Zwanzig Jahre war Willi Weber der Manager von Michael Schumacher. Er hat ihn entdeckt, gefördert und zum Rekordweltmeister gemacht. Doch bis Weber sein Vermögen in das junge Rennfahrertalent stecken konnte, kassierte er so manche verrückte Niederlage. Hier schreibt er über seine einzigartige Karriere vom Losverkäufer und Cognac-Vertreter zum millionenschweren Unternehmer. Und er erzählt von zwei Träumern – einem grünen Jungen aus Kerpen und einem Gastronom aus Regensburg –, die zusammen zum erfolgreichsten Formel-1-Gespann der Welt aufstiegen.
Willi Weber, geboren 1942 in Regensburg, ist Sportmanager und Unternehmer. Er betrieb einen Autohandel, baute einen Rennstall auf und war erfolgreicher Gastronom. Zu seinen bekanntesten Mandanten zählten neben Michael Schumacher auch dessen Bruder Ralf, Timo Scheider, Jutta Kleinschmidt, Nico Hülkenberg und das Model Naomi Campbell. Er lebt mit seiner Familie in Stuttgart.
BENZIN
IM BLUT
Die Auto-Biografie eines Visionärs
Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen
Originalausgabe
Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Dr. Matthias Auer, Bodman-Ludwigshafen
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Einband-/Umschlagmotiv: © Uwe Martin / glampool
eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf
ISBN 978-3-7517-1607-9
luebbe.de
lesejury.de
Dieses Buch sind meine Erinnerungen. Gut möglich, dass andere die hier geschilderten Begebenheiten anders erinnern. Das liegt in der Natur der Sache. Aber ich bin niemandem böse, dass er kein so gutes Gedächtnis besitzt wie ich.
An einigen Stellen habe ich die Ereignisse aus dramaturgischen Gründen gestrafft. Wer will schon tausend Seiten lesen? Wo es mir ratsam erschien, habe ich auch Namen verfremdet. Es war mir ein Anliegen, jede der handelnden Personen im bestmöglichen Licht dastehen zu lassen. Oder, sagen wir mal, fast jede. Dem einen oder anderen Deppen verhelfe ich in diesem Buch zu ein bisschen Berühmtheit. Ich sage immer: Dumm wird man nicht, dumm bleibt man. Es trifft, das verspreche ich Ihnen, die Richtigen.
Sollte mir trotz aller Akribie irgendwo ein Fehler unterlaufen sein, bitte ich schon jetzt um Nachsicht!
Ich bin zarte achtundsiebzig. Und kein bisschen weise.
Für meine Familie und für alle, die mich
mit Rat und Tat unterstützt haben
Ich schreibe dieses Buch, um ein paar Dinge richtigzustellen.
Geld macht glücklich, denn es macht dich frei. Punkt. Alles andere ist eine Lüge.
Dabei ist Geld nie meine Motivation gewesen. Ich war immer süchtig nach Erfolg. Der Rest kam quasi von selbst. Heute bin ich das, was andere Menschen als wohlhabend bezeichnen, und in meiner Garage steht all das, wovon kleine und große Jungs träumen. Ich bin ein Sehnsuchtsgetriebener.
Meine Karriere, die viele als einmalig bezeichnen, kann ich, wenn ich das möchte, auf ein paar Sätze verdichten: Ich bin metertief durch Scheiße gewatet. Habe sehr vielen berühmten Arschlöchern die Hand geschüttelt. Und dabei nie mein Ziel aus den Augen verloren: mich zu beweisen.
All das hat mich zum Erfolg geführt. Aber auch sehr hart werden lassen, was ich sehr bedauere. Ich bin ein Paradebeispiel dafür, was es mit dir macht, wenn du zu Gast bist in arabischen Palästen wie aus Tausendundeine Nacht und dir alle Wünsche erfüllen kannst.
Für all diejenigen, denen ich wehgetan habe auf meinem Weg nach ganz oben, ist dieses Buch.
Ich möchte zeigen, wer ich wirklich bin. Möchte den Menschen zu Wort kommen lassen hinter dem erfolgreichen Manager.
Ich war Kellner, Chauffeur, Obdachloser, Losverkäufer, Barkeeper, Cognac-Vertreter, habe im Teppichladen gearbeitet, eine Oben-ohne-Bar besessen und einen Autohandel betrieben. War bankrott und bin auferstanden von den Toten mit Schweinshaxen und Klosterbier. Mein Hobby, meine Leidenschaft sind schnelle Autos, sie brachten mich in die Formel 1, lange bevor ich Michael Schumacher traf.
Dies ist meine Auto-Biografie.
Michael war und ist mein bester Freund. Mit ihm hatte ich die schönste und intensivste Zeit meines Lebens.
Es ist mir ein Anliegen zu zeigen, wer dieser Michael Schumacher, mit dem ich zwanzig Jahre meines Lebens in eheähnlichen Verhältnissen verbracht habe, wirklich war. Seiten von ihm zu beleuchten, die noch nie beleuchtet worden sind. Damit die Menschen, die Fans, ihn sehen können, wie ich ihn gesehen habe. Das Jahrhunderttalent mit dem angeborenen Popometer, der ein Auto fühlte, wenn er sich reinsetzte – und zwanzig Jeans derselben Farbe kaufte.
Dennoch, dies ist kein Michael-Schumacher-Buch.
Dies ist ein Buch über das Schicksal.
Über zwei Träumer – einen grünen Jungen aus Kerpen und einen Gastronomen aus Regensburg –, die zusammen zum erfolgreichsten Formel-1-Gespann der Welt aufstiegen. Was wäre der eine ohne den anderen? Bitte urteilen Sie selbst.
Ihr Willi Weber
Salzburgring
August 1988
Es gibt da diese uralte Volksweisheit. Praktischerweise habe ich sie selber erfunden: Zeig mir deine Frisur, und ich sag dir, was dein Problem ist!
Der Milchbubi, der an diesem Morgen die Stufen zu meinem Motorhome hochgesprungen kommt, hat auf jeden Fall seinen ganz eigenen Kopf. Ich würde sagen: eher unfreiwillig.
Diese Frisur! Diese Tolle! Dieser Seitenscheitel! Aus der Entfernung würde er glatt als schlecht gefönte Prinzessin Diana durchgehen.
Und dieses Oberlippenbärtchen! Fast könnte man meinen, er habe das Dingelchen irgendwo abgeschnitten und auf die Oberlippe geklebt – so spärlich sprießt es da unter seiner Nase.
Ich kann gar nicht glauben, dass dies der Mann sein soll, der eben mit dieser unglaublichen Präzision gefahren ist, dem der Ruf vorauseilt, jedes Kart-Rennen zu gewinnen.
Ich habe ihn mir vorgestellt als Helden. Als eine Art Wiedergeburt von Prinz Eisenherz. Beziehungsweise wie Robert Wagner, der Typ, der ihn in den Fünfzigern spielte. Die Szene, in der Eisenherz den schwarzen Ritter niederringt? Einfach nur klasse.
»DU bist der Schumacher?«, platzt es aus mir heraus.
Zu meiner Ehrenrettung muss ich gestehen: Bislang habe ich ihn ja nur mit Helm auf dem Kopf gesehen. Wenn wir zukünftig unter vier Augen sprechen würden, sollte er ihn vielleicht einfach aufbehalten.
Der Schlacks schaut irritiert auf meinen Finger. »Doch. Ja. Schon …«
Für einen Augenblick herrscht betretenes Schweigen. Dann nickt er und wiederholt: »Doch, doch. Das bin ich. Ich bin der Michael Schumacher.«
Okay.
Was soll man da sagen? Stevie Wonder ist blind und trifft trotzdem jeden Ton. Das hier ist kein Catwalk. Man kann nicht alles haben. Die Hauptsache ist, dass der Junge weiter so begnadet Auto fährt.
Und wenn ich’s mir recht überlege: Was Eisenherz damals auf dem Kopf trug, das war auch keine Frisur. Das war ein Verbrechen …
Regensburg
März 1942
Vielleicht sollte ich mich mal kurz vorstellen.
Wilhelm Friedrich Weber mein Name. Am 11. März 1942, einem ziemlich kalten Weltkriegsmittwoch, komme ich in einem Regensburger Krankenhaus auf die Welt. Auch wenn es von dem feierlichen Moment, dem Stand der Technik geschuldet, keinen Handymitschnitt gibt, bin ich mir ziemlich sicher, dass ich bei meiner Geburt lauter schreie als meine Mutter Anna. Die ist nämlich in der Familie Weber eher fürs Schweigen zuständig. Das kann sie so eisig und andauernd, dass man Gefrierbrand bekommt. Fragen Sie mal meinen Vater.
Auf der Akropolis weht die Hakenkreuzflagge, die Japaner haben gerade Pearl Harbor überfallen, demnächst werden deutsche Soldaten in Stalingrad ihre Schuhsohlen essen. Doch von alledem bekomme ich daheim in meiner Wiege nichts mit. Aus dem braunen Telefunkenradio singt wunderschön mit leisem Knistern und Knacken Zarah Leander: »Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen.«
Für mich läuft’s. Trotzdem oder weil mein Leben sogleich mit einer kleinen Lüge beginnt. Nun ist Lüge natürlich ein hartes Wort für so einen süßen Fratz wie mich, zu diesem Zeitpunkt gerade mal ein paar Buchseiten alt. Aber warum lange drum rumreden? In bin gar nicht am elften geboren. Sondern am Freitag, dem dreizehnten. Aber meine Mutter greift der Astrologie in die Speichen, indem sie meine Geburtsurkunde einer kleinen Schönheitsoperation unterzieht, kaum dass wir zwei zu Hause sind. Die Drei übermalt sie mit einer Eins, und fortan bin ich laut Pass zwei Tage älter, als es meinem wahren biologischen Alter entspricht. Und wissen Sie was? Zeitlebens werde ich darauf angesprochen werden, dass ich mindestens zwei Tage älter aussehe.
Um mich herum sind alle mit dem Zweiten Weltkrieg beschäftigt. Meinen Onkel Heini hat eine Tretmine erwischt. Seither hat er keine Arme mehr und nur noch ein Auge. Ich versuche immer, auf seinen Schoß zu krabbeln, um seine beiden Holzprothesen zu streicheln, die mich sehr faszinieren.
Als ich achtzehn Monate alt bin, regnet es eintausend amerikanische Spreng- und Brandbomben vom Regensburger Himmel. Und ich werde zusammen mit Opa Johannes in ein Steinhäuschen nach Furth im Wald umgesiedelt, das viel zu klein ist, als dass sich ein Alliierten-Flieger dafür interessieren würde.
Opa ist ein prächtiger Mann mit Schnurrbart, den ich anhimmle. Den Mann, nicht den Schnurrbart. Wir essen sehr viel Pilze. Pilze in Soße. Soße mit Pilzen. Suppe mit Pilzen. Pilze in Suppe. Viele Jahrzehnte später werden Menschen sehr viel Geld dafür bezahlen, sich genauso mies zu ernähren wie wir damals. Sie nennen es Detox. Ich kenne es unter dem Begriff »Hunger«. Wahrscheinlich ist es das einzig Gute, was Krieg hinkriegt: no Fleisch, no Gicht. Man muss die Dinge immer mit Humor nehmen.
Opas Garten ist ein Paradies: Apfelbäume, Kirschen, Quitten, Pflaumen. Sogar eine waschechte Garten-Eden-mäßige Giftschlange kriecht dort durch die Johannisbeerbüsche. Die mache ich mir – früh übt sich der Manager – mit einer Schale Milch untertan. Und ich sammle erste Erfahrung in Personalführung. Ich muss nämlich immer in den Hühnerstall, Eier holen. Und mache so notgedrungen Bekanntschaft mit einer Spezies, die mir später in der Formel 1 noch recht oft über den Weg flattern wird: gackernde doofe Hühner.
Jeder Krieg geht mal vorbei. Opa und ich kehren zurück nach Regensburg. Wir beziehen Quartier in unserer alten Etagenwohnung, die den Krieg ohne Blessuren überstanden hat. Schon wieder so ein Wunder. Tatsächlich ist bis auf ein paar Risse in der Wand und auf die Pappe vor den Fenstern alles beim Alten. Ganz anders unsere Nachbarn: Zwei von vier Familien sind in den Himmel umgezogen. Auch Papa hat eine neue Adresse: Der wohnt jetzt in einem russischen Kriegsgefangenenlager.
Und von einem Nachmittag auf den anderen ist mein Leben nicht mehr das, was es mal war. Es sind nicht die verkohlten Dachstühle, die in den blauen Oberpfälzer Himmel aufragen wie die Gräten von Riesenfischen. Nicht die zerborstenen Brücken über die Donau. Und auch nicht die Kriegsheimkehrer an Krücken, die in einem fort zittern, obgleich es nicht kalt ist. Ich bin zu jung, um irgendwas komisch zu finden. Und auch nicht die Sorte Kind, das schlecht schläft, weil aus dem Lieblingskaninchen ein paar Handschuhe geworden sind. Ich bin hart im Nehmen. Mehr von meiner Sorte und die Psychiater dieser Welt müssten in Therapie, weil ihre Patienten sie krank machen.
Nein. Es ist ein Spielzeugauto. Feuerrotes Blech, offenes Cockpit, schlank wie eine Rakete. »Wilhelm!«, ruft es. Und immer lauter: »Wilhelm!!« Ich aber bin schockverliebt. Und kann gar nicht fassen, dass da so etwas Schönes, Vollkommenes, Einzigartiges im Laden steht und ich es nicht anfassen darf. Ich werfe mich vors Regal. Ich schreie. Ich hämmere mit den Fäusten auf den Boden wie Oskar aus der Blechtrommel. Drei. Zwei. Eins. Meins. Du musst etwas nur richtig doll wollen, dann kriegst du es auch.
Regensburg
April 1947
Und plötzlich steht mein Vater wieder vor der Tür. Nun könnte man denken, dass jemand, der zwei Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft verbracht hat, erst mal ein wenig verschnauft und die Beine hochlegt. Beziehungsweise genießt, dass er noch welche hat. Doch nicht so mein Vater. Der zieht gleich wieder in den Krieg. Er nennt es natürlich nicht »Krieg«. Er nennt es Erziehung. Und mit dem himmlischen Frieden ist es auf einen Schlag vorbei.
»Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt!«, heißt es jetzt täglich. Ich bin fünf Jahre alt und sitze verbockt vor meinem Teller, verzweifelt bemüht, das Rätsel zu entschlüsseln, warum der liebe Gott Kuhscheiße erfunden hat, sie aber nicht Kuhscheiße nennt, sondern Spinat. Gottes Werk oder Papas Wort, beides stellt man bei uns lieber nicht in Frage. Das merke ich ziemlich schnell. Denn mal ist es ein Klaps, mal eine Backpfeife. Dann wieder Stubenarrest. Also, wenn ich der Spinat wäre, ich würde mich ja in Grund und Boden schämen für das Unglück, das ich über die Kinder dieser Welt bringe.
»Du Saubuab, du dreckiger!«, schreit mein Vater, als ich sechs bin und er mich beim Schuleschwänzen erwischt. Nun weiß er natürlich nicht, was ich weiß, nämlich dass alle Lehrer Idioten sind. Schule? Mir völlig schleierhaft, was man da soll. Regelmäßig nehme ich an Ein-Mann-Wandertagen teil, indem ich morgens den Tornister vom Garderobenhaken ziehe, »Tschüss!« rufe und mich selbst in den Wald begleite. Hier erkunde ich Salamander, Frösche und ausgebrannte Panzer, bis es an der Zeit ist, wieder nach Hause zu gehen.
Backpfeifen, eine Tracht Prügel? Kümmert mich alles nicht. Stubenarrest? Zur Tür rein, zum Fenster wieder raus. Ein Machtkampf. Weber Senior gegen Weber Junior. Er hört nicht zu, ich lasse mir nichts sagen.
Meine Mutter und mich verbindet eine Art Bluetooth Connection, lange bevor diese erfunden wird. Wir kommunizieren ohne Worte, schnurlos, drahtlos. Eine Herz-Einheit. »Wie war dein Tag?«, will sie wissen, wenn ich nach Hause komme, die Knie schwarz, das Haar zerzaust. Ich antworte: »Ich habe die Wildschweine gestreichelt.« Und sie: »Sehr schön, mein Schatz. Wasch dir die Hände und komm zum Essen.« Das ist es.
Erziehung, sage ich immer, ist eine Tandemfahrt, bei der beide Eltern in die Pedale müssen und sich vorher bitte einig werden sollten, wo’s hingeht. Meine Mutter übergießt mich mit Liebe wie den Knödel mit Soße. (Apropos, sie ist eine exzellente Köchin.) Während sich mein Vater an mir abarbeitet wie der Exorzist am Teufel und mich dann und wann in bester erzieherischer Absicht grün und blau schlägt. Immerhin sind das meine Lieblingsfarben.
Meine Mutter hat ein Hühnchen zu rupfen mit meinem Vater. Dieses Hühnchen heißt Tante Betty. Die ist natürlich so sehr meine Tante, wie ein Zitronenfalter Zitronen faltet. Eigentlich ist sie unsere Haushälterin. Und einmal die Woche zuständig fürs Kinderbaden. Dann stellt sie mich nackt in einen Zuber und will immer mehr waschen, als mir eigentlich lieb ist.
»Nimm die Hände weg, Wilhelm!«
»Nein, das mache ich allein, Tante Betty.«
»Nun sei nicht so genant.«
»Aber ich bin da nicht schmutzig.«
Halt eine sehr gewissenhafte, reinliche Person, die Tante Betty. Und deswegen trifft es sich gut, dass es einen anderen Mann in der Familie Weber gibt, der sich recht gern mal baden lässt: meinen Vater. Wenn Sie verstehen, was ich meine.
Natürlich ist meine Mutter nicht blind. Im Gegenteil. Allerdings hat sie ein sehr ausgeprägtes Talent, Konflikte an sich abgleiten zu lassen wie die Teflonpfanne das Spiegelei. Und so revanchiert sie sich für dieses und alle folgenden Techtelmechtel auf ihre ganz eigene, stille Art. Sie brät mir Steaks, zart wie Butter, und meinem Vater furztrockene Frikadellen, die wegkullern, wenn er sie mit der Gabel zerdrücken will. Um nur mal ein Beispiel zu nennen. In der Ehe meiner Eltern herrscht Kalter Krieg, lange bevor Ost und West ihre Kanonen in Stellung bringen.
Warum ich das alles erzähle? Um in der Formel 1 zu bestehen, brauchst du Haare auf den Zähnen. In meiner Jugend konnte ich sie mir wachsen lassen.
Juli 1957
Ist es mir in die Wiege gelegt, einmal Topmanager zu werden?
Also ich sag mal so: Erfolg hat nur der, der auch bereit ist zu scheitern. Oder wie es die Amerikaner formulieren: »Find a new way to mess up.« (Finde einen neuen Weg, es zu vermasseln.) So gesehen bin ich von Anfang an beruflich auf der richtigen Spur. Es gibt kein Projekt, das ich nicht mit Bravour in den Sand setze. Aber der Reihe nach.
Ich bin fünfzehn, als ich der Schule auf Nimmerwiedersehen sage. In den Händen halte ich meinen Volksschulabschluss. In betriebswirtschaftlicher Hinsicht eine hervorragende Bilanz: null Einsatz bei maximalem Output. Nicht unerwähnt lassen möchte ich auch mein Diplom in Frauenheilkunde. Es gibt da nämlich ein abgelegenes Stück Garten bei uns hinterm Haus, auf dem ein Zelt steht. In dieses Zelt lade ich die Mädels der Straße zur Vorsorgeuntersuchung. Der Check ist verpflichtend und wird auch ausgesprochen gern wahrgenommen.
Kleine Jungen werden ja oft gefragt, was sie mal werden wollen. Dann kommt als Antwort: »Feuerwehrmann!« Oder: »Polizist!« Oder: »Kranführer!« Bei mir ist das anders: Seit ich sechs bin, weiß ich, ich will Müllmann werden. Aus ganz einfachem Grund: Ich habe beobachtet, dass das Müllauto nur zweimal pro Woche kommt. Die anderen Tage hat ein Müllmann demnach frei. Also wenn das kein Traumberuf ist! Natürlich habe ich über die Jahre meinen Karriereplan überarbeitet: Immer noch Müllmann, das steht außer Frage. Aber nach sechs Monaten soll mir das Müllauto gehören …
»Du machst eine Banklehre«, ordnet mein Vater an. Ich in der Bank? Jeder, der mich kennt, wird denken: was für eine abwegige Vorstellung. Es sei denn, Willi kommt als Bankräuber. Wobei es ohnehin dumm ist zu denken, der Räuber komme von draußen. Der sitzt hinterm Schalter, weiß doch jedes Kind.
»Dann eben Elektriker!«, schimpft mein Vater. Und diesmal duldet er keine Widerrede. Über Vitamin B lande ich in einem Radio- und Fernsehgeschäft. Erster Lehrlingsauftrag: Widerstände sortieren. Eigentlich ein Job wie für mich erfunden, denn wenn ich mich von Natur aus mit etwas auskenne, dann mit Widerstand. Doch schon bald muss ich feststellen: Mein neuer Boss hat einen Wackelkontakt. Wie sich das gehört für einen Elektriker. »Was der Chef auf den Boden schüttet, wird sortiert«, ruft er und kippt mir eine Kiste mit Elektroteilen vor die Füße. Da sitze ich nun wie Aschenputtel beim Linsensortieren, die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen, und finde: ganz schön heiß hier! Höchste Zeit fürs Freibad! Gedacht, getan. Ich bin eben ein typischer Fisch. Entweder ich will, oder ich will nicht.
»Du hast mich unmöglich gemacht!«, brüllt mein Vater, als ich vom Schwimmen nach Hause komme. Es setzt ein paar Backpfeifen, dafür ist das Thema »Willi wird Elektriker« vom Tisch. Und ich finde mich ein paar Tage später im Zug wieder auf dem Weg nach Schloss Friedrichsruh. Ich werde Hotelkaufmann. Hat mein Vater entschieden – und erneut seine vielfältigen Kontakte spielen lassen.
Schloss Friedrichsruh, ein malerisches Barockgebäude aus dem 17. Jahrhundert, früher als Jagd- und Lustresidenz genutzt und kürzlich zum Hotel umfunktioniert, liegt zwei Zugstunden von Ulm entfernt in der Baden-Württembergischen Walachei. Nächste Metropolen: Neckarsulm, Künzelsau und Öhringen. Ich beziehe eine winzige Kammer mit Tisch, Bett und Kleiderhaken hinter der Tür. Es gibt nicht viel, das ich daranhängen könnte. Während eines seiner legendären Wutanfälle hat mein Vater zur Schere gegriffen und Löcher in meine Lieblingshosen und -pullover geschnitten. Ich würde sagen, es ist nicht abschließend geklärt, wer in der Familie Weber die Erwachsenen sind und wer die Kinder.
Man sagt, der Weg zum Erfolg sei steinig. In meinem Falle ist er mit Gemüse gepflastert. Da sitze ich nun im Schlosskeller und schäle Kartoffeln, während Caterina Valente aus dem Transistorradio singt: »Wo meine Sonne scheint, da kann man der Hoffnung Glanz und der Freiheit Licht in der Ferne sehen.« Wenn’s dem Küchenchef nicht zack, zack genug geht, wirft er gern mal das Messer nach mir. Wie bei diesen Zirkusnummern, wo irgendeine arme Sau auf eine rotierende Scheibe geschnallt wird, während sich neben ihrem Kopf die Säbel zitternd ins Holz bohren. Nur dass mein Küchenchef nicht Messerartist ist, sondern Choleriker.
Das Blatt wendet sich, als ich nach oben darf ins Restaurant und die Küchenschürze gegen den schwarzen Anzug mit Fliege tausche. Es ist, als stiege Winnetou in seinen berühmten Fransenanzug oder Robin Hood in die grüne Strumpfhose. Das ist mein Look! Das erste Mal in meinem Leben keimt da eine Ahnung in mir, welcher Mensch ich sein möchte.
Unter meinen Stammgästen, die Schildkrötensuppe à la Lady Curzon und Eisbombe »Fürst Pückler« bestellen, ist ein gut gekleideter Herr mittleren Alters mit wenig Haar und viel Brille: Felix Wankel. Drei Jahre zuvor hat er einen Motor ertüftelt, dessen Verbrennungsenergie eins zu eins in eine Drehbewegung übersetzt wird. Ich beobachte Wankel, den Automobilpionier, ganz genau: seine Art zu bestellen, zu gestikulieren, bläuliche Zigarrenkringel in die Luft zu paffen – so will ich sein. Ich glaube, das erste Mal in meinem Leben brenne ich für etwas.
Wankel sitzt da oft mit anderen, wichtig aussehenden Zigarrenkringelpaffern, die alle aussehen wie Konrad Adenauer: strenge Züge, das Haar straff pomadiert. Schnell finde ich heraus: Das sind Manager. Von NSU und Auto Union. Zwei Firmen, die Jahre später zum Weltkonzern Audi fusionieren werden. Und das, was ich an Gesprächen im Vorbeigehen aufschnappe, ist wie ein kleines BWL-Studium: Du brauchst eine Erfindung. Doch die ist nichts ohne das Management. Und beide zusammen nichts ohne das Marketing.
Dann und wann, ich will das nicht verheimlichen, muss ich natürlich auch dumme Leute bekellnern. Einmal sitzt da so ein Schnösel, der seiner Tussi das Nachtischmenü vorliest: »Crêpes Suzette an Orangenlikör, was meinst du?« Leider sagt er nicht »Kräpp Süsétt«. Er sagt »Krebs Susette«. Woraufhin seine Alte die Hand an die magere Brust legt: »Oh, ich weiß nicht, Darling. Wir hatten doch schon zweimal Fisch.«
Mühsam ernährt sich das Weberhörnchen. Mein Hotelazubigehalt beträgt zwanzig Mark. Die nehme ich und lasse es im sieben Kilometer entfernten Heilbronn einmal im Monat so richtig krachen. Und zwar mit Zwiebelrostbraten und Bratkartoffeln. Ich habe angefangen zu rauchen, natürlich gleich die ganz harten ohne Filter. Nähert sich eine Zigarettenpackung ihrem Ende, sehe ich auch mein Ende nahen. Regelmäßig geht es mir so dreckig, dass ich denke, ich muss sterben. Und so kometenhaft meine Raucherkarriere startete, so schnell ist sie auch wieder zu Ende. Ich glaube, es ist dieser Kontrolletti in mir, der nicht ertragen kann, wenn ihm Dinge entgleiten.
Was macht die Kuh, wenn es ihr zu gut geht? Sie begibt sich aufs Eis. Alte Binse. Knapp zwei Jahre läuft’s rund auf Schloss Friedrichsruh. Dann kommt dieser verhängnisvolle Abend, an dem ich beschließe, dem Kitz im schlosseigenen Steinbockgehege einen Besuch abzustatten. Ich gestehe: Der kleine Willi hat da schon ein paar Bierchen intus. Irgendwas muss ja die Nikotinlücke füllen. Kaum bin ich über den Zaun, nimmt Papa-Steinbock die Hörner runter wie ein spanischer Stier. Ich greife zu einem Ast. Über den Rest möchte ich Stillschweigen bewahren.
Die Hoteldirektorin bestellt meine Mutter ein. Noch am selben Tag muss ich meine Koffer packen und Schloss Friedrichsruh verlassen. Steinböcke sind mein Schicksal. Aber das weiß ich noch nicht.
Schwarzwald
Oktober 1958
Vielen zur Genesung
Einem zum Gedächtnis
So steht es in Stein gemeißelt an den Pforten von Schlosshotel Bühlerhöhe, einem märchenhaften Prachtbau mit recht akzeptablem Blick ins Rheintal, keine zwanzig Kilometer von Baden-Baden entfernt. Na dann: herzlich willkommen. Hier, so der Plan, soll ich meine Lehre abschließen. Mein alter Herr ließ seine Beziehungen spielen. Natürlich hat er es sich nicht nehmen lassen, vorher noch eine Runde durchzudrehen. Jedem seine Hobbys.
Eines der Highlights der Anlage ist das historische Luftbad, in dem die Gäste nackig sonnen können. Leider macht keiner von dem Angebot Gebrauch. Auch sonst ist die Bühlerhöhe eine Enttäuschung durch und durch: Ich wohne im Keller gleich neben der Heizung, der Hoteldirektor ist ein eingebildeter Pinsel, der denkt, er hätte das Hoteldirektortum neu erfunden. So kann ich unter keinen Umständen arbeiten und zu Höchstform auflaufen. Wie sagt doch Adenauer? »Es gibt zwei Wege für den Aufstieg: Entweder man passt sich an oder man legt sich quer.« Kaum da, packe ich also schon wieder meinen Koffer und mache mich auf zur nächsten Bushaltestelle. Würde ich gerne mein eigener Sohn sein? Definitiv nein. Bin ich wahnsinnig?
Ich weiß nicht wie, aber es findet sich dann ein Plätzchen für mich an der Hotelfachschule Überlingen. Mein Zimmergenosse wird ein gewisser Fritz, der Nachname tut hier nichts zur Sache. Dritter im Zimmerbunde: Herbert.
Fritz und ich, das ist wie Arsch und Hose. Fritz weiß auf alles eine Antwort, selbst auf Fragen, die ich nicht gestellt habe. Er ist Hans Dampf in allen Gassen, zudem aus gutem Elternhaus. So was imponiert mir ja schwer.
»Psst, Willi!«, nimmt er mich eines Tage beiseite. »Unser Zimmerkumpel, der Herbert, der hebt jede Woche auf dem Postamt fünf Mark von seinem Postsparbuch ab.«
»Ja und?«, antworte ich. »Wo ist das Problem?«
»Das Problem ist, dass der jede Woche fünf Mark hat und wir nicht!«
»Worauf willst du hinaus?«
»Nun sei doch nicht so schwer von Kapee!« Fritz knufft mich in die Seite. »Wir leihen uns das Sparbuch aus, heben zehn Mark ab und gehen mal richtig schön essen.«
Tagelang belatschert er mich, schließlich werde ich weich und stehe Schmiere, während er das Ding stibitzt und anschließend damit zum Postamt marschiert. Hier allerdings gibt’s eine kleine unabgesprochene Drehbuchänderung. Fritz hebt nicht nur zehn Mark ab, sondern gleich ganze vierzig. Er schiebt das Sparbuch auch nicht wie verabredet zurück unter die Bettdecke, sondern versteckt es bei mir im Schrank. Sehr clever.
Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt: Herbert bemerkt den Verlust und petzt alles seinem Daddy. Der geht zur Polizei. Die wendet sich an die Schulleitung. Die durchsucht unser Zimmer. Das Sparbuch wird gefunden und der Beamte hinterm Postschalter als Zeuge vernommen: »Ja, ich erinnere mich sehr gut! So ein strohblonder Bengel. Etwa eins achtzig groß. Nordischer Typ. Gut aussehend. Hat die ganze Zeit gegrinst.« Aktenzeichen XY und öffentliche Fahndungsaufrufe sind noch nicht erfunden. Aber präziser könnte ein Phantombildzeichner nicht gebrieft werden. Wir sind fällig. Ein Richter verknackt uns zu zwei Tagen Jugendgefängnis: »Damit ihr zwei wieder auf den richtigen Weg findet! Haftantritt in Arbeitskleidung!« Sagt’s und haut mit dem Hämmerchen auf den Tisch.
Arbeitskleidung? Fritz lernt Koch, ich Kellner. Das kann ja eigentlich nur heißen: Er kommt in karierten Hosen, weißem Hemd und Kochmütze und ich im schwarzen Anzug mit Fliege. So klingeln wir am Gefängnistor.
»Hey Fred, ich hab hier zwei Deppen in Karnevalskostümen. Was mache ich mit denen?« Der Wächter ist völlig überfordert und greift erst mal zum Telefon, um Rücksprache zu halten mit seinem Vorgesetzten. Dabei kratzt er sich die ganze Zeit am Kopf. Schließlich werden wir in eine Zelle gesteckt und haben die härteste Nacht unseres noch jungen Lebens vor uns. Hart, weil wir die ganze Zeit lachen müssen. Über das doofe Gesicht vom doofen Wärter. Die wichtigtuerische Schulleitung. Den aufgeplusterten Richter. Alle können uns den Buckel runterrutschen.
Wir sollten den Weg finden.
Haben wir.
Ob’s der ist, den sich der Richter vorgestellt hat, darf bezweifelt werden.
Bonn
Oktober 1960
Ich habe ausgelernt, und es zieht mich nach Bonn, in die junge schillernde Hauptstadt, wo ich im ersten Haus am Platze, dem Weißen Elefanten, als Kellner anfange. Die Stadt ist ein einziges Verkehrschaos. Mit dem Auto von einem Ende zum anderen zu gelangen dauert länger als die Fahrt Bonn-Köln. Schuld sind die breiten, oft unbeschrankten Eisenbahntrassen, die das Herz der Stadt in zwei Hälften schneiden.
Sehr bald habe ich Stammgäste, darunter einen Gentleman, wahrscheinlich Diplomat aus Afrika. Meist kommt er mit Entourage: ein halbes Dutzend Kaftanträger mit Turban, und alle stürzen sich voller Begeisterung auf die Spezialität des Hauses: rheinischer Sauerbraten mit Knödeln in Rosinensauce.
Seine Exzellenz und ich kommen recht schnell ins Plaudern.
»This is not the right job for you«, erklärt mir der Botschafter, als ich unter Zuhilfenahme von Händen und Füßen erkläre, was ich so mache im Leben. Beim Bezahlen schiebt er mir mit väterlicher Geste seine Visitenkarte über den Tisch: »Call me.«
Und so werde ich Chauffeur. Mein neuer Arbeitsplatz: ein imposanter schwarzer Schlitten, in den man aufrecht hineinlaufen kann, mit knarzenden dunklen Ledersitzen und ausfahrbaren Treppchen links und rechts. Nicht weniger prächtig ist das Gehalt, das mir der Botschafter zahlt, damit ich sein Mädchen für alles bin und ihm rund um die Uhr zur Verfügung stehe. Doch statt zu sparen, kaufe ich mir gleich im ersten Monat auf Pump einen knallroten Porsche Speedster.
»Wie aufregend!«, hauchen die Mädels in der Bar, wenn ich nach Feierabend am Tresen stehe und mit meinem Job beim afrikanischen Botschafter prahle. Nach ein paar Bierchen geht meist das Gebettele los: »Können wir nicht mal ’ne Runde im Auto drehen?«
»Kla’ho, ma’hen wir ’ne Spritztour … hicks!«, lalle ich eines Abends. Wer kann bei so süßen Frauen schon nein sagen.
Ein Willi, ein Wort. Das Auto voll mit hübschen Girls, so rolle ich im Schneckentempo durchs nächtliche Bonn. Man will ja keine Beule ins Auto fahren. Die Mädchen haben mittlerweile die elektrischen Fensterheber entdeckt und die Scheiben runtergefahren. Ihre nackten Beine baumeln aus dem Auto, begleitet von Holdriho und Trallala aus dem Radio: »A one, a two, a three, a four! Sugar-Sugar-Baby, oh-oh, Sugar-Sugar-Baby!« Sobald ein Passant ins Blickfeld rückt, paddeln die Mädels mit den Füßen wie ein Team Synchronschwimmerinnen und schreien: »Huhu!« Was für ein Spaß.
Findet auch der Fotograf einer Bonner Gazette und drückt fleißig den Auslöser. Bonn ist zwar Hauptstadt, aber eben auch Dorf, und unsere rollende Party bleibt natürlich nicht unentdeckt.
»Willi zum Chef!«, schallt es mir entgegen, als ich am nächsten Morgen ziemlich verkatert in der Botschaft auftauche, deren Wände geschmückt sind mit den Fellen von Zebras, Löwen, Geparden, Antilopen. Ein kompletter Zoo ist hier friedlich im Tod vereint. Seine Exzellenz sitzt hinterm Schreibtisch, vor sich die Zeitung mit dem Botschaftswagen auf dem Titel.
»Wilhelm, you know, ich mag dich«, erklärt er mit echtem Bedauern in der Stimme. »But under these circumstances kann ich dich leider nicht weiter beschäftigen. Put the keys on the table and leave the house.«
Ein Problem kommt selten allein. Wie wahr. Es ist, als gäbe es da eine Riesen-Pattex-Tube, mit der der liebe Gott gerade ein Desaster ans nächste klebt und eine schöne lange Kette für mich bastelt. Denn kaum bin ich meinen Job los und latsche zu Fuß nach Hause, wartet auf dem Bürgersteig die nächste böse Überraschung auf mich: Der Porsche ist weg. Und mit ihm auch Autoschlüssel und Fahrzeugpapiere, für die ich eigentlich ein bombensicheres Versteck hatte. Nämlich meine Unterhosen.
Sofort stelle ich Wilma zur Rede, meine Wirtin, eine alleinerziehende Frau Anfang vierzig, deren Sohn Winfried mir unheimlich ähnlich ist. Der kleine Gauner hat sein Leben nämlich auch nicht im Griff. Sehr schnell stellt sich heraus, dass er den Wagen in Düsseldorf an einen Händler verscherbelt, das Geld eingesteckt und auf Nimmerwiedersehen Richtung Fremdenlegion entschwunden ist. Diese Ratte. Ich koche.
»Dann gib du mir halt das Geld zurück!« Ich gucke Wilma fordernd an.
»Warum sollte ich?« Ihre Stimme ist minus zehn Grad.
Ich schnappe nach Luft. »Na, weil das dein Sohn ist, und du die Verantwortung hast!«
»Ach ja?« Wilma spitzt die Lippen. »Soll ich etwa den Babysitter spielen? Der Winfried ist groß, der muss selber wissen, was er tut. Was lässt du auch die Schlüssel rumliegen.«
»Davon kann ja wohl nicht die Rede sein! Na gut! Von mir aus …« Ich muss wirklich an mich halten, »… kriegt der Mistkerl halt ’ne Anzeige! Wirst schon sehen, was du davon hast!«
Gut gebrüllt, Löwe. Nur dass die Polizei in meiner Situation möglicherweise nicht die allerbeste Idee ist. Die liebe Wilma hat sich nämlich seit meinem Einzug wirklich äußerst aufopferungsvoll um mich gekümmert. Und für unbeteiligte Dritte liest es sich natürlich etwas komisch, wenn da im Verhörprotokoll steht: »Und dann haben wir auch noch die ganze Zeit gevögelt, Herr Wachtmeister.«
Also lieber keine Anzeige. Ich beschließe, das Ganze unter »Lehrgeld« zu verbuchen.
Als ich das nächste Mal nach Hause komme, stehen allerdings meine Koffer vor der Tür. Undank ist der Welten Lohn. Statt mir die Füße zu küssen, dass ich ihren Tunichtgut von Sohn vorm Gefängnis bewahrt habe, hat Wilma mir gekündigt.
Wie sagt man immer? Erst hast du kein Glück. Und dann kommt auch noch Pech dazu.
Bonn
März 1961
Morgens arbeitslos, mittags pleite und am Ende des Tages auch noch obdachlos. Das muss man erst mal hinkriegen. Dass mein Gspusi ebenfalls weg ist, fällt da schon gar nicht mehr ins Gewicht.
Fakt ist: Ich brauche einen neuen Job, und zwar dringend. Sozialhilfe und Hartz 4 sind nämlich noch nicht erfunden.
Die Suche gestaltet sich schwieriger als gedacht. Sobald ich mich irgendwo bewerbe, heißt es: »Und wo wohnen Sie?« Will ich eine Wohnung mieten, kommt die Frage: »Und wo arbeiten Sie?«
Ein Teufelskreis.
Ich ergattere einen Aushilfsjob als Lieferwagenfahrer. Leider vergesse ich beim Einbiegen in die erste enge Straße, dass ich noch eine Ladefläche hinten dranhabe, und schramme an den parkenden Autos entlang. Da bin ich den Job wieder los.
Nächster Anlauf: Skoda-Verkäufer auf Kommissionsbasis. Ich schätze mal, dass null Komma null ein Prozent aller Deutschen wissen, dass die Tschechen nicht nur Knödel können, sondern auch Autos. Hingegen stehen neunundneunzig Komma neun Prozent dem Kauf eines Skoda eher skeptisch gegenüber. Es ist, als versuchte man, Katzenfutter als Ragout fin zu verkaufen. Vom Chef gibt’s ein paar Adressen potenzieller Skoda-Kunden. Bei denen soll ich an der Haustür klingeln und verkünden:
»Bester Wagen von Welt! Tolles Preis-Leistungs-Verhältnis.« Ich rede mir den Mund fusselig. Und verkaufe nicht ein Auto.
Es ist, als hätte mich das Leben ausgespuckt. Als wäre bei der großen Reise nach Jerusalem mein Stuhl verschwunden. Und nun geht das Spiel weiter ohne mich.
Ich suche Trost am einzigen Ort der Welt, wo ein Mann noch Mann sein darf: am Tresen. Violettas Tanz-&-Bier-Bar heißt der Schuppen. Niedergeschlagen ziehe ich mich auf einen Barhocker.
»Hier Kumpel, ich geb dir einen aus!« Der Typ neben mir grinst, bestellt ein Bier und schiebt es mit einem aufmunternden Schulterklaps zu mir rüber. Wir sind sofort beste Buddies. Ohne Frage der Beginn einer dieser tiefen Männerfreundschaften, die bis zur Sperrstunde dauern. »Hast ’n Scheißtag gehabt, was?« Er studiert neugierig mein Gesicht.
»Frag nicht«, antworte ich und sauge trübsinnig mein Bier in mich hinein.
Er heißt Detlef. Okay, dafür kann er nichts. Ich spitze sofort die Öhrchen, als er erzählt, dass er Hausmeister ist.
»Hast du vielleicht eine Idee, wo ich heute Nacht pennen kann?«
Detlef hat Tränen in den Augen. Vielleicht liegt’s auch an den vielen Bierchen, von denen er immer gleich zwei bestellt – »One for you, one for me!« –, die seinen Blick etwas einnebeln.
Ich warte geduldig, bis er die Antwort zu fassen bekommt, die da irgendwo in seinem Kopf zwischen all den Promille mit ihm Fangen spielt.
»Weiß’ du …«, bringt er schließlich zustande, »innem großen Haus, das ich betreue, da gibt’s ’nen groß’n Kella, den brauch’ kein Schwein, dort kanns’e schlafen, ’n Feldbett besorge ich dir auch …«
Hicks und Amen.
So beziehe ich Quartier unter der Erde.
Was Detlef vergessen hat zu erwähnen: Ich habe Unterschlupf gefunden beim amerikanischen Geheimdienst.
Bonn
Juni 1961
Andere Menschen plündern Banken, ich würde gern den Metzger überfallen.
Mein Magen knurrt, als ich am nächsten Morgen die Kellertreppe hochgestiefelt komme. Kein Mensch nimmt Notiz von mir. Mir soll’s recht sein, dennoch fragt man sich natürlich: Was ist von einem Geheimdienst zu halten, der nicht mitkriegt, dass da irgendein Fuzzi unten im Keller pennt? Ein Geheimdienst, der vor sich selbst Geheimnisse hat?
Auf der Straße durchwühle ich meine Sakkotaschen nach ein paar letzten Groschen. Vergeblich. Ohne Arbeit kein Geld, ohne Geld nichts zu beißen. Das muss man dem Kapitalismus lassen: Der ist zwar hart, aber die Regeln, nach denen du vor die Hunde gehst, sind easy.
Daheim anrufen und meine Eltern um Hilfe bitten? Auf gar keinen Fall. Als ich vor Monaten im Streit die Tür zugeknallt habe, tat ich dies nicht ohne den Hinweis: »Ihr könnt mich alle mal! Ich zeig euch jetzt, wie das geht!« Und nun bin ich natürlich zu stolz, wieder angekötert zu kommen und um Almosen zu betteln.
Am Straßenrand werben Plakate für Heinz Rühmanns neuen Film Das schwarze Schaf. Außerdem sucht Pützchens Markt Losverkäufer: »Bitte melden an Bude 10« steht da.
Pützchens Markt, muss man wissen, ist wie Münchner Oktoberfest, nur ohne München und ohne Oktober. Mein Vorstellungsgespräch dauert exakt sechzig Sekunden, was den Schluss zulässt, dass sich Bewerberzahl und Qualifikationsanforderung in Grenzen halten.
»Schicht geht von elf bis elf«, brummt mein neuer Chef, ohne dabei die Zigarette aus dem Mund zu nehmen. »Hier, zieh das an!«
Ich bekomme eine Art Malerkittel in den Arm gedrückt und einen Eimer voller Lose. »Kriegst fünf Mark, wenn der leer ist.«
»Kauft Lose, liebe Leute, kauft Lose! Jedes zweite Los gewinnt!«, scheppert es aus den Losbuden-Lautsprechern.
»Tanze mit mir in den Morgen! Tanze mit mir in das Glück!«, orgelt es aus den Fahrgeschäften.
Nun würde man denken, Lose verkaufen kann jeder Vollidiot. Wahrscheinlich ist das auch so. Nur dass ich eben kein Vollidiot bin. Klarer Wettbewerbsnachteil. Stunde um Stunde stehe ich mir die Füße platt. Es ist, als hätte ich toten stinkigen Fisch im Eimer, während die anderen Jungs ihre Lose wie geschnitten Brot verkaufen. Eigentlich kann das nicht mit rechten Dingen zugehen.
Ich wanze mich von hinten an einen meiner Kollegen heran und belausche dessen Verkaufsgespräch. »Ich darf’s ja eigentlich nicht sagen«, höre ich ihn flüstern, »ist ja ein bisschen unfair den anderen Kunden gegenüber, aber, der Hauptgewinn ist in meinem Eimer!«
Mir verschlägt’s die Sprache. Das ist ja unlauterer Wettbewerb! Und welcher potenzielle Loskäufer ist bitte so doof, das zu glauben?
»Okay, ich nehme zehn Stück!«, höre ich den Kunden antworten.
Mit sagenhaften fünfundzwanzig Mark stehe ich kurz vor Mitternacht an der Bushaltestelle. Seit meinem ersten Losverkäufertag sind knapp zwei Wochen vergangen, und meine Lektion habe ich mehr als gelernt: Mit treuem Augenaufschlag das Blaue vom Himmel runterlügen, und schon ist der Kunde sehr glücklich und kommt immer wieder. Konfrontierst du ihn hingegen mit der Wahrheit, macht er sich aus dem Staub.
In diesem Moment kommen zwei schnatternde Mädels des Weges. Eine Brünette und eine kesse Rothaarige mit hochgedirndeltem Dekolleté, Petticoat, auftoupierten Haaren und klappernden Absätzen. Die sticht mir sofort ins Auge. Ich gebe Gas, der Abend ist schließlich noch jung. Nicht, dass das arme Ding einsam nach Hause geht und in seine Kissen weint, weil ich es nicht angesprochen habe.
»Entschuldigt, die Damen! Wisst ihr zufällig, wie lange die Briefkästen hier nachts geöffnet haben?«, starte ich die Mega-Charme-Offensive.
Die Mädels sind stehen geblieben. Die Rothaarige mustert mich für einen Moment, zieht den Mund schief und erklärt: »Verpiss dich!« Dann dreht sie sich auf dem Absatz um und wackelt mit ihrer Freundin weiter die Straße hinunter.
Okay.
Mein Gefühl sagt mir, dass ich bei der kleinen Lady noch ein bisschen nacharbeiten muss. Es ist wie beim Skoda-Verkaufen: Sie will mich, hier steht ihr Traum, sie weiß es nur noch nicht.
»War doch nicht so gemeint! Tut mir leid! Sei doch nicht so.« Ich laufe ihr wie ein streunender Hund hinterher.
Sie bleibt erneut stehen, diesmal ist ihr Blick neugierig. Sie studiert mein Haar, das ich nach Art von Elvis Presley schwarz gefärbt habe. Dann meine knallrote Cordjacke, auf die ich sehr, sehr stolz bin. Schließlich mein Gesicht. »Warum bist du eigentlich so braun?«, will sie wissen.
»Ich komme gerade aus Florida«, improvisiere ich. »Von einer Beerdigung.«
Sie zieht fragend die Braue hoch.
»Meine Freundin ist gestorben.«
Jetzt schießt auch ihre zweite Braue in die Höhe.
Ich weiß, was Sie jetzt denken. Und wenn es Sie beruhigt, ich denke das Gleiche. Wie kann man sich nur so um Kopf und Kragen reden?
Wenn hier irgendwer beerdigt wird, dann ich: Jede Nacht in meinem Kellerloch, in dem die Sonne nicht scheint. Doch soll ich ihr wirklich sagen, dass ich mir jeden Morgen Tönungscreme ins Gesicht schmiere, damit ich nicht aussehe wie ein Vampir? Und jeden Abend mein Hemdkragen ganz braun ist?
Die Rothaarige zieht den Mund breit zu einem Grinsen. Offensichtlich glaubt sie mir kein Wort. Aber sie findet mich ulkig. Ein Anfang.
»Und wo geht’s hin zu so später Stunde?«, will ich wissen.
»In Violettas Tanzbar«, platzt die Freundin heraus.
»Zufälle gibt’s! Da will ich auch hin!«
Bonn
Juli 1961
Heidemarie heißt sie. Neunzehn Jahre ist sie alt, aus gutem Haus, Bank-Azubi, Sternzeichen Steinbock und ein ziemlicher Kaktus.
Als ich vorschlage: »Darf ich dich mal ins Restaurant ausführen?«, erklärt sie stachelig: »Vergiss es! Ich habe einen Freund.«
Als ich scherze: »Heißt der zufällig Willi?«, bekomme ich ein »Das hättest du wohl gern!« zur Antwort.
Und als ich mit gespieltem Entsetzen rufe: »Aber einmal Kaffeetrinken? Das kannst du mir ja wohl nicht abschlagen!«, will sie wissen: »Sülzt du immer so viel?«
Wenn man zwanzig ist, ist man schnell verknallt. Und ebenso schnell entknallt. Aber diese Frau hat’s mir irgendwie angetan.
Und steter Tropfen höhlt den Stein.
Heidemarie erhört mich. Was heißt, dass ich sie ab sofort dann und wann bei ihren Eltern abholen und auf ein Gulasch entführen darf. Bei Tisch mime ich den erfolgreichen Jungspund. Kein Wort darüber, dass ich im Souterrain wohne und mein Geld mit Loseverkauf verdiene. Alles läuft super, bis Pützchens Markt seine Pforten schließt.
Es ist einer dieser Abende, an denen wir wieder mal fürs Restaurant verabredet sind. Wieder mal hat der Tag ohne Frühstück begonnen. Wieder mal sticheln Heidemaries Freundinnen: »Na, was macht denn dein Florida-Hüpfer?« Und ich habe noch genau fünfzehn Pfennige in der Tasche.
»Weißt du, Heidemarie? Ich muss dir was sagen«, nehme ich all meinen Mut zusammen. »Ich kann so nicht weitermachen. Das ist alles eine große Lüge. Ich habe kein Zuhause, ich bin arbeitslos. Ich bin nicht der, für den du mich hältst. Ich habe Hunger und weiß nicht, wovon ich irgendwas bezahlen soll.«
Wir stehen auf der Rheinpromenade, Heidemarie hat ganz ruhig zugehört. Für einen Moment herrscht merkwürdige Stille. Nur hier und da tutet ein Dampfer. Sie greift nach meiner Hand und erklärt mit fester Stimme: »Weißt du was, Willi? Das Finanzielle kriegen wir hin.« Sagt’s und verschwindet. Als sie wiederkommt, hat sie eine Currywurst für mich gekauft.
Liebe ist nicht wie Loseverkaufen. Es ist die Wahrheit, die mich in Heidemaries Herz befördert. Meine Beichte hat etwas bewirkt bei ihr. Hätte ich ihr weiter den jungen erfolgreichen Kerl vorgespielt, aus uns wäre nie ein Paar geworden. Aber so sind sie, die Frauen. Retten die verflohte, räudige Promenadenmischung aus dem Tierheim und überlassen den schwanzwedelnden Rasserüden im Zwinger nebenan seinem Schicksal.
Kein Mann will aber abhängig sein vom Geld seiner neuen Flamme. Und ich will auch nicht mehr im Keller schlafen. Ich gehe zur Post, wo ein öffentlicher Fernsprecher hängt, schlucke meinen Stolz hinunter und wähle.
»Anna Weber. Wer da?«
»Hallo, Mama, hier ist dein Sohn.« Ich muss gestehen, ich habe einen kleinen Kloß im Hals.
»Wo steckst du? Was machst du? Geht’s dir gut, Wilhelm? Isst du auch genug?« Ihre Stimme klingt besorgt.
Wir plaudern eine Runde, dann fällt ihr ein: »Du, dein Schulfreund, der Udo, der sucht nach dir. Der hat schon dreimal angerufen und seine Telefonnummer hinterlassen …«
»Und? Was machste so?«, fragt Udos Stimme aus dem Hörer, als ich mich am nächsten Tag bei ihm melde.
»Ach du, mir geht’s ganz schlecht«, gestehe ich.
Sagt Udo: »Und mir geht’s ganz prima!«