Inhalt

  1. Cover
  2. Über dieses Buch
  3. Über die Autorin
  4. Titel
  5. Impressum
  6. Widmung
  7. Teil 1
    1. Kapitel 1
    2. Kapitel 2
    3. Kapitel 3
    4. Kapitel 4
    5. Kapitel 5
    6. Kapitel 6
  8. Teil 2
    1. Kapitel 7
    2. Kapitel 8
    3. Kapitel 9
    4. Kapitel 10
    5. Kapitel 11
    6. Kapitel 12
  9. Teil 3
    1. Kapitel 13
    2. Kapitel 14
    3. Kapitel 15
    4. Kapitel 16
    5. Kapitel 17
    6. Kapitel 18
  10. Teil 4
    1. Kapitel 19
    2. Kapitel 20
    3. Kapitel 21
    4. Kapitel 22
    5. Kapitel 23
    6. Kapitel 24
    7. Kapitel 25
    8. Kapitel 26
  11. Rhöner Platt
  12. Nachwort

Über dieses Buch

1961. Als die junge Lehrerin Helene von der Großstadt ins ländliche, erzkatholische Hessen versetzt wird, begegnet man ihr zunächst mit Ablehnung. Der althergebrachte drakonische Erziehungsstil, die Gleichgültigkeit der Kollegen: Für die engagierte Helene ist es ein Kampf gegen Windmühlen. In Tobias, dem anfangs wortkargen, später jedoch deutlich zugänglicheren Landarzt, findet sie schließlich einen Verbündeten. Niemand ahnt: Ihre Versetzung aufs Land war kein Zufall. Denn mitten durch den Landstrich zieht sich die Grenze zur »Ostzone« …

Über die Autorin

Eva Völler hat sich schon als Kind gern Geschichten ausgedacht. Trotzdem verdiente sie zunächst als Richterin und Rechtsanwältin ihre Brötchen, bevor sie die Juristerei endgültig an den Nagel hängte. »Vom Bücherschreiben kriegt man einfach bessere Laune als von Rechtsstreitigkeiten. Und man kann jedes Mal selbst bestimmen, wie es am Ende ausgeht.«

Die Autorin lebt mit ihren Kindern am Rande der Rhön in Hessen.

E  V  A   V  Ö  L  L  E  R

Die
Dorfschul-
lehrerin

Was
die Hoffnung
verspricht

ROMAN

L Ü B B E

Für Lioba

Teil 1

KAPITEL 1

Februar 1961

Ein beißend kalter Windstoß trieb Helene eine Ladung Schnee ins Gesicht. Sie zog sich die Mütze fester über die Ohren und sprach sich innerlich Mut zu. Weit konnte es nicht mehr sein. Zweieinhalb Kilometer, höchstens drei, hatte die Frau gemeint, die sie bis zur letzten Abzweigung mitgenommen hatte. Als Helene vor gut zwanzig Minuten aus dem Wagen ausgestiegen und losmarschiert war, hatte allerdings noch freie Sicht geherrscht, und auch die Straße war, obschon bereits ziemlich verschneit, noch passierbar gewesen. Doch mittlerweile hatte der Wind orkanartige Züge angenommen, und die Luft schien nur noch aus peitschendem Schneefall zu bestehen. Die Fahrbahn, auf der sie ging, war unter der weißen Decke kaum noch auszumachen. Einmal geriet sie versehentlich in den Straßengraben und versank fast bis zur Hüfte in einer Schneewehe. Unter Mühen und zahlreichen Flüchen kämpfte sie sich wieder frei und stapfte gegen den Wind gestemmt weiter.

Frühmorgens, bei ihrem Aufbruch in Frankfurt, hatte nichts auf einen derart massiven Wintereinbruch hingedeutet, es hatte dieselbe regenfeuchte, ungemütliche Witterung geherrscht wie die ganze letzte Woche über. Allerdings war es erst Anfang Februar, da war der Winter noch lange nicht vorbei, und in diesen Höhenlagen musste man natürlich auch vermehrt mit Schneefall rechnen.

Bis Hünfeld war sie noch gut mit dem Zug durchgekommen, doch von dort fuhren bei ihrer Ankunft wegen der einsetzenden Schneefälle bereits keine Busse mehr zu den Dörfern der Umgebung. Helene hatte sich schon auf eine längere Wartezeit eingerichtet, notfalls sogar eine Übernachtung, aber dann war ihr am Bahnhof eine Frau über den Weg gelaufen, die ebenfalls in die Rhön wollte und ihr anbot, sie ein paar Kilometer mitzunehmen.

Wenigstens trug sie einen gefütterten Mantel und warme Stiefel, dazu Wollmütze und Fäustlinge, und der Rucksack war auch nicht besonders schwer. Außerdem war es ja nur noch ein kurzes Stück, kaum mehr als ein Spaziergang. Angeblich. Inzwischen konnte sie durch den dicht fallenden Schnee fast nichts mehr sehen. Immer wieder kam sie vom Weg ab und landete im Graben. War das überhaupt noch die richtige Straße, oder hatte sie sich verlaufen, auf irgendeinen Feldweg, der ins Nirgendwo führte? Dann würde sie womöglich noch stundenlang hier herumwandern, weit entfernt von jeder menschlichen Behausung.

Trotz ihrer warmen Kleidung begann sie zu frieren. Die Temperatur musste stark unter den Gefrierpunkt gefallen sein, ihre Nasenspitze fühlte sich taub an, und auch ihre Hände in den Fäustlingen spürte sie kaum noch. Gerade als sie überlegte, ob es vielleicht besser sei, einfach hinter dem nächstbesten Baum Schutz zu suchen und auf ein Nachlassen dieses Wintersturms zu warten, tauchten vor ihr aus dem Zwielicht des Schneetreibens zwei Lichtkegel auf. Ein Wagen kam ihr entgegen, und Helene entwich ein erleichterter Seufzer – sie befand sich noch auf der regulären Straße! Und die Gegend war auch nicht so menschenleer und einsam, wie es vorhin noch den Anschein gehabt hatte, denn die sich nähernden Autoscheinwerfer erhellten ein Gehöft ganz in der Nähe. Beim Haus schien die Straße allerdings zu enden, jedenfalls soweit es durch das Schneegestöber zu erkennen war – die gesamte Umgebung bestand aus einer durchgehenden Schneedecke.

Der Wagen hielt neben ihr an, die Scheibe wurde herabgekurbelt. Ein Mann sprach sie durch das offene Fenster an. »Isabella?«

Sie wandte sich zu ihm um, damit er sehen konnte, dass er sie verwechselt hatte. »Ist das hier die Straße nach Kirchdorf?« Sie musste beinahe schreien, um den heulenden Wind und das Brummen des Motors zu übertönen.

»Nein, da sind Sie wohl vom Weg abgekommen«, sagte der Mann, womit sich Helenes eben noch gehegte Befürchtungen zu ihrem Schrecken bestätigten. Er wies auf das Bauernhaus. »Ich hab da vorn zu tun, aber wenn ich fertig bin, fahre ich zurück nach Kirchdorf und kann Sie mitnehmen. Zu Fuß kommen Sie bei dem Wetter nicht weiter. Steigen Sie ein.«

Das ließ Helene sich nicht zweimal sagen. Obwohl das Gehöft schon in Sichtweite war, nahm sie ihren Rucksack ab und warf ihn auf die Rückbank, ehe sie auf der Beifahrerseite einstieg.

»Danke«, sagte sie aus tiefstem Herzen. Sie zog ihre von Schnee und Eis schon ganz steifen Fäustlinge aus und blies sich in die kalten Hände. »Ich dachte schon, ich müsste hier draußen in der Einöde erfrieren!«

»Das hätte leicht passieren können«, gab der Mann zurück. »Ist jedenfalls hier in der Gegend schon vorgekommen.« Es klang nicht so, als würde er scherzen, und Helene musterte ihn verstohlen von der Seite. Sein sandfarbenes Haar war zu einem Bürstenschnitt gestutzt, fast so militärisch kurz wie bei den GIs, denen man in Hessen an jeder Ecke begegnete. Er war um die vierzig und sah mit seinen kantigen, wettergegerbten Gesichtszügen attraktiv, aber auch erkennbar besorgt aus. Nach einer Unterhaltung stand ihm offenbar nicht der Sinn, was ihr nur recht war.

Als er nach kurzer Fahrt vor dem Gehöft anhielt und ausstieg, blieb Helene im Auto sitzen, in der Annahme, dass sie hier auf ihn warten sollte, bis er in dem Haus fertig war, womit auch immer. Doch er streckte den Kopf durch die geöffnete Wagentür und sah sie ungeduldig an. »Nun kommen Sie schon, worauf warten Sie?« Dann holte er eine große abgewetzte Ledertasche aus dem Kofferraum und rannte damit auf den Hauseingang zu. Irritiert stieg Helene ebenfalls aus und folgte ihm zögernd. Jemand im Haus riss die Tür auf, und Helene hörte einen erleichtert klingenden Ausruf.

»Herr Doktor! Endlich!«

Eine alte Frau ließ sie ein, und Helene betrat hinter dem Fremden, bei dem es sich offensichtlich um den für diese Gegend zuständigen Landarzt handelte, das Haus. Bullige Wärme drang aus der Küche neben dem Flur, und wie schon vorhin im Wagen war Helene zutiefst dankbar, nicht länger der eisigen Kälte ausgesetzt zu sein. Bei allem, was ihr im Laufe des vergangenen Jahres widerfahren war, hatte die Kälte zu den Dingen gehört, die am schwersten zu ertragen waren.

Aus dem Obergeschoss des Hauses drang der lang gezogene Schmerzensschrei einer Frau. Helene zuckte erschrocken zusammen.

»Jetzt douerts höchstens zwä Minutte, doss Keind is fast do! Die Isabella kömmt wohl net mee durch bei dämm Schnee: De Eugen is mitem Bulldog los un wollt se hol, äbber dos wird nüscht mee. Muss es ebe ohne se geh«,1 erklärte die Alte aufgeregt im breiten Platt der hiesigen Rhön. Sie warf Helene einen fragenden Blick zu. »Oder senn Sie die Vertretung?«

»Nein, ich bin nur zufällig hier und fahre später mit dem Herrn Doktor weiter nach Kirchdorf«, sagte Helene höflich. »Ich bin die neue Lehrerin, mein Name ist Werner. Helene Werner.«

»Mir senn die Wiegands.« Die alte Frau zeigte durch die offene Küchentür auf einen großen, blankgescheuerten Holztisch. »Do is Mellich un Brot und Griebeschmaalz un off em Härd is noch Sopp. Ich honn genunk gekocht. Naahme Se sich, bann Se Honger honn.«

Der Arzt war bereits die hölzerne Stiege hinaufgeeilt, und die Alte folgte ihm, wobei sie um einiges länger brauchte als er, zumal sie beim Aufstieg eine Reihe von Kindern zur Seite scheuchen musste. Wie die Orgelpfeifen hockten sie auf den Stufen und starrten Helene neugierig an, zwei Jungen und drei Mädchen unterschiedlichen Alters – das jüngste Kind war vielleicht drei, das älteste höchstens zehn Jahre alt.

Das kleinste Mädchen weinte, augenscheinlich hatte es Angst. Es saß auf der untersten Stufe und schniefte erbärmlich. Spontan ging Helene vor der Kleinen in die Hocke.

»Wie heißt du denn?«

»Gabi.« Die Antwort kam von der nächstgrößeren Schwester, die eine Stufe höher saß.

»Ah. Und du?«

»Renate.«

Helene fasste die Geschwisterschar ins Auge.

»Wisst ihr eigentlich, wieso ich hier bei euch zu Hause bin?«, wandte sie sich erneut an Gabi, die immer noch weinte.

Stumm schüttelte die Kleine den Kopf.

»Na, ich hab mich im Schneesturm verlaufen, und da fand mich der Herr Doktor und hat mich gerettet.«

Gabi hörte auf zu weinen, und um sie weiter abzulenken, fragte Helene: »Wünschst du dir eine kleine Schwester oder lieber einen Bruder?«

Der älteste Junge mischte sich ein. »Mir müsse naahm, bos mer krieche!«

Helene unterdrückte ein Grinsen. »Gehst du in Kirchdorf zur Schule? Wie ist dein Name?«

»Ich bin Ernst und geh in die vierte Klasse.« Nun um eine hochdeutsche Ausdrucksweise bemüht, wies er auf zwei seiner Schwestern. »Renate geht in die erste und Rita in die zweite.«

»So ein Zufall. Dann krieg ich euch ja vielleicht alle drei im Unterricht! Da würde ich mich aber freuen!« Sie musste die Stimme erheben, um einen weiteren Schmerzensschrei von oben zu übertönen. Es klang schaurig, sie schluckte beklommen.

Immerhin, einen Teil ihrer künftigen Schulkinder kannte sie nun bereits, und sie prägte sich gleich die Namen ein. Ernst, Renate und Rita Wiegand.

Hauptsächlich die unteren Klassen, hatte der für den Landkreis zuständige Schulrat gesagt, dem sie sich in der vergangenen Woche vorgestellt hatte. Vielleicht auch noch zeitweise die Klassen fünf bis acht, aber höchstens mal vertretungshalber, wie er in beinahe entschuldigendem Ton hinzugefügt hatte. Helene hatte mit keinem Wort protestiert, im Gegenteil. Sie wolle sich, das hatte sie umgehend bekräftigt, allen Herausforderungen stellen. Bloß nichts äußern, das gegen sie sprach. Nur keine Zweifel aufkommen lassen, schon gar nicht an ihrer Kompetenz und ihrer Einsatzbereitschaft.

Die kleine Gabi wischte sich mit dem Ärmel das nasse Gesichtchen ab, die Tränen waren versiegt. In einer spontanen Aufwallung mütterlicher Gefühle strich Helene dem Kind übers Haar und musterte es dabei unauffällig. Wie seine Geschwister war es ärmlich gekleidet. Der Pullover war vom häufigen Waschen verfilzt, die Latzhose vielfach geflickt. Doch es fanden sich keine äußeren Anzeichen von Vernachlässigung – alle Kinder waren ordentlich gekämmt, sie hatten saubere Gesichter, und die Kleidungsstücke waren, obschon abgetragen, weder löchrig noch übermäßig schmuddelig. Und sie waren gut genährt. Es mochte in diesem Haushalt an allen Ecken und Enden das Geld für Anschaffungen fehlen, aber die Familie hatte satt zu essen.

Bei diesem Gedanken erinnerte sich Helene unwillkürlich an die Einladung der alten Frau und blickte durch die offene Küchentür zum Esstisch hinüber. Das aufgeschnittene Brot sah lecker aus, und vom Herd duftete es einladend nach der warmen Suppe. Vielleicht sollte sie wirklich eine Kleinigkeit essen, wer wusste schon, wann es die nächste Mahlzeit gab. Sie hatte zwar vor ihrem Aufbruch in Frankfurt reichlich gefrühstückt, aber das war lange her.

Großtante Auguste hatte sich wie immer in den letzten Wochen selbst überboten. Milchreis mit Zucker und Zimt und eingemachten Pflaumen, Toast mit Marmelade, Orangensaft, dazu eine ganze Kanne echter Bohnenkaffee – Helene hatte fast andächtig den Duft eingeatmet, sie hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, dass sie jetzt jeden Tag Kaffee trinken konnte.

Aus dem Obergeschoss erklang ein weiterer durchdringender Schrei, und Helene schlug sich auf der Stelle jeden Gedanken an Essen aus dem Kopf. Die auf der Treppe versammelten Kinder waren genau wie sie entsetzt zusammengefahren – und brachen im nächsten Moment in Jubel aus. Das Quäken eines neugeborenen Babys war zu hören.

Helene atmete erleichtert aus. Es war geschafft! Das war doch sehr viel schneller gegangen als gedacht, sie hatte sich bereits auf stundenlanges Warten gefasst gemacht.

Doch im nächsten Moment tönte das laute Rufen des Arztes durchs Haus. »Ich brauch hier sofort Hilfe!«, brüllte er.

Da er kaum die Kinder gemeint haben konnte, rannte Helene ohne nachzudenken die Treppe hinauf und durch den engen Flur zu dem Raum, aus dem gerade weitere Schreie der Frau drangen. Unter dem niedrigen Türbalken stand die alte Frau, die zur Seite wich, als Helene ins Zimmer trat. Sie hatte das greinende Neugeborene in ein blutbeflecktes Tuch gewickelt und hielt es in ihren Armen. Ihre faltigen Gesichtszüge waren von Angst verzerrt, und im selben Augenblick erkannte Helene den Grund – die Mutter des Babys verlor Unmengen von Blut. Mit angezogenen Beinen lag sie im Bett, die Schultern gegen das Kopfteil des Bettes gelehnt, zwischen ihren Schenkeln die Nachgeburt. Der Arzt kniete dicht neben ihr und drückte mit beiden Händen auf ihren Bauch. Er fluchte unterdrückt vor sich hin.

»Was kann ich tun?«, fragte Helene voller Entsetzen.

»Ich brauche Schnee. Eis. Möglichst viel davon! Schnell!«

Helene rannte die Treppe hinunter, stürzte zur Haustür hinaus. Der kalte Wind fuhr ihr schneidend ins Gesicht, und während sie versuchte, den Schnee mit bloßen Händen vom Boden aufzuklauben, wurde ihr klar, dass sie auf diese Weise nicht genug davon ins Haus befördern konnte. Sie nahm ihre Mütze aus der Manteltasche und stopfte sie in hektischer Eile mit Schnee voll. Dabei sah sie neben dem Haus eine volle Regentonne stehen. Kurz entschlossen zog sie einen ihrer Stiefel aus und schlug mit dem Absatz die Eisschicht auf dem Regenwasser entzwei. Sie ergriff einige der größeren Bruchstücke, um auch diese mitzunehmen.

Mit der prall gefüllten Mütze hetzte sie an den Kindern vorbei wieder nach oben. Verängstigte Ausrufe begleiteten sie auf ihrem Weg zur Schlafkammer, das älteste Mädchen wollte ihr folgen, doch oben an der Treppe erschien die alte Frau und scheuchte das Kind zurück.

Helene rannte weiter in die Kammer und reichte dem Arzt die Mütze mitsamt Schnee und Eis. Der presste das ganze Ding so, wie es war, mit aller Kraft gegen den Unterleib der frisch entbundenen Frau. Dabei verharrte er in angespannter Haltung. Seine Schultern zitterten vor Anstrengung. Die Muskeln an seinem Nacken traten hervor, und Helene sah an seiner Schläfe eine Ader pochen.

Mit angehaltenem Atem beobachtete sie die Frau, die mit bleichem Gesicht dalag und vor sich hin stöhnte, während der Arzt um ihr Leben kämpfte. Die eisige Kompresse entfaltete Wirkung. Zwischen den Beinen der Frau quoll immer noch Blut hervor, aber nicht mehr schwallweise wie eben noch, sondern in deutlich geringerer Menge, bis es schließlich versiegte.

Nach scheinbar endlosen Augenblicken entspannte sich der Arzt und lockerte seinen Griff. Seine Schultern sanken herab, die bedrohliche Situation war gemeistert.

»Verflucht, Liesel, das war knapp«, sagte er zu der Frau. »Jetzt hörst du aber auf mit dem Kinderkriegen, oder?«

»Sag das dem Eugen«, gab die Frau mit schwacher Stimme zurück, und obwohl sie gerade um Haaresbreite dem Tod entronnen war, lächelte sie schwach. Helene lehnte mit wackligen Knien am Türrahmen und holte tief Luft.

Der Arzt drehte sich zu ihr um und musterte sie besorgt. »Geht’s? Nicht, dass Sie mir noch umkippen.«

»Alles in Ordnung«, behauptete Helene, obwohl sie drauf und dran war, sich zu übergeben. Das viele Blut, der Hauch des Todes, der eben noch durch das Zimmer geweht war – wie gut, dass sie vorhin trotz des Angebots nichts gegessen hatte, denn das hätte sie in diesem Moment zweifelsohne alles wieder ausgespuckt. So musste sie nur ganz kurz würgen und ein paarmal durchatmen. Mit zitternden Händen zog sie ihren Stiefel wieder an.

»Das Kind?«, fragte die Frau auf dem Bett mit banger Miene.

Die Alte stand mit dem Baby in der offenen Tür. Es hatte aufgehört zu weinen und lugte mit großen Augen aus der Decke hervor, in die es eingewickelt war.

»Dem geht’s gut«, erklärte die alte Frau.

»Gib es mal her«, sagte der Arzt. Er nahm das Neugeborene entgegen, wickelte es aus der Decke, untersuchte es und prüfte einige Reflexe, ehe er mittels eines Skalpells aus seinem Arztkoffer die Reste der Nabelschnur entfernte und den Stumpf mit einer Kompresse versah.

»Alles wie es sein soll«, sagte er. »Ein hübsches kleines Mädchen.«

Das Kind hatte wieder angefangen zu krähen, und der Arzt lachte, was eine erstaunliche Veränderung bei ihm bewirkte. Sein eben noch so grimmiger Gesichtsausdruck verschwand, mit einem Mal sah er Jahre jünger aus, beinahe lausbubenhaft.

Mit schwachem Schaudern schaute Helene zu, wie er die Nachgeburt begutachtete. Das Ergebnis schien ihn zufriedenzustellen, er nickte erleichtert.

»Wie soll das Kind denn heißen?«, fragte er anschließend die Frau auf dem Bett.

Diese richtete ihre dunkel umflorten Augen auf Helene.

»Wie heißen Sie denn?«

»Helene«, erwiderte Helene verdutzt.

»Dann soll das Kind auch so heißen.«

»Ein schöner Name.« Der Arzt reichte der frischgebackenen Mutter das Baby und stand vom Bett auf. Er dehnte den verspannten Rücken und wandte sich dann zu Helene um.

»Danke übrigens.«

»Ach, das war doch nichts Besonderes«, wehrte sie ab.

»Doch, das war’s, es ging buchstäblich um Sekunden.« Sein Lächeln war verflogen, er sah wieder ernst aus und deutete eine etwas steife Verbeugung an. »Ich fürchte, ich habe mich noch nicht vorgestellt, es ging vorhin alles so schnell. Entschuldigen Sie das Versäumnis. Tobias Krüger.« Er streckte Helene die Hand hin, riss sie jedoch sofort wieder zurück, als Helene sie ergreifen wollte. Erneut entschuldigte er sich bei ihr. »Tut mir leid, aber ich sollte mir wohl besser erst mal die Hände waschen.«

Das musste er in der Tat; seine Hände und Unterarme waren bis zu den aufgekrempelten Hemdsärmeln blutbesudelt.

Während er sich wieder der Frau auf dem Bett zuwandte und ihr für die kommenden Tage Anweisungen gab, ging Helene zurück nach unten und erzählte den wartenden Kindern, dass sie ein neues Schwesterchen hatten. Sie schmierte ihnen in der Küche Schmalzbrote und fütterte die kleine Gabi mit Suppe, und als Tobias Krüger nach einer Weile ebenfalls von oben herunterkam und zum Händewaschen an den Spülstein trat, hatte sie das Gefühl, die Lage bestens im Griff zu haben.

Dies war der erste Tag ihres neuen Lebens. Es würde sich alles wieder zum Guten wenden. Natürlich nicht sofort; ihr war bewusst, dass es nicht heute und nicht morgen passieren würde. Aber gewiss sehr bald. Und bis dahin würde sie das tun, womit sie sich die ganzen letzten Monate am Leben gehalten hatte – mit aller Kraft hoffen.

*

Tobias konzentrierte sich schweigend aufs Fahren. Etliche andere Fahrzeuge, die vor ihm hier entlanggekommen waren, hatten breite Spurrillen im Schnee hinterlassen, sodass der Verlauf der Straße problemlos zu erkennen war. Dank der Schneeketten ging es recht gut voran. Im Winter gehörten die Ketten hier auf dem Land quasi zur ärztlichen Grundausrüstung.

Mittlerweile schneite es nicht mehr. Die Wolkendecke war an manchen Stellen aufgerissen und der Himmel dahinter erstaunlich klar, aber das Blau war bereits von purpurnen Schatten durchzogen. Es würde bald dunkel werden. Die Sonne war vor ein paar Minuten hinter den Bergen verschwunden. Flammendes Abendrot umriss die schneebedeckten Hügel und schuf eine malerische Silhouette vor dem leuchtenden Horizont.

Kegelspiel, so nannte man diesen von prägnanten Basaltformationen gekennzeichneten Gebirgsausläufer im Nordwesten der Rhön. Einer Sage zufolge hatten einst Riesen in dieser Gegend eine Kegelbahn besessen, daher der Name.

Tobias widerstand dem Drang, häufiger als nötig den Blick auf die Beifahrerin neben ihm zu richten. Was hatte eine Frau, die so aussah und auftrat wie diese Helene Werner, hier am Ende der Welt verloren? Schon ihre körperliche Erscheinung war ungewöhnlich. Groß, gertenschlank, das helle Haar zu eigenwilligen kurzen Locken gestutzt – sie stach von allen Frauen ab, die Tobias kannte.

Was erhoffte sie sich davon, eine Arbeit auf dem Land anzunehmen? Sicher, sie war Volksschullehrerin, und Leute wie sie wurden hier dringend gebraucht. Im Zonenrandgebiet herrschte ein geradezu verzweifelter Mangel an Lehrkräften, nur ein Teil der Planstellen konnte längerfristig besetzt werden. Vereinzelt wurde versucht, dem Missstand mit unerfahrenen Junglehrern abzuhelfen, doch die waren von den Zuständen in den Dorfschulen zumeist heillos überfordert. Klassenstärken jenseits des Erträglichen, dazu regelmäßig unterschiedliche Altersgruppen in einem Raum – das hielten nur erfahrene Pädagogen auf Dauer durch, und die konnten sich bessere Stellen aussuchen. In Kirchdorf gaben sich folglich seit Monaten die Vertretungskräfte die Klinke in die Hand. In permanent wechselnder Folge versuchten sie mehr schlecht als recht, den Schulbetrieb irgendwie aufrechtzuerhalten. Kaum waren sie aufgetaucht, verschwanden sie auch schon wieder und wurden durch andere ersetzt, es herrschte ein einziges Kommen und Gehen.

Diese vom Landkreis entsandten Aushilfslehrer stammten allerdings alle aus der Gegend. Helene Werner hingegen kam aus Berlin, und das war wahrhaftig weit weg.

Tobias hatte versucht, eine unverbindliche Unterhaltung in Gang zu bringen. Aber auf die zwei, drei beiläufigen Fragen, die er Helene bisher gestellt hatte, waren nur einsilbige und erschöpft klingende Antworten gekommen, und ehe sie ihn für aufdringlich halten konnte, hielt er lieber den Mund. Bisher hatte er folglich nur in Erfahrung gebracht, dass sie aus Berlin kam, seit gut sechs Jahren im Beruf stand und fürs Erste im Goldenen Anker logierte.

Eine Aura von Unnahbarkeit schien sie zu umgeben, und er hätte schon ein Volltrottel sein müssen, um nicht zu merken, dass sie sich nicht unterhalten wollte.

Außer vielleicht mit den Wiegand-Kindern. Mit denen hatte sie gescherzt, ihnen Brote geschmiert und beim Essen Geschichten erzählt. Zum Beispiel die über die kegelnden Riesen in der Rhön, woher auch immer sie die kannte.

Als sie dort mit den Kindern am Tisch gesessen hatte, war er drauf und dran gewesen, ihr zu sagen, dass sein achtjähriger Sohn Michael ebenfalls auf die Schule ging, an der sie unterrichten würde. Doch bevor er darauf zu sprechen kommen konnte, war von draußen das Knattern von Eugen Wiegands Trecker ertönt, und Isabella war endlich doch noch eingetroffen. Während Eugen sogleich wie ein Verrückter nach oben gestürmt war, um nach seiner Frau und dem jüngsten Töchterchen zu sehen, hatte Tobias die Hebamme kurz mit Helene bekannt gemacht und sie dann über alle Einzelheiten der Entbindung ins Bild gesetzt. Isabella besaß eine Menge Erfahrung, er konnte ihr guten Gewissens die Nachsorge überlassen.

Liesel Wiegand würde sich bei entsprechender Umsicht rasch erholen, auch wenn es für kurze Zeit ziemlich schlecht um sie ausgesehen hatte, eine Uterusatonie, die ihm den Angstschweiß auf die Stirn getrieben hatte. Es war aus seiner Sicht reiner Dusel, dass die Kältekompresse auf Anhieb gewirkt hatte und dass er nicht zu anderen, wesentlich invasiveren und blutigeren Interventionen gezwungen gewesen war. Er hatte zwar in der Geburtshilfe notgedrungen einiges dazugelernt, seit er vor knapp acht Jahren die väterliche Praxis übernommen hatte, aber von Haus aus war er Internist, kein Gynäkologe. Wenn die Hebamme ihn in schwierigen Fällen hinzurief, ließ er lieber oft gleich den Rettungswagen kommen, der die Frauen zügig ins Krankenhaus beförderte. Sicher war sicher. Er war ohnehin kein Freund von Hausgeburten, da konnte einfach zu viel schiefgehen, wie er heute wieder festgestellt hatte.

Sie waren fast da. Im schwindenden Tageslicht tauchte das Dorf vor ihnen auf, überragt vom spitzen Turm der mittelalterlichen Kirche.

»Da wären wir«, sagte er ein wenig hölzern, während er vor dem Goldenen Anker anhielt. Das Gasthaus lag ebenso wie die Kirche, das Rathaus und die Schule an dem lang gestreckten Dorfplatz, der unter der Schneedecke wie ein weites weißes Feld wirkte.

Tobias stieg aus und wollte um den Wagen herumgehen, um Helene Werner die Tür zu öffnen, doch sie war bereits ausgestiegen und holte ihren Rucksack aus dem Fond.

»Vielen Dank, dass Sie mich mitgenommen haben«, sagte sie.

»Ich habe Ihnen zu danken«, erwiderte Tobias, und es war sein voller Ernst. »Ohne Sie hätte das kleine Mädchen jetzt vielleicht keine Mutter mehr.«

In ihren Zügen zeigte sich eine Andeutung von Schmerz, aber vielleicht spielten seine Augen ihm auch einen Streich, weil es allmählich dunkel wurde. Trotzdem blieb er nach der Verabschiedung noch für einige Sekunden stehen und blickte ihr nach, als sie hinüber zum Gasthof ging.

*

Helene hatte mit der Inhaberin vom Goldenen Anker bereits vorab telefonisch einen monatlichen Pauschalpreis für Kost und Logis vereinbart. Es war nicht ganz billig, aber sie würde zurechtkommen. Sie stellte keine großen Ansprüche.

Die Gastwirtin hieß Martha Exner und war eine füllige Frau mittleren Alters, die Helene in breitem Rhöner Platt willkommen hieß und ihr sofort eine gewaltige Abendmahlzeit auftischte, bestehend aus Unmengen von Bratkartoffeln mit Spiegeleiern und eingelegter rote Bete.

»Es wärd Ziet, däss e neu Lehrerin kömmt«, meinte sie aufgeräumt, während sie sich vergewisserte, dass Helene auch tüchtig zulangte. »Hoffentlich blinn Se länger als di annere. On mimm Ässe solls net lei.«

Nein, an dem wirklich leckeren Essen würde es gewiss nicht liegen, wenn Helene hoffentlich früher als erwartet ihre Zelte im Dorf wieder abbrach, aber das behielt sie lieber für sich.

Sie bedankte sich höflich für die reichhaltige Mahlzeit und ging anschließend mit Martha Exner nach oben, um sich ihre neue Bleibe zeigen zu lassen.

Ihr Zimmer lag unterm Dach und wurde noch mit einem alten Ofen beheizt. Die Kohle musste Helene sich selbst aus dem Keller holen, aber daran störte sie sich nicht – sie hatte schon als Kind täglich in den Kohlenkeller runtergemusst.

Die Einrichtung der Dachkammer bestand aus einem Sammelsurium alter Möbel, es sah aus, als wäre bei diversen Haushaltsauflösungen immer mal ein Teil übrig geblieben, das hier im Mansardenkämmerchen des Gasthauses noch Verwendung fand. Das Bett quietschte erbärmlich, das Gestell war uralt. Die Matratze war ziemlich durchgelegen, aber die Laken waren peinlich sauber, und Martha Exner hatte auch für frische Handtücher gesorgt.

Für Schreibarbeiten stand ein wurmstichiger kleiner Sekretär zur Verfügung. Die Klappe ließ sich zwar nur mit Gewalt öffnen und hing leicht durch, aber das Ding würde seinen Zweck erfüllen.

Helene konnte das Badezimmer der Inhaberfamilie mitnutzen, zu der außer Martha Exner nur deren kriegsversehrter Vater gehörte. Albert Exner hatte nur noch einen Arm und ein Auge, war aber dessen ungeachtet meist bester Laune und riss gern Witzchen über seine eigene Behinderung.

»Mer konn aa mit äm Aach de schönne Weiber zugezwinker«, sagte er bei der ersten Begegnung zu Helene und führte es ihr prompt vor.

Helenes Pläne, die Gegend auszukundschaften, lagen in den beiden Tagen nach ihrer Ankunft fürs Erste auf Eis. Draußen türmte sich immer noch der Schnee. Martha Exner hatte erzählt, dass man kaum aus dem Ort herauskam, und die Fußwege abseits des Dorfs waren erst recht nicht passierbar. Folglich kam Helene in den ersten zwei Tagen nur zum Essen aus ihrem Zimmer. In der großen, verräucherten Gaststube saß sie für sich allein und versuchte, die neugierigen Blicke der übrigen Anwesenden zu ignorieren, ebenso deren lärmende Unterhaltungen, das laute Lachen, den Zigarettenqualm. Meist ging sie erst zu Tisch, wenn der Andrang nachgelassen hatte und die Leute schon wieder gegangen waren. Sie redete nicht viel, nur das Nötigste. Wenn sie schlief, hatte sie wirre Träume, aus denen sie oft hochschreckte. Häufig war sie in Gedanken versunken und versuchte, Pläne zu schmieden. Pläne, auf deren Verwirklichung sie kaum Einfluss nehmen konnte. Mehr als hierherzukommen hatte sie bisher nicht tun können, und wie alles weiterging, stand in den Sternen.

1Einige Platt-Wendungen werden am Ende des Romans erklärt