Das Buch erzählt die bezaubernde Liebesgeschichte zwischen einer Auswanderin und einem Einheimischen, einem Rapa Nui. Elisa Simon trifft einen Mann auf der Osterinsel, der eine selbstgezimmerte Hütte sein eigen nennt, der sie mit einem Pferd zum ersten Date abholt. Zwei Menschen, die unterschiedlicher kaum sein können. Sie, die große Blonde, aus dem kühlen Bremen. Er, braun gebrannt, der sein Leben nach den Jahreszeiten ausrichtet. Doch eines haben sie gemeinsam: Die Liebe füreinander, die das Band beider Herzen immer enger werden lässt.
Elisa Simon schaut in der Schule lieber aus dem Fenster statt auf kryptische Formeln. Eine Ausbildung als Krankenschwester hängt sie an den Nagel, weil sie ständig krank wird. Elisa träumt von einem Bauernhof, einem autarken Leben, ohne den Druck der Gesellschaft spüren zu müssen. Mit 24 Jahren entschließt sie sich auf die Osterinsel auszuwandern. Heute lebt sie dort glücklich mit Mann und zwei Kindern.
ELISA SIMON
und
BRIGITTE BUTTMANN-SIMON
Wie ich meine große Liebe
auf der Osterinsel fand
Dieses Buch beruht auf einer wahren Geschichte. Alles ist so beschrieben, wie die Autorin es erinnert. Einige Namen, Orte und Details wurden zum Schutz der Rechte der Personen geändert.
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Fotos Innenteil: © Nina Buttmann
Einband-/Umschlagmotiv: © shutterstock.com: NadyaEugene | Ms Moloko | Natalya Erofeeva | SOBOLEV NIK, Akaphon
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-8656-1
luebbe.de
lesejury.de
Am Anfang war ein Traum, ein Traum, in dem der königliche Berater Haumaka seine Seele auf eine weite Reise schickte. Sie sollte eine neue Heimat für seinen König Hotu Matua suchen. Hotu Matua lebte mit seiner Frau Vakai in Marae Renga, auf der Insel Hiva, die in der unermesslichen Weite des Südmeers zu versinken drohte.
Die Seele Haumakas strebte der aufgehenden Sonne entgegen. Sie überflog sieben Inseln, die sich hinter Nebelschleiern verbargen, bis sie endlich das achte oder auch das letzte Stück Land erreichte. Sie ließ sich dort nieder, um es zu erkunden. Sie schwebte an den Rändern eines Vulkans empor und gab ihm den Namen Rano Kao, und sie benannte auch die kleinen Felseninseln, die sie erblickte: Motu Nui, Motu Iti und Motu Kao. Sie sah den Fisch Mahore, der sich im Wasser tummelte, silbrig glänzend. Sie sah Pflanzen, Buchten und Berge und gab ihnen Namen. Auf der anderen Seite des Berges Hau Ep, sah sie einen Sandstrand, der in der Sonne hell glitzerte, und sie wusste: Hier ist der Ort, wo der König sich niederlassen könnte.
Die Legende von König Hotu Matua
Ich habe einen Traum, der meist am Tage in mir irrlichtert, dann, wenn ich mich frage, ob mein Leben immer so weitergehen wird, eingezwängt in die Gegebenheiten einer Gesellschaft, in der man nichts ist, wenn man nichts vorweisen kann, kein Studium, keine ordentliche Ausbildung, keine Festanstellung mit Aussicht auf Rente. All das habe ich nicht.
Ich habe in der Schule lieber aus dem Fenster gesehen statt auf kryptische Formeln der Geometrie. Eine Ausbildung als Krankenschwester habe ich nach anderthalb Jahren an den Nagel gehängt, weil ich in meiner aseptisch sauberen Arbeitskleidung ständig krank wurde. Und in einem Großraumbüro saß ich weit entfernt vom Tageslicht in einer der vielen Boxen, in der jeder vor sich hin werkelte.
Ich träume von einem Bauernhof, wo ich mein Gemüse selbst anpflanzen und Tiere halten kann, Pferde, Hühner, Katzen und Hunde, ja, Hunde, Hunde ohne Hundesteuer zahlen zu müssen. Ich will in die Ferne blicken, ohne dass mir gesichtslose Neubauten den Blick versperren. Ich will Weite, Licht und Luft, habe sie immer schon gewollt.
Denke ich zurück an meine Kindheit, kommt sie mir vor wie ein Film aus der heilen Bullerbü-Welt von Astrid Lindgren. Ich spielte mit meinen Freunden noch auf der Straße oder unter den alten Bäumen eines nahe gelegenen Spielplatzes. Wir waren viel im Freien und gingen auch ohne Handy nicht verloren. Ich nahm weder Ballett- noch Musikunterricht, ich war in keinem Reit- oder Tennisverein. Ich hatte kein Smartphone, kannte kein Google und kein WhatsApp. Ich spielte mit meinen Monchichis, kleinen Äffchen aus Kunststoff und Fell, denen man den Daumen in den Mund stecken konnte, und wenn ich nicht draußen war, vertrieb ich mir die Zeit mit Hörkassetten. Mein großer Bruder versenkte sich meist in seine Donald-Duck-Taschenbücher. Auch ich blätterte gern die Geschichten aus Entenhausen durch und erinnere mich, dass in einem der Bände die Osterinsel auftauchte, die »Insel der Geheimnisse und Rätsel«. Da wurde der steinreiche, aber knauserige Onkel Dagobert, der mit seiner Yacht M.S. Mammon auf der Rückfahrt von Petrol-Island war, von Piraten überfallen und ausgeraubt. Die nächstliegende Insel, auf die sich sein Schiff nach dem Überfall retten konnte, war besagte Osterinsel. Dort durchstreifte Onkel Dagobert mit seinen Großneffen das Land, und sie stießen auf sonderbare Figuren aus Stein, die Moai – Statuen, die sich nachts bewegten und über die Hügel zogen. Ich hielt sie damals für eine merkwürdige Erfindung und hätte nie gedacht, dass ich in diesem Land der steinernen Riesen einmal leben würde.
Als ich sechs Jahre alt war, fiel die Mauer, die achtundzwanzig Jahre lang nicht nur eine Stadt, sondern ein ganzes Land getrennt hatte, ein welthistorisches Ereignis, dessen Bedeutung mir damals nicht bewusst war. Wenige Wochen nach dem Fall der Mauer stürzte in Chile auch der damalige Präsident General Augusto Pinochet.
Der finstere General, der sich auf Fotos meist hinter einer dunklen Sonnenbrille versteckte, musste abtreten, und nach sechzehn Jahren Militärdiktatur und einer Volksabstimmung im Jahr zuvor gab es endlich freie Präsidentschaftswahlen. Am ersten Weihnachtstag dieses bedeutungsträchtigen Jahres flog meine Familie zum ersten Mal in die Heimat meines Vaters, in das Land, dessen Musik wir schon lange hörten und liebten, dessen Dichter wir lasen und vorgelesen bekamen und von dessen Früchten und Pflanzen angeblich gigantischer Ausmaße mein Vater ständig schwärmte.
In Valparaíso angekommen versuchten meine Mutter, meine Geschwister und ich zu verstehen, warum mein Vater seine Heimatstadt so über alles liebte, warum er nie aufhören würde, von der Rückkehr in sein Land zu träumen. Wir waren enttäuscht. Aber auch für ihn war diese Reise ein Schock. Während der Diktatur hatte sich vieles verändert. Valparaíso war verwahrlost, verkommen, wie erstarrt. Die Häuser, die sich in allen erdenklichen Formen verschachtelt und aneinandergelehnt die Hügel hinaufziehen, hatten ihre vormals fröhlichen Farben verloren, und der Blick auf die Bucht, in die sich der Hafen schmiegt, wurde durch drei hässliche Betonklötze gebrochen, die es noch nicht gegeben hatte, als mein Vater seine Heimat hatte verlassen müssen. Wie die Finger eines Molochs ragten sie aus dem Amphitheater Valparaísos heraus.
Sind wir damals in einem der fünfzehn Aufzüge gefahren, die seit über hundert Jahren auf die Hügel rattern? Haben wir zurückgeblickt auf den Pazifischen Ozean, der sich sanft im Sonnenlicht riffelt oder wild und gewaltig schäumt, wenn der Sturmwind die Küste peitscht? Dass etwa dreitausendsechshundert Kilometer von hier entfernt eine kleine Insel inmitten des Ozeans liegt, die Osterinsel, einer der entlegensten Orte der Welt, wusste ich damals nicht.
Die steinernen Riesen, die Moai, die seit Jahrhunderten das Gesicht der Insel prägen, waren eigentlich das Einzige, was mir zur Osterinsel einfiel – aber die Musik, die war mir vertraut. Die melodischen Lieder, wiegend, weich und doch voller Rhythmen. Mein Vater hatte früher eine Folkloregruppe, in der viele der Chilenen, die wie er nach dem Militärputsch ihr Land verlassen mussten, ein Stück Heimat fanden. Meine Geschwister und ich waren Teil dieser zusammengewürfelten Schar von Deutschen und Chilenen. Wir sangen die Lieder des »langen, schmalen Blütenblattes aus Meer und Wein und Schnee«, wie Pablo Neruda sein Land nannte, und tanzten den chilenischen Nationaltanz Cueca, die schwingende Resfalosa und den Vals Chilote, eine eigene, bodenständige Version unseres europäischen Walzers aus Chiloe, der rauen, regnerischen Insel im Süden des Landes. Wir tanzten auch die polynesischen Tänze der Osterinsel, und mein größter Kummer war, dass ich sie nie mittanzen durfte, weil ich strohblond war. Nur die Schwarzhaarigen waren dazu auserwählt. Sie bekamen Röckchen aus Bast und Blumen ins Haar. Sie wiegten die Hüften und Arme und vollführten schwingende Bewegungen mit den Händen wie die Wellen des Meeres, das die polynesischen Inseln säumt. Da fühlte ich mich ausgeschlossen, fremd unter den Fremden.
Chile ist ein lang gestrecktes, schmales Land, das sich von der trockensten Wüste der Welt im Norden den schäumenden Ozean entlang durch Wein- und Obstbaugebiete zieht, an schneegekrönten Vulkanen vorbei, durch die Weite Patagoniens, bis hinunter nach Feuerland. Chile umfasst nahezu alle Klimazonen der Welt, und seit die Osterinsel zu Chile gehört, auch die subtropische. Das kleine, abgeschiedene Eiland zählt geografisch zu Polynesien, dessen östlichsten Zipfel es bildet. Es gleicht einem Dreieck, an dessen Eckpunkten jeweils ein Vulkan thront. Wie Bastionen überragen sie das weit gewellte Grasland.
Warum ich mir gerade die Osterinsel ausgesucht habe, um meinen Traum vom Auswandern und einem anderen Leben zu verwirklichen, dieses sturmumwehte Eiland am Ende der Welt, weiß ich eigentlich selbst nicht so genau. Ich will nur weg, so weit weg wie möglich. Da die Osterinsel politisch zu Chile gehört, ist Spanisch dort Amtssprache. Spanisch spreche ich gut, also wird es dort keine Sprachbarrieren geben.
Übers Internet bekomme ich Kontakt zu einem kleinen Hotel auf dieser entlegenen Insel der steinernen Riesen.
Schnell werde ich mit dem Besitzer einig. Ich soll Telefon und Computer bedienen, Anfragen bearbeiten, Zimmer reservieren, die Gäste vom Flughafen abholen und für einen reibungslosen Ablauf ihres Aufenthaltes sorgen. Das alles für einen Hungerlohn, aber besser als gar nichts für den Anfang.
Meine Eltern sind skeptisch.
»Und du meinst, das macht dort mehr Spaß als hier?«
»Was, das?«
»Eingespannt sein in den alltäglichen Ablauf eines Hotelbetriebes. Anfragen bearbeiten, Rechnungen erstellen, mit Beschwerden und Reklamationen umgehen, immer ein freundliches Gesicht zeigen und den Gästen stets zur Verfügung stehen.«
Auf Dauer würde mir das natürlich keinen Spaß machen, aber ich sehe das kleine Hotel als Sprungbrett in eine andere Welt, in eine Gegenwelt, in der ich neu anfangen will.
»Warum gehst du nicht nach Valparaíso?«, fragt mein Vater. »Dort hast du Freunde und Verwandte.«
Ja, in Valparaíso, in seiner geliebten Heimatstadt, würde er mich gern sehen, aber das wäre kein Neuanfang. Dort sind zu viele, die es bestimmt zu gut mit mir meinen, und sich vor lauter Fürsorglichkeit in alles einmischen würden.
Nein, ich will so weit weg wie möglich!
Aber ist es überhaupt ein Neuanfang? Fange ich wirklich ganz neu an, wenn ich meinen Freund Lars mitnehme? Will ich ihn überhaupt mitnehmen, oder lasse ich ihn nur mitkommen, weil ich Angst habe, allein aufzubrechen?
Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich nicht mehr in Deutschland leben will, wo das Leben immer schneller wird, wo in fast allen Bereichen Wettbewerb und Rivalität immer größere Räume einnehmen.
Ich fühle mich oft getrieben von einer Kraft, die ich nicht benennen kann. Diese Rasanz, diese zunehmende Hektik in der Welt, die mich umgibt, habe ich als Kind nicht gespürt.
Nachdem Haumaka erwachte, ging er zu seinem König, um ihm von seinem Traum zu erzählen, und Hotu Matua schickte sieben junge Männer auf die ferne Insel. Sie sollten das neue Land in Richtung der aufgehenden Sonne erkunden, was sie auch taten. Schließlich kamen sie zurück und sagten: »Es ist alles so, wie es Haumaka berichtet hat«, und so befahl Hotu Matua zwei Boote auszurüsten, eines für sich und sein Gefolge und das andere für seine Schwester, die Königin Avareipua, und ihre Getreuen.
Sie nahmen Feuer mit, Stecklinge des Toromiro- und des Papiermaulbeerbaumes, Kokosnüsse, Süßkartoffeln, Yamsknollen, Zuckerrohr, Bananen, Hühner und Werkzeuge. Am zweiten Tag des Hora Nui, jenem Monat September, mit dem in der südlichen Hemisphäre der Winter endet, setzten sie die Segel. Mithilfe der Zeichen des Meeres und des Sternenzeltes in der Nacht segelten sie in ihren Booten aus Balsaholz in Richtung Morgenröte. Nach einer Reise voller Fährnisse erreichten sie am fünfzehnten Tag des Tangaroa, des Oktobers, endlich Te Pito o Te Henua, den Nabel der Welt – die Osterinsel.
Die Legende von König Hotu Matua
Nach dem Langstreckenflug von Paris nach Santiago de Chile ist ein Weiterflug auf die Osterinsel ein Katzensprung. Es scheint wie ein Wunder, als die Maschine nach fünf Stunden über dem endlosen Meer über der kleinen Insel aus Fels und Vulkangestein plötzlich zur Landung ansetzt.
Ich sehe aus dem Fenster. Hügel rasen vorbei, Eukalyptusbäume und Zypressen. Rechts erhebt sich wie ein Kopf der uralte, erloschene Vulkan Rano Kao.
Die Maschine setzt auf dem Rollfeld des Flughafens Mataveri – Osterinsel auf.
Aus den Lautsprechern ertönt die immer gleiche Ansage am Ende eines Fluges, bitte angeschnallt sitzen zu bleiben, bis wir die endgültige Parkposition erreicht haben. Doch kaum einer nimmt das zur Kenntnis. Schon ertönt das Klicken der Sicherheitsgurte. Die Ersten schnellen aus ihren Sitzen und zerren Jacken, Taschen und Rucksäcke aus den Ablagefächern.
Es regnet, es regnet in Strömen. Ich eile in die Flughafenhalle, ein einstöckiges, lang gezogenes Gebäude, und weiß sofort, an welchem Förderband ich mein Gepäck abholen kann, weil es hier nur ein einziges gibt. Langsam und ruckelnd setzt es sich in Bewegung. Da sind schon mein Koffer, mein Rucksack und ein Paket mit Dingen, die mir meine Freundin in Santiago eingepackt hat. Und was nun? Draußen vor der Flughafenhalle warten Frauen und Männer mit Blumenkränzen aus schneeweißer Tiare und duftendem Hibiskus auf die Neuankömmlinge. Auf mich wartet niemand. Ich bekomme keinen Blumenkranz umgehängt und fühle mich fremd und allein.
Mein Freund Lars und mein kleiner Hund Pichi, ein liebenswerter Chihuahua mit Dickkopf, sind in Santiago de Chile geblieben. Dass es schwieriger ist, mit einem Hund zu reisen als mit einem Kleinkind, war mir nicht bewusst. Schon der Langstreckenflug von Paris nach Santiago war ein Albtraum. Ich hatte den Transportkorb für Hunde mit dem winselnden Pichi die ganze Zeit auf dem Schoß und musste noch meinen Kopf mit hineinstecken, damit er zwischendurch Ruhe gab. Währenddessen widmete sich Lars einem abgegriffenen Taschenbuch über Baruch de Spinozas Leben, Werke und Lehre und warf mir ab und an Blicke zu, die alles sagten. Er hat Pichi von Anfang an als eine Belastung empfunden.
In Santiago erfuhr ich, dass die chilenische Fluggesellschaft, die als einzige Linie die Osterinsel anfliegt, keine Hunde in der Kabine mitnimmt. Die müssen als Frachtgut mit vier Beinen in den Laderaum. Ich wusste, was da alles passieren kann: Verletzungen, Hitzschlag, Kälteschock, Erstickungstod. Das wollte ich Pichi und auch mir nicht antun.
Meine Freundin Pia in Santiago, bei der ich vor dem Weiterflug auf die Osterinsel ein paar Tage verbrachte, hatte eine zündende Idee. Sie wollte mir ein Zertifikat besorgen, in dem man mir attestieren würde, dass ich an einer psychischen Störung leide und den Hund unbedingt an meiner Seite haben muss, um während des Fluges entspannt und ruhig zu bleiben.
»Meine Freundin Angela ist Psychologin«, sagte sie. »Die macht das!«
Mir fiel ein Stein vom Herzen.
Den letzten Abend auf dem Festland feierten wir mit duftenden Empanadas, prall gefüllten Teigtaschen, die es immer und überall in Chile gibt, mit Rotwein und Gesang und wähnten uns in der Gewissheit, dass Pichi auch die letzte Etappe unserer Reise auf meinem Schoß unbeschadet überstehen würde. Nach einer viel zu kurzen Nacht brachte Pia Lars und mich am nächsten Morgen zum Flughafen. Am Abflugschalter stellte sich das Zertifikat der Psychologin als völlig wertlos heraus.
Die Dame am Schalter blickte mich nur mitleidig an und gab mir das Zertifikat kommentarlos zurück.
»Was soll das heißen?«
»Wenn Sie Flugangst haben oder irgendwelche anderen Phobien, sollten Sie Tabletten dagegen nehmen oder zu Hause bleiben. Der Hund darf nicht in die Kabine!«
Ich musste fliegen. Ich musste am nächsten Tag pünktlich auf meiner neuen Arbeitsstelle erscheinen. Also ließ ich Freund und Hund zurück und begab mich zum Gate.
Lars würde den vorgeschriebenen Transportbehälter und Schlaftabletten für Hunde besorgen und am nächsten Tag nachkommen, mit Pichi im Laderaum, als Frachtgut mit schläfrigen Augen und vier Beinen.
Ich habe von zu Hause aus für Lars, Pichi und mich eine Unterkunft besorgt. Vier junge Chileninnen, die schon seit mehreren Jahren auf der Osterinsel leben, wären gern bereit, uns in ihrer Wohngemeinschaft aufzunehmen, schrieben sie. Aber nun ist keine von ihnen am Flughafen, um mich abzuholen. Weil ich damit nicht gerechnet habe, habe ich nicht einmal die Adresse meines mir noch unbekannten Domizils notiert.
Vielleicht ist das sogar ganz gut, denn auf diese Weise lerne ich meine erste Lektion auf der Insel: Hier kennt jeder jeden, und alle wissen alles.
Gleich der erste Taxifahrer, den ich auf gut Glück nach den vier jungen Chileninnen frage, weiß, wo sie wohnen, und bringt mich dorthin. Mein neues Heim erweist sich als kleiner, niedriger Betonbau, in dem drei Schäferhunde und eine Babykatze mit ihren Pfoten dicke braune Kakerlaken hin und her fegen. Ein Sprichwort aus den Subtropen besagt, dass man Kakerlaken am Tage erst dann zu Gesicht bekommt, wenn es schon so viele sind, dass in ihren dunklen Ritzen Platznot herrscht. Igitt.
»Willst du eine Cola?«, fragt mich eine meiner neuen Mitbewohnerinnen.
Ich schüttele den Kopf.
»Was essen?«
»Nein, danke.«
Ich habe Hunger, aber keinen Appetit auf Weißbrot mit Mayonnaise, das Einzige, was sich auf dem kleinen Plastiktisch befindet, der umringt von vier Klappstühlen, ebenfalls aus Plastik, vor einem riesigen Fernsehapparat steht. Die Mädchen zeigen mir mein Zimmer und setzen sich wieder vor den Fernseher. Mein erster Abend, meine erste Nacht auf Rapa Nui, wie die Osterinsel in der Sprache ihrer Ureinwohner heißt – einsame Insel in den Weiten des unermesslichen Ozeans, isoliertester bewohnter Ort der Erde, Unesco-Weltkulturerbe, archäologisches Freilichtmuseum, magisch und voller ungelöster Rätsel, wie es in den gängigen Reiseführern steht.
Die Hunde kläffen, draußen rasen aufgemotzte Motorräder vorbei und heulen auf wie wilde Raubtiere.
Mein Bettzeug riecht muffig. Auf das Wellblechdach trommelt der Regen.
»Il pleure dans mon cœur comme il pleut sur la ville«, deklamierte meine Mutter des öfteren Paul Verlaine: Es weint in meinem Herzen wie Regen auf der Stadt.
Und da waren Menschen. Sie gaben Zeichen und winkten und riefen ihnen zu, dass das Land schlecht sei, dass die gesetzten Samen und Sprossen nicht gedeihen würden, da der Boden voller Unkraut sei, das nachwachse, kaum dass man es herausgerissen habe – Unkraut überall. Aber Hotu Matua rief zurück: »Auch das Heimatland ist schlecht, auch dort wächst Unkraut, und wenn das Hochwasser unser Land überflutet, gibt es dort gar nichts mehr. Wir werden hier unser Haus errichten.«
Die Legende von König Hotu Matua
Am nächsten Tag scheint die Sonne, und alles sieht anders aus. Hanga Roa ist die Hauptstadt der Osterinsel und zugleich der einzige Ort. Hier lebt ein Großteil der Bevölkerung, und es sieht so aus, als gäbe es auf dieser kleinen Insel ebenso viele Autos wie Menschen. Dicht an dicht parken sie am Straßenrand, die schicken Flitzer der Autovermietungen, alte Pick-ups, mit Ladeflächen voller Gemüse, Werkzeug und munterer Kinder, und klapperige Jeeps, denen der Rost schon ziemlich zugesetzt hat. Ampeln sehe ich keine. Der Verkehr regelt sich ohne Rot, Gelb und Grün.
Zahllose Andenkenläden, Hotels, Restaurants und Pensionen säumen die Straße. Ich entdecke einen Markt für Kunsthandwerk und Obst und Gemüse, einen Baumarkt und eine kleine Mall, Zeugin der Konsumkultur, in deren zwei Etagen viele Läden einsam und verwaist sind, da die Klimaanlage entweder fehlt oder nicht funktioniert.
Dazwischen ruhen wie kleine Oasen bepflanzte Gärten, in denen Hühner umherstreifen, Hunde, manchmal ein Schwein. An hölzernen Zäunen rankt blühende Kapuzinerkresse empor, die Blüten des Hibiskus leuchten in Rot, Orange und Gelb, Palmen neigen sich im Wind. Hochgewachsene Akazien und der Ceibo, der Korallenbaum mit seinen strahlend roten Blüten, spenden Schatten.
Einige Straßen sind befestigt, die meisten Wege Schotterpisten, vulkanische Gesteinsreste und roter Sand, der in Wolken aufsteigt, wenn ein Auto über die Wege holpert. Die Menschen, die mir entgegenkommen, grüßen mich und lächeln mich freundlich an, obwohl wir uns nie vorher begegnet sind. Sie sind schön.
Ich spüre, dass mir so manch einer nachschaut und sich vielleicht fragt, wo ich herkomme. Ich sehe ganz anders aus als eine Rapanui oder eine Chilenin. Ich habe knallblaue Augen und bin groß und blond, ja blond, obgleich mein Vater Chilene ist, aber da hat anscheinend seine deutschstämmige Großmutter ihre Spuren hinterlassen, sagt er immer.
Ich atme tief durch und habe die triste erste Nacht auf der Insel schon vergessen.
Lars ist inzwischen auch gelandet und steht etwas deplatziert auf dem Flughafen, inmitten des Gewimmels von Hotelbesitzern, Pensionsbetreibern und Taxifahrern, die mit Blumenkränzen in den Händen nach ihren Gästen Ausschau halten. Ich habe ihm einen Kranz aus aphrodisisch duftender weißer Tipanie um den Hals gelegt.
Pichi bekommen wir erst fünfundvierzig Minuten später, nachdem wir den einzigen Polizisten am Flughafen darauf hingewiesen haben, dass sich da noch ein Hund im Laderaum befinden muss. Etwas beleidigt, aber erleichtert blickt Pichi mich an, als ich ihn aus seinem Transportbehälter befreie. Fast wäre er weiter nach Tahiti geflogen.
Wir spazieren die Straße entlang bis zur Kirche und dann hinunter zum Meer, bis an die Bucht von Hanga Roa, in der die Fischerboote vor den wilden Wellen des Pazifiks Schutz finden. Zwischen Autos, Motorrollern und Fahrrädern traben Reiter durch die Straßen, meist ohne Sattel, oft mit einem Kind im Arm. Sie sehen stolz aus und hoheitsvoll, vielleicht weil sie wirklich höher sind als wir da unten auf der Straße. Sie können auf uns herabsehen, wie die Moai, die Ehrfurcht gebietenden Steinfiguren, die unnahbar ihre Rätsel wahren.
Ich muss mich beeilen. In fünfzehn Minuten beginnt mein erster Arbeitstag.
Das Hotel liegt inmitten einer üppig bepflanzten Gartenanlage. Farbenprächtige Blumenbeete leuchten zwischen den Bäumen, in denen Avocados und dickbäuchige Papayas von den Zweigen hängen. Bambus säumt den Swimmingpool. Liegen mit Plastikauflagen warten auf die Touristen, die sich nach dem obligatorischen Sightseeingprogramm auf der Osterinsel erholen möchten.
Und schon beginnt mein Alltag auf Rapa Nui. Ein Tag ist wie der andere. Anfragen von Einzelreisenden und Agenturen müssen beantwortet, Buchungen bearbeitet werden. Ich hole die Gäste vom Flughafen ab, teile die Zimmer ein, erstelle Putz- und Essenspläne, höre mir Beschwerden an und kümmere mich um Abhilfe, bediene, schenke aus, stehe an der Bar und höre mir an, was die Touristen den ganzen Tag erlebt haben.
Sie erzählen mir von den Ahus, die sie abgeklappert haben – den Zeremonialstätten, auf denen die Moai thronen –, von den Vulkanen und von den unzähligen Höhlen, die die Insel durchsetzen. Ich frage mich, wann ich Zeit finden werde, all das selbst zu entdecken. Meine Schicht beginnt nachmittags um drei und endet nachts um elf. Der Stundenlohn beträgt vier Euro.
Die Frauen, die hier putzen und in der Küche arbeiten, sind Rapanui, Bewohner der Insel, die ebenfalls Rapa Nui heißt, sich aber in zwei Worten schreibt. Sie sind sehr lieb zu mir und stecken mir heimlich Leckereien zu. Ich sitze gern mit ihnen in der Küche, aber davon hält meine Chefin gar nichts. Sie ist mit einem Franzosen verheiratet, der die meiste Zeit in Europa verbringt. Er hat die Hotelanlage konzipiert und finanziert. Sie kommandiert und genießt ihren Status als Inhaberin eines gut gehenden Unternehmens.
Ich sollte mal lieber ein Auge auf das Personal haben, anstatt mich mit ihm zu verbrüdern, legt sie mir nahe.
»Die Leute hier sind alle faul, Elisa, die brauchen immer einen Tritt in den Hintern.«
»Vielleicht sind sie nur etwas langsamer und gelassener.«
»Das sowieso, aber sie haben auch keine Arbeitsmoral. Sowie sie etwas Geld in der Tasche haben, bleiben sie erst mal weg. Sie arbeiten nur, wenn sie wirklich dringend Geld benötigen. Also, pass auf, dass sie ihre Aufgaben erledigen, wenn sie schon mal da sind.«
Ich ziehe die Schultern hoch und schweige. Ich habe keine Lust, den Sklaventreiber zu spielen. Draußen strahlt die Sonne, aber den tiefblauen Himmel, die wogenden Palmen und Bambusgräser sehe ich nur eingeengt durch die schmalen Fenster der Rezeption.
Heute soll es eine Sonnenfinsternis geben, bloß eine kleine, keine totale wie vor zwei Jahren. Damals, am 11. Juli 2010, war die Sonne für fünf Minuten und zwanzig Sekunden nicht zu sehen. Es war eine der längsten Sonnenfinsternisse jüngerer Zeit.
»Als sich der Mond vor die Sonne schob«, erzählen mir die Frauen in der Küche, »sind die Pferde wie wild herumgaloppiert. Die Hühner haben mit den Flügeln geschlagen, die Hunde aufgeheult. Und als alles in Tiefschwarz gehüllt war, haben wir uns winzig klein gefühlt und gezittert.«
Ich setze mich kurz zu ihnen und probiere den Ceviche, den sie für die Hotelgäste zubereiten, einen Salat aus frisch gefangenem rohem Fisch mit viel Zitrone, gehackten Zwiebeln und Koriander. Ich frage die Frauen, ob sie wissen, um wie viel Uhr sich heute Sonne und Mond am Himmel begegnen werden. Sie wissen es nicht, egal, ich würde sowieso nicht frei bekommen, um das Spektakel zu beobachten.
Moana, der unermessliche pazifische Ozean umfasst die Hälfte unserer Erde. Unzählige Inseln sprenkeln das Meer, und schon vor über zweitausend Jahren unternahmen ihre Bewohner waghalsige Seefahrten. Zwischen Aotearoa, Neuseeland, im Norden und Hawaii im Süden bis Rapa Nui am östlichen Zipfel des polynesischen Dreiecks überwanden sie mit geblähten Segeln Tausende von Kilometern in ihren wendigen Auslegerbooten.
Meist ist der Himmel über Rapa Nui strahlend blau und wolkenlos. Hin und wieder türmen sich Wolken auf, bilden ineinander verschlungene Figuren und zerfließen mit dem ewigen Wind. Abends, wenn die Sonne im Meer versinkt, taucht sie das Firmament in ein Farbenmeer: flammendes Rot, leuchtendes Gelb, Orange und Schimmer von Blau und Grün. In klaren Nächten ist der Himmel übersät mit funkelnden Sternen. Sie wiesen den polynesischen Seefahrern einst die Wege über das Meer. In den Sprachen auf den Inseln der Südsee existiert kein Wort für Navigation, sie kannten weder Kompass noch Seekarten. Sie segelten nach den Zeichen, die die Natur ihnen gab. Sie deuteten den Schlag der Wellen und die Ballung der Wolken. Sie richteten sich nach den Vögeln in der Luft und den Fischen im Wasser, nach kaum wahrnehmbaren Veränderungen der Luftströmungen und leichten Temperaturveränderungen des Ozeans. Auch Treibholz, schlingernden Seetang und die unterschiedlichen Farben des Wassers bezogen sie in ihre navigatorische Berechnung mit ein.
Und so fanden die Segler auf der Suche nach einer neuen Heimat ihr Ziel. Sie kamen an.
Ist dies mein Ort, um anzukommen? Zu oft muss ich an zu Hause denken, an meine Eltern, meine Geschwister und Freunde. Dann könnte ich weinen. Dann würde ich am liebsten meine Koffer packen und umkehren.
Doch von diesem von Wasser umschlossenen Fleckchen Erde gibt es so schnell kein Entrinnen. Ich habe zwar ein Rückflugticket, das auch noch gültig ist, aber was soll ich in Deutschland? Wieder mitrennen im Hamsterrad der Gesellschaft? Noch einen Neubeginn wagen, der sich dann doch im Nichts verliert?
Ich wollte raus aus der Tretmühle des Alltäglichen, mein Leben ändern. Ich wusste, etwas Neues beginnen heißt auch Abschied nehmen, vieles zurücklassen, was uns vertraut und lieb ist, Menschen, Dinge, Gewohnheiten.
Bei jedem Aufbruch bleibt vieles zurück, und man sollte es loslassen, aber die Entscheidung für das, was man mitnimmt und oder nicht, ist schwer.
Im Hotel klappt die Arbeit recht gut. Ich bin erstaunt, wie schnell ich den ganzen Mechanismus begriffen habe, und dass ich die Bürokratie nun schon allein erledigen kann. Während ich in meinem großblumigen Kleid aus Tahiti am Computer sitze, hütet Lars den Hund und erkundet die Insel, aber ich vermute, dass er sich im Grunde langweilt. Ihm fehlt das Getriebe der Stadt, Abwechslung, Trubel. Das Gegenteil von dem, was hier gelebt wird.
Wir sind aus der muffigen Wohngemeinschaft ausgezogen und wohnen jetzt etwas außerhalb von Hanga Roa. Ich laufe zwanzig statt zwei Minuten zur Arbeit, aber dafür ist es ruhig hier. Der Blick durch die Fenster fällt auf grasbewachsene Hügel, die sanft ansteigen und wieder abfallen, und auf das endlose, funkelnde Meer. Leider werden wir von Unmengen ungebetener Gäste heimgesucht: Mücken, Kakerlaken, Eidechsen und Spinnen, aber die sind ja nun auch Teil des Landlebens. Wir haben zwei Schlafzimmer, ein niedliches kleines Bad und ein Wohnzimmer mit Tisch und Kochecke. Die vielen Fenster lassen das strahlende Sonnenlicht herein, aber eben auch die Insekten, Echsen und Spinnen, denn die Rahmen sind brüchig und voller Löcher.
Manchmal stehen morgens halb wilde Pferde in unserem Garten und rupfen das Gras. Ich habe zwar Angst um die Blumen, aber ich lasse sie grasen, meine natürlichen Rasenmäher.
Pferde gibt es auf Rapa Nui mehr als Menschen. Sechstausend sollen es sein. Ziellos traben sie über die Wiesen oder am Straßenrand entlang, grasen in den Kratern der erloschenen Vulkane und in Gemüsegärten, trampeln auf die Ahus, auf denen die Moai thronen, und streifen in aller Seelenruhe zwischen den heiligen, mit Petroglyphen versehenen Steinen umher.
Umwelt- und Kulturschützer würden sie am liebsten in Ställe verbannen, aber den Rapanui sind sie nicht nur Beförderungsmittel, sondern Symbol von Status und Freiheit.
Manch einer kommt abends zu Pferd ins Toroko, der einzigen Disco auf der Insel, um bis zum Morgengrauen zu trinken und zu tanzen. Geduldig warten die Tiere grasend auf der Wiese gegenüber der Bretterbude, aus der das Bassgewumme schallt, bis ihre meist schwankenden Eigner herauskommen und sie am Zügel fassen. Wenn sie es trotz ihres angetrunkenen Zustandes schaffen, auf ihr Pferd zu steigen, werden sie sicher und ohne Umwege nach Hause gebracht.
Sobald ich hier mehr Fuß gefasst habe, werde ich mir auch ein Pferd anschaffen, sage ich mir. Das ist der Traum, den ich mir endlich erfüllen werde.
Als meine Familie zum ersten Mal nach Chile reiste, war ich sechs Jahre alt. Damals setzte mich mein Vater auf den Rücken eines Criollo chileno, kleine stämmige Pferde, die mit den spanischen Eroberern in die Neue Welt gekommen waren, und wir ritten einfach los. Seitdem liebe ich Pferde. Reiten ist Freude, Freiheit und Glück.
Lars will nicht bleiben. Er sieht hier keine Perspektive für sich und vermisst sein städtisches Leben von Tag zu Tag mehr. Er ist nur meinetwegen hier, ansonsten sieht er wohl keinen Sinn in einem Leben auf einer Insel am Ende der Welt.
Ich könnte ihn zwar überreden zu bleiben, aber will ich das? Der Gedanke, allein hier zurückzubleiben, legt sich manchmal wie ein schwerer Ring um meine Brust. Dann bekomme ich Angst, Angst davor, dass Lars nicht da ist, wenn ich ihn brauche. Er ist ein Teil von dem, was ich verlassen habe, dem ich manchmal hinterhertrauere, wenn ich mich einsam fühle. Unser Miteinander jedoch – es dümpelt vor sich hin. Wir leben zusammen wie beste Freunde, ohne Sex. Ich schätze ihn als treuen Begleiter auf diesem Weg, den ich gewählt habe, aber wir schlafen schon lange getrennt. Der normalste Vorgang der Welt findet bei uns nicht mehr statt, und ich vermisse das. Will ich ihn nur bei mir behalten, weil ich Angst vor dem Alleinsein habe, hier, auf Rapa Nui, wo mir noch so vieles fremd ist? Ich weiß es nicht. Ich stelle mir die Frage wieder und wieder und finde keine Antwort. Aber ich werde bleiben, zumindest versuchen zu bleiben. Nirgendwo ist der Himmel so blau wie hier, die Luft so rein, das Meer so endlos und gewaltig.
»In zwei Wochen geht es los, Elisa«, sagen sie im Hotel. »Da beginnt die Hauptsaison, und dann geht es hier rund.« Auch deswegen kann ich jetzt nicht einfach verschwinden.
Auf der Südhalbkugel der Welt hat der Sommer begonnen und damit der Ansturm der Touristen. Zweimal täglich nun landen die Manu Auri, die Vögel aus Eisen, in Mataveri, dem kleinen Flughafen mit einer der längsten Landebahnen Südamerikas. Mataveri heißt »schöne Augen« in der Sprache der Rapanui. Was haben sie gesehen, diese schönen Augen? Was sollten sie sehen, oder was sollten sie nicht sehen? Finanziert wurde der Flughafen während des Kalten Krieges von den USA, angeblich als Wetterstation, tatsächlich aber, um die französischen Atomversuche und die Schiffsbewegungen der Sowjetunion im Südmeer auszuspionieren. Mit der Wahl des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende 1970 verließen sie Rapa Nui, waren aber flugs wieder da, als der Diktator General Pinochet die Idee absegnete, die Landebahn zu verlängern, damit Raumschiffe der NASA im Notfall dort landen können. Der Plan, einen Tower in Form eines riesigen Moai aufzustellen, wurde von der Bevölkerung der Insel empört vom Tisch gefegt. Ein Moai, steinerner Zeuge der Ahnenverehrung, als Kontrollturm der NASA, wäre ein Frevel gewesen, eine Schändung ihrer Heiligtümer.
Nicht nur die Flugzeuge, auch die Kreuzfahrtschiffe, Giganten auf hoher See, die sich nun regelmäßig in die Bucht schieben, spucken Hunderte von Touristen aus, die dann in Gruppen oder im Gänsemarsch durch das sonst so beschauliche Hanga Roa wandern.
Es ist zwar immer gut gemeint, aber trotzdem bin ich enttäuscht, wenn ich mir ein neues Ziel setze und dann sehe, wie meine Hoffnungen und Pläne wie Seifenblasen im Nichts zerplatzen.
Die neu eröffnete Schule, in der ich mich mit den Kindern in den Pausen beschäftigen sollte, existierte nur wenige Monate. Die gut gemeinten Ratschläge, in ein anderes Hotel zu wechseln, wo die Bezahlung und die Arbeitsbedingungen besser seien, verpufften im Nichts, weil das besagte Hotel keine Arbeitskräfte suchte.
Die Einstellung zum Leben ist auf Rapa Nui eine andere als im Land der Dichter und Denker, wo mittlerweile mehr nach Geld und Macht gejagt wird als gedichtet und gedacht.
Die Menschen hier sind heiter und entspannt. Es wird nicht gerast, um Zeit zu sparen. Die sprichwörtliche polynesische Gelassenheit ist fest in ihrem Inneren verankert. Ich sehe sie nie hetzen oder hasten. Wenn sie nicht gerade in einem der zahllosen Autos sitzen, schlendern sie scheinbar unbeschwert die Dorfstraßen oder die Küste entlang, fast nie allein, fast immer mit Freunden oder mit der Familie und meistens mit einer Horde streunender Hunde im Schlepptau.
Und wenn etwas nicht klappt wie geplant, ist das nicht der Rede wert. Die Dinge werden hingenommen, wie sie sind. Da wird nicht hinterfragt oder problematisiert. Sie sind eben so.
Ich werde versuchen, mir daran ein Beispiel zu nehmen!
Lars muss bis nächste Woche überlegen, ob er sein Visum verlängern und somit bleiben will oder nicht. Ich weiß immer noch nicht, was ich ihm raten soll, und noch viel weniger, was ich selbst eigentlich möchte.