Über das Buch
London, 1917. Anna ist überglücklich, als ihr geliebter Edward von der Front zurückkehrt. Während die beiden eifrig Hochzeitspläne schmieden, muss ihre Freundin Grace sich gegen ihre Eltern behaupten. Die Pflege verwundeter Soldaten ist nicht das, was diese sich als Zukunft für ihre Tochter wünschen. Dulcie indessen scheint ihr Glück gefunden zu haben, als eine unverhoffte Begegnung sie erkennen lässt: Manchmal begegnet einem die Liebe genau da, wo man sie am wenigstens erwartet …
Über die Autorin
Donna Douglas wuchs in London auf, lebt jedoch inzwischen mit ihrem Ehemann in New York. Ihre Serie um die Schwesternschülerinnen des berühmten Londoner Nightingale Hospitals wurde in England zu einem Überraschungserfolg. Mehr über die Autorin und ihre Bücher erfahren Sie unter www.donnadouglas.co.uk oder auf ihrem Blog unter donnadouglasauthor.wordpress.com.
DONNA DOUGLAS
DIE NIGHTINGALE
SCHWESTERN
Zeiten der Zuversicht
Roman
Aus dem Englischen von
Ulrike Moreno
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Deutsche Erstausgabe
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2019 by Donna Douglas
Titel der englischen Originalausgabe: »Nightingale Wedding Bells«
Arrow Books, an imprint of The Random House Group Limited, London
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Anja Lademacher, Bonn
Titelillustration: © shutterstock/Scott A. Burns | © Colin Thomas, London
Umschlaggestaltung: Tanja Østlyngen
eBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7517-0988-0
luebbe.de
lesejury.de
Für meinen wunderbaren Enkel Sebastian
1917
»Vorsicht, Jungs, da kommt der Folterwagen!«, rief der junge Corporal und ein Grinsen zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Aber Anna konnte auch die Furcht sehen, die sich in seinen Augen spiegelte, während er ihr dabei zusah, wie sie den Verbandswagen die Station hinunterschob.
Alle Männer auf der Station fürchteten die Verbandswechsel. Einige von ihnen schrien, sobald sie den Wagen sahen. Andere warteten nur, schreckensbleich und stumm vor Panik, weil sie wussten, dass auch sie bald an der Reihe sein würden.
Wieder andere, wie Corporal Bennett, versuchten ihre Nervosität hinter kleinen Witzeleien zu verbergen.
»Ist er schon nachgewachsen, Schwester?«, fragte er, als Anna vorsichtig den blutigen Verband vom rohen Fleisch des Stumpfs ablöste, an dem sich einmal sein linker Arm befunden hatte.
»Leider nicht, Corporal.« Anna tat ihr Bestes, um sein Lächeln zu erwidern. Corporal Bennett war einer ihrer Lieblingspatienten und war mit dem letzten Konvoi gekommen, der einige Tage zuvor aus Frankreich eingetroffen war. Er war siebenundzwanzig, zwei Jahre älter als sie selbst und im gleichen Alter wie ihr Verlobter Edward.
Corporal Bennett grinste. »Na, dann sollte ich wohl besser meinen Kumpels in Frankreich schreiben und sie bitten, sich mal nach meinem alten umzusehen, was? Ich meine mich nämlich zu erinnern, ihn irgendwo in einem Unterstand in der Nähe von Passchendaele liegen gelassen zu haben.«
Neben Anna gab Stationsschwester Hanley einen missbilligenden Laut von sich. »Machen Sie weiter, Schwester! Diese Breipackung wird bald eiskalt sein, wenn Sie sie nicht endlich auflegen.«
Anna warf ihr einen raschen Blick von der Seite zu. Ihr graute vor der Runde mit dem Verbandswagen, aber noch sehr viel mehr graute ihr davor, sie mit Stationsschwester Hanley erledigen zu müssen. Die ältere Frau überragte sie nicht nur um Längen, sondern war zudem auch robust und kräftig wie ein Mann, und ihr hartes, eckiges Gesicht ließ nie auch nur ein Fünkchen Verständnis oder Mitgefühl erkennen.
»Tun Sie besser, was sie sagt, Schwester.« Corporal Bennett biss die Zähne zusammen, und sein ganzer Körper spannte sich an, als er sich für das Unausweichliche wappnete. »Bringen wir es hinter uns.«
Anna entfernte das Tuch von der Emaille-Schale und nahm den dampfenden Breiumschlag heraus. Dann holte sie tief Luft, nickte dem jungen Soldaten kurz zu, um sicherzugehen, dass er bereit war, und drückte den heißen Umschlag auf das rohe Fleisch.
Corporal Bennett atmete zischend ein vor Schmerz, und Tränen schossen ihm in die Augen. Es ist nur zu seinem Besten, sagte Anna sich immer wieder. Der Breiumschlag würde die Wunde desinfizieren und sauber halten, um eine optimale Heilung zu ermöglichen.
Anna wandte ihren Blick von dem gequälten Gesicht des jungen Mannes ab und richtete ihn auf das Fenster. Es war Ende September, und es regnete noch genauso heftig wie schon in der vergangenen Woche. Wasser lief in Strömen an den Glasscheiben hinunter, sodass die Welt draußen vor Annas Augen verschwamm. Obwohl es schon zehn Uhr morgens war, zeigte sich die Sonne nicht, sie verbarg sich hinter einer dichten grauen Wolkendecke, die den Straßen des Londoner East Ends das Leben und die Farben stahl.
Aber in Frankreich ist es noch schlimmer, dachte Anna. Edward hatte ihr geschrieben, dass es dort den ganzen Sommer nicht aufgehört hatte zu regnen und dieser nahezu konstante Nieselregen die Schützengräben bis obenhin mit Schlamm gefüllt hatte. Die Entwässerungsgräben waren von den unaufhörlichen Bombardements zerschmettert worden, und selbst wenn es einmal aufhörte zu regnen, schien die Sonne nie lang genug, um die Erde zu trocknen. Anna musste weinen, wenn sie Edwards Briefe las, besonders wenn er von dem knietiefen, eisig kalten Wasser schrieb, in dem er und seine Kameraden nicht nur den Tag, sondern auch die Nacht verbrachten – oder von den Männern, die in dem von Menschen geschaffenen Sumpf ertrunken waren.
Bitte lieber Gott, lass Edward nicht sterben! Immer wieder schickte Anna das gleiche stumme und flehentliche Gebet zum Himmel hinauf, das sie in den letzten Jahren jeden Tag für ihn gesprochen hatte.
»Das reicht, Schwester!«
Schwester Hanleys schnarrende Stimme ließ Anna zusammenfahren. Erschrocken schaute sie zu ihr auf, in die finstere Miene und die kalten grauen Augen, über denen sich die Brauen grimmig zusammenzogen. Als sie schließlich auf ihre eigene Hand herunterblickte, sah sie, dass sie immer noch den heißen Breiumschlag auf Corporal Bennetts offene Wunde drückte. Irgendwie gelang es ihm dennoch, ein Lächeln zustande zu bringen, obwohl er vor Schmerz die Zähne zusammenbiss und sich Schweißperlen auf seiner Stirn gebildet hatten.
»Sie waren in Gedanken wohl ganz woanders, Schwester!«, scherzte er mit schwacher Stimme.
»Das kann sie sich nicht leisten!«, warf Schwester Hanley verärgert ein. »Hier muss sie sich voll und ganz auf ihre Arbeit konzentrieren.«
»Das mag ja sein.« Der junge Soldat zwinkerte Anna zu. »Aber ich kann es Ihnen nicht verübeln, Schwester, dass Sie in Gedanken meilenweit entfernt waren, denn das wäre ich auch gerne.«
Anna starrte das rohe Fleisch des Stumpfs an seiner Schulter an und wurde von Gewissensbissen beschlichen. »Schwester Hanley hat recht«, sagte sie. »Ich hätte Sie verletzen können, und das tut mir leid.«
»Entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise, aber ich glaube nicht, dass Sie mir was Schlimmeres antun könnten als diese gottverdammten Deutschen, Schwester!«
Anna machte sich schnell daran, die Wunde des Corporals zu verbinden, wobei sie spürte, wie Schwester Hanleys strenger Blick auf ihr ruhte, was sie nur noch nervöser und ungeschickter machte.
Du bist eine examinierte Krankenschwester wie die Hanley, Anna, rief sie sich in Erinnerung. Aber leider behandelte die zehn Jahre ältere Veronica Hanley sie immer noch wie eine kleine Lernschwester.
»Duffield! Was glauben Sie, was Sie da tun?«, schallte plötzlich die Stimme der Oberschwester durch die Station, und Schwester Hanley verdrehte die Augen.
»Nicht schon wieder!«, murmelte sie.
Corporal Bennett grinste. »Was hat sie diesmal ausgefressen?«
Anna riskierte einen Blick in Richtung ihrer Freundin und Kollegin Grace Duffield. Mit nervös verschränkten Händen stand sie an der Tür zum Wäscheschrank und ließ eine Strafpredigt der Oberschwester über sich ergehen. Doch selbst mit gesenktem Kopf überragte Grace’ schlaksige Gestalt die viel kleinere und rundlichere Miss Sutton.
»Dieses Mädchen ist eine Gefahr für die Allgemeinheit«, murmelte Veronica Hanley.
»Seien Sie nicht so streng mit ihr. Sie hat ein Herz aus Gold«, warf Corporal Bennett ein.
Anna warf ihm einen schnellen, dankbaren Blick zu. Sie hatte das Gleiche sagen wollen, aber sie würde Schwester Hanley ganz sicher nicht widersprechen.
»Es erfordert mehr als ein goldenes Herz, um eine gute Krankenschwester zu sein«, schnaubte Schwester Hanley.
Was wissen Sie denn schon darüber?, dachte Anna. Soweit sie es beurteilen konnte, hatte Schwester Hanley so gut wie gar kein Herz.
Anna warf einen Blick über die Schulter zu Grace, die ihren Kopf noch immer gesenkt hielt, während sie in Richtung Waschraum trottete. Das arme Mädchen konnte es nun mal nicht ändern, dass sie so unbeholfen war. Sie hatten ihre Ausbildung zusammen gemacht, und daher wusste Anna, was für ein ständiger Kampf es für ihre Freundin war, ihre ungelenken langen Glieder unter Kontrolle zu bringen.
Kurz darauf hatte Anna Corporal Bennetts Schulter verbunden und trat zurück.
»So, das war’s, Corporal. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«
Als sie das freche Funkeln in den Augen des jungen Mannes sah, wusste sie, was kommen würde.
»Ein Kuss wäre nett«, erwiderte Corporal Bennett und spitzte seine Lippen.
Früher wäre sie jetzt vielleicht errötet und geflohen, aber nach drei Jahren auf den Stationen war Anna an den oft etwas schrägen Humor der Männer gewöhnt.
»Aber Corporal«, sagte sie, während sie sein Bettzeug glattzog. »Sie wissen doch, dass ich bereits vergeben bin.«
»Man kann es einem Mann aber nicht verdenken, dass er es dennoch versucht, nicht wahr?« Corporal Bennett wandte sich Schwester Hanley zu. »Und was ist mit Ihnen, Schwester? Oder sind Sie auch vergeben?«
»Natürlich nicht!«, entgegnete Veronica Hanley heiß errötend, bevor sie sich auf dem Absatz umdrehte und ging, wobei sie den Verbandswagen wie einen Streitwagen vor sich herschob.
Corporal Bennett zwinkerte Anna zu. »Na, Gott sei Dank! Einen Moment lang dachte ich, sie würde Ja sagen«, flüsterte er. »Und das wäre dann fast so, als müsste ich meinen alten Sergeant Major küssen.«
Anna lachte, setzte aber schnell wieder eine ernste Miene auf, als Schwester Hanley sie zu sich rief.
»Wenn Sie dann so weit wären, Schwester?«, fauchte sie.
Anna eilte zu ihr ans Fußende des nächsten Betts, wo ein anderer junger Soldat vor Furcht bereits leise vor sich hin wimmerte.
Diesmal übernahm Schwester Hanley das Kommando. Anna sah zu, wie die ranghöhere Schwester sich daranmachte, den Verband des Mannes zu entfernen. Seine Schreie gingen Anna durch Mark und Bein, und sie wandte ihren Blick ab, als die Verbände noch mehr Haut von dem rohen Fleisch rissen. Schwester Hanley zuckte kaum mit der Wimper.
»Die Dakinsche Lösung, Schwester, wenn ich bitten darf.«
Anna setzte sich in Bewegung und reichte ihr die dunkelbraune Flasche aus dem Wagen. Aber sie war eindeutig nicht schnell genug für Schwester Hanley, die sie mit zusammengekniffenen Augen musterte.
»Geht es Ihnen nicht gut?«, fragte sie.
»Doch, Schwester.«
»Und trotzdem scheinen Sie nicht ganz bei der Sache zu sein.« Schwester Hanley musterte sie prüfend. »Und Sie sehen müde aus. Sind Sie müde, Schwester?«
»Nein, Schwester Hanley«, erwiderte Anna und straffte ihre Schultern.
»Lügen Sie mich nicht an, ich kann es Ihnen am Gesicht ansehen. Sie sehen blass und abgespannt aus, und Sie haben dunkle Ringe unter den Augen.« Schwester Hanley schnaubte aufgebracht. »Vermutlich waren Sie gestern Abend mit den anderen Mädchen mal wieder tanzen und flirten bis in die frühen Morgenstunden. Aber das kann ich nicht tolerieren, Schwester«, fuhr sie fort, ohne eine Antwort abzuwarten. »Sie werden sich in Zukunft etwas mehr beherrschen und diesen späten Nächten ein Ende bereiten. Schließlich sind Sie für die Pflege all dieser Männer hier verantwortlich, und die benötigen Ihre ganze Aufmerksamkeit.«
»Ja, Schwester.« Anna wusste, dass es sinnlos war, mit ihr zu diskutieren. In dieser Hinsicht war sie genauso schlimm wie alle anderen Stationsschwestern.
Außerdem hatte sie nicht ganz unrecht, denn Anna war wirklich müde. Erst um drei Uhr morgens war sie heute ins Bett gefallen, und knapp drei Stunden später hatte Miss Williams, die Heimschwester, schon an ihre Tür geklopft, um sie zu wecken.
Aber sie war weder zum Tanzen noch zum Flirten unterwegs gewesen, auch wenn Schwester Hanley das glauben mochte. Anna fragte sich, was die Stationsschwester denken würde, wenn sie wüsste, wo Anna in der letzten Nacht gewesen war – so wie in fast jeder anderen Nacht zuvor.
Sie würde es nicht verstehen, dachte Anna. Die Krankenpflege war Veronica Hanleys ganzes Leben. Soweit Anna sagen konnte, hatte sie mit ihren fünfunddreißig Jahren weder einen Ehemann noch einen Freund oder Familienangehörige. Sie hatte zwar ein paar Freundinnen unter den Stations- und Oberschwestern, doch den größten Teil ihres Lebens widmete sie ihrer Arbeit.
Wahrscheinlich konnte sie auch gar nicht verstehen, dass Anna auch außerhalb der Krankenhausmauern ein Leben hatte, das ihr genauso wichtig war.
Als alle Verbände gewechselt waren, ging Anna in den Waschraum zu Grace Duffield, die trübsinnig an dem großen, steinernen Becken stand und lustlos Bettpfannen schrubbte. Sie war groß und schlaksig und hatte die roten Wangen eines Mädchens vom Land und warme braune Augen. Ein paar Strähnchen ihres hellbraunen Haars schauten unter ihrer schief sitzenden Haube hervor.
»Warum in Herrgotts Namen tust du das?«, fragte Anna sie. »Die Bettpfannen gehören doch wohl zu den Aufgaben der Hilfsschwestern?«
»Ich weiß«, sagte Grace, »aber die Kleine bat mich dabei um Hilfe. Sie schien völlig überfordert zu sein mit dieser Arbeit, das arme Ding.«
Anna erinnerte sich, das »arme Ding« vor Kurzem noch gesehen zu haben, in der Küche, wo sie eine Zigarette geraucht hatte. Und sie hatte dabei alles andere als überfordert gewirkt.
»Die Freiwilligen sind hier, um uns zu helfen, und nicht umgekehrt«, erklärte sie.
»Ach, mir macht das nichts aus«, sagte Grace. »Außerdem kann ich mich hier drinnen wenigstens nicht in Schwierigkeiten bringen«, fügte sie amüsiert hinzu.
»Ich hab gesehen, wie die Oberschwester dich vorhin wieder mal getadelt hat. Was hatte sie denn diesmal auszusetzen?«
Grace errötete beschämt. »Ich habe ein Thermometer fallen lassen«, murmelte sie. »Und als ich es schnell aufheben wollte, bevor die Oberschwester es bemerkte, bin ich versehentlich draufgetreten.«
»Du Arme!«, sagte Anna, obwohl sie sich ein Lächeln nicht verkneifen konnte.
»Ich weiß ja selbst, wie furchtbar ungeschickt ich bin.« Grace blickte traurig auf ihre großen Füße hinab, die in robusten schwarzen Schnürschuhen steckten. »Einen unpassenderen Namen als Grace hätten meine Eltern mir gar nicht geben können.«
Anna schaute in das offene, lächelnde Gesicht ihrer Freundin. Grace war hier für alle die Zielscheibe von Scherzen, die sie jedoch immer gutmütig und humorvoll aufnahm. Manchmal wünschte Anna, Grace wäre nicht so schnell bereit, über sich selbst zu lachen.
»Das passiert nur, wenn du nervös wirst, denn eigentlich bist du eine richtig gute Krankenschwester«, sagte sie.
»Da hat die Oberschwester aber gestern etwas ganz anderes über mich ins Stationsbuch geschrieben. Wie war doch noch der genaue Wortlaut?« Grace hielt einen Moment inne, um nachzudenken. »Ah ja. ›Duffield neigt dazu, sich wie ein Elefant im Porzellanladen zu benehmen.‹«
»Corporal Bennett meinte, du hättest ein Herz aus Gold.«
Grace’ Gesicht hellte sich auf. »Wirklich? Das ist aber nett von ihm«, sagte sie und drehte den Wasserhahn auf, um eine weitere Bettpfanne zu spülen. Das Wasser spritzte in alle Richtungen, und Anna musste zurückspringen, um nicht ganz und gar durchnässt zu werden.
»Hast du die Neuigkeiten schon gehört?«, fragte Grace anscheinend völlig unbeeindruckt von der Pfütze, die sich unter ihren Füßen gebildet hatte.
»Welche Neuigkeiten?« Anna nahm einen Wischmopp und begann das Wasser aufzuwischen.
»Sylvia Saunders und Roger Wallace haben sich verlobt.«
»Was?« Anna hörte augenblicklich mit dem Wischen auf. »Das ging aber schnell. Sie sind doch erst seit ein paar Monaten zusammen.«
»Ich weiß. Aber Saunders sagt, sie seien bis über beide Ohren verliebt, und deshalb nehme ich an, dass sie für den kommenden Sommer ihre Hochzeit planen.«
»Wie schön für sie.« Spontan berührte Anna ihren eigenen Verlobungsring, den sie an der linken Hand trug, und begann ihn hin- und herzudrehen. Ihr war gar nicht bewusst, dass sie es tat, bis sie Grace’ mitfühlendes Lächeln sah.
»Bald bist du auch an der Reihe«, sagte sie tröstend. »Wenn Edward heimkehrt.«
Falls er heimkehrt.
Anna verdrängte den Gedanken jedoch ganz entschieden, weil sie ihr Bestes tat, um optimistisch zu bleiben und daran zu glauben, dass alles gut werden würde. Aber sie waren mittlerweile schon seit fast vier Jahren verlobt. Und je länger dieser elende Krieg sich hinzog, und je mehr verwundete Soldaten Tag für Tag eintrafen, desto schwerer fiel es ihr, an die Erfüllung ihres Traums zu glauben.
Edward zuliebe konnte sie sich jedoch nicht erlauben, die Hoffnung aufzugeben.
»Ich weiß«, sagte sie lächelnd und wechselte das Thema. »Wir werden Saunders’ gute Neuigkeiten feiern müssen, meinst du nicht?«
»Ich glaube, heute Abend treffen sich alle im Schwesternheim.« Grace blickte sich in dem leeren Waschraum um und sagte dann mit gesenkter Stimme: »Und es geht das Gerücht, dass Hilda Wharton eine Flasche Sherry hereinschmuggeln wird, falls sie eine auftreiben kann.«
»Das klingt nach Spaß.« Anna begann wieder den Boden aufzuwischen. »Schade nur, dass ich nicht lange bleiben kann.«
Grace schaute sie über die Schulter an. »Deine Mutter hätte doch sicher nichts dagegen, wenn du mal eine Nacht Pause machst?«
Anna schüttelte den Kopf. »Sie verlässt sich darauf, dass ich ihr helfe. Sie kommt ohne mich nicht zurecht.« Sie sah Grace bittend an. »Wirst du mich decken?«
»Selbstverständlich.«
»Es tut mir leid, dass ich dich immer wieder darum bitten muss. Ich weiß, dass du genauso viel Ärger bekommst wie ich, wenn wir erwischt werden …«
»Ich bin ja auch so schon keine Fremde im Büro der Oberin, nicht wahr?«, sagte Grace mit einem schiefen Lächeln. »Wofür hat man schließlich Freunde? Und ich bin mir sicher, dass du dasselbe auch für mich tun würdest, falls ich je heimkommen sollte, nachdem das Licht bereits gelöscht ist!«
Ein selbstironisches Lächeln begleitete ihre letzten Worte. Fast jede Krankenschwester blieb manchmal zu lange weg, und die anderen Mädchen halfen dann für gewöhnlich, indem sie die Fenster unverschlossen ließen, damit sie sich wieder hereinschleichen konnte, wenn die Vordertüren schon verschlossen waren. Aber es hatte noch keinen jungen Mann gegeben, der Grace Duffield dazu verleitet hätte, den Zorn der Heimschwester zu riskieren.
Was für eine Schande, dachte Anna, denn unter ihrem linkischen Äußeren war Grace das netteste und liebenswürdigste Mädchen, das sie kannte.
Dann kam ihr ein anderer Gedanke. »Weiß Dulcie Moore, dass Saunders sich verlobt hat?«, fragte sie.
Grace fuhr so schnell herum, dass sie mit ihrem Ellbogen gegen einen Stapel Bettpfannen stieß und sie ins Wanken gerieten. Anna ließ ihren Besen fallen und beeilte sich, sie aufzufangen, bevor sie auf den Boden krachen konnten.
»O Gott, daran habe ich gar nicht gedacht«, sagte Grace, als sie den Stapel Bettpfannen stabilisierten, um zu verhindern, dass er erneut umkippte. »Das arme Mädchen. Ich frage mich, ob sie es schon weiß?«
In dem Moment ging die Tür zum Waschraum auf, und ausgerechnet Dulcie Moore stolzierte herein. Ihr hübsches Gesicht unter der gestärkten weißen Haube verhieß nichts Gutes. Sie drückte Grace eine mit einem Tuch bedeckte Bettpfanne in die Hände und stapfte wieder hinaus, wobei sie die Tür hinter sich zufallen ließ.
Anna und Grace starrten sich gegenseitig an.
»Ich denke, da haben wir unsere Antwort«, sagte Anna.
»Ich hatte an Rosen gedacht. Ich liebe Rosen, besonders in Hellrosa, und die passen doch perfekt zum Juni, nicht? Oder vielleicht auch ein Veilchensträußchen? Ich mag nämlich auch Veilchen sehr. Sie haben solch einen lieblichen Duft …«
Erspar mir dein Gequassel!, dachte Dulcie Moore, die am anderen Ende der Couch saß. Sie nahm einen großen Schluck aus der Sherryflasche, die Hilda Wharton soeben an sie weitergegeben hatte.
Sylvia Saunders war erst seit ein paar Stunden verlobt, und Dulcie hatte ihr endloses Gerede darüber jetzt schon gründlich satt. Zu allem Übel hatte die Oberschwester auch noch ausgerechnet sie beide zum Bettenmachen für den neuesten Konvoi verwundeter Soldaten eingeteilt. Und so hatte Dulcie mit Sylvia in der Wäschekammer festgesessen, wo diese sie mit der Beschreibung der Kirche, in der die Hochzeit stattfinden sollte, und der Auswahl an Liedern gelangweilt hatte. Als sie dann die Betten bezogen, war Dulcie gezwungen gewesen, sich Sylvias Überlegungen zu jeder Einzelheit ihres Brautkleids anzuhören, unter anderem die Frage, ob sie sich für perlenbesetzte Spitze entscheiden sollte oder nicht. »Ich weiß, dass Perlen hübsch wären, aber sie könnten auch ein bisschen altmodisch wirken, nicht wahr?«
Beim Abendessen hatte Dulcie sich ans andere Ende des langen Esstisches gesetzt, aber selbst über das Klappern von Tellern und Besteck hinweg hatte sie Sylvias vor Aufregung quiekende Stimme noch hören können, mit der sie sich über den Hochzeitsempfang ausließ.
Und nun sah Dulcie sich im Gemeinschaftsraum des Schwesternheims gefangen und wie alle anderen gezwungen, dem endlosen Geplapper der Braut über Blumen zuzuhören.
»Ich finde ja auch Anemonen hübsch … Aber sie können auch ziemlich protzig wirken, meint ihr nicht?«
»Der Herr stehe uns bei!«
Dulcie hatte nicht einmal gemerkt, dass sie laut gesprochen hatte, bis Miriam Trott, die neben ihr saß, sich ihr zuwandte und fragte: »Was sagtest du, Moore?«
Ihr Tonfall war ganz harmlos gewesen, aber das boshafte Funkeln in ihren durchdringenden braunen Augen verriet Dulcie, dass sie jedes Wort verstanden hatte.
»Ich fragte mich nur, ob das alles ist, worüber Saunders in den nächsten sechs Monaten reden wird«, murmelte sie.
»Sie ist einfach nur sehr aufgeregt, glaube ich«, sagte Miriam. »Wer wäre das auch nicht? Ich bin mir sicher, dass du genauso euphorisch wärst, wenn du dich gerade verlobt hättest.«
Die Art, wie sie es sagte, hatte etwas an sich, das Dulcie in Harnisch brachte. Sie und Miriam Trott waren sich von Anfang an nicht grün gewesen, schon seit sie drei Jahre zuvor mit ihrer Ausbildung begonnen hatten. Miriam war ein kleines, vogelähnliches Geschöpf mit mausbraunem Haar, stechenden Augen und einer spitzen Nase, die sie ständig irgendwo hineinsteckte, wo sie nichts zu suchen hatte. Sie hatte eine sehr unfreundliche Art und regelrecht Freude am Unglück anderer.
Und an der aktuellen Situation scheint sie besonders viel Freude zu haben, dachte Dulcie.
»Ja, aber ich würde wenigstens nicht alle damit anöden«, erwiderte sie und gönnte sich einen weiteren Schluck aus der Sherryflasche.
»Das wird sich zeigen, nicht?« Miriam deutete mit einem Nicken auf die Sherryflasche. »Willst du sie nicht weiterreichen?«
Dulcie übergab sie ihr kommentarlos und starrte Miriam böse an, als auch sie einen großen Schluck daraus nahm.
Ich hoffe, du erstickst daran, dachte sie.
»Ich zumindest höre gern etwas über Saunders’ Heiratspläne«, sagte Miriam. »Auch wenn es dir wohl ziemlich schwerfallen muss, wie ich mir sehr gut vorstellen kann«, fügte sie hinzu.
»Ich habe keine Ahnung, was du meinst«, log Dulcie und nahm ihr die Flasche wieder ab.
»Ach, komm! Wir wissen doch alle, dass du glaubtest, diejenige zu sein, die mit Roger Wallace vor dem Altar stehen würde.«
Im ganzen Raum schien sich plötzlich eine unbehagliche Stille auszubreiten, und Dulcie bemerkte, wie alle Augen neugierig in ihre Richtung blickten.
»Das ist lange her, und es war auch nie was Ernstes«, tat sie die Bemerkung achselzuckend ab.
»Ach ja?«, entgegnete Miriam gehässig. »Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie du überall herumerzählt hast, du wärst praktisch schon verlobt. Und wie du sogar schon deine Brautjungfern ausgesucht hast, weil du dir so sicher warst, dass er dir einen Antrag machen würde. Und dann …« Sie zuckte mit den Schultern. »Aber so ist es nun mal bei dir, nicht wahr? Männer sind eben höchstens fünf Minuten an dir interessiert.«
Dulcie umklammerte die Flasche in ihrer Hand noch fester und kämpfte gegen den Drang an, Miriam den Inhalt in ihr selbstgefälliges kleines Gesicht zu schütten. »Immerhin sind sie an mir interessiert«, murmelte sie.
Miriams Gesicht färbte sich scharlachrot. »Und wir alle wissen auch, warum, nicht wahr?«, zischte sie.
»Darf ich den Ring noch einmal sehen?«, durchbrach Grace die unangenehme Stille. Sylvia wandte sich ihr sofort zu und hob für alle sichtbar und mit einem selbstzufriedenen Lächeln ihre linke Hand.
Als Grace eifrig vortrat, um einen besseren Blick zu erhaschen, stieß Miriam einen Schmerzensschrei aus.
»Au! Sei doch vorsichtig, du ungeschickter Tölpel, und trample nicht auf mir herum!«
»Tut mir leid«, murmelte Grace.
»Das will ich aber auch hoffen!« Theatralisch untersuchte Miriam ihren bestrumpften Fuß. »Du hättest mir die Zehen brechen können.«
»Schade, dass sie dir nicht das Genick gebrochen hat«, murmelte Dulcie.
Es war zu viel verlangt, zu hoffen, dass Sylvia ihr Gespräch mit Miriam nicht mitbekommen hatte. Dulcie konnte sehen, wie die zukünftige Braut sie für den Rest des Abends misstrauisch beobachtete. Und als Dulcie schließlich beschloss, nicht noch mehr Hochzeitsgerede über sich ergehen zu lassen, und aufstand, um zu gehen, folgte Sylvia ihr auf den Gang hinaus.
»Kann ich dich kurz sprechen, Moore?«, fragte sie leise.
Dulcie blickte in Richtung Treppe und kämpfte gegen die Versuchung an, einfach davonzulaufen. »Weswegen?«, fragte sie.
Als ob ich das nicht wüsste.
»Über Roger und mich.«
Dulcie wandte sich Sylvia zu und musterte sie prüfend. Sie war ein paar Zentimeter größer als sie, sah schlank und grazil aus und hatte glattes, silberblondes Haar, das ihr blasses, etwas längliches Gesicht umrahmte. Ihre Augen waren von einem fast schon durchsichtigen Grau.
Zu Dulcie hatte Roger immer gesagt, er bevorzuge braune Augen wie die ihren.
»Was war mit dir und Roger?«
»Das macht dir doch nichts aus, oder?«
»Warum sollte es mir etwas ausmachen?«
Eine leichte Röte stieg in Sylvias blasse Wangen, und sie wandte taktvoll ihren Blick von Dulcie ab und richtete ihn auf den Ring an ihrem Finger. »Ich weiß, dass du ihn einmal … gernhattest.«
Ich hatte ihn gern? Dulcie presste die Lippen zusammen, um zu verhindern, dass die Worte nur so hervorsprudelten. Roger hatte ihr tausend Liebeserklärungen gemacht und ihr geschworen, sie sei die Einzige für ihn, als er sie in der letzten Reihe des alten Ford-Filmpalasts geküsst und sich an ihrer Bluse zu schaffen gemacht hatte.
Und Dulcie hatte es ihm erlaubt, weil sie überzeugt gewesen war, dass diesmal alles anders war und er der Mann, der sein Versprechen halten würde.
Sie sah Sylvia an, die so kühl und elegant aussah mit ihrem perfekt anliegenden, frisch gestärkten Kragen um ihren langen, anmutigen Hals. Sie sah nicht wie die Art von Mädchen aus, das einem Mann gewisse Freiheiten erlauben würde.
Nur indem sie ihren ganzen Stolz zur Seite schob, gelang es Dulcie, leise zu lachen. »Wie ich schon zu Trott sagte, war es nichts Ernstes zwischen uns. Und es ist ja auch schon lange her.«
Letztes Jahr um diese Zeit, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf. Im vergangenen September waren sie noch Hand in Hand durch das herabgefallene Laub im Victoria Park spaziert und hatten Zukunftspläne geschmiedet.
Aber im Sommer war schon wieder alles vorbei gewesen. Und exakt vier Monate später hatte er genau dieselbe Stelle im Park gewählt, um Sylvia Saunders einen Heiratsantrag zu machen.
»Wie dem auch sei, ich freue mich jedenfalls für dich«, fügte Dulcie mit einem erzwungenen Lächeln hinzu.
»Oh. Na ja, dann ist ja alles gut.« Sylvias Gesicht hellte sich auf. »Ich bin froh, dass du mir nicht böse bist. Du weißt ja, dass ich dich immer als eine sehr gute Freundin betrachtet habe. Was übrigens auch der Grund dafür ist, dass ich dich um einen ganz besonderen Gefallen bitten möchte …«
»Ich als Brautjungfer! Könnt ihr euch das vorstellen? Was für eine Frechheit, mich darum zu bitten.«
Dulcie schäumte noch vor Wut, als sie später in Grace’ und Annas Zimmer war. Sie versuchte, ein Paar schwarze Wollstrümpfe zu stopfen, aber ihre Hände zitterten so sehr, dass sie kaum in der Lage war, die Stiche richtig zu setzen.
»Ich finde, es ist schon schlimm genug, dass sie mir meinen Freund weggenommen hat. Und jetzt erwartet sie auch noch von mir, dass ich ihr zum Altar hinterherlaufe«, fuhr Dulcie fort. »›Du weißt ja, dass ich dich immer als eine sehr gute Freundin betrachtet habe‹«, äffte sie Sylvias mädchenhafte Stimme nach. »Aber gute Freundinnen schnappen einander doch nicht die Männer weg!«
Anna und Grace schauten sich an. Anna, die sich zum Ausgehen bereitmachte, zog gerade ihren Mantel an und band sich einen dicken Wollschal um den Hals. Dulcie konnte die Zweifel in den Gesichtern der anderen beiden Mädchen sehen. Aber sie wussten ja auch nicht, was sie und Roger einander bedeutet hatten, bevor Sylvia sich in ihre Beziehung eingemischt hatte.
»Mir ist natürlich klar, dass sie es aus reiner Bosheit tut«, sagte Dulcie.
»Aus Bosheit?«, wiederholte Grace.
»Oh ja. Weil sie mich eigentlich nur bloßstellen und zum Gespött der anderen machen will. Alle sollen sehen, dass sie Roger bekommen hat und nicht ich.«
»Aber vielleicht will sie ja auch nur nett sein?«
Dulcie starrte Grace böse an. Manchmal machte Duffield sie verrückt mit ihrer ständigen Bereitschaft, immer nur das Gute in allem zu sehen.
Dulcie wünschte, sie hätte jemand anderen, mit dem sie darüber reden könnte. Ihre beste Freundin Sadie Sedgewick hätte sie verstanden, doch da sie sich für eine Ausbildung zur Gemeindeschwester entschieden hatte, lebte sie nun in einem Haus in Mile End.
Seit Sadie nicht mehr da war, hatte Dulcie sich Grace Duffield zugewandt, wenn auch vor allem deshalb, weil sie mit den meisten anderen Mädchen zerstritten war. Entweder war Dulcie gehässig zu ihnen gewesen oder aber sie gemein zu ihr. Grace hingegen konnte man kaum beleidigen oder verärgern.
»Weil Sylvia nett sein will? Das bezweifle ich aber sehr«, fuhr Dulcie spöttisch fort. »Dieses Biest plant irgendwas, da bin ich mir ganz sicher.« Sie dachte einen Moment nach. »Wahrscheinlich will sie mich dazu zwingen, irgendein abscheuliches Kleid zu tragen. Aber selbst dann werde ich noch besser aussehen als sie, wage ich zu behaupten … Eigentlich hätte ich sogar große Lust, ihr ihre Bitte zu erfüllen, und wenn auch nur, um diese eingebildete Zicke in den Schatten stellen zu können.«
»Ich muss jetzt gehen«, warf Anna ein.
Grace trat ans Fenster und schaute hinaus. »Es regnet immer noch sehr heftig«, sagte sie. »Und die Dachrinne läuft auch mal wieder über. Das Abflussrohr hinabzuklettern wird nicht ungefährlich sein …«
»Hör auf, dir Sorgen zu machen«, sagte Anna. »Es ist ja nicht so, als ob ich es noch nie getan hätte.«
Und damit setzte sie ihren Hut auf, schob ihr dunkles Haar unter die Krempe und griff nach ihren Handschuhen. »Vergiss nicht, das Fenster einen Spalt offen zu lassen, ja?«
Grace nickte. »Ich werde aufpassen, ich höre, wenn du kommst. Und ich lasse auch eine Lampe an, damit du sehen kannst, wohin du trittst.«
»Und grüß deinen Freund von mir«, rief Dulcie ihr noch nach, als sie aus dem Fenster kletterte. Anna warf ihr einen finsteren Blick zu, würdigte sie aber keiner Antwort.
Sekunden später war sie verschwunden. Grace streckte den Kopf aus dem Fenster und beobachtete Anna, bis sie das Knirschen ihrer Füße unten auf dem Kiesweg hörte. Erst dann zog sie den Kopf wieder ein und fuhr sich mit den Fingern durch ihr feucht gewordenes hellbraunes Haar.
»Ich wünschte, du würdest so etwas nicht sagen«, rügte sie Dulcie. »Du weißt, dass sie keinen Freund hat, sondern nach Hause muss, um ihrer Mutter in der Bäckerei zu helfen. Mrs. Beck führt sie ganz allein, und Anna befürchtet, dass das zu viel für sie ist.« Sie drückte ihr Gesicht an die Fensterscheibe und spähte in die Dunkelheit hinaus. »Wenn du mich fragst, ist es auch zu viel für Beck, den ganzen Tag hier und dann auch noch die ganze Nacht in der Bäckerei zu arbeiten.«
»Dann sollte sie den Laden schließen.« Dulcie verbarg ein Gähnen hinter ihrem Handrücken.
»Das würde sie nie im Leben tun!« Grace machte ein entrüstetes Gesicht. »Du weißt doch, wie sehr sie an der Bäckerei hängt. Ihr Vater hat sie aus dem Nichts aufgebaut, und Anna will sie für ihn weiterführen. Außerdem will sie auch eine Beschäftigung für Edward haben, wenn er heimkommt.«
»Aber das ist ihr Problem, nicht wahr?« Dulcie langweilte das Thema bereits, sie zuckte mit den Schultern. »Also was meinst du, soll ich es tun?«, fragte sie.
»Was tun?«, gab Grace zerstreut zurück.
Dulcie seufzte. »Für Sylvia die Brautjungfer spielen, du Dummerchen! Aber eigentlich glaube ich nicht, dass ich es tun werde«, beantwortete sie sich ihre eigene Frage.
»Wird Saunders dann nicht enttäuscht sein?«
»Wohl kaum. Ich bin mir sicher, dass sie es nicht einmal bemerken wird, da sie praktisch schon jede von uns gebeten hat, ihre Brautjungfer zu sein. Wahrscheinlich wird es mehr Brautjungfern als Gäste bei dieser Hochzeit geben!«
»Mich hat sie aber nicht gefragt.«
Für einen Moment verspürte Dulcie einen Anflug von Gewissensbissen. Da redete und redete sie in einem fort, ohne daran zu denken, dass die arme Grace mal wieder ausgeschlossen worden war.
»Du kannst gern an meiner Stelle hingehen, wenn du willst«, sagte sie.
»Oh nein, das wäre Saunders aber gar nicht recht. Kannst du dir das vorstellen? Wahrscheinlich würde ich auf ihre Schleppe treten und sie dabei zerreißen oder meine Blumen fallen lassen oder sonst was in der Art!«
Dulcie blickte in das offene, lächelnde Gesicht ihrer Freundin. »So schlimm bist du doch gar nicht«, sagte sie. »Ich hätte dich sehr gerne als meine Brautjungfer, wenn ich heirate.«
Grace errötete ein wenig. »Wirklich? Vielen Dank!«
»Freu dich nicht zu früh. Zuerst werde ich jemanden finden müssen, der mich heiratet. Und so, wie es derzeit bei mir läuft, werde ich wohl die Letzte in unserer Runde sein, die sich verlobt.« Dulcie erschauderte. »Gott, stell dir doch bloß mal vor, sogar die Trott würde noch vor mir heiraten! Dann wäre sie gar nicht mehr zu ertragen, was? Sie wäre sogar noch schlimmer, als sie es jetzt schon ist.«
Allein schon der Gedanke, Miriam Trotts selbstgefällig grinsendes Gesicht unter einem Brautschleier zu sehen, war kaum zu ertragen.
Wie schrecklich ärgerlich, dachte Dulcie. Schließlich gab es nur einen einzigen Grund, warum sie die Ausbildung zur Krankenschwester im Nightingale begonnen hatte, sie wollte sich dort einen wohlhabenden Arzt angeln, um ihn zu heiraten. Zumindest hatte sie seit dem Tag ihrer Ankunft von nichts anderem gesprochen.
Und doch war sie drei Jahre später noch immer hier, mit einer abgeschlossenen Ausbildung, aber ohne Ring an ihrem Finger.
Und wie Miriam Trott so gehässig bemerkt hatte, lag das keineswegs an einem Mangel an Versuchen. Dulcie fiel es nicht schwer, Männer für sich zu interessieren. Sie zu halten, war das eigentliche Problem.
Es regte sie so schrecklich auf, dass sie sich die Stopfnadel in den Finger stach und sich selbst dafür verfluchte.
»Es hat keinen Zweck, ich kann diese elenden Dinger nicht mehr flicken.« Resigniert warf sie ihr Nähzeug auf das Bett. »Sie haben so viele gestopfte Stellen, dass man sie sowieso kaum noch als Strümpfe bezeichnen kann!«
»Warum kaufst du dir dann nicht ein neues Paar?«
»Das würde ich ja tun, wenn ich das Geld hätte, aber bis Ende der Woche habe ich keinen Penny mehr.« Dulcie hob ihren Strumpf widerwillig auf und stach wütend mit der Nadel darauf ein. »Ich hasse es, arm zu sein«, murmelte sie. »Ich wette, dass Saunders ihre Strümpfe nie wieder flicken muss, wenn sie mit Roger Wallace verheiratet ist.«
Abgesehen davon, dass sie sowieso niemals Strümpfe würde stopfen müssen, dachte Dulcie. Sylvia Saunders’ Vater leitete eine Bank, und die Familie lebte sehr komfortabel in einem der grünen Londoner Vororte. Sylvia war auf einer Internatsschule gewesen und hatte dort Reiten, Tennisspielen und alle möglichen anderen Dinge gelernt, die wohlerzogene junge Damen aus guten Familien taten. Sie hatte mit Sicherheit noch nie zur Erntezeit mit dem Karren ihres Vaters herumfahren und Arbeit suchen müssen oder mitten im Winter auf einem Heuboden geschlafen …
Nein, Sylvia warf ihre Strümpfe wahrscheinlich schon beim ersten Anzeichen eines Löchleins weg.
»Warum, glaubst du, hat Roger sich für sie entschieden?«, stellte sie die Frage, die sie schon die ganze Zeit beschäftigte, seit sie von Sylvias Verlobung gehört hatte.
»Was?« Grace machte ein erschrockenes Gesicht. »Du liebe Güte, das weiß ich doch nicht! Er wird sich wohl in sie verliebt haben, nehme ich an.«
»Ja, aber warum? Sie ist doch nicht mal hübsch.«
»Doch, das ist sie schon, finde ich.«
Dulcie runzelte die Stirn. Grace war eine loyale Freundin, aber sie sagte nicht immer das, was Freundinnen sagen sollten.
»Na schön, auf eine etwas fade, langweilige Art ist sie das vielleicht.« Dulcie hob ihre Hand und strich über die üppigen braunen Locken, die ihr Gesicht umrahmten. Niemand könnte ihr Aussehen als fade oder langweilig bezeichnen.
Roger hatte ihre Locken geliebt. Wie oft hatte er versucht, sie zu zählen, oder sie um seine Finger gewickelt … Dulcie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie das bei Sylvias feinem silberblondem Haar funktionieren sollte.
»Ich frage mich, ob es etwas damit zu tun haben mag, dass sie aus einer reichen Familie kommt?«, sinnierte Dulcie. Immerhin hatte Sylvia die selbstzufriedene Ausstrahlung, die reiche Leute fast immer hatten.
Und da auch Roger Wallace diese Aura hatte, war Dulcie von Anfang an an ihm interessiert gewesen.
»Ich weiß nicht, warum Menschen sich ineinander verlieben«, sagte Grace. »Es geschieht einfach, und sie können gar nicht anders, denke ich.«
»Was für ein Blödsinn«, murmelte Dulcie und begann sich wieder ihrer Flickarbeit zu widmen. Insgeheim hatte sie längst beschlossen, Roger dazu zu bringen, sich wieder in sie zu verlieben.
Sie musste ihn nur aus Sylvia Saunders’ Klauen befreien …
Anna erreichte die Chambord Street, als die Pubs gerade schlossen. Männer strömten lachend auf den Bürgersteig hinaus, rempelten sich dabei an und beschwerten sich über den Regen. Ganz plötzlich tauchten sie aus dem Dunkel vor Anna auf. Es machte ihr keine Angst, denn sie war in Bethnal Green aufgewachsen und kannte jede Ecke in den dunklen Gassen und den von Gaslaternen beleuchteten Straßen.
Auch die meisten Menschen kannte sie. Als sie um die Ecke bog, sah sie Mr. Hudson, der an einen Laternenmast gelehnt vor dem Angel and Crown stand. Ihm gehörte die Metzgerei neben der Bäckerei ihrer Eltern. Er versuchte gerade, sich eine Zigarette anzuzünden, aber es gelang ihm nicht, die Flamme zur Zigarettenspitze zu führen. Anna beobachtete seine Bemühungen einen Moment lang und ging dann auf ihn zu.
»Alles klar, Mr. Hudson? Oder soll ich Ihnen helfen?« Sie nahm ihm die Schachtel Streichhölzer ab, zündete ein neues an und schützte die Flamme mit der hohlen Hand vor dem Regen, während sie sie an seine Zigarette hielt. Mr. Hudson nahm einen tiefen Zug, bis die Spitze glühte. Dann trat er einen Schritt zurück und torkelte ein wenig, bevor er das Gleichgewicht zurückgewann.
»Danke, Miss Anna.« Langsam atmete er aus und sah sie mit zusammengekniffenen Augen durch den ausgestoßenen Rauch an. »Was tun Sie bei diesem scheußlichen Wetter eigentlich hier draußen?«
»Ich bin auf dem Weg zu meiner Mutter, Mr. Hudson.«
»Um diese Zeit? Ist es nicht ein bisschen spät für einen Besuch?«
Anna verzichtete auf eine Antwort. Die Nachbarn wussten auch so schon genug über ihre Angelegenheiten.
»Ich werde Sie begleiten, damit Ihnen nichts passiert«, sagte Mr. Hudson schließlich.
»Wenn Sie wollen …« Und so ging Anna mit dem unsicher an ihrer Seite dahintorkelnden Mr. Hudson die Chambord Street entlang. Nachdem er zweimal vom Bürgersteig abgekommen und fast im Rinnstein gelandet wäre, nahm Anna seinen Arm.
»Wie geht’s Ihrem Vater?«, fragte Mr. Hudson schließlich. »Haben Sie ihn in letzter Zeit gesehen?«
»Im letzten Monat habe ich ihn im Internierungslager besucht, und es schien ihm ganz gut zu gehen.«
Mr. Hudson schüttelte den Kopf. »Was für eine schlimme Sache. Man sollte meinen, sie hätten ihn inzwischen wieder freigelassen, nicht? Wie lange ist er jetzt schon dort?«
»Drei Jahre.« Was Sie eigentlich wissen sollten, dachte Anna. Schließlich haben Sie dabeigestanden, als sie kamen, um ihn wegzubringen.
»So lange schon? Eine echte Schande nenne ich das!« Mr. Hudson zog an seiner Zigarette. Der Regen tropfte von seiner Hutkrempe und spritzte auf die Schultern seines Überziehers. »Verstehen Sie mich nicht falsch, Miss Anna. Ich mag die Deutschen genauso wenig wie jeder andere, aber Ihr Vater … Man braucht ihn nur anzusehen, um zu wissen, dass er ein anständiger Mann ist. Einer der Besten.« Er schüttelte den Kopf und Regentropfen spritzten auf. »Jemand sollte etwas dagegen unternehmen!«
So wie Sie?, dachte Anna bitter. Sie würde nie vergessen, wie Mr. Hudson und ihre anderen Nachbarn tatenlos dabeigestanden und zugesehen hatten, wie ihr Vater mit den anderen deutschstämmigen Männern aus der Gegend in das Internierungslager abtransportiert worden war. Keiner ihrer Nachbarn hatte sich für ihn eingesetzt, und keiner hatte auch nur einen Finger gerührt, um Anna und ihrer Familie danach beizustehen.
All ihre alten Freunde und Nachbarn hatten den Becks den Rücken gekehrt. Sie hatten nicht nur ihre Bäckerei boykottiert und in anderen Geschäften eingekauft, sondern auch tatenlos zugesehen, als Ganoven ihre Fenster einschlugen und sie auch sonst terrorisierten.
Seit diesen Tagen hatte sich allerdings einiges geändert. Irgendwie hatte der Krieg ihnen allen im Laufe der Jahre so zugesetzt, dass ihnen nichts anderes übrig geblieben war, als freundlicher miteinander umzugehen. Die Kunden der Bäckerei begannen zurückzukehren, und auch die Nachbarn wandten Anna und ihrer Familie nicht mehr den Rücken zu.
Und da Annas Vater sie ermahnt hatte, nicht nachtragend zu sein, tat sie ihr Bestes, um ihre wahren Gedanken für sich zu behalten. Aber auch wenn inzwischen alle wieder höflich zueinander waren, wusste Anna, dass sie ihnen ihr damaliges Verhalten nie wirklich verzeihen würde.
Sie erreichten die kurze Ladenzeile, die jetzt im Dunkeln lag, und bogen dann in die schmale Gasse ein, die zur Rückseite der Geschäfte führte. Aus einigen der Fenster dort fiel Licht, das Schatten über die gepflasterten Hinterhöfe warf.
»Sieht ganz so aus, als wartete Ihre Mutter noch auf Sie«, bemerkte Mr. Hudson.
»Ja, und Ihre Frau scheint auch auf Sie zu warten.« Anna nickte zu dem Licht im Nachbarhaus hinüber.
»Mit ’nem Nudelholz, könnte ich mir vorstellen!« Mr. Hudson stieß einen leidgeprüften Seufzer aus. »Also dann bis bald, meine Liebe.«
»Gute Nacht, Mr. Hudson.«
Ich darf keinen Groll hegen, sagte Anna sich. Und trotzdem konnte sie sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen, als Mr. Hudson auf dem nassen Kopfsteinpflaster ausrutschte und mit dem Gesicht nach unten vor seiner Hintertür landete.
Auch Anna trat durch ihr kleines Hoftor ein und bemühte sich, dabei möglichst keinen Lärm zu machen. Als sie durch das Fenster schaute, sah sie ihre Mutter mit gebeugtem Rücken am Arbeitstisch der Backstube stehen und Brotteig kneten.
Sie sieht müde aus, dachte Anna, als Dorothy sich mühsam aufrichtete, um eine blonde Haarsträhne unter ihr Kopftuch zurückzuschieben. Jahre körperlicher und seelischer Strapazen hatten ihren Tribut gefordert, ihr Gesicht sah faltig, grau und abgespannt aus.
Dorothy Beck drehte sich um, als Anna durch die Hintertür das Haus betrat.
»Hallo, mein Schatz«, begrüßte sie sie mit einem müden Lächeln. »Ich hatte dich gar nicht erwartet.«