Du vertraust ihm. Er zerstört dich ...
Mary Eliot hütet ein Geheimnis: Zwanzig Jahre lang hat sie die Romane geschrieben, mit denen ihr Mann zu einem erfolgreichen Bestseller-Autor wurde. Als er bei einem Autounfall ums Leben kommt, fühlt Mary sich endlich von ihrer unglücklichen Ehe befreit. Kurz darauf beginnt sie mit dem jungen und attraktiven Paul Anderson eine leidenschaftliche Beziehung. Sie vertraut ihm so sehr, dass sie ihm das Geheimnis ihrer schriftstellerischen Begabung verrät – nicht ahnend, dass dies der Beginn ihrer eigenen Zerstörung ist ...
eBooks von beTHRILLED – mörderisch gute Unterhaltung!
Als ihr erstes Gedicht in einer Zeitung abgedruckt wurde, wusste die damals 14jährige Nancy Price: Ich bin Schriftstellerin. Schon zu Studienzeiten wurden mehr als 100 weitere Gedichte und Kurzgeschichten von ihr veröffentlicht. Nach ihrem Studienabschluss an der Universität von Northern Iowa arbeitete sie dort als Dozentin für Englische Sprache und Literatur, bis sie 1968 beschloss, ihren ersten Roman zu schreiben. Der internationale Durchbruch gelang Nancy Price mit ihrem Psychothriller »Schreie in der Nacht«, der als »Der Feind in meinem Bett« erfolgreich mit Julia Roberts in der Hauptrolle verfilmt worden ist. Ihre Romane, darunter auch »Die Frau im Schatten«, wurden Bestseller und in mehr als fünfzehn Sprachen übersetzt.
Die Frau im Schatten
Du vertraust ihm. Er zerstört dich.
Aus dem amerikanischen Englisch von Eva Malsch
Digitale Erstausgabe
»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:
Copyright © 1992 by Nancy Price
Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Night Woman«
Für diese Ausgabe:
Copyright © 1993/2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Covergestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de
unter Verwendung von Motiven © Lagunova Irina/shutterstock
eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 978-3-7517-0762-6
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
Mary Eliot und Randal Eliot standen nebeneinander, beide im Scheinwerferlicht, aber die TV-Kameras beobachteten nur ihn, so wie die Menschenmenge in Abendkleidung, die das Plaza Hotel mit ihrem Stimmengewirr erfüllte.
Die Kameras zeichneten auf, wie Randal Eliot mit dem Bürgermeister von New York sprach – mit einem Nobelpreisträger – mit einem Filmstarlet. Sie folgten ihm zu einem Tisch, machten Nahaufnahmen von seinem geliehenen Smoking. Schweiß begann auf seinem kahlen Schädel zu glänzen.
Für Randal Eliots Frau interessierten sich die Kameras nicht. Mary durfte in Ruhe den Duft ihrer rosa Ansteckblume genießen. Sie leerte ihr Champagnerglas und spürte das verstohlene Rascheln ihrer besten Seidenunterwäsche auf der Haut. Der berühmte Schriftsteller an ihrer Seite sprach nicht mit ihr. Er beugte sich über sie hinweg, um Randals Hand zu schütteln, und sie war dankbar für seinen kühlen Schatten. »Sie sind also der Autor, der in Trance schreibt«, bemerkte er.
Das Dinner bestand aus der konstanten Aufeinanderfolge von kleinen Portionen köstlicher Speisen auf großen Tellern. Mary hatte ihre Mousse au Chocolat kaum aufgegessen, als auch schon die Stimmen mehrerer Redner aus den Lautsprechern tönten, um Randal Eliots Kunstfertigkeit, Randal Eliots Fantasie und Randal Eliots Genie zu preisen.
Mary senkte den Kopf mit der dunklen Zopfkrone und nippte an ihrem Kaffee. Kameras konzentrierten sich auf den Mann zu ihrer Rechten, dann auf den Mann zu ihrer Linken. Eigentlich war sie froh, weil niemand ihr siebenundvierzigjähriges Gesicht fotografierte, weil niemand über ihre Kunstfertigkeit, ihre Fantasie und ihr Genie sprach.
Randal erhob sich, um den Preis entgegenzunehmen, und erklärte, es sei ihm gar nichts anderes übriggeblieben, als Schriftsteller zu werden. »Vor zwanzig Jahren war ich ein junger Universitätsdozent, der eine Frau und vier kleine Kinder ernähren musste. Der Leiter meiner Fakultät teilte mir mit, ich würde den Job verlieren, wenn ich nicht imstande sei, etwas zu schreiben und zu veröffentlichen. Und so ...« Er machte eine Pause. »So ging ich zum dritten Mal in eine psychiatrische Klinik.«
Seine Frau beobachtete ihn. Er glaubte, was er da sagte. Schon ein dutzendmal hatte sie diese Rede gehört, aber noch nie an einem solchen Ort, noch nie in Gegenwart von New Yorker Literaturkritikern, Verlegern und Lektoren.
Er zitterte ein wenig, seine Finger zuckten auf dem Tischtuch. »Und als ich die psychiatrische Klinik verließ und wusste, ich würde meinen Job verlieren und von keiner anderen Universität eingestellt werden, als ich mir vor Augen führte, dass ich noch nichts geschrieben hatte ...« Wieder hielt er inne. Kein Laut war zu vernehmen außer dem New Yorker Verkehr unten auf den Straßen. »Da erklärte mir meine Frau, mein erster Roman ›Im Quartal‹ sei noch vor meiner Behandlung in der Klinik fertig geworden.«
Randal breitete die Hände auf dem leinenen Tischtuch aus, als läge ein Manuskript vor ihm. »Ich konnte mich nicht erinnern, ihr irgendwas diktiert zu haben. Aber da war das Buch, das zuvor nur in meinem Kopf existiert hatte. Und auf diese Weise entstanden alle meine weiteren Werke.« Er lächelte. »Sollte ein Kollege an einer geistigen Sperre leiden, sollte er es mit einer Elektroschocktherapie versuchen – die kann ich ihm wärmstens empfehlen.«
Die Zuhörer lachten, und Randal fuhr in gespieltem Ernst fort: »Aber ich darf die Muse nicht vergessen, diese launische Frau, die uns Schriftsteller heimlich nächtliche Besuche abstattet, wenn wir Glück haben. Man darf sie niemals beleidigen.«
Das Publikum applaudierte – Mary auch. »Der Schriftsteller der siebziger Jahre«, verkündete ein weiterer Redner. »Die Stimme seiner Generation. Der nächste Gewinner des Pulitzerpreises.«
Mary starrte blicklos auf die vielen hundert klatschenden Hände, als würde sie den Beifall gar nicht hören. »Der Pulitzerpreis?«, flüsterte sie Randal zu.
»Davon habe ich letzten Monat gehört«, murmelte er. »Die Chancen stehen nicht schlecht. Aber ich habe erst vier Bücher veröffentlicht.« Lächelnd nahm er den Beifall entgegen und nickte den Leuten zu.
Plötzlich hörte sie eine Lautsprecherstimme. »Und nun möchte ich Ihnen Mary Eliot vorstellen, die Frau, die hinter dem großen Schriftsteller steht, den wir heute Abend ehren!«
Sie erhob sich. Der Pulitzerpreis. Sie sah kaum etwas von den zahllosen Gesichtern über dem weißen Leinen, den schwarzen Smokings, den bunten Abendkleidern. TV-Kameras fingen Marys bebende Hände ein, die Wut in ihren Augen.
»Applaudieren wir der Frau, die an Randal Eliots Seite arbeitet, die jedes einzelne Wort seiner wunderbaren Romane niederschreibt, ehe es verlorengehen kann!«
Sie verbeugte sich vor all den Händen, die pflichtbewusst klatschten, und bewegte die Lippen. Sagte sie »Danke, danke«? Niemand beobachtete sie aufmerksam genug, um das festzustellen. Die Kameras richteten sich wieder auf Randal, und sie setzte sich, immer noch zitternd.
Zehn Jahre später fand ein Journalist von der New York Times einen Film über jenen Abend, las Marys Worte von den Lippen ab und schrieb einen berühmten Artikel, dessen Titel lautete: »Was Mary Eliot am 5. August 1977 im Plaza sagte.«
*
Randal war brillant an jenem glanzvollen Abend im Plaza. Nach dem Dinner umringte ihn die Menge, brach in Gelächter aus, sprach lebhaft auf ihn ein. Randal Eliot, der Schriftsteller der siebziger Jahre, verstand es, bei solchen öffentlichen Anlässen witzig und geistreich zu plaudern. Dafür besaß er ein besonderes Talent. Mary beobachtete, wie er sein zweites Glas leerte, dann fand sie eine Gelegenheit, ihm zuzuflüstern, sie müssten zeitig am nächsten Morgen zum Flughafen fahren.
Er war müde. Bereitwillig versprühte er seinen Charme auf dem Weg zum Ausgang. Im Lift schwieg er, ebenso im Zimmer, wo sie gähnend die Abendkleidung auf Bügel hängten. Mary sagte nichts über das Dinner, die Ansprachen, den Pulitzerpreis. Sie kroch ins Doppelbett, schloss die Augen, dankbar für die Stille, die sie an einen See mit reglosem Wasser erinnerte. Auch Randal legte sich hin, stand aber nach ein paar Minuten wieder auf. Sie beobachtete ihn durch halbgeschlossene Lider, denn sie hatte gelernt, nicht einzuschlafen, solange er wach war.
Das Licht von New York, das die ganze Nacht nicht erlosch, erhellte die Zimmerdecke und beleuchtete Randals kahlen Schädel, während er immer wieder von einer Wand zur anderen ging. Mary stellte sich schlafend, blieb aber wach und dachte an das Dinner im Plaza. Randal, vom Applaus umbrandet, im Scheinwerferlicht, das Ziel der Fernsehkameras – sie selbst auf ihrem Stuhl, abseits vom Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Nur einen Schritt vom Pulitzerpreis entfernt.
Im Halbschlaf träumte sie, wie sie kühl und gefasst dastand und ihren Blick über die Gesichter schweifen ließ. »Soeben erklärte Randal Eliot, er könne sich nicht entsinnen, vier Romane geschrieben zu haben. Das ist nicht verwunderlich, denn diese vier Romane stammen von mir. Jedes einzelne Wort habe ich geschrieben – Mary Quinn, die nächste Gewinnerin des Pulitzerpreises, die Schriftstellerin der siebziger Jahre, die Stimme ihrer Generation.«
Sie erwachte aus dem Halbschlaf. Randal hatte seine bloßfüßige Wanderung unterbrochen, um seine Pfeife anzuzünden. Das leise Klicken und das Aufflammen des Feuerzeugs hatten Mary aus dem Traum von den erstaunten Gesichtern im Plaza gerissen. Wie ein Wall aus schockierter Verblüffung hätten sie sich vor ihr geballt, während die TV-Kameras wie einäugige Haie über sie hergefallen wären. Und dann Gelächter, Verlegenheit, ein Getümmel, das hastige Bemühen, die unglückselige Mary Quinn Eliot aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit zu entfernen ...
Aber sie hatte nichts gesagt, was irgendjemand gehört haben könnte. Mit kalten, schweißnassen Händen umklammerte sie das Laken. Die Menschenmenge und die Fernsehkameras hatten das Plaza längst verlassen. Über dem Bett hing Pfeifenrauch.
Randal packte Mary plötzlich an der Schulter und rüttelte sie. »Wach auf!« Er ließ sie los, schaltete eine Lampe ein, wühlte in einer Schreibtischschublade, nahm Hotelbriefpapier und einen Kugelschreiber heraus. Sie saß auf der Bettkante und sehnte sich nach Schlaf.
»Schreib das auf!«, rief er, drückte ihr das Papier und den Kugelschreiber in die Hände. »Eine Idee für ein neues Buch!«
Mary begann die klar aufgebaute Romanhandlung zu notieren, die Charakterisierung der Personen. Er veranlasste sie, ihm das »Thema« immer wieder vorzulesen, während er da und dort ein Wort änderte. Fast im Halbschlaf bedeckte sie ein Blatt nach dem anderen mit ihrer säuberlichen Handschrift und lächelte verstohlen, um ihre Bitterkeit zu überspielen. Romanhandlung? Charaktere? Ein Thema? Das alles musste zu Papier gebracht werden. Randal bestand darauf. Als könnte auf diese Weise ein Buch geboren werden. Armer Randal. Er hatte noch nie eins geschrieben.
Sie fror, zog die Decke um ihren Körper und schrieb weiter. Irgendwo auf den Papieren, die das Bett übersäten, würde sie etwas finden, das sie verwenden konnte – etwas, das Randals Überzeugung festigen würde, er wäre der Verfasser des neuen Romans. Nun ging er schweigend im Zimmer auf und ab. Sie wartete noch eine Weile, dann löschte sie das Licht und legte sich hin. Immer noch wanderte er umher.
Im Morgengrauen sank er aufs Bett, mit hängenden Schultern, die erkaltete Pfeife in der Hand. Mary konnte ihn nicht küssen, umarmen und trösten. Er wollte nicht angefasst werden.
Schließlich streckte er sich neben ihr aus. Seine Atemzüge wurden langsamer und tiefer. Mary schloss die Augen und schlief ein.
»Paris! London! Rom!« Randal lehnte sich in seinen alten Plastiksessel zurück und grinste Mary an, die das Fenster seines Arbeitszimmers putzte. »Da fliegen wir alle hin – wir fünf! Von September bis Weihnachten!«
Sie hörte auf, die Scheibe trockenzuwischen. »Was?«
»Das habe ich geplant.«
»Du hältst keine Vorlesungen?« Mary starrte ihn an.
»Ich habe für das Herbstsemester um unbezahlten Urlaub ersucht. Erst im Januar werde ich wieder arbeiten. Wir verreisen!«
Mary wandte sich wieder zum Fenster, einer der riesigen, dicken Glasscheiben, die das alte Haus in Nebraska kennzeichneten. Diese spiegelten Randals sonnenhellen Schreibtisch wider, die bunten Ausgaben seiner Romane im Regal über dem fadenscheinigen Teppich und seine Frau, die ins Licht blinzelte. »Wenn du kein Gehalt beziehst – wovon sollen wir leben?«
»Du hast den Brief nicht gelesen.« Er lächelte immer noch.
»Welchen Brief?«
»Mein Roman ›Reingewinn‹ wird als Taschenbuch erscheinen.«
»Als Taschenbuch?« Marys Stimme klang albern in ihren eigenen Ohren, während sie seine Worte wiederholte.
»Schau mal!« Er reichte ihr ein Papier – einen Scheck über einige tausend Dollar.
Mary blickte in seine grüngrauen Augen, die von ihr zur Bücherreihe wanderten. Auf den Buchrücken stand sein Name. Der Scheck, den sie ihm nun zurückgab, war auf denselben Namen ausgestellt. »Wann hast du ihn bekommen?«
»An dem Tag, als wir aus New York zurückgeflogen sind«, erwiderte er vergnügt. »Aber ich hab’s schon ein paar Monate vorher gewusst.«
Sie setzte sich auf die Armstütze seines Lehnstuhls. Ihr Gesicht unter der Zopfkrone, von Silberfäden durchzogen, lief rot an. Blicklos sah sie sich im Zimmer um. Dann lachte sie leise und atemlos, presste die Hände an die Wangen.
»Ein paar tausend Dollar«, betonte Randal. »Die hättest du doch gern zwischen den Fingern – oder?«
Sie schien ihn nicht zu hören. »Ein Taschenbuch! Stell dir vor, wie viele Leute den Roman jetzt lesen werden!«
»Erfolg!«, jubelte er. »Nicht nur gute Kritiken, sondern auch Erfolg.« Sie schaute wieder auf den Scheck, streckte eine Hand aus, um ihn zu berühren, aber Randal entfernte ihn rasch aus ihrer Reichweite. »Wir nehmen die Kinder mit.«
»Die Kinder? Wir sind alle über zwanzig!« Beth kam aus der Küche, das Gesicht von der Sommerhitze gerötet, was ihren strahlenden Augen noch mehr Glanz verlieh. »Wohin soll’s denn gehen?«
Er schwenkte den Scheck vor ihrer Nase. »Mein grandioses Werk ›Reingewinn‹ erscheint als Taschenbuch! Daran verdiene ich eine Menge Geld, und deshalb fliegen wir alle nach Europa. Paris! London! Rom! Athen!«
Beth schaute ihre Mutter nicht an. Das wäre auch überflüssig gewesen. Sie erklärte, einen Scheck über so viel Geld habe sie noch nie gesehen. »Das ist ja wundervoll ...«
»Was ist wundervoll?« Jay trat ein, gefolgt von Don – zwei blonde junge Männer mit nackter Brust, in ausgebeulten Jeans, Schraubenschlüssel, Taschenmesser und Stemmeisen in den ausgeweiteten Hosentaschen.
»Seht euch das an!«, rief Beth.
In Jays Augen entdeckte Mary den wachsamen Ausdruck, den auch der Blick ihrer Tochter gezeigt hatte. »Ist was passiert?«, fragte er.
»Dein jahrelang unterbezahlter Vater kriegt endlich Geld für seine Bücher!«, verkündete Randal. »›Reingewinn‹ kommt als Taschenbuch heraus. Na, was sagt ihr dazu?« Er zeigte seinen Söhnen den Scheck. »Das bedeutet London, Paris, Rom, Athen! Für die ganze Familie! Wir lassen dieses Semester sausen. Und wenn wir auch in einer alten Bruchbude wohnen – jetzt können wir auf Reisen gehen!«
Alle außer Mary begannen gleichzeitig zu reden. Sie ging in die Küche und schälte Kartoffeln für das Abendessen. Aus dem Arbeitszimmer drangen die triumphierenden Stimmen der Kinder zu ihr.
Nach ein paar Minuten kam Don in die Küche und nahm ihr das Messer aus der Hand, um die restlichen Kartoffeln zu übernehmen. »Da drin ist der Teufel los.« Seit dem Mai ließ er sich einen Bart wachsen. Aus dem hübschen Jungen war ein Mann geworden, mit gerader Nase und grünen Augen, in denen Mary manchmal immer noch das einstige Kind wiedererkannte. Sie beobachtete, wie die dünnen Schalen herabfielen. »Wie viel Geld Daddy jetzt hat!«, flüsterte er.
»Und er ist ganz high«, erwiderte sie ebenso leise.
Beth lief in die Küche und flüsterte ihrer Mutter zu: »Verreisen wir wirklich?«
Aber Mary zuckte nur die Achseln. Nun erschien auch Jay und murmelte: »Nun, wie ist es?«
»Keine Ahnung«, entgegnete Beth.
Seufzend half Mary ihrer Tochter, Schweinekoteletts anzubraten. »Wie wär’s mit Rosenkohl?« Sie begann, das Gemüse in der Spüle zu waschen.
Plötzlich stand Randal in der Küchentür und schrie Mary an: »Wir fliegen über den Atlantik, du dumme Kuh! Oder ich sehe mir Europa allein an! Oder die Kinder freuen sich, wenn ich sie mitnehme. Du kannst ja daheim bleiben.«
»Es ist keineswegs so, dass ich nicht mitkommen will.« Sie schaute in seine graugrünen Augen, die vor Zorn funkelten.
»Diesen Geldsegen habt ihr nur mir zu verdanken!«, brüllte er. »Glaubst du, ich lasse mir die Chance entgehen, in europäischen Bibliotheken zu arbeiten? Ihr könnt machen, was ihr wollt – ich fliege jedenfalls rüber!«
Sie hörten, wie er krachend die Haustür hinter sich zuwarf. Nun würde er eine oder zwei Meilen Rad fahren. Das tat er täglich, wenn er Zeit dazu fand. Er ging auch zum Bowling, wurde aber trotzdem immer dicker.
»Was sollen wir machen?«, fragte Beth.
»Während er weg ist, werde ich Dr. Parker anrufen.« Mary schloss die Küchentür und stand eine Weile neben dem Telefon, spürte ihr Heim um sich herum: vertraute Stimmen, vertraute Geräusche, Essensgerüche.
Sie musste eine Weile warten, bis Dr. Parker sich meldete. »Verzeihen Sie die Störung, aber ich sorge mich um Randal«, begann sie. »Morgen wird er mit Ihnen reden. Er will den Herbst in Europa verbringen, von September bis Weihnachten. Und wenn wir ihn nicht begleiten, fliegt er allein rüber.«
Die kühle Stimme des Arztes klang distanzierter denn je. »Hätten Sie Zeit für eine so lange Reise?«
»Ja. Und die Kinder könnten sich freinehmen.«
»Dann denken Sie drüber nach.«
»Ich soll ihn hier wegbringen, viele tausend Meilen weit?«
»Der Trip würde ihm guttun.«
»Aber wenn es ihn aufregt, dorthin zurückzukehren? Würde er einen siebenten Aufenthalt in der psychiatrischen Klinik verkraften? Womöglich verliert er seinen Job ...«
»Ich glaube, inzwischen ist Randals Job an der Universität gesichert. Immerhin genießt er einen ausgezeichneten Ruf. Lassen Sie ihn tun, was er will. Ich gebe Ihnen die Adresse eines guten Londoner Arztes.«
»Aber wenn Randal ...«
»Sie sind nicht die Psychiaterin Ihres Mannes«, unterbrach er sie ungeduldig.
Mary biss sich auf die Lippen. »Nein? Und wer außer mir wird diese Rolle übernehmen? Werden Sie ihn nach Europa begleiten und ständig beobachten und in eine Klinik bringen – in einem fremden Land?«
»Manchmal muss man ein Risiko eingehen.« Dr. Parkers ruhige Stimme nahm einen noch reservierteren Klang an.
Als sie sich verabschiedet hatte, legte sie mit zitternden Fingern den Hörer auf. Auf dem Herd simmerte das Essen. Die Kinder warteten oben in ihrem kleinen Arbeitszimmer, wo ein Ventilator die Papiere auf dem Schreibtisch bewegte.
»Fliegen wir nach Europa?«, fragte Jay, als Mary eintrat, und strich durch sein blondes Kraushaar. Er war groß, sehr schlank und kräftig gebaut.
»Randal will es mit aller Macht, und es ist sein Geld. Aber was wird aus den Universitätskursen, an denen ihr teilnehmen wolltet, Beth und du? Und woher nehmen wir das Kapital für das Geschäft, das Don eröffnen möchte?«
»Immerhin würden wir London, Italien und Griechenland sehen!«, schwärmte Beth.
»Mein Laden ist mir wichtiger«, wandte Don ein, »und ich müsste ohne Carla verreisen ...«
»Ach ja, die Liebe!«, hänselte ihn seine Schwester.
»Hau lieber ab, bevor du unters Ehejoch gerätst«, empfahl ihm Jay.
»Carla könnte das Haus hüten«, schlug Don vor. »Hätte Mike kein Stipendium, würde er vielleicht mitkommen.«
Mary lehnte sich im Schreibtischsessel zurück und dachte an ihren ältesten Sohn. »Unser glücklicher Anthropologe hat die Chance seines Lebens erhalten. Er wird drei Jahre Afrika wohl kaum gegen eine Europareise eintauschen.«
»Hast du mit dem Doktor gesprochen?«, fragte Beth.
Ihre Mutter nickte. »Er glaubt, es bestünde keine Gefahr. Morgen wird Randal mit ihm reden.«
»Vielleicht wird es Dad helfen, wenn er aus seinem Alltagstrott rauskommt«, meinte Jay. »Er wird immer fetter und interessiert sich für gar nichts mehr.«
»Jetzt geht er nicht einmal mehr in den Garten«, warf Beth ein. »Früher ist er oft draußen herumgelaufen und hat gefragt, was Jay und ich pflanzen.«
»Nie konnte er sich die Pflanzennamen merken«, sagte Jay.
»Immerhin ist er Schriftsteller«, betonte Mary.
Verächtlich winkte Jay ab. »Er kritzelt irgendwas auf die Rückseiten gebrauchter Briefumschläge.«
Die Kinder wechselten bedeutsame Blicke.
Mary ging nach unten und kümmerte sich um das Dinner. Nach einer Weile hörte sie Randal zurückkommen. »Das Essen ist fertig!«, rief sie in sein Arbeitszimmer hinüber.
Sie saß bereits mit den Kindern am Tisch, als er seine Tür aufstieß und schrie: »In meiner Brieftasche fehlen fünf Dollar!«
Verständnislose Gesichter starrten ihn an, dann erwiderte Don. »Du sagtest, ich könnte mir das Geld nehmen und einen neuen Pinsel kaufen.«
Randals graugrüne Augen glitzerten. »Du hast noch nicht einmal angefangen, den Verandaboden zu streichen.«
Niemand antwortete. Abwartend beobachteten sie ihn.
»Ich will nichts essen! Werft meine Portion weg!« Mit diesen Worten kehrte er in sein Arbeitszimmer zurück und warf die Tür hinter sich zu.
Die beiden Brüder aßen ihre Teller leer, teilten sich die Portion des Vaters, dann stapften sie geräuschvoll die Kellertreppe hinab.
Als Mary den Tisch abräumte, öffnete sich die Tür des Arbeitszimmers. Randal kam auf sie zu. »Du hast deine Kinder dazu erzogen, ihr Wort zu brechen. Hoch und heilig hat Don versprochen, den Verandaboden zu streichen. Und tut er’s? Nein!« Er stand so dicht vor ihr, dass sie den Wein roch, den er sich inzwischen genehmigt hatte. Speichel flog ihr ins Gesicht. Er war betrunken und konnte nur noch lallen. »Du Biest! Du kommst dir wohl wahnsinnig schlau vor, was? Dabei bist du nur ein Stück Scheiße!« Wieder fiel die Tür krachend ins Schloss.
Mary ging in die Küche, wo Beth gerade Essensreste aus dem Abfluss des Spülbeckens in einen Müllbeutel beförderte und die Augen verdrehte.
Lachend verdrängte Mary ihren Zorn und ging durch das Gerümpel in der Garage, um sich im Garten auf die Bank zu setzen und die müden Beine auszustrecken. Das alte Haus zeichnete sich vor dem Sternenhimmel ab, mit hohen Giebeln und hellen Fenstern. Die zwei Brüder arbeiteten an Jays Motorrad. Hammerschläge mischten sich mit dem Insektensummen der Sommernacht.
In der Garage wurde die Küchentür geöffnet und geschlossen. Beths weißes Hemd leuchtete, als sie auf ihre Mutter zuging.
»Was hast du denn da?«, fragte Mary.
»Einen Kater, dem ziemlich heiß ist.« Beth setzte den alten Waldo ins Gras und nahm im schwachen Licht der Lampen im gegenüberliegenden Park neben Mary Platz. »Ich liebe die Dunkelheit.« Seufzend hob sie das Haustier auf ihren Schoß. »Nun, was soll aus unserer Europareise werden?«
Mary beobachtete Randal durch das Fenster seines Arbeitszimmers. Sein kahler Schädel glänzte im Lampenschein. »Ich denke an das Geld für die Kurse, die ihr belegen wollt, Jay und du – und an das Kapital für Dons Laden. Und ob Randal in Europa durchdrehen wird ...«
»Wenn Mike bloß mitkäme! Er war schon weit genug weg, als er in Yale Vorlesungen hielt. Jetzt können wir ihn nicht einmal mehr anrufen. Und ein Brief ist wochenlang unterwegs.«
»Falls wir verreisen, würde er’s erst viel später erfahren.«
»Ein abgeschiedenes Dorf mitten in Afrika ... Ich hab’s auf der Landkarte gefunden und vergeblich versucht, mir meinen Bruder dort vorzustellen. Und wenn ich ihm schreibe, weiß ich nicht einmal, ob er die Briefe kriegt.«
Eine Zeitlang saßen sie schweigend in der Finsternis und dachten an Mike. Dann gestand Mary: »Es beunruhigt mich, dass Randal dorthin zurückkehren will, wo wir traumhafte Flitterwochen verlebt haben. Damals waren wir ganz andere Menschen.«
»Vielleicht wird er sich daran erinnern und glücklich sein. Er wird überlegen, wie weit er’s seit jenen Flitterwochen gebracht hat. Jetzt ist er berühmt. Die Romane und Preise – und jetzt auch noch das Taschenbuch ...«
»Ja«, bestätigte Mary tonlos. »Das alles hat er erreicht.«
Als sie ins Haus gingen, rochen sie immer noch das Essen. Im schwachen Licht, das aus Randals Arbeitszimmer drang, stiegen sie die schmale Treppe hinauf.
Don schlief schon fast. »Gute Nacht«, flüsterte Mary und tätschelte seinen warmen, mit einem Laken bedeckten Körper. Er grunzte nur, und sie bahnte sich einen Weg zur Tür zurück, zwischen aufeinandergestapelten Zeitschriften, Grundrissen für den Laden und Fotos. Früher hatte er das Zimmer mit seinem großen Bruder geteilt, nun war Michaels Bett verschwunden. Don hatte Jay gebeten, kleine Tische für seine Orchideen zu bauen, und sie an die Wand gestellt.
Nebenan saß Beth im Lampenlicht und tippte Karteikarten für die Katalogisierung ihrer liebsten Habseligkeiten – ihrer Bücher. Neben der Schreibmaschine lagen die Werke, die sie in diesem Sommer gelesen hatte und die sie für ihren bevorstehenden Universitätskurs brauchte.
Im angrenzenden Zimmer vibrierte ein großer Ventilator am Boden. »Gute Nacht!«, rief Jay, als er Mary in der Tür stehen sah.
»Schlaf gut«, erwiderte sie, dann ließ sie ihn mit seinem zoologischen Handwerkszeug allein, mit Zangen, Glassinekuverts, Flaschen, Etiketten, aufgespießten Insekten, gepressten Blumen, Samenpäckchen, Messern aus der Küche und klebrigen Löffeln.
Mary zog sich im Bad aus und nahm eine kalte Dusche, dann trocknete sie sich ab, schlüpfte ins Nachthemd und trat in den Flur. Weingeruch, der sie an verfaulte Rosinen erinnerte, und penetranter Schweißgeruch wehten ihr entgegen. Randal musste schon im Bett liegen.
Jetzt waren alle Räume dunkel, erfüllt vom stetigen Pulsieren der Ventilatoren, das durch offene Schlafzimmertüren drang – das Geräusch der Jahre, wo Randal im Ehebett auf seine Frau gewartet hatte, voller Ungeduld. Noch ehe sie in seine Arme gesunken war, hatte sie seine Hände auf der nackten Haut gespürt und ihn dann lachend geküsst. Man konnte das Zimmer nicht absperren, und so hatten sie einen Tisch vor die Tür geschoben, um die Kinder fernzuhalten ...
Leise schlich Mary die Treppe hinab. An manchen Stellen knarrten oder quietschten die breiten Stufen, aber das würde niemand hören, weil die Ventilatoren so laut surrten. Die schmalen letzten Stufen bewältigte sie mit seitwärts gedrehten Füßen, auf das Holzgeländer gestützt. Das Mondlicht sandte schräge Strahlen durch die großen Räume im Erdgeschoss, die offenen Türen ließen das Rascheln der Bäume und das Zirpen der nächtlichen Insekten herein. Eine Lampe im Park auf der anderen Straßenseite warf den Schatten der Schaukel auf den Boden, und Mary musste an Spinnenbeine denken.
Auf Randals Schreibtisch bebte ein Muster aus Ahornblättern. Mary nahm die Romane, die seinen Namen trugen, aus dem Regal und spürte ihr Gewicht. In einem der unteren Fächer standen Alben, in die sie alle Zeitungsausschnitte klebte. Nur deshalb wusste sie, dass ihre Bücher Preise errungen hatten, dass sie gründlich analysiert, kritisiert und hoch gelobt worden waren.
Von einer Albumseite lächelte ihr Randals Gesicht entgegen, und sie las im hellen Mondschein: »In viel höherem Maße als jeder andere zeitgenössische Schriftsteller fängt Randal Eliot ein, was ein Mann im zwanzigsten Jahrhundert fühlen mag, aber nicht ausspricht. Viele moderne Romanautoren erkennen sein Genie an, und keiner kann ihm das Wasser reichen.«
Mary stellte das Album ins Regal zurück. Auf dem Schreibtisch lag der Scheck über mehrere tausend Dollar. »Die hättest du doch gern zwischen den Fingern – oder?«
Sie ergriff den Scheck, ihren eigenen Scheck. Jedes einzelne Wort, das sie in ihrem letzten Buch geschrieben hatte, würde Randal einen Dollar einbringen. Als sie den Zettel wieder hinlegte, lauschte sie auf Geräusche, hörte aber nur die Ventilatoren, die Insekten, die raschelnden Blätter, ein Auto, das langsam vorbeifuhr. Sie ging in die Küche, stieg auf einen Stuhl und öffnete einen der oberen Schränke, an dem der Türgriff fehlte. Sie musste einen Fingernagel unter den Rand schieben. Lautlos nahm sie ihr Notizbuch heraus. Wann immer sie bei ihrer schriftstellerischen Tätigkeit ertappt wurde, erklärte sie: »Ich schreibe nur was in mein Tagebuch.«
Wenige Minuten später saß sie unter einer Wohnzimmerlampe, in ihr fast vollendetes Buch vertieft. Unter ihrem leise kratzenden Füllfederhalter nahmen die letzten Kapitel von Randal Eliots Roman Gestalt an.
*
Gelbe Blätter flogen über die Rasenflächen der Stadt. Im Morgensonnenschein gingen die Kinder wieder zur Schule. Mary packte einige Koffer, fand eine Nachbarin, die den Kater Waldo füttern würde, bestellte das Zeitungsabonnement ab, beendete für einige Monate das Alltagsleben. Auf Randals Schreibtisch lagen fünf Flugtickets.
»Ich habe Angst«, gestand sie Nora Gilden. Schon seit vielen Jahren war sie einmal im Monat bei ihrer Freundin zum Lunch eingeladen. Bei Salaten und Wein unterhielten sie sich. Nora war ein mittelloses Mädchen aus North Carolina gewesen, »das aus Liebe geheiratet hatte und durch die Hölle gegangen war«, wie sie zu behaupten pflegte. Also hatte sie sich von ihrer Hölle scheiden lassen und bei ihrem zweiten Versuch einen schwerreichen Ehemann ausgesucht. Jetzt lebte sie, eine wohlhabende Witwe, in einem roten Ziegelhaus voller Antiquitäten und unterrichtete »nur zum Spaß« an der Universität.
»Befürchtest du, Randal könnte in Europa krank werden? Ein Jammer, dass Michael in Afrika ist – aber deine anderen Kinder sind dir sicher eine große Hilfe.«
»Randal drohte uns, allein zu fliegen, wenn wir nicht mitkämen.« Mary seufzte tief. »Wenn er mir bloß erzählen würde, was alles passiert! All die Auszeichnungen, die Briefe von berühmten Leuten, und jetzt dieses Gerede über den Pulitzerpreis ... Schon im letzten Juni hat er um Urlaub ersucht und mir’s verschwiegen.«
Nora zuckte die Achseln. »Er ist eben ein berühmter Mann.«
Lächelnd schaute Mary ihre rundliche Freundin an, deren Gehirn ihrer Körperfülle in nichts nachstand, ein riesiger Computer, der wichtige Statistiken über zahllose Leute enthielt und den man mit einer einzigen Frage öffnen konnte.
»Als Randals Vater uns auf Hochzeitsreise nach Europa schickte, waren wir so glücklich.« Plötzlich füllten sich Marys Augen mit Tränen.
*
Randals Vater saß in der Küche seiner Schwester, in ihrem Haus am Stadtrand. Er schaute Mary und Beth an, als würde er sie nicht kennen.
»Wir fünf fliegen morgen nach Europa«, erklärte ihm Mary. Es war kühl im Raum. Tante Violas Küchenfenster zeigten die heiße Welt da draußen.
»Das ist Mary, deine Schwiegertochter«, sagte Viola mit ihrer Zitterstimme und beugte sich über D. L., so wie sie es oft tat, um sein Hemd oder seine wenigen Haare glattzustreichen, als könnte sie seinem Gedächtnis damit auf die Sprünge helfen. »Sicher erinnerst du dich an sie.«
»Und ich bin deine Enkelin«, fügte Beth hinzu.
D. L. antwortete nicht. Auf dem Revers seines Sportjacketts prangte ein Soßenfleck wie ein braunes Herz. Mary und Beth nahmen rechts und links von ihm Platz, aber seine wässrigen neunzigjährigen Augen wichen ihnen aus und wanderten durch die Küche.
»Dein Sohn Randal ist mein Mann.« Langsam sprach Mary auf ihn ein. »Der Doktor sagt, die Reise würde Randal guttun. Du erinnerst dich doch an deinen Sohn? Weißt du noch, wie du uns die wundervolle Hochzeitsreise nach Europa geschenkt hast?«
Nun ergriff Beth das Wort. »Dad war so oft krank. Er muss endlich mal raus aus dem Alltagstrott. Und er möchte, dass wir ihn alle nach Europa begleiten.«
D. L.s Augen in den faltigen Höhlen betrachteten die Lichter einer Schule jenseits von Tante Violas Garten. »Wie spät die Politiker noch arbeiten ...« Er glaubte, gegenüber dem Capitol zu wohnen.
»Randal konnte dich nicht mehr besuchen, er hat vor dem Abflug noch so viel zu tun«, log Mary. Sicher hatte D. L. vergessen, dass Randal ihn nie besuchte. Seit Jahren hatte er seinen Vater nicht mehr gesehen.
D. L.s Augen glitten langsam von den erleuchteten Schulfenstern zu seinen Händen, die auf dem Tisch lagen.
»Tante Viola passt auf dich auf, also müssen wir uns keine Sorgen machen«, fuhr Mary fort. »Sie weiß, wo wir zu erreichen sind, falls du uns brauchst.« Sie lächelte die alte Frau an, die das Lächeln mit zitternden Lippen erwiderte.
»Es wäre schön, wenn du auch mitkommen könntest, Grandpa«, beteuerte Beth.
»Wir gehen jetzt, weil du zu Abend essen musst. Sobald wir von unserer Reise zurückkommen, besuchen wir dich wieder.« Mary küsste seine Glatze.
»Auf Wiedersehen, Grandpa«, sagte Beth.
Sein Blick richtete sich wieder auf die erleuchteten Schulfenster. »Wie spät die Politiker noch arbeiten ...«
Die gecharterte DC-8 stieg vom Rollfeld hoch, zog eine Schleife über Chicago und wandte sich nach Osten. Mary flüsterte Randal zu: »Wir fünf über dem Meer, wir alle – das macht mir Angst.«
Er gab keine Antwort. Die Augen geschlossen, saß er neben ihr. Sie atmete kaum, bis eine Wolkenschicht die Erde unter ihr verdeckte und die Stewardess einen kleinen Trost in Form von Magazinen, Zeitungen und Drinks anbot.
»Ihr müsst die kleinen Tische runterklappen.« Beth hakte das Tischchen vor ihrem Vater los.
»Das ist der Knopf für die Lampe«, erklärte Jay.
»Und der da für die Frischluftzufuhr«, ergänzte Don. »Davon gibt’s jede Menge.«
Als die Sonne unterging, färbte sich der Himmel wie Dantes Hölle. Wolkenhöhlen und Landschaften erstreckten sich bis in die Unendlichkeit, mit Nebel gepflastert, wurden immer dunkler wie zerstörte Hoffnungen. In einer scharlachroten Grube starb die Sonnenkugel und spuckte Blut. Eine Stunde lang beobachtete sie, wie das Inferno zu tiefem Schwarz überwechselte. Schließlich blieb nur noch ein rötlicher Streifen übrig, der bald erlosch.
Im Flugzeug verströmten einige Lampen ihr Licht. Die Passagiere lasen oder schliefen oder genossen ihre Drinks neben blinden Fenstern. Die fünf Eliots aßen ihr Dinner von kleinen Plastiktellern, während sie über ein unsichtbares Meer flogen. Sie wanderten durch den Mittelgang, lasen und redeten – eine Familie, die nichts weiter besaß als ihre Mäntel und die fünf Schultertaschen zu ihren Füßen. Wenn Mary den Blicken der Kinder begegnete, wurde ihr bewusst, dass sie alle viel zu verzaubert waren, um während ihres Abenteuers in der DC-8, die wie ein monströser Bienenstock summte, zu schlafen. Lediglich Randal schlief.
Die Sonne ging auf, und Beth fragte mit ärgerlicher, schläfriger Stimme: »Warum fängt der Morgen mitten in der Nacht an?« Ihr Kopf war an Marys Schulter gesunken, Falten zogen sich über die gerötete Wange. Sonnenlicht wanderte über die schlummernden Passagiere hinweg.
Die Maschine sank zur braunen Kruste von Island hinab, und Jay meinte: »Sieht aus wie ein verbrannter Keks.« Blinzelnd und gähnend wanderten die fünf Eliots durch den Duty-free-Laden des Flughafens, dann nahmen sie wieder ihre Plätze im Flugzeug ein.
»Wohin ist die Nacht verschwunden?«, fragte Don, als sie endlich in der Flughalle von Luxemburg standen und durch die Fenster in einen sonnigen Nachmittag blickten. Es war Beths, Jays und Dons erste Auslandsreise, und sie schauten sich mit großen Augen um.
»Die Leute sehen genau wie Amerikaner aus«, meinte Beth, als sie beim Zoll warteten.
»Aber sie reden anders«, erwiderte Jay.
Randal folgte seiner Familie in die Flughafenbank, um Geld zu wechseln. »Geld?« Don betrachtete verwirrt die Bilder auf den Scheinen.
Die Buchstaben auf den Schildern im Bus ergaben keinen Sinn. Erst auf dem Weg zum Hotel begannen die Eliots zu begreifen, wie viele tausend Meilen sie zurückgelegt hatten. »Seht euch das an!«, riefen sie. Oder: »Was hat das zu bedeuten?« Randals dick besohlte Schuhe schienen zu groß für seine Füße zu werden. Er schlurfte ein wenig, als er versuchte, mit den anderen Schritt zu halten. Wie gebeugt er geht, wie dick er ist, dachte Mary, wenn sie sich auf den Straßen von Luxemburg zu ihm umdrehte.
Die Hotelzimmer waren kühl und sauber. Sie stellten ihre fünf Schultertaschen ab, und Beth rief: »Wir müssen Proviant für die Bahnfahrt nach Paris kaufen!«
»Das erledigen wir drei«, schlug Don vor.
Die Kinder verschwanden, und Mary wusch sich das Gesicht, dankbar für die Energien in drei jungen Körpern. Mit ihnen reiste man wie auf einem Luftkissen. Randal saß am Fenster und stopfte seine Pfeife.
Mary zog die Vorhänge auseinander. In Gegenwart eines Menschen namens Randal war sie es gewöhnt, Selbstgespräche zu führen. Aber nun versuchte sie, mit ihm zu reden. »Morgen fahren wir nach Paris. Diese Stadt haben wir seit unserer Hochzeitsreise nicht mehr gesehen. Weißt du noch, wie es geregnet hat?« Er schwieg. »Erinnerst du dich?«, fragte sie, als würde Randal, der noch ein Gedächtnis besaß, sich lächelnd zu ihr wenden und sagen: Erinnerst du dich an die Regenpfützen vor der kleinen Patisserie, wo wir Kuchen gekauft haben? Und dass wir uns in Paris die ganze Nacht geliebt haben?
»Das Hotel kostet uns sechzig Dollar für eine Nacht«, bemerkte er. »Das können wir uns nicht leisten. Diese Reise wird doppelt so teuer, wie ich dachte. Wir werden schon im November nach Hause fliegen müssen, wenn wir’s überhaupt bis dahin schaffen. Und wie sollen die Kinder das Hotel wiederfinden? Hast du dir das mal überlegt?«
»Sie können sich den Namen des Hotels merken, und sie haben einen guten Orientierungssinn – im Gegensatz zu mir. Don hat uns durch ganz Denver geführt – erinnerst du dich?« Mary begann, mit sich selbst zu reden. »Sieh dir diese Betten an! Die haben sich nicht verändert, seit wir das letzte Mal hier waren. Man hat zwei Möglichkeiten – man schläft unter dem Laken und friert – oder man schwitzt unter dieser kurzen Daunendecke, die zwei weitere Möglichkeiten bietet: Man kann die Schultern oder die Füße in Eis verwandeln.«
»Das war deine Idee«, warf Randal ihr vor. »Du musst den Verstand verloren haben. Sechzig Dollar für eine Nacht! Und dafür gibt’s nicht mal was Vernünftiges zu essen, nur das Frühstück!«
Ein Baby hatte geweint. Mary erinnerte sich daran. Während ihrer ganzen letzten Nacht in Europa hatte irgendwo ein Baby geweint.
Sie zog die Vorhänge wieder zu. Die Fenster standen offen. Sie hörte den Straßenverkehr, die Stimmen der Kinder, die unter den immer noch grünen Bäumen spielten.
*
Don und Jay trugen den Reiseproviant, als sie in den Zug nach Paris stiegen.
Die Eliots hielten sich für sehr clever, weil sie im fast vollbesetzten Zug Plätze fanden. Wie sollten sie auch wissen, dass sie in ein Abteil erster Klasse geraten waren. Randal musste dem Schaffner Francs im Wert von dreißig Dollar nachzahlen. »Wenigstens können wir unseren Lunch im Sitzen essen«, meinte Beth.
»In der zweiten Klasse stehen die Leute.«
Randal schimpfte über das schmutzige Fenster.
*
Paris! Mary und Don studierten ihren Metro-Plan, und Beth schaute ihnen über die Schultern. »Wieso wisst ihr, welche Farbe unsere Linie hat?«
»Am Ende jeder Linie steht der Name«, erklärte Don. »Kommt!« Randal folgte ihnen in der Louvre-Station die Treppen hinauf und hinunter.
Der Verkehr dröhnte durch die Rue de Rivoli. Dort lag das Hotel St. Ignace, wo Mary Zimmer bestellt hatte. »Weißt du noch, wie die Zimmerdecke leck gewesen ist und der Regen auf unser Bett getropft ist?«, fragte sie Randal. »Das konnten wir dem Mann an der Rezeption nicht klarmachen. Also führten wir ihn nach oben. Er warf nur einen Blick ins Zimmer und schrie: »Mon Dieu!«
Lachend stießen die Kinder die Glastür auf und gingen zum Empfang. Und Mary entsann sich, wie Randal sie in diesem Hotel vor fast dreißig Jahren geliebt hatte. An der Balkontür waren die Vorhänge vom Wind nach innen geweht worden. Morgens hatte ein Zimmermädchen das Frühstückstablett hereingebracht und sie schlafend im Bett gefunden, eng umschlungen.
Die Kinder zogen in ein großes, luftiges Zimmer, vor der Aussicht auf Paris bauschten sich dünne Gardinen. In Marys und Randals Zimmer gab es keine Fenster. Es war dunkel wie ein begehbarer Schrank, mit winzigem Bad.
»Uff, was für ein finsteres Loch!«, rief Mary, dann entdeckte sie eine Doppeltür und öffnete sie. Jenseits eines schmiedeeisernen Geländers lag ein kleiner Luftschacht, wo ein paar Pflanzen wuchsen. Vom Himmel, den sie nicht sehen konnten, fiel perlgraues Licht auf Kissen und Steppdecken, auf die Schultertaschen und Randals Glatze.
Während sie durch die Straßen wanderten, berührte der letzte Sonnenschein die Stadt wie ein impressionistischer Pinsel, vergoldete einen Zweig, das Haar eines Kindes, einen steinernen Turm. »Paris!«, rief Mary, als sie die Tuilerien betraten.
Randal blieb stehen, den Louvre zur Linken, den Arc de Triomphe zur Rechten. »Die Kinder werden sich verirren. Ich habe sie gebeten, bei uns zu bleiben.«
Don, Jay und Beth kamen zu den Eltern, und die Familie war wieder vereint in ihren Uniformen aus dunklen Hosen und Jacken, ein düsterer Fleck im Herzen des riesigen Grüns. Der Weg führte vom Louvre über die Place de la Concorde, die Champs-Elysées hinauf bis zum fernen, in Dunst gehüllten Triumphbogen. »Genau das habe ich mir gewünscht!«, verkündete Mary. »Die Voie Triomphale.«
Niemand war in der Nähe. Der große Garten hätte den Eliots gehören können. Ein sanfter Wind ließ Beths langes, weiches Haar flattern.
Sie schlenderten die Seine entlang, zur Notre-Dame. »Du dachtest, du würdest sie nie wiedersehen«, sagte Don zu Mary.
»Was sollen wir morgen essen?«, fragte Randal. »Wir können uns nicht leisten ...«
»Nach dem Frühstück kaufen wir was«, fiel Don seinem Vater ins Wort. »In der Nähe unseres Hotels gibt’s mehrere Läden.«
»Ich habe Instantkaffee, Zucker, Sahne und Schokoladenpulver eingepackt«, erklärte Mary.
Blaues Licht lag über der Seine, den Passanten, der Kirchenfassade. Randal sagte, er sei müde. Wieder im Hotel, ging er sofort zu Bett. Beth, Don und Jay erschienen mit ihren Handtüchern, um die Dusche zu benutzen. Während der eine dran war, saßen die anderen auf Marys Bett und warteten, bis sie an die Reihe kamen.
Nachdem sie verschwunden waren, duschte auch Mary. Über den Luftschacht hinweg drang das leise Klirren von Geschirr und Besteck durch die offene Tür herein. Das Hotel St. Ignace ist ziemlich schäbig geworden, dachte sie, als sie ins Bett kroch. Aus dem Zimmer, das sie damals mit Randal geteilt hatte, waren inzwischen vermutlich drei entstanden. Ehe sie einschlief, sah sie jenen Raum vor sich, die hastig abgelegten, am Boden verstreuten Kleidungsstücke ...
*
»Dad hat heute keinen Wein getrunken«, flüsterten die Kinder jeden Abend.
Randal folgte ihnen zu den Licht- und Tonspielen von Notre-Dame. Sie besuchten den Louvre, die botanischen Gärten, ein Renaissance-Konzert in der Sainte-Chapelle, fuhren in einem Boot die Seine hinab. »Dad ist kein Alkoholiker«, bemerkte Jay im Cluny-Museum. »Seit neun Tagen trinkt er nicht mehr.«
An einem wolkigen Morgen besichtigten sie Chartres. Hinter einer Straßenbiegung tauchte die Rosette auf. »Seht doch!«, rief Mary. Mächtige Steinfiguren blickten ihnen von der Fassade entgegen. Als sie durch das Kirchenschiff gingen, wechselte das Farbenspiel der Fenster bei jedem Schritt. Die Kathedrale dämpfte die Stimmen.
»Wo ist unser Weihnachtsfenster?«, flüsterte Beth. »La Belle Verrière?« Behutsam setzten sie einen Fuß vor den anderen, hielten nach der Madonna und dem Kind Ausschau, die Mary mit transparenten Farben auf Plastik kopiert hatte. Jedes Jahr wurde das Bild zur Weihnachtszeit an ein Fenster neben der vorderen Haustür geklebt.
»Da!«, sagte Jay. »Genauso wie daheim! Da oben!«
Sie standen im Lichtmuster auf dem Steinboden, reckten die Hälse, mit feierlichen Gesichtern. Nur die Köpfe von Mutter und Kind waren ihnen vertraut. Der große Körper der Madonna bildete das Zentrum von Topas- und Smaragdtönen, Saphir- und Rubinnuancen, in intensiverer Glut als alle Edelsteine.
»Unser Fenster«, hauchte Beth, und die Gesichter von Mutter und Kind aus dem zwölften Jahrhundert, streng und gekrönt, blickten mit durchdringenden Augen auf die Eliots herab und gehörten tatsächlich ihnen. Ehe sie hinausgingen, schaute Mary zurück und beobachtete, wie auch die Kinder das Farbenfeuer noch einmal bewunderten.
Aus dem Dunkel ins Licht zurückgekehrt, sahen sich fünf müde Leute an und gestanden, hungrig zu sein. In einem kleinen Park fanden sie Tische, setzten sich unter den grauen Himmel und picknickten. Neben einem Abfallkorb öffnete Jay die Limonadendosen. Es begann zu regnen. In einer Damentoilette auf der anderen Straßenseite wusch sich Mary Gesicht und Hände.
Sie stiegen in die düstere, kühle Krypta der Kathedrale hinab, wo ein Mann mit deutschem Akzent immer wieder untröstlich die französischen Erklärungen des Führers unterbrach und jammerte: »Die knienden Engel! Wo sind die knienden Engel?« Der Führer gab ihm ein Buch, das der Mann aufschlug und allen zeigte. »Da sind sie. Schauen Sie! So haben sie mal ausgesehen. Diese schönen Engel wegzuwischen, nur weil die Gemälde darunter älter sind! Die älteren sind gar nicht schön! Das sind keine Engel!« Er saß da, das Buch im Schoß, und das präzise Französisch des Führers prasselte auf seinen gesenkten Kopf herab.
Kalter Regen verbarg den letzten Ausblick auf Notre-Dame. Sie suchten Zuflucht in einer Imbissstube, genossen die Wärme, tranken heiße Schokolade. Randal zählte sein Kleingeld und seufzte.
*
Er betonte, alles sei viel zu teuer. Der letzte Abend in Paris war eine milde Liebkosung. Sie wanderten die Champs-Elysées hinab zum Arc de Triomphe. Randal schlurfte in seinen derben Schuhen fünf bis zehn Schritte hinter ihnen. Neben Mary gingen Jay und Don, zwei blonde junge Männer, wo vor neunundzwanzig Jahren nur einer gewesen war. Beth drehte sich lächelnd zu ihrer Mutter um. Neonfarben spielten auf ihren Köpfen. Morgen würden sie in London sein. Weiter vorn beleuchteten Scheinwerfer den Triumphbogen, dessen gewaltiges Tor zu nichts anderem führte als in die Nacht.
Sie besichtigten das Grabmal des Unbekannten Soldaten, lasen in der Mauer darüber die Namen von Offizieren. Die Spitze des Torbogens zeigte berühmte Schlachten. Mary legte einen Arm um die Schulter ihrer Tochter. Durch den Arc de Triomphe blickten sie zu den Sternen empor. »Wie würde ein Triumphbogen zu Ehren von Frauen aussehen?«, fragte Beth. »Vielleicht wie ein großer Kreis oder ein Oval voller weiblicher Namen, mit Bildern von guten Taten, die nichts mit Krieg und Tod zu tun haben, und den Namen von Müttern berühmter Kinder ...«
Ein letztes Mal durchstreiften sie die glanzvolle Stadt – zwei attraktive junge Männer, ein schönes Mädchen und Mary. Sie blickte zurück zum Triumphbogen und sah, dass ihnen jemand folgte – jemand, den sie kaum wiedererkannte, eine gebeugte Gestalt vor den Pariser Lichtern.
Das Montroy Private Hotel in London war genauso, wie Mary es in Erinnerung hatte. Es gab heiße Duschen und zum Frühstück Orangensaft, Spiegeleier mit gebratenen Tomaten, Cornflakes und kalten Toast in einem Ständer.
»Harte Butter auf kaltem Toast!«, klagte Beth am ersten Morgen. »Machen die das absichtlich?«
»Unsere Sachen sind schmutzig«, bemerkte Don, wieder im Hotelzimmer. »Ich gehe mal in einen Waschsalon.« Gegen Abend kam er mit sauberen Kleidern zurück. »Ich habe nachgedacht. Vielleicht sollten wir nach Schottland fahren, bevor wir eine Wohnung mieten.«
»Wir können keine Hotels in Schottland zahlen und dann eine Wohnung in London«, wandte Beth ein.
»Von London geht ein Schnellzug nach Edinburgh.« Mary sah ihren Mann an. »Sollen wir hinfahren?«
»Ich finde schon«, mischte sich Jay ein. »Immerhin stammen wir von Schotten ab.«
Randal nickte. »Wir gönnen uns den Trip – am besten, bevor’s noch kälter wird.«
»Meinst du wirklich?«, fragte seine Frau. Er gab keine Antwort, rauchte seine Pfeife und sah zu, wie sie fünf Schultertaschen packten.
Am nächsten Morgen brachen sie auf. Mary beobachtete Randal im Schnellzug nach Schottland. Mit leeren Augen starrte er aus dem Fenster, zeigte keinerlei Interesse an der Landschaft oder seinen Begleitern. In Edinburgh folgte er ihnen ins Touristenzentrum und wartete, während sie nach der billigsten Frühstückspension fahndeten. Der Bus fuhr durch eine Straße, die achtmal den Namen wechselte, und brachte die Eliots schließlich zu ihrem Ziel.
»Wie eine Reitschule!«, rief Beth, nachdem die Pensionswirtin verschwunden war. Sechs Betten standen in einem ehemals großen Wohnzimmer. In einer Ecke befand sich ein Waschbecken, in einer anderen eine Dusche. Die Wände, der Teppich und die Vorhänge vibrierten in grellem Violett, Rot und Grün, so dass die Zimmerdecke mit ihrer kunstvollen Stuckatur und dem Kristalllüster fast schlicht wirkte.
Sie duschten, dann lagen fünf müde Reisende im Dunkel und redeten. »Wenn wir so beisammen sind, muss ich an unsere Campingausflüge denken«, bemerkte Beth. »Da haben wir Kinder in einem einzigen Zelt geschlafen.« In dem riesigen Raum hallte ihre Stimme von den Wänden wider.
»Aber hier besuchen uns keine Stinktiere«, entgegnete Jay. »Und Moms und Dads Klappbett bricht nicht zusammen und wirft sie um zwei Uhr nachts in den Dreck.«
Im Halbschlaf sah Mary, wie Randal das Zelt aufbaute, Wasser holte, die Luftmatratzen aufblasen half. Wie er es genossen hatte, Feuer zu machen ... Aber die Schocktherapien und die Medikamente hatten solchen Ferien ein Ende bereitet. Sie konnte sich kaum noch an den letzten Campingausflug erinnern.
Beth lachte. »Wisst ihr noch, wie wir alle im Auto zu schlafen versuchten, weil ein Sturm die Zelte weggeweht hatte?«
»Oder die Zelte im Schnee«, murmelte Jay schläfrig. »In den Tetons. Im Juli.«
»Randal, erinnerst du dich, wie wir uns mit den Zelten abplagten, als die Kinder noch zu klein waren, um uns zu helfen?«, fragte Mary. Keine Antwort. Sie zog sich die Decke bis zum Kinn hoch. Zu fünft waren sie vereint, geborgen in nächtlicher Finsternis. Einer nach dem anderen schlummerte ein.
*
Es wurde kalt. Der Winter begann.
»Randal?« Manchmal rief Mary seinen Namen, wollte ihm dies oder jenes zeigen. Vielleicht, weil einmal jemand, der Randal hieß, mit ihr in Edinburgh gewesen war, sie geliebt, mit ihr gelacht und Pläne geschmiedet und sich sogar gemeinsam mit ihr erkältet hatte, so dass sie von der gastfreundlichen schottischen Zimmerwirtin mit heißer Suppe und Haferschrot versorgt worden waren.
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