiden Wörter so ähnlich klingen und auch inhaltlich zusammengehören, werden time und tide oft verbunden. »Time and tide wait for no man«, heißt es, Zeit und Gezeiten warten auf keinen. Das klingt nach Shakespeare oder Chaucer, ist aber noch älter und stammt wahrscheinlich aus dem 13. Jahrhundert, von einem gewissen Sankt Marher, über den man kaum etwas weiß. Der Satz ist wahr und auch wieder nicht wahr. Zwar folgen Zeit und Gezeiten himmlischen Gesetzen und stehen nicht in menschlicher Macht. Doch vergeht die Zeit ein für alle Mal, während das Wasser stets wieder zurückkehrt. Die Zeit vergeht kontinuierlich, sie ist der Hintergrund allen Geschehens. Die Gezeiten ereignen sich innerhalb der Zeit.

Die Art und Weise, wie Zeit und Gezeiten nicht auf uns warten, ist also jeweils eine andere. Wenn wir eine Verabredung verpassen, weil die Zeit nicht auf uns wartet, haben wir vielleicht keine zweite Chance. Wenn wir einmal die Flut verpasst haben, ist uns ebenfalls etwas entgangen, aber wir wissen, dass wir dieselbe oder jedenfalls eine sehr ähnliche Möglichkeit bald wieder haben werden.

Es gibt auch andere wichtige Unterschiede. Der Zeitstrahl ist schwerelos, während hinter den Gezeiten gigantische Kräfte stehen. Wir können ihren Fluss spüren. Wenn wir in den Wellen stehen, bricht sich das steigende Wasser an uns. Die Ebbe zieht an unseren Waden oder Knöcheln. In solchen Augenblicken vergessen wir, dass die Gezeiten zyklische Prozesse sind, deren Bewegungen sich in immer neuer Gestalt endlos wiederholen. Dass wir das einzelne Ereignis an unseren Körpern spüren, schlägt sich in der Sprache nieder. Wir sprechen von Gezeiten und Ebbe und Flut auch in vielen anderen Zusammenhängen.

Dass zum auflaufenden Wasser die günstige Gelegenheit gehören kann, formuliert Brutus am Vorabend der Schlacht bei Philippi in Shakespeares Julius Cäsar:

 

Der Strom der menschlichen Geschäfte wechselt;

Nimmt man die Flut wahr, führet sie zum Glück;

Versäumt man sie, so muss die ganze Reise

Des Lebens sich durch Not und Klippen winden.

Wir sind nun flott auf solcher hohen See

Und müssen, wenn der Strom uns hebt, ihn nutzen;

Wo nicht, geht unser schwimmend Gut verloren.

 

Wenn die Wasser hoch genug sind, kann unsere Entdeckungsreise beginnen – die manchmal auch eine Reise zu uns selbst ist.

 

Mit der Ebbe ist dagegen eine besondere Traurigkeit verbunden, eine körperliche Leere, die in eine geistige mündet, weil wir instinktiv den Verlust von Wasser mit einer Gefahr für das Leben verbinden. Das Wasser »macht sich davon«, und der Vorgang ist so einfach und verzweifelt wie die Formulierung. Seinem Schicksal folgend, lässt das Wasser eine Ödnis aus Sand oder Schlick zurück.

Mit der Ebbe entzieht sich das Leben mit seinen reichen Möglichkeiten. So scheint es jedenfalls. Die Natur sieht es aber anders. Ihren größten Reichtum finden wir oft in den Grenzbereichen zweier Lebensräume. Vögel nisten gern in Hecken, nicht auf offenem Feld oder mitten im Wald. Amphibien lieben die Randzonen von Gewässern, nicht die Tiefe oder die trockene Erde. An den Rändern hat man die Auswahl – Nahrung auf der einen, Rückzugsräume auf der anderen Seite zum Beispiel. Und wo sich diese Ränder stets verschieben, wie in der Gezeitenzone des glänzenden Landes zwischen Hoch- und Niedrigwasserlinien, wird das Angebot immer wieder aufgefüllt. Innerhalb der Gezeitenzone, deren Streifen auf einer Länge von über einer Million Kilometern die Kontinente umflattert (genau lässt sich das kaum messen), liegen einige der Gegenden mit der weltweit größten Artenvielfalt. Hier »kriecht und krabbelt es so verrückt wie nirgends sonst«, wie es im Musical Pipe Dream von Rodgers und Hammerstein II heißt, dem wohl einzigen Musical, in dem ein Meeresbiologe im Mittelpunkt steht. Es geht auf John Steinbecks Roman Sweet Thursday (Wonniger Donnerstag) zurück.

Auflaufendes und ablaufendes Wasser füllt die Regale der Kontinente zweimal täglich so effizient auf, wie es keine Supermarktkette vermag. Die Natur ist darauf angelegt, Energie zu sparen. Alle Lebewesen wollen sich durchschlagen und sich vermehren, sich dabei aber möglichst wenig anstrengen. Die einen fahren per Anhalter, die anderen warten den Lieferservice ab. Das begünstigen die Gezeiten. Sie stellen jede Menge Energie zur Verfügung, und Tiere und Pflanzen können sie nutzen, wenn sie sich auf ihren Fahrplan einstellen.

In diesem Buch geht es um die Entdeckung und Erforschung kosmischer Gesetze, denen unser Planet unterworfen ist. Es geht aber auch um Orte. Auf der unendlichen Küstenlinie aller Kontinente gibt es viele Stellen, an denen die unwiderstehliche Macht der Gezeiten und die unbewegliche Masse der Erde gemeinsam am Werk sind und natürliche Häfen, Flussmündungen, Meeresarme und Fjorde, Landengen und Felsvorsprünge schaffen, deren besondere Form sich den Bildhauerkünsten der Gezeiten verdankt.

Für die Seeleute halten die Gezeiten auch Orte des Schreckens bereit: Strudel und Gezeitenströme und Widerwellen, hier einen riesigen Tidenhub und dort, weit draußen auf dem Meer, inmitten großer Gezeitenbewegungen, stille Stellen, an denen das Wasser weder steigt noch sinkt. In den Atlanten der Landratten tauchen sie nicht auf, nur auf manchen Seekarten finden wir sie. Es sind Orte, und es sind Spektakel. Sie finden zu ganz bestimmten Zeitpunkten statt, und nur, wenn den Schauspielern danach ist. Einmal kommt es zu dramatischen Strudeln oder Gezeitenwellen, und bei der nächsten, genauso hohen Flut bleiben sie aus, weil irgendwelche Umstände sich geändert haben.

So außergewöhnliche Gewaltausbrüche ereignen sich meist dort, wo die Gezeiten durch die besondere Gestalt des Meeresbodens oder der Küstenlinie stark beeinflusst werden. Dies mag am Äquator oder an den Polen, in stürmischer oder ruhiger See, in der Nähe großer Küstenstädte oder in abgelegenen Regionen der Fall sein. Ich bin nach Nova Scotia in Kanada gefahren, wo es die größten Gezeitenunterschiede überhaupt gibt, hätte aber auch nach Argentinien oder Nordwestaustralien fahren können. In der norwegischen Arktis habe ich beobachtet, wie das Wasser erschreckend schnell ansteigt, aber auch in Japan oder der Magellanstraße oder der Bucht von Vancouver hätte ich das erleben können. Auf den genauen Ort kommt es nicht an. Etwas Ähnliches gibt es an jeder Küste eines jeden Ozeans.

Eigentlich könnte ich in meiner Heimat bleiben. Die Küsten der Britischen Inseln werden von den Gezeiten mit einem weltweit fast einmaligen Nachdruck bearbeitet. Wohl kein Land kann mit der Geschwindigkeit und den Höhenunterschieden des Gezeitenwassers mithalten, das man in Großbritannien beobachten kann. Wie wirkt sich das aus? Es wird mehr angespült und mehr weggespült und beschädigt, es gibt mehr Erosion, mehr Sedimente, mehr Leben, mehr Tod. Wir halten uns gern für eine Seefahrernation, aber wir wissen erschreckend wenig darüber, was an unseren Küsten vor sich geht.

Die flüchtigen Wirkungsstätten der Gezeiten hinterlassen keine Narben oder Spuren, die uns wie berühmte Straßen oder Berggipfel zum Nachdenken anregen. Wir können sie uns nur anschauen und von ihnen berichten. Daher widme ich mich nicht nur der wissenschaftlichen Forschung, sondern erzähle auch fantastische Geschichten und berichte von meinen eigenen Reisen.

Wenn eine einzelne Ebbe oder Flut das Gesicht eines Ortes prägen kann, ergibt ein ganzer Gezeitenzyklus eine Lebenslinie. Wenn ich von einem Ort an der Küste aus die Gezeiten beobachte, müsste ich mich erst wie von Zauberhand in ein neues Land versetzt und dann wieder in meine Heimat zurücktransportiert fühlen. Ich müsste mich fragen, ob ich meinen Augen trauen kann.

Das will ich versuchen. Ich kenne die Küste bei Ebbe und bei Flut. Ich habe mir die äußersten Punkte des Gezeitenzyklus schon zunutze gemacht: Bei hohem Wasser bin ich in seichten Gewässern gesegelt, bei niedrigem habe ich Gezeitentümpel bestaunt. Ich habe aber noch nie einen ganzen Zyklus verfolgt. Ich habe noch nie genau gesehen, wie sich die Gezeiten bewegen. Vielleicht kann ich einen mystischen Einklang zwischen ihnen und mir herstellen, sie danach vielleicht besser wissenschaftlich und theoretisch analysieren. Meine Fragen will ich aber aus persönlicher Erfahrung ableiten, erst dann soll die Suche nach Antworten beginnen.

Nehmen wir also unsere Plätze ein. Das große Meeresspektakel beginnt in Kürze. Die Vorstellung dauert ungefähr zwölf Stunden und dreißig Minuten.