Sie hat ihren Namen geändert. Ihr Aussehen. Ihr Leben. Alles, um dem gefährlichsten Mann in ihrem Leben zu entfliehen – ihrem Ehemann ...
Ihre Ehe ist für Sara Burney eine einzige Hölle: Ihr zuvor so liebevoller Ehemann Martin entpuppt sich als gewalttätiger Tyrann, der sie misshandelt und missbraucht. Sara sieht nur noch einen verzweifelten Ausweg: Sie täuscht ihren eigenen Tod vor. Weit weg von Martin, beginnt sie als Laura Gray ein neues Leben in einer Kleinstadt in Iowa. Hilfe erfährt sie dabei von ihrem Nachbarn, einem attraktiven jungen Universitätsprofessor. Doch die Angst bleibt. Denn Martin ist irgendwo da draußen. Und Sarah ahnt: Er wird sie finden ...
Dieser packende Psychothriller ist als »Der Feind in meinem Bett« mit Julia Roberts in der Hauptrolle verfilmt worden. In einer früheren Ausgabe erschien der Roman unter dem Titel »Schreie in der Nacht«.
eBooks von beTHRILLED – mörderisch gute Unterhaltung!
Als ihr erstes Gedicht in einer Zeitung abgedruckt wurde, wusste die damals 14jährige Nancy Price: Ich bin Schriftstellerin. Schon zu Studienzeiten wurden mehr als 100 weitere Gedichte und Kurzgeschichten von ihr veröffentlicht. Nach ihrem Studienabschluss an der Universität von Northern Iowa arbeitete sie dort als Dozentin für Englische Sprache und Literatur, bis sie 1968 beschloss, ihren ersten Roman zu schreiben. Der internationale Durchbruch gelang Nancy Price mit ihrem Psychothriller »Schreie in der Nacht«, der als »Der Feind in meinem Bett« erfolgreich mit Julia Roberts in der Hauptrolle verfilmt worden ist. Ihre Romane, darunter auch »Die Frau im Schatten«, wurden Bestseller und in mehr als fünfzehn Sprachen übersetzt.
Der Feind in meinem Bett
Schreie in der Nacht
Aus dem amerikanischen Englisch von Eva Malsch
Digitale Erstausgabe
»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:
Copyright © 1987 by Nancy Price
Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Sleeping with the Enemy«
Für diese Ausgabe:
Copyright © 1990/2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Titel der deutschsprachigen Erstausgabe: Schreie in der Nacht
Covergestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de
unter Verwendung von Motiven © PATSUDA PARAMEE/shutterstock; paikong/shutterstock
eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 978-3-7517-0761-9
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
Am Tag, bevor Martin Burney seine Frau Sara verlor, sah er sie davongehen, und ihr langes Haar flatterte im Wind, der vom Atlantik herüberwehte. Die Tür eines Friseursalons schloss sich hinter ihr und spiegelte das Sonnenlicht wider. Martins Augen waren so braun und kalt wie übrig gebliebener Kaffee.
Im Meereswind klapperte ein Plastikschild am Schaufenster des Salons, als Martin wegfuhr – HERREN WILLKOMMEN. »Sara Burney«, sagte Sara zu der Frau hinter der Theke und schaute sich in dem neuen Laden um. Im letzten Sommer hatte es ihn noch nicht gegeben.
NEMMOKLLIW NERREH lautete die Aufschrift des Schilds, wenn man sie von drinnen las. Abgeschnittene Haare bedeckten den grünen Boden. Sara folgte der Friseuse zu den Haarwaschbecken. Die Frau hieß »Carmen«, wie ein Namensschildchen an ihrem Kittel verriet.
»Vielleicht eine kleine Tönung«, schlug Carmen vor und legte einen grünen Plastikumhang um Saras Schultern. Sara lehnte sich im Sessel zurück und holte tief Atem. Eineinhalb Stunden konnte sie hierbleiben. Wasser rauschte an ihren Ohren vorbei und durch den Ausguss, zischend wie Wellen auf Sand. Sie schloss die Lider.
»Das bringt mehr Glanz ins Haar.« Carmen trug das Shampoo auf und schaute sich Sara Burney genau an. Dunkle Schatten unter den Augen, so dünn, dass sie beinahe knochig wirkte ... In ihren Jeans und dem langärmeligen Hemd war sie für den Sommer nicht richtig angezogen. Ein Handrücken wies blaue Flecken auf.
Eine Frau in mittleren Jahren, die vor dem benachbarten Becken saß, lachte und fragte die Friseuse, die ihr das Haar wusch: »Haben Sie die Geschichte von der Frau in einer dieser kleinen Südstaatenstädte gelesen, wo jeder jeden beobachtet, fünfundzwanzig Stunden am Tag?« Die Friseuse räusperte sich.
Carmen massierte Saras Kopfhaut. »Machen Sie hier Urlaub? Gehen Sie schwimmen?«
»Ich fürchte mich vor dem Wasser«, erwiderte Sara. Trotz des einladenden Schilds saßen keine Männer im Salon, Parfümdüfte und Frauen umgaben sie. »Wir haben ein Haus in Sand Hook gemietet, bis zum Samstag.«
»Dort gibt’s einen hübschen neuen Kai. Haben Sie ein Boot?«
»Nein. Vor Booten habe ich auch Angst.«
»Ehrlich?« Carmen hörte auf, Saras Kopf zu schrubben. »Sie kommen an den Strand und fürchten sich vor dem Wasser?«
»Ich kann nichts dagegen tun.«
»Haben Sie Kinder?«
»Nein.«
»Man muss aufpassen, dass sich solche Ängste nicht auf die Kinder übertragen«, meinte Carmen, und Sara schloss wieder Augen. »Schlimm muss das sein.« Sie begann das Shampoo aus dem Haar zu spülen. Sara schwieg. »Nun, wenigstens können Sie schön braun werden.« Tränen quollen aus Saras Augenwinkeln. »Haben Sie schon mal versucht, jeden Tag für ein paar Minuten ins Wasser zu gehen?«
»Ja.«
Carmen drückte das Wasser aus Saras Haar und schlang ihr ein Handtuch um den Kopf, drückte ihn an sich und begann zu rubbeln. Sara holte tief Luft im warmen, mütterlichen Dunkel des Frottees und bemühte sich, nicht zu weinen.
»So, jetzt setzen Sie sich bitte da drüben hin«, sagte Carmen. Sara nahm vor einem Spiegel Platz und betrachtete ihr Gesicht. Ein formloser Mund, nasser blonder Seetang als Haar. Sie kniff die Lippen zusammen und blinzelte ein paarmal.
Der Kopf der älteren Frau wurde aus einem Handtuch gewickelt, dann setzte sie sich neben Sara. »In der Zeitung steht, dass diese Frau in eine kleine Stadt irgendwo im Süden gezogen ist.« Sie beugte sich zum Spiegel vor. »Ich sehe aus wie eine ertränkte Ratte.« Mit schmalen Augen starrten sie sich an. »Wie eine ertränkte graue Ratte.« Mehrere Frauen im Salon betrachteten ernsthaft ihre Gesichter, als wäre es notwendig und natürlich, sogar völlig normal, jede Woche Zeit und Geld für die äußere Erscheinung ihrer Köpfe zu opfern. »Diese Frau ist Sekretärin und geschieden, und sie hat zwei Kinder«, fuhr die Kundin in mittleren Jahren fort. »Und sie kümmerte sich nur um ihren eigenen Kram, verstehen Sie? Sie trat dieser Kirche bei, weil sie wollte, dass ihre Kinder Freunde finden. Und natürlich hatte sie einen netten Liebhaber.«
»Einen Vater für die Kinder«, meinte die Friseuse.
»Klar – wie soll man denn sonst einen kriegen?«
Carmen rollte eine von Saras langen Strähnen um einen Wickler. »Waren Sie schon mal in Manhasset?«
»Das ist unser dritter Sommer«, antwortete Sara.
»Woher kommen Sie?«
»Aus Montrose bei Boston.« Wickler begannen Saras Gesicht zu umrahmen, rosa Würstchen rings um leere Augen und einen verkniffenen Mund.
»Brooke, leihst du mir ein paar rosa Wickler?«, rief Carmen und ging davon, um sie zu holen.
»Und da sahen sie sein Auto auf ihrer Zufahrt – ist das nicht schrecklich sündhaft?«, meinte die ältere Frau. »Sein Auto auf ihrer Zufahrt.«
Sara blickte zur Straße hinaus, wo Passanten dahinschlenderten, ziellos und frei, in Schaufenster spähten oder an Ecken stehen blieben, um sich zu unterhalten.
»Und ob Sie’s glauben oder nicht – sie knöpften sich den Liebhaber vor, und er gab zu, er habe ›Unzucht‹ begangen, wie sie’s nannten. Also musste sie vor die Kirchengemeinde hintreten und gestehen, was sie getan hatte, Buße tun und um Vergebung bitten, und ich weiß nicht, was sonst noch alles. Dann schrieb sie der Kirche einen Brief und erklärte ihren Austritt, damit sich diese Leute nicht mehr dafür verantwortlich zu fühlen brauchten, auf welche Weise sie einen Vater für ihre Kinder suchte.«
Carmen kehrte zurück, um Saras restliche Haare auf rosa Würstchen zu drehen. »Ich gehe nicht oft ins Meer. Es ist zu kalt. Brooke schwimmt im Sommer jeden Tag. Großer Gott!«
»Der Kirchenrat erklärte dieser Sekretärin, nein, sie könne nicht austreten, aber man würde sie rauswerfen. Dann beriefen sie eine Versammlung ein – die halbe Stadt gehörte zu dieser Gemeinde. Und sie erzählten allen, was sie getan hatte, und sagten, niemand dürfe mehr mit ihr reden. Da wurde sie furchtbar wütend. Sie nahm sich einen Anwalt, verklagte die Kirche und zwei Ratsmitglieder und erklärte, das sei eine Einmischung in ihre Privatsphäre.«
»Das muss man sich mal vorstellen«, meinte die Friseuse.
Carmen zog ein Netz über Saras Wickler.
»Und ob Sie’s glauben oder nicht – bald wird dieser Sekretärin die ganze Kirche gehören, mitsamt dem Friedhof und dem Parkplatz.«
Carmen führte Sara zu einem Haartrockner und reichte ihr eine Frauenzeitschrift. »Da ist der Schalter. Drehen Sie ihn schwächer, wenn’s zu heiß wird.«
Warme, rauschende Luft hüllte Sara ein. Sie schlug das Magazin auf, ihr Blick fiel auf eine Anzeige – eine Frau mit blauen Lidern über einem Schmollmund.
Der Luftstrom umgab Sara wie ein weicher Vorhang. Sie schloss die Augen und döste ein wenig in ihrer kleinen Höhle, die von sanften Geräuschen erfüllt wurde. Viel zu schnell verrann die Zeit. Ihr Haar trocknete, das konnte sie nicht hinauszögern. Sie zuckte zusammen, öffnete die Augen und sah in der Zeitschrift die Illustration eines Liebespaars, das sich leidenschaftlich küsste. »Sein Mund senkte sich auf ihren herab«, stand darunter, »und er ließ sich Zeit, fest entschlossen, ihren Widerstand zu besiegen, so wie sie entschlossen war, sich zu wehren. Er presste sie an sich, und sie spürte in wachsender Erregung das machtvolle Verlangen seines harten männlichen Körpers.«
Sara sah andere Frauen unter den Trockenhauben gähnen. Das Magazin enthielt einen Psychotest über das Liebesleben. Tipps für sexuelle Befriedigung, Ratschläge, wie man den Ehemann erfreuen oder die Schulprobleme der Kinder lösen konnte. Sie klappte es zu und beobachtete Friseusen, die zwischen wehenden Haaren hindurchschwebten, lautlose Schritte voreinander setzten und harmonisch die Hände bewegten.
Saras Haar trocknete. Hin und wieder kam Carmen zu ihr, um es anzufassen, schließlich schaltete sie die Trockenhaube ab. Das Rauschen erstarb. Sara sah, wie Martin jenseits von NEMMOKLLIW NERREH in eine Parklücke fuhr.
Carmen führte Sara zu einem Sessel vor den Spiegeln. Ein kleines Mädchen saß daneben, mit grimmiger Miene. Das nasse Haar klebte ihm am Kopf. »Du wirst so hübsch aussehen«, gurrte eine Friseuse, und das Kind schwieg.
»Sind Sie Lehrerin?«, fragte Carmen, nachdem sie die Wickler aus Saras Haar gezogen hatte. Nun bearbeitete sie es mit einer großen Bürste. »Auf diesen Gedanken bin ich gekommen, weil Sie so kultiviert sprechen. Gerade sagte ich zu Brooke, das ist bestimmt eine Lehrerin.«
»Ich arbeite in einer Bibliothek.« Sara schaute nicht zu Martin hinaus, der im Auto wartete. »Halbtags.«
»Das dachte ich mir.« Carmen strich Saras Haar glatt. »Ich dachte mir, dass Sie irgendwas mit Erziehungswesen zu tun haben. Für so was hab ich ein Gespür.«
Sara starrte auf die Blondine im Spiegel, schloss die Augen, roch Alkohol und Wasserstoff. »Was glauben Sie wohl, wie Ihrem Mann die neue Tönung gefallen wird!«, sagte eine Friseuse zu einer alten Dame. In dem großen Raum glitzerten die Apparaturen, weiß mit Chrom, kalt wie in einer Klinik. Frauen ließen sich die Nagelhäute zurückschieben; Haare wurden gebleicht oder gefärbt und mit Chemikalien traktiert.
»Nun?« Carmen reichte ihr einen Handspiegel, und Sara drehte den Kopf hin und her, um die Frisur von allen Seiten zu betrachten.
»Sehr schön. So mag’s mein Mann am liebsten.« Sie strich sich über die Stirn, schloss sekundenlang die Augen, dann gab sie den Spiegel zurück. Martin öffnete die Tür des Salons.
»Ist er das?«, fragte Carmen. »Sieht nett aus. Sie sind beide blond, ein attraktives Paar.« Sie nahm den grünen Umhang von Saras Schultern.
Sara ging zu Martin und zur Kasse. Sie bezahlte, drückte ein Trinkgeld in Carmens Hand und warf einen letzten Blick auf die Frauen in den Sesseln, unter den Trockenhauben. Das kleine Mädchen starrte immer noch vor sich hin, stramme Wickler zerrten die Brauen hoch.
Und dann zog Martin die Tür auf. Eine Meeresbrise blies Sara entgegen, der letzte Hauch von Parfüm verschwand, und sie musste mit Martin die Straße überqueren. Ein attraktives Paar ...
Wind wehte vom Wasser herüber. Martin sagte nichts. Sara ging zur Beifahrerseite und zwängte sich zwischen Lebensmitteltüten.
Während er aus der Stadt fuhr, beobachtete sie Familien mit Kindern – zwei Frauen unterhielten sich an einer Ecke – ein Kind auf einem Dreirad ... An einer Kreuzung saßen Polizisten in einem Streifenwagen. Dann blieb Manhasset hinter ihnen zurück, es gab nur noch Martins Profil vor dem langen blauen Schleier der Bucht.
In der Stille des Autos schloss Sara die Augen. Ein Plastikbeutel mit Weinflaschen wurde fast verborgen von Lebensmitteln. Möhren- und Selleriegrün flatterte im Fahrtwind.
Sie kamen am Blue Lobster vorbei, folgten einer Biegung in der Sandstraße. Die Brise hob blonde Strähnen von den schütteren Stellen in Martins Haar. Hinter Manhasset fuhren sie an einer seichten Bucht dahin. Sara schaute ihren Mann an. Von der Seite betrachtet wirkte sein Mund klein und zusammengepresst.
Gras und Büsche verdeckten das Wasser, Martin bog in die Zufahrt des Mietshauses. Zwei Strandbungalows standen zwischen einem Pinienwäldchen und der Bucht.
Er hatte den Hausschlüssel vergessen. Sie mussten den Steilhang neben dem Haus hinabgehen und dann die Strandtreppe hinabsteigen, wo sie sich kichernd und methodisch auf jeder Stufe geliebt hatten. Saras zwei Tüten waren sehr schwer.
Sie betraten das Haus durch die Hintertür, und während Martin im Bad verschwand, packte Sara den Wein aus. Eine Portflasche war fast leer.
Sie stellte Konservenbüchsen auf Schrankregale mit den Schildern nach vorn, nach Größen geordnet, so wie Martin es mochte. Er hasste es, wenn das Gemüse ungewaschen weggeräumt wurde. Und so begann sie die äußeren Blätter des Salats abzuzupfen. Als Martin aus dem Bad kam, beobachtete sie, wie er sich vergewisserte, dass sie das auch wirklich erledigte.
Das Strandhaus war klein und mit Katastrophen eingerichtet. Die Sessel hatten Klumpen in den Lehnen, die Lampen fielen ständig um. Die Beine vom Tisch waren immer da, wo man seine eigenen hinstellen wollte. In den Flitterwochen hatten sie sich auf jedem Möbelstück geliebt, das groß genug war.
Sie lauschte, während sie den Sellerie wusch. Martin saß auf der Couch im Wohnzimmer, und sie hörte seine Zeitung rascheln.
»Mmmm ...« Er trat hinter sie, während sie die Möhren putzte, schob eine Hand unter ihr frischgewaschenes Haar und küsste ihren Nacken. Sie erschauerte, und er lachte und gab ihr noch einen Kuss. Da drehte sie sich um und küsste ihn so, wie er es liebte. Sein Atem roch nach Portwein. Dann schlug er sie mit aller Kraft, beinahe noch, bevor sie aufhörten, sich zu küssen. Sie prallte gegen den Tisch, das Zeitungspapier mit den Möhrenabfällen landete am Boden.
»Während du in Boston warst, musste ich warten!«, schrie er. »Das Abendessen war nicht fertig! Verdammt, am Donnerstag bist du fast eine Stunde zu spät gekommen!«
Sara berührte ihre heiße, brennende Wange und beobachtete Martins Hände, die jetzt zu Fäusten geballt waren. Er boxte sie in den Magen, sie krümmte sich zusammen, rang schmerzhaft nach Atem, und er zog ihren Kopf an den Haaren zu sich heran. »Nimm dich bloß in Acht!«, flüsterte er ihr ins Ohr. Seine Stimme klang so, als wäre seine Zunge zu groß für seinen Mund.
Er ließ sie los, und sie kniete nieder, um die Möhrenabfälle einzusammeln, Tränen tropften auf das alte Linoleum. »Hör zu heulen auf!«, brüllte er und trat gegen ihre Waden, wo sie bereits blaue Flecken hatte. An der Tischkante zog sie sich hoch und entfernte sich von Martin. Er goss sich ein Glas Wein ein, dann schaute er zu, wie sie das Gemüse putzte. Sie wich seinem Blick aus. Ihr Magen tat weh, und sie konnte nur mühsam atmen. Unterhalb des Hauses brachen sich Wellen am Strand, die Flut kroch heran, um die Küche mit Tosen und Zischen zu füllen.
Martin beobachtete seine Frau. Sie hielt den Blick gesenkt, schabte Möhren ab, schnitt sie mit einem scharfen Messer in dünne Scheiben. Nachdem er das Weinglas geleert hatte, kam er so plötzlich zu ihr, dass sie das Messer fallen ließ und vor ihm zurückschreckte. Er umarmte sie, und sie konnte sich nur langsam bewegen, als sie die Möhren in den Kochtopf tat und die Hamburger formte.
Schweigend arbeitete sie weiter. Sie trug keinen BH, weil sie BHs nicht mochte, und unter den Jeans hatte sie sein Lieblingsbikinihöschen an. Beides zog er herunter, und sie gab einen Laut von sich, der einem Kichern ähneln sollte, während sie die Kartoffeln in dünne Scheiben schnitt. Er küsste sie wieder, und sie humpelte zum Herd, die Jeans und den Slip um die Knie, und drehte die Hamburger um.
Als er sich im Wohnzimmer noch einmal Wein einschenkte, zog sie die Jeans mitsamt dem Höschen hoch und zerschnitt die restlichen Kartoffeln. Draußen war es fast dunkel. Das Lavendelblau der Bucht ging in tristes Grau über.
»Komm her!« Martin versuchte ihr Hemd aufzuknöpfen.
»Das Essen ist gleich fertig«, wandte sie ein, aber sie lächelte und legte die Arme um seinen Hals.
»Und ich? Was ist, wenn ich kalt werde?« Er zog den Reißverschluss ihrer Jeans auf, und sie öffnete hastig die restlichen Hemdknöpfe. Dann streifte sie seine Hose nach unten, schaltete die Hitze unter den Möhren und Kartoffeln kleiner und legte ihre Kleider ordentlich zusammengefaltet neben die Tür. Als sie sich bückte, stöhnte sie.
Das Bett quietschte in drei vertrauten Tonhöhen – C, As, F. Auch Sara gab die üblichen Laute von sich, tat alles, was Martin am besten gefiel, und vergaß nichts. Die Küchenlampe brannte, ihre Kleider lagen neben der Tür. Sein süßlicher Alkoholatem keuchte ihr ins Gesicht. Er strengte sich mächtig an, und als er fertig war, lag sie da und blickte auf einen Spiegel, der sein Silber verlor.
Sie erwachte, von seinem schweren Arm und einem Bein festgehalten. Martin roch immer noch nach Wein. Er begann zu schnarchen.
Langsam rutschte sie unter ihm hervor. Das Bett federte kaum, als sie aufstand. Ihre Kleider warteten, ordentlich zusammengelegt. Die Badezimmertür knarrte nicht, während sie vorsichtig geschlossen wurde. Die Flecken an Saras Beinen waren jetzt dunkelrot. Im Morgengrauen würde sie nicht den Strand entlanglaufen können, allein, in der Stille. Sie rieb sich den Magen, wo seine Faust gelandet war, rieb immer wieder darüber.
Der Badezimmerspiegel war in den Flitterwochen verschont worden. Er zeigte ihre roten Stellen an den Brüsten und am schlanken Hals, sie hätte eine andere Sara sein können. Eine jungverheiratete Sara, die nach der Liebe lächelte und nicht wollte, dass die Spuren der Lust verblassten. Aber die Flecken an den Beinen färbten sich
violett. Ihr Magen schmerzte. Das Handgelenk, das er einmal gebrochen hatte, schimmerte bläulich.
Wieder angezogen schloss sie die Küchentür. Die Möhren und Kartoffeln waren gar. Sie stellte zwei Teller auf den Tisch, vergaß weder die Petersiliengarnitur noch die Schüssel mit der Salatsauce oder den Sahnekrug für Martins Kaffee.
Das Telefon läutete. Sara rannte zum Apparat und riss noch vor dem zweiten Klingeln den Hörer von der Gabel. Sie kniete neben der Couch, dann setzte sie sich und streckte die steifen Beine aus. »Hallo?«, wisperte sie und dämpfte ihr Flüstern noch mit einem staubigen Sofakissen. Gleichmäßiges Schnarchen drang aus dem Schlafzimmer.
»Sara?« Es war Joan Pagent. »Marie hat mir die Nummer von eurem Strandhaus gegeben. Sitzt ihr gerade beim Abendessen? Heute hatten wir unseren Lunch. Außer dir waren alle da. Ich sagte, ich würde dich anrufen und fragen, ob du am Montag in einer Woche zu Cristine kommen kannst.«
Sara schloss die Augen. »Montag in einer Woche – das klappt«, flüsterte sie. »Martin schläft, deshalb spreche ich so leise.«
»Erholt ihr euch gut? Wusstest du, dass Karen einen Job bei Humbert Associates bekommen hat?«
»Nein.« Martins Schnarchen behielt seinen stetigen Rhythmus bei.
»Bist du okay?« Joans Tonfall änderte sich. »Beim Picknick am Freitag sah es so aus, als wäre Martin wütend auf dich.«
»Er war ziemlich aufgeregt.« Sara dachte plötzlich an jenen Topf mit dem Weihnachtsstern, den Martin ihr aus der Hand gerissen und in den Schnee geworfen hatte, weil er so teuer gewesen war.
»Aufgeregt!«, echote Joan. Sara hörte das Wort und sah Martin im Schnee, am Boden zerstört und so rot wie der Weihnachtsstern, den er misshandelt hatte. »Du warst so blass.«
»Ich war nicht rechtzeitig nach Hause gekommen. Natürlich schämte ich mich, weil wir so viel Wirbel machten. Tut mir leid.« Unter dem warmen, stickigen Kissen liefen ihr Tränen über die Wangen.
»Wir konnten es kaum glauben.«
»Ich weiß«, wisperte Sara. »Danke für den Anruf. Auf Wiederhören.« Joan sagte noch etwas, aber ein Klicken schnitt ihr die Stimme ab.
Eine Zeit lang blieb Sara neben der Couch sitzen, rieb sich die Stirn über der Nasenwurzel, als würde ihr das helfen, sich etwas Hilfreiches, Tröstliches auszudenken. Dann stand sie steifbeinig auf. Am Strand konnte man Segelboote mieten. Martin hatte das bereits getan. Sie rieb sich den Magen und die Rippen und dachte an ein Segelboot. Ringsum schien das Ferienhaus zu beben. Martin schnarchte und seufzte im dunklen Schlafzimmer.
Es war ein gutes Essen. Saftige Hamburger mit knackigen Zwiebeln, Butter auf den Kartoffeln, sodass Martin jeden Bissen in eine goldgelbe Pfütze tauchen konnte, die Möhren süß und nicht zu weich. Wenn er aufwachte, würde das Dinner fertig sein. Und wenn er die ganze Nacht schlief, würde er am Morgen seinen Teller auf dem Küchentisch finden.
Saras Hals verkrampfte sich, als würde sie schluchzen, aber sie weinte nicht; kein Laut rang sich aus ihrer Kehle. Eine wunderbare Glasur überzog die Kirschtorte, Mandeln waren darauf gestreut. Sie warf ihr Abendessen und ihr Tortenstück in den Abfalleimer und bereitete sich lautlos aufs Schlafengehen vor.
Im Schein der kleinen Küchenlampe sah sie Martin im Bett liegen, mit offenem Mund, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Lange Zeit beobachtete sie ihn. Dann knipste sie das Licht aus, kroch neben ihrem Mann unter das dunkle Laken und biss sich auf die Unterlippe, als sie die Beine ausstreckte.
Ihre Kleider lagen immer noch ordentlich zusammengefaltet neben der Tür. Eine Meile entfernt, in Grenville, gab es eine Wäscherei und an der Straße Bäume, hinter denen man sich verstecken konnte. Zu Hause hatte sie bei der Gartenhecke Geld vergraben, in einem Pillenröhrchen aus Plastik. Und ganz in der Nähe lag eine Busstation mit einem Badezimmer und einem Stuhl darin. Die Station war die ganze Nacht geöffnet.
Bis zum nächsten Samstag hatte sie noch Zeit. Die Brandung rauschte. Das Strandhaus stand am Hang, unterhalb des Pinienwäldchens, das Bett hoch über den Wellen.
In Montrose blieb sie abends oft in der Bibliothek, um für ihre theaterwissenschaftlichen Studien zu arbeiten. Nun fielen ihr einzelne Dramen ein, Zeile um Zeile. Sie erinnerte sich an eine Stelle aus »Der Widerspenstigen Zähmung«, wo Affen zur Hölle geführt wurden. Ganze Szenen hatte sie auswendig gelernt – Linda am Grab ihres Handlungsreisenden, still und befreit. Eine Welle nach der anderen brach sich unten am Strand, bis der Rhythmus wie das Schlagen einer Tür klang, die vom Wind hin und her geworfen wurde, und Sara einschlief.
Die Wogen schäumten immer noch am Felsenstrand, als Sara erwachte. Die Sonne malte Streifen auf das Bett. Martin fluchte in der Küche, der Deckel des Mülleimers krachte, Geschirr klirrte.
Er schloss die Badezimmertür, die laut quietschte. Sara stand auf, hinkte auf schmerzenden Beinen zur Küchentür, um ihre Jeans und das langärmelige Hemd zu holen. Sie machte das Bett, kochte Eier, deckte den Tisch. Speck brutzelte in der Pfanne, als Martin auftauchte, ein Handtuch um den Hals geschlungen, seine nackten Füße tappten über das zerkratzte Linoleum. Er schaute nicht auf sein schmutziges Geschirr vom Vorabend, das auf dem Tisch stand. »Ist das Frühstück fertig?«, fragte er.
»Ja.« Sara richtete den knusprigen Speck – genauso, wie er ihn gern mochte – neben den gekochten Eiern auf einem Teller an. Ihr eigenes Frühstück stand ihm gegenüber, neben dem schmutzigen Geschirr. Sie ging ins Bad, dann stieg sie steifbeinig die lange Strandtreppe hinab, die sie Schritt für Schritt in die warme Sonne führte.
Sie blieb stehen, hielt den Atem an und blinzelte. Ein Segelboot, am Dock des Nachbarhauses vertäut, schaukelte sanft auf seinem welligen Schatten.
Sara fröstelte im Sonnenschein. Seicht und blau erstreckte sich vor ihr die Manhasset Bay. Auf diesem Wasser war sie schon gesegelt, und sie wusste, dass es von Flüssen und Bächen gespeist wurde, dass die schmale Öffnung der Bucht im Osten lag. In weiter Ferne sandte die Stadt Bankton Lichtfunken aus. Ein paar Bojen markierten gefährliche Flutströmungen bei der gekrümmten Landzunge.
Sie stand noch eine Weile da, starrte auf das Segelboot, den Morgen und das Meer, dann ging sie durch das Gras, stieg über eine niedere Mauer und erreichte den Nachbarstrand, ohne das Boot aus den Augen zu lassen. Ein Mann kauerte am Kai, den Rücken zu ihr gewandt. Goldgelb leuchteten seine Shorts in der Sonne.
»Hey!« Er stand auf und wischte sich die Hände an der Hose ab.
»Hallo. Haben Sie das Haus von den Driscolls gemietet? Ich bin Sara Burney.«
»John Fleishman. Nur für zwei Wochen.« Er war jung und mager und hielt das Kinn hoch, um mit strahlenden, dicht bewimperten Augen auf sie herabzuschauen.
»Sie sind Segler, was?«
»Mein Mädchen wohnt in Bankton. Ich segle jeden Tag rüber.«
»Ist das nicht ein ziemlich großes Boot für einen einzigen Mann?«
»Eigentlich nicht. Normalerweise braucht es zwei Mann, aber wenn man den Klüver nicht allzu stramm zieht, kommt man ganz gut mit dem Großsegel und dem Ruder zurecht. Sind Sie aus dieser Gegend?«
»Ich habe als Kind zwei Jahre in Manhasset gelebt. Seit unserer Hochzeit kommen wir jeden Sommer her.«
»Aus Boston?«
»Montrose.«
»Waltham.« John lachte. »Da muss ich noch heute hin. Abends komme ich zurück. Könnten Sie ab und zu mal ein Auge auf dieses Haus werfen?«
»Klar«, antwortete sie lächelnd. Er schaute ihr nach, als sie steifbeinig zur niederen Strandmauer ging, darüber stieg und die Flut beobachtete. Sie kannte die Strömungen in der seichten Bucht und den Windschatten bei der gekrümmten Landzunge, und sie wusste genau, wie die Winde wehten. Die Meeresbrise wirbelte Sand zu Saras Füßen auf und strich durch das Gras.
Martin hatte gegessen, in der Tür gestanden und sie mit John Fleishman sprechen sehen. Ihr Frühstück war kalt geworden. »Wollen wir schwimmen?«, fragte er lächelnd.
Sie setzte sich und begann ihr kaltes Frühstück zu essen.
»Wir haben einen neuen Nachbarn, was?«, sagte er. »Ich sollte mal rübergehen und nachbarliche Kontakte pflegen.«
Sie bemerkte, wie er den Bauch einzog, als er die Treppe hinabstieg. Wie immer ließ er die Fersen hart auf den Stufen landen. Als er John Fleishman erreichte, strich er sich das Haar aus der Stirn. Die beiden schüttelten sich die Hände. Jenseits der Bojen, weit draußen, steuerte ein Segelboot quer über die Bucht auf Bankton zu.
Sie spülte das Geschirr. Martin hatte Äpfel gekauft, und sie rührte einen Tortenteig an. Während sie ihn ausrollte, hörte sie Martins laute Stimme. Er verabschiedete sich von John Fleishman, kam die Treppe herauf und schlug die Hintertür zu, dann trat er an den Herd. Sie hatte frischen Kaffee gemacht.
Sara legte ihre mehligen Hände auf die nackten Arme und schaute zu dem Segelboot hinab. »Wie kann man bei diesem Wellengang hinausfahren!«
Martin zog die Mundwinkel nach unten und sah wie sein Vater aus. »Verdammt noch mal, warum hast du solche Angst vor dem Wasser?«
Sie legte den ausgerollten Teig in eine Tortenform und begann die Äpfel zu schälen. Er setzte sich und beobachtete sie. Die Messerspitze bohrte sich unter eine Apfelschale.
Martin beobachtete sie. Und sie beobachtete die Äpfel.
Klick-klick-klick. Am Nachbarkai schlug Metall gegen Metall. Kreischend scharrte Martins Stuhl über das Linoleum, als er aufstand. Er ging hinaus und unterhielt sich wieder mit John. Sara schälte die restlichen Äpfel.
Nach einer Weile rief John: »Bis später!« Eine Autotür fiel ins Schloss, Kies knirschte unter den Reifen. Der einzige Nachbar war für diesen Tag davongefahren.
Sie rollte gerade eine zweite Teigplatte aus, um damit die Torte abzudecken, als Martin zurückkehrte. Er strich mit allen zehn Fingern durch sein Haar, setzte sich und schaute Sara zu, die eine runde Teigscheibe formte. Das Schweigen zwischen ihnen wurde dünn und dünner, wie der Teig.
»Ein hübsches kleines Boot hat er«, meinte Martin. »Ich wünschte, zu diesem Haus würde auch eins gehören.« Saras Blick blieb auf den Teig gerichtet, auch ihr Mann schaute darauf. »Mach ihn nicht zu dünn. Gibt’s heute Abend Steaks?«
Sie nickte.
»Ein hübsches kleines Boot«, wiederholte er.
Sara belegte den Tortenboden mit Apfelscheiben, drückte den Teig gegen den Rand der Backform und lauschte auf die Stille.
»Wir sollten ein bisschen hinaussegeln«, schlug Martin vor.
»Das machen wir doch jedes Jahr, oder?«
Sie hob die Tortenform mit einer Hand hoch, schnitt mit der anderen die überhängenden Teigränder ab.
»Du musst deine Angst überwinden«, fügte er hinzu.
Teigstücke fielen auf den Tisch. Fest und sicher ruhte die Backform in Saras Hand.
»Na, was meinst du?« Martin lächelte. Jetzt zitterten ihre Hände ein wenig. »Nur ein kurzer Trip heute Abend, mit dem Typ von nebenan. Nur über die Bucht nach Bankton, das ist alles. Er wird Hilfe brauchen. Einmal hin und zurück.«
»Lieber nicht.«
»Dein Bruder Joe hat mächtig damit angegeben, du seist wie ein Junge gewesen. Angeblich konntest du alles. Verdammt, und er hat zugelassen, dass du dich vor dem Wasser fürchtest? Jahrelang!«
»Wir haben nur zwei Jahre hier gelebt.«
»Heute Abend. Wenn es dunkel genug ist, sodass die Lichter der Stadt hübsch aussehen. Eine nette kleine Segelfahrt über die Bucht. Diesmal wird’s dir Spaß machen.«
»Du weißt, wie mir zumute ist.« Sara hob das Kinn und runzelte die Stirn. Martin stapfte aus der Küche, rammte die Ferse in den Wohnzimmerteppich und warf die Haustür hinter sich zu. Wenig später hörte sie die Wagentür knallen. Er würde schwimmen gehen und dann in irgendeine Bar und vor dem Dinner nicht zurückkommen. Sie hörte ihn die Strandstraße hinabfahren.
Sara beugte sich aus dem Fenster, um die Meereswellen schäumen zu sehen, und begann zu zittern. Drüben, fast außerhalb des Blickfelds, hing ein sandiger Felsvorsprung über der Brandung. Einmal hatte dieser Felsen unter ihrer Hand Sonnenhitze ausgestrahlt ... Sie erinnerte sich an jene Hitze und war wieder mit ihrem Bruder Joe da draußen im Dunkel, sie zwölf Jahre alt, er sechzehn. Und die Herausforderung – eine Wettfahrt über die Bucht nach Bankton!
Joes nackte Schultern, schimmernd im Mondlicht, das seine roten Locken schwarz gefärbt hatte. Wegen seiner Lungenentzündung war es sträflicher Leichtsinn gewesen, diesen Wettkampf zu versuchen, aber wer hätte ihn zurückhalten können? Er wäre ohne sie losgefahren, hätte sie Nein gesagt.
Sara drückte die mehligen Handrücken gegen die Augen, dann starrte sie in die kleinen Räume, mit Katastrophen eingerichtet.
»Ein Boot«, sagte sie laut.
Sie kehrte zum Küchentisch zurück. Fein wie Sand rieselte Zucker aus dem Messbecher auf den glatten Teig. Als die Torte im Backofen stand, ging sie hinaus und blickte lange auf die blaue Lücke der Manhasset Bay, wo das Meer begann.
Dann drehte sie sich um und betrachtete blinzelnd die beiden Strandhäuser. Sie standen weit von den anderen Bungalows entfernt, die billigsten Ferienhütten von Sand Hook. Die Tür des Backofens musste man mit einem Zollstock zuhalten, die Kochtöpfe im Küchenschrank waren verkrustet von den angebrannten Essensresten anderer Leute.
Sara schloss die Augen, um sie vor der Sonne zu schützen, und lauschte der Stille zwischen den brausenden Wellen.
Aber das Strandhaus bot eine schöne Aussicht auf das Meer. Das Dach leckte nicht. Und sie konnten sich’s leisten. Daheim in Montrose war ihr kleines Cape-Cod-Haus das billigste im Block, aber Sara hatte ihren neuen Kühlschrank und den Herd und ihren Schreibtisch in der Bibliothek.
Als die Torte fertig war, betrachtete Sara noch lange das Meer und die Häuser. Sie saß auf der niederen Steinmauer zwischen den Cottages, dann wanderte sie langsam am Strand auf und ab. In ihrer Nähe segelten keine Boote vorbei. Niemand schlenderte an der schäumenden Brandung entlang. Martin und John Fleishman waren weggefahren. In der Mittagssonne schlug das Segelboot immer wieder gegen die Kaimauer.
Sara strich sich über die Stirn, während sie in die Ferne schaute, über die Öffnung der Bucht hinaus, zum Schleier des Ozeans.
Dann suchte sie im struppigen Gras nach Steinen, sammelte eine Handvoll. Sie blinzelte in die Sonne, zielte auf zwei Strandlampen, die an Pfosten hingen, schleuderte die Steine hoch, wie sie es von Joe gelernt hatte, und lächelte, als das Glas splitterte und die Scherben herabfielen.
Kurz vor Einbruch der Dunkelheit kam Martin nach Hause. Sara fragte nicht, wo er gewesen war. Sie hatte Zwiebeln geschält und Tränen in den geröteten Augen. Er war betrunken genug, um Reue zu empfinden. »Ich hab dich geschlagen«, sagte er ihr ins Ohr, »aber du weißt doch, dass ich dich liebe, nicht wahr? Du bist zu spät aus Boston zurückgekommen, und du machst mich so böse, wenn du deine Gedanken nicht beisammenhast.« Er zog einen großen Rosenstrauß hinter dem Rücken hervor, und als er ihr die Blumen reichte und sie küsste, roch sie den zarten Duft und schloss die Augen, so wie sie es manchmal tat, um sich vorzumachen, ihre Ehe wäre glücklich. »Da, schau mal.« Er grinste. »Das darfst du nur für mich anziehen.«
Sie öffnete die Schachtel, während er sie in den Armen hielt und ihren Nacken küsste. »Sehr sexy!«, meinte er, als sie ein schwarzseidenes Hemdhöschen auspackte.
Eine Zwiebelträne rollte über Saras Wange. »Hör zu weinen auf«, befahl Martin, »und zieh’s an.« Er öffnete den Reißverschluss ihrer Jeans, sie knöpfte ihr Hemd auf und streifte die Turnschuhe von den Füßen. Dann schob sie die Beine in das Hemdhöschen und zog das Oberteil hoch. Es dehnte sich an ihrem Körper, durch die Spitze sah man die Brustwarzen und das Schamhaar.
»Wow!«, rief Martin. »Eine Blondine in Schwarz. Geh mal rum, spiel mir eine Modenschau vor.«
Sara stand in der Küchentür und drehte sich langsam, um das Hemdhöschen aus schwarzer Seide und Spitze vorzuführen, die rotblauen Flecken an ihren Beinen, die gelbgrünen an den Armen und Brüsten.
»Großartig!«, lobte Martin und holte ein Glas für seinen Wein. Sara zog ihr Hemd und die Jeans über das Hemdhöschen an. Es gab keine Vase im Strandhaus, und sie musste die Rosen in ein Gurkenglas stellen.
Martin entspannte sich, trank Wein im Wohnzimmer und wartete auf das Abendessen. Er hatte ihr ein Geschenk mitgebracht. Auch ihre rote Küche war ein Geschenk gewesen – nachdem er ihr einen Zeh gebrochen hatte.
Der Duft roter Rosen hing über dem Dinner. Sie ließen das Radio laufen, um das Schweigen auszufüllen, während Martin ein Steak mit Kartoffel und Sahnezwiebeln und Salat und dann ein Stück Apfeltorte aß, Sara brachte kaum einen Bissen hinunter. Sie hörten, wie John Fleishmans Auto in die Nachbarzufahrt bog.
»Noch etwas Wein?«, fragte Sara.
»Wenn wir zurück sind.« Er leerte seine Kaffeetasse. »Jetzt ist es dunkel. Er hat gesagt, wir sollen aufkreuzen, sobald es dunkel ist.«
»Lass mich das Geschirr spülen. Du ärgerst dich doch immer so, wenn du nach Hause kommst und schmutzige Teller rumstehen.«
»Später. Wir segeln nur bis Bankton und schauen uns die Lichter der Stadt an, die sich im Wasser spiegeln. Weißt du noch, wie hübsch das letzte Jahr war? Dann fahren wir zurück, und du kannst Geschirr abwaschen, so viel du willst.« Er drückte seine Lippen auf ihren Hals. »Falls du noch Lust dazu hast, wenn wir wieder daheim sind ...«
»Lass mich die Teller wenigstens abspülen.«
Martin lachte. »Komm jetzt! Zieh besser eine Jacke an und die Turnschuhe.«
»Könnten wir nicht ein andermal segeln? Er ist noch die ganze Woche hier, mit dem Boot.« Ihre Stimme zitterte, klang dünn und kindlich. Sie blieb vor der Schlafzimmertür stehen.
»Willst du dich dein Leben lang vor dem Wasser fürchten?«, stieß Martin hervor, dann schlug er einen einschmeichelnden Ton an. »Du solltest mal den Vollmond da draußen sehen! Wenn du in der Finsternis an Bord gehst, merkst du gar nicht, dass du auf dem Wasser bist. Das ist der ganze Trick dabei. Und es wird vorüber sein, ehe du Zeit hast, Angst zu kriegen. Komm jetzt!«
Sara starrte ihn an.
»Zum Teufel, du sollst doch gar nicht schwimmen gehen!«, schrie er. Sie wich zurück, hob die Arme vors Gesicht, aber der Schlag traf sie seitlich an einer Brust, und als sie Martin auswich, hieb er ihr die Faust an den Kopf, der gegen den Türrahmen prallte. »Er hat gesagt, wir sollen rüberkommen, wenn es dunkel ist. Noch fünf Minuten – dann will ich dich in diesem Boot sehen!« Er packte sein Jackett, lief zur Hintertür hinaus und warf sie zu, dann drückte er draußen auf einen Lichtschalter und fluchte.
Keuchend presste Sara die Hände auf ihre Brust. Mühsam hielt sie die Tränen zurück, während sie in ihre Jacke und die Turnschuhe schlüpfte. Ihr Kopf blutete, aber nicht stark. Sie musste noch zweimal auf die Toilette gehen. Johns Strandlampe funktionierte auch nicht. Sie hörte Martin zurückkommen und im Schuppen nach einer Taschenlampe suchen.
Sara schloss die Tür hinter sich und stieg die Treppe hinab, mit steifen Beinen. Durch die Sohle der Turnschuhe spürte sie die scharfen Stufenkanten.
Der Vollmond schimmerte, die Wellen, die den Strand überspülten, hatten Silberränder. Dann verschwand der Mond hinter Wolken.
Zwei Taschenlampen bewegten sich auf Johns Kai. »Sara?«, rief Martin. Sein Tonfall klang höflich, also musste John bei ihm sein. »Die Strandlampen sind beide kaputt. Wahrscheinlich haben irgendwelche verdammten Kinder mit Steinen danach geworfen.« Er war nur ein Schemen vor dem Silberwasser, aber sie konnte Johns weißes Jackett sehen.
Martin winkte ihr mit seiner Taschenlampe zu. »Komm her!«, sagte er hinter dem Licht, beinahe sanft. »Es wird dir gefallen.« Er nahm ihre Hand und zog sie über die niedere Steinmauer. »Ich garantiere dir, es wird dir so gut gefallen, dass du von jetzt an jeden Abend segeln möchtest.« Seine Stimme wurde lauter und jovialer, als sie auf John zugingen. »Bald werde ich dir sogar ein Boot kaufen müssen.«
Sara entriss ihm ihre Hand, aber er packte sie und zwang sie, ihm über den Kai zu folgen. Als er sie in das schaukelnde Segelboot schob, klammerte sie sich an ihn.
»Setzen Sie sich da hin!«, sagte John, dann wandte er sich ab, um das Großsegel zu überprüfen.
Aber Sara setzte sich nicht. Sie stand da und hielt sich mit beiden Händen an einer Want fest. Das Knallen des aufgeluvten Großsegels dröhnte ihr in den Ohren.
»Willst du über Bord fallen?«, schrie Martin und drückte sie auf die Bank. Zusammengekauert saß sie da. »Sie hat ein bisschen Angst vor dem Wasser«, erklärte er John.
»Wir segeln ganz langsam.« John hatte keine so laute Stimme wie Martin. »Das Boot ist groß und so breit, dass es gar nicht kentern kann. Wenn wir über Stag gehen, müssen Sie nicht mal die Seite wechseln. Und für eine richtige Krängung ist der Wind zu schwach.« Das weiße Jackett, von der Taschenlampe erhellt, beleuchtete sein ernstes Gesicht, das zerzauste dunkle Haar. »Aber Sie müssen nicht mitfahren. Meine Schwester fürchtet sich auch vor dem Wasser, also weiß ich ...«
»Jetzt ist sie okay«, fiel Martin ihm ins Wort »Sobald sie in einem Boot sitzt, geht’s ihr gut.«
»Wir haben auflandigen Wind, also werden wir dicht bei der Küste bleiben, bis wir die Landzunge umrundet haben. Wegen der Ebbe müssen wir wahrscheinlich nur einmal über Stag gehen. Und nun scheint der Mond wieder ganz hell.«
Aber der Vollmond glitt immer wieder hinter dicke Wolken. Sara umklammerte die Reling. Die Taschenlampen warfen dünne Strahlen durch das Dunkel. Der Kai glitt davon und verschwand. Das Land unter ihnen versank, weiter draußen tanzten Bojen.
Sara saß an der Leeseite des Ruders und sah Martins und Johns kopflose Gestalten, weil der Klüverbaum hart am Wind gesetzt war und ihre Körper von der Brust aufwärts verdeckte. Johns Hand lag am Ruder; Martin hielt das Großsegel fest, direkt unterhalb der Klampe. Bei jedem Windstoß neigte sich das Boot gehorsam zur Seite, und Sara hörte hinter ihrem Rücken Wasser gurgeln.
Ihre Brust schmerzte, Blut klebte auf der Beule an ihrem Kopf.
Als der Vollmond wieder schien, übersäten auch Sterne den Himmel. Sara schaute nach Sand Hook zurück, zu den Strandhäusern. Die Ebbe strömte zum Meer hinaus. Sand Hook sorgte für ruhiges Wasser, verringerte die Kraft der Strömung, die eine Leiche in den Ozean hinausziehen und niemals zurückbringen würde, nicht einmal als modernden, in Seetang gehüllten Fleischklumpen an irgendeinem fernen Strand. Die Wellen waren so kalt wie eine Pistole an ihrem Kopf. Ich töte dich, wenn du mich jemals wieder verlässt.
»Ist das nicht schön?«, rief Martin ihr zu. »Schau doch! Die Lichter von Bankton!«
Sie gab keine Antwort. Für ein paar Sekunden verbarg sich der Mond hinter Wolken. Wasser, Himmel und Luft verdunkelten sich, als würde sie in die Nacht und in den Schlaf segeln.
Der Vollmond befreite sich wieder. »Alles in Ordnung?« John schaute nach hinten zu Sara. Sie antwortete nicht, und das Flüstern des Kielwassers unterstrich ihr Schweigen.
»Wenn es Ihnen nicht gut geht, können wir zurückfahren.«
»Ich bin okay« erwiderte Sara, ein kleines Schluchzen in der Stimme.
Nur wenige Zentimeter entfernt bewegte sich der Ozean hinter der dünnen Bootswand, bäumte sich auf, sank zurück, bäumte sich von Neuem auf, als würde er immer tiefere Atemzüge tun.
John musterte Sara, die zusammengekrümmt dasaß und sich an der Reling festklammerte. Er schien sich unbehaglich zu fühlen und brachte das Boot um ein oder zwei Punkte schärfer an den Wind heran. Nichts war zu hören außer dem Plätschern der Wellen und der schwachen Musik, die aus einem Tanzpavillon am Strand drang. »Musik würde uns am ehesten von der Erde hochheben ...« Der Mond segelte hinter einer Wolke hervor, und auf Saras Wangen glänzten Tränen. Vor der Reise nach Sand Hook hatte sie »Das Dunkel ist Licht genug« gelesen. Sie starrte auf die hochsteigenden Wellen.
Stiegen und sanken sie für alle Zeiten im selben Rhythmus? Sara bewegte ihre steifen, verkrampften Beine. Warum bist du ertrunken, Joe Gray? Ihr Bruder Joe hatte sie veranlasst, »Tod und Teufel« zu schreien und auf einen ausgestopften, an der Baumschaukel festgebundenen Jutesack zuzulaufen. Mit dem Lieblingsfleischmesser ihrer Mutter an einem Rechengriff befestigt, musste sie den Sack durchbohren. Die Mutter wusste nicht, was sie trieben. Sie wuchsen in einer Welt voller fremder Leute auf. Immer wieder eine andere Stadt, eine andere Schule, ein anderes altes Haus, während der Vater ein neues Düngemittel verkaufte, ein sensationelles Bügelbrett, eine Zaubercreme, die alle Falten aus Frauengesichtern wischte ...
Warum bist du ertrunken, Joe Gray? Als sie die Geschichten von Tom Sawyer und Huck Finn gelesen hatte, war sie fest entschlossen gewesen, hinter Joe bei Nacht über das Verandadach in Fredsburg zu kriechen. Sie kletterten auf einen Ahornbaum vor dem Wohnzimmerfenster, sahen ihre Mutter gebeugt dasitzen und irgendetwas flicken. Raue Rinde hatte Saras Hände zerkratzt, als sie am Stamm nach unten gerutscht war, um gemeinsam mit Joe die Nacht zu erforschen.
Sie wischte sich die Tränen von den Wangen und beobachtete den Mond. Ihr Leben lang hatte sie sich vor dem Wasser gefürchtet. Martin wusste es. Ihre Freunde wussten es. Sogar die Friseuse im Salon in Manhasset wusste es.
Plötzlich wurde der Mond von einer dichten Wolke verhüllt.
Die Ebbe strömte zum Meer hinaus.
Sara umklammerte die Reling, die steifen Beine gegen Holz gepresst. Die Beule am Kopf schmerzte ebenso wie die misshandelte Brust.
Beide Männer schauten zu der Stelle hinauf, wo eben noch der Vollmond gegleißt hatte. Sara saß in der Schwärze. Eine Taschenlampe sandte ihre winzigen Strahlen in die Finsternis hinter dem Boot; das Licht der anderen glitt über Martins Pullover.
Sie hatten die Bojen passiert. Im Osten lag die Öffnung der Manhasset Bay, dahinter das schwarze offene Meer.
Sara kauerte im Lee, nur ein finsterer Schemen vor den Küstenlichtern, als John Fleishman unter den Klüverbaum schaute. »Ich wünschte, der Mond würde wieder hervorkommen«, sagte er zu Martin.
Der Wind peitschte Saras langes Haar hinter ihren Kopf. Sie schaute über das Heck. Da lag Sand Hook, unverrückbar über tanzenden Wellen. In anderen Strandhäusern brannten Lampen. Zwei standen unbeleuchtet nebeneinander, bildeten ein schwarzes Loch in der Lichterkurve des Sandstrands. Ein Lächeln mit zwei Zahnlücken.
»Klar, es ist ziemlich finster, aber schau dir doch die Lichter an!«, rief Martin seiner Frau zu, ohne sie anzuschauen. »Bist du nicht froh, dass du mitgekommen bist?«
Die erste der gewaltigen Wogen hämmerte seitlich gegen die Bootswand. Sara hatte sie kommen sehen und gewusst, dass sie heranstürmen würden – die Ebbe stemmte sich in der seichten Bucht gegen den Wind. Das Boot legte sich viel zu schräg, in mondloser Dunkelheit. John drehte das Ruder hart nach Steuerbord, Martin riss das Großsegel von der Klampe und ließ es los.
Wie eine Sichel sauste der Klüverbaum durch den Windschatten des Ruders – fegte über die Wellen hinweg, die das Süll und eine leere Sitzbank überschwemmten.
»Zum Teufel!«, murmelte Martin immer wieder. Es war nach Mitternacht, die nassen Sachen klebten ihm am Körper, seine Hände bluteten. »Es war so eine schöne Nacht, mit Vollmond und allem Drum und Dran.« Vom vielen Schreien hatte er eine heisere Stimme, ebenso wie John.
»Kaum hatten wir die Bojen passiert, war der Mond verschwunden«, sagte John. Seine Beine drohten einzuknicken. Er zog einen Stuhl von einem Polizeischreibtisch weg und setzte sich.
Der Polizist und ein Bürogehilfe, der alles notierte, sahen genauso müde aus. »Sie müssen alles aufschreiben«, sagte der Polizeibeamte zu dem Gehilfen. »Die Bucht ist seicht, also schlagen die Wellen hoch, und die Ebbe hat eine schrecklich starke Strömung. Notieren Sie das.«
»Sie waren etwa eine Stunde draußen«, warf der Mann von der Hafenpatrouille ein. »Wir können rausfahren, aber was für eine Chance hätten wir?« Er starrte die beiden Ziviltypen aus Boston an.
»Wir wollten nur nach Bankton segeln«, sagte Martin. »Verdammt!«
»Halten Sie fest, dass es Lampen an Bord gab.« Der Polizist sah zu, wie der Bürogehilfe alles aufschrieb.
»Sie hatte ein bisschen Angst vor dem Wasser.« Martin strich sich immer wieder durchs Haar, als könnte er Sara auf diese Weise finden.
»Kurz davor hatte ich zu ihr nach hinten geschaut«, berichtete John. »Da war sie okay. Vielleicht ein wenig aufgeregt.« Er sah Martin nicht an und erinnerte sich an Saras langes, glänzendes blondes Haar. Wie dünn sie gewesen war, wie müde sie gewirkt hatte ...
»Und vor dem heutigen Tag haben Sie Mr und Mrs Burney nie getroffen?«, fragte ihn der Polizist.
»Der Mond verschwand hinter einer Wolke, es war furchtbar dunkel, und dann kam die erste große Welle«, sagte Martin.
»Nein«, antwortete John. »Ich habe sie erst heute Morgen kennengelernt.«
Der Polizeibeamte wandte sich an den Mann von der Hafenpatrouille. »Warum gehen Sie nicht nach Hause, Roy? Niemand erwartet von Ihnen, dass Sie im Meer nach Leichen suchen.« Er merkte, dass Martin ihn anstarrte. »Tut mir leid. In solchen Fällen tun wir, was wir können. Dann müssen wir einfach abwarten, ob die Person irgendwo auftaucht und identifiziert werden kann.«
»Sie fürchtete sich ein bisschen vor dem Wasser.« Martin weinte. »Und sie wollte nicht schwimmen gehen. Nie. Mein Boss gab mal eine Strandparty, und alle meine Kollegen sahen, dass sie nicht einmal einen Zeh ins Meer tauchen wollte. Das machte meinen Boss richtig wütend, aber im Boot hielt sie sich recht tapfer.«
»Sie weinte nur ein bisschen, das war alles«, fügte John hinzu und versuchte, nicht auf Martins Tränen zu blicken. »Es dauerte eine Weile, bis wir wenden konnten, aber dann schrien wir und segelten hin und her ...«
»Ich glaube, sie stand auf«, schluchzte Martin. »Und keiner von uns hat’s gesehen.«
»Wir haben auch nichts gehört«, sagte John. »Sie war einfach verschwunden.«
»Da saß sie, schaute sich die schöne Aussicht an ...« Martin holte tief Atem und versuchte seine Tränen zurückzuhalten. Der Schreiber hatte seine Notizen beendet, die Miene des Polizisten drückte aus, dass ihm seine Verpflichtung gegenüber der Öffentlichkeit bewusst war. Man musste die Leute über ihren Kummer reden lassen. »Martin sprang ins Wasser«, erklärte John, »und ich holte ihn wieder an Bord. Dann segelten wir im Dunkeln herum und schrien, fanden eine Boje, konnten uns orientieren und suchten weiter.«
Der Beamte versprach, die Polizei würde das Boot am nächsten Morgen zu Johns Kai bringen. Er fuhr die beiden Männer nach Hause, nachdem sie die Aussage unterzeichnet hatten, Sara Gray Burney habe schön aufrecht im Boot gestanden, als es losgefahren sei. Anscheinend habe sie die Gefahr nicht erkannt. Niemand sei in ihrer Nähe gewesen, als sie ins Wasser gefallen oder gesprungen oder vom Klüverbaum hineingestoßen worden sei.
Der Polizist suchte mit Martin und John die Häuser, den Kai und den Strand ab. Sie fanden weder Fußspuren im Sand noch Wassertropfen. In Martins Haus schien nichts zu fehlen.
»Lassen Sie die nächsten Busstationen und Bahnhöfe überprüfen«, sagte der müde Sergeant zu seinem Gehilfen, als er aufs Revier zurückgekehrt war. »Nur für den Fall, dass Mrs Burney beschlossen hat, Mr Burney ein bisschen zu beunruhigen, verstehen Sie? Vielleicht wünscht sie sich einen Pelzmantel oder einen Trip nach New York, oder sie hat rausgefunden, dass er eine kleine Freundin hat, oder sie wollte ihm nur Angst machen.«
Aber man hatte nirgendwo eine Blondine gesehen. Der Gehilfe gähnte.
»Sind Sie okay?« John saß in Martins Kü