Olympische Geschichten
F.A.Z.-eBook 60
Frankfurter Allgemeine Archiv
Herausgeber: Frankfurter Allgemeine Archiv / Evi Simeoni
Redaktion und Gestaltung: Birgitta Fella, Hans Peter Trötscher
Projektleitung: Olivera Kipcic
eBook-Produktion: rombach digitale manufaktur, Freiburg
Alle Rechte vorbehalten.
Rechteerwerb und Vermarktung: Content@faz.de
© 2020 Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main
Titelbild: vat252/stock.adobe.com
ISBN: 978-3-89843-594-9
Zur Eröffnung: Das Vorwort
Von Tokio bis Tokio
Dabei sein ist alles – Die Reporter
Wo ist meine Story?
Tokio 1964
„Ich muss, muss, muss!“
Mexiko-City 1968
Der schwarze Anti-Rebell
München 1972
Leuchten und Dunkelheit
Montreal 1976
Unter Blitz und Donnergrollen
Moskau 1980
Im harten Griff der Politik
Los Angeles 1984
Im Fegefeuer der Besessenheit
Seoul 1988
Das gestohlene Gold
Barcelona 1992
Gesprungen, gerettet, gefeiert
Atlanta 1996
Die Würde des Verfalls
Sydney 2000
Für immer ein Rätsel
Athen 2004
Ein Bund für immer
Peking 2008
Blitz und Schatten
Am Anschlag
461 Kilo Kummer
London 2012
Die traurige Wahrheit
Eruption der Qual
Rio 2016
Die singenden Männer
Krieg im Pool
Dabei sein ist alles – Die Sportler
Dabei sein ist alles
Die Abschlussfeier: Ein Ausblick
Wir brauchen Olympia
Von Evi Simeoni
Im neuen Nationalstadion in Tokio hätten am 24. Juli 2020 rund 60000 Zuschauer die Eröffnungszeremonie der Sommerspiele der XXXII. Olympiade erleben können. Foto: picture alliance/AP Images
Von Roland Zorn
Mittendrin in dem Tag für Tag ähnlichen Unterhaltungsprogramm zwischen den Stars, die ihre goldenen Momente bis zur Neige auskosten, und den Komparsen, die zur Gesamtkomposition Olympischer Spiele als Farbtupfer des großen Ganzen gehören, suchen schreibende Reporter nach ihrer Geschichte zwischen der Unmittelbarkeit des Erlebten und dem Stoff, der jenseits der global transportierten Fernsehbilderflut zur individuellen Nachverwertung taugt. Für sie geht es darum, aus evidenten Dramen Geschichten zu machen, welche günstigenfalls den Tag überdauern, und aus peripheren Begegnungen Skizzen, die den Geist dieser ganz besonderen Sommer- und Winterfeste spiegeln.
Sie sind, mal beschreibend, mal erklärend, mal einordnend, mal kommentierend, Mittler zwischen den Schauplätzen, an denen sich das Spektakel unmittelbar, mal laut, mal leise, programmatisch verdichtet, und den weit entfernten Orten, an denen Leser die olympischen Showacts nacherleben wollen. Für manchen olympischen Begleiter aber, für den das Dabeisein bei den Spielen alles ist, empfiehlt es sich trotzdem, möglichst behutsam und nicht über die Maßen kennerhaft mit den Erlebnissen umzugehen, die jeder der fünfzehn Wettkampftage in Hülle und Fülle bietet. Das Gros der für eine solche panathletische Show akkreditierten Autoren ist mit der Fülle der olympischen Sportarten nicht allzu vertraut. Das kann auch Momente hervorrufen, die einem zunächst peinlich sind, wenig später aber ziemlich komisch vorkommen.
So erging es mir bei den Olympischen Winterspielen 1992 in Albertville. Da gewann zu seiner eigenen Überraschung der Berliner Eisschnellläufer Olaf Zinke die Goldmedaille im 1000-Meter-Rennen. Pech und Glück zugleich für mich, dass ich an jenem 18. Februar als einziger F.A.Z.-Reporter im nahen Pressezentrum war und, perplex wie Zinke selbst, dessen Sieg am Bildschirm erlebte. Olaf Zinke? Wie sieht der bloß aus, dachte ich auf dem Weg zur Eisschnelllauf-Arena über einen Olympiasieger nach, den ich nicht auf dem Schirm hatte. Auf den Sprinter Uwe-Jens Mey, der drei Tage vorher den 500-Meter-Lauf erwartungsgemäß gewonnen hatte, war ich vorbereitet. Er war schon zu DDR-Zeiten ein Star seiner Szene wie auch die über 3000 und 5000 Meter fast unschlagbare Erfurterin Gunda Niemann, die sich in Albertville ihren Weg zum Doppelgold bahnte. Seit Jahren vertraut mit der internationalen Eiskunstlauf-Elite, hatte ich mich vor der Reise in die Savoyer Alpen mit der Vita dieser nun für ganz Deutschland startenden Koryphäen ihres Sports beschäftigt. Über das Leben und die Laufbahn des Olaf Zinke aber wusste ich nichts.
Und das bekam ich auf Anhieb zu spüren, als ich kurz nach dessen goldenem Moment an der Freiluftarena L’Anneau de Vitesse ankam. Flugs sah ich auch einen Athleten im deutschen Trikot, der aber mit meinem Eingangssatz „Herr Zinke, herzlichen Glückwunsch zur Goldmedaille“ nicht viel anfangen konnte. Warum auch? Ich hatte den Falschen angesprochen: Peter Adeberg, der in Albertville Rang fünf belegte. Eher mürrisch wies der andere Berliner auf die Verwechslung hin: „Ich bin nicht Herr Zinke, Herr Zinke steht dort drüben!“ Aha. Also begann die Annäherung an einen Olympiasieger, der als Außenseiter in das Departement Savoyen gereist war und dort seinen schönsten Tag auf der Eisbahn erlebte, mit einem Ausrutscher. „Herr Zinke“ bekam davon nichts mit und parlierte munter über sich und seinen olympischen Feiertag.
So viel zur olympischen Begegnung zweier Überraschter. Dass ich, bei den Winterspielen wegen meiner Eiskunstlauf-Expertise oft eingesetzt, im selben Jahr auch noch bei den flirrenden Sommerspielen von Barcelona dabei sein durfte, kam mir wie ein großes Geschenk vor, weil ich schon vier Jahre zuvor in Seoul das hochintensive Gefühl ausgekostet hatte, zwei völlig überdrehte, kräftezehrende Wochen zwischen schierer Begeisterung über eine Fülle großartiger Leistungen und blankem Entsetzen über den Jahrhundert-Doping-Sündenfall Ben Johnson erlebt zu haben. Immer an einem Ort und doch stets mobil und woanders zu sein, ständig auf der Suche nach Orientierung bei sonst weniger im Rampenlicht glänzenden Disziplinen wie dem Ringen oder dem Sportschießen zu bleiben und zwischendurch bei den olympischen Superstars vorbeischauen zu dürfen, das kam mir als olympischem Gelegenheitsbeobachter wie der Blick durch ein riesiges Kaleidoskop vor.
Andererseits habe ich dann auch schnell gewusst, dass es für mich als journalistischen Flaneur entlang der olympischen Schaubühnen und Marktplätze nicht zuerst darum ging, immer mehr Knowhow über die Sportart X oder Y anzusammeln. Wichtiger war das Gespür für die Haupt- und Nebendarsteller der gigantischen Show und für das olympische Flair, das die einzelnen Wettbewerbe überstrahlte. Die südkoreanische Hauptstadt Seoul, nur fünfzig Kilometer entfernt von den koreanischen Brüdern aus Nordkorea, das damals die Spiele boykottierte und ähnlich bizarr-stalinistisch anmutete wie heute, nutzte ihre olympische Premiere vor allem dazu, um der Welt des Sports ein guter und auf alles präzise vorbereiteter Gastgeber zu sein. Seoul funktionierte.
Das zur Feier der Spiele um einen pittoresken Stadtstrand bereicherte und auf den genuinen Reiz dieser mediterranen Kapitale setzende Barcelona machte dagegen vier Jahre später aus der einmaligen Gelegenheit ein katalanisches Weltfest, das pure Lebensfreude und mediterranen Genuss an zwei Partywochen im Zeichen des Spitzensports verströmte. Die Stadt, die sich als Kontrapunkt zur spanischen Hauptstadt Madrid versteht, blühte, lebte und bebte rund um die Uhr, während Seoul und die dort versammelten Olympier zwischenzeitlich vom Skandal um den anabolaufgepeppten Sprinter Johnson erschüttert schienen. Barcelona dagegen verdiente sich an jedem seiner sonnigen Festtage eine Goldmedaille ob seines chronischen Stimmungshochs, das Menschen und Athleten auf dem gemeinsamen Weg auf einer Rolltreppe hoch zum Wettkampfolymp, dem Hausberg Montjuïc, mit seinen vielen Wettkampfstätten vom Olympiastadion zum Palau Sant Jordi, auskosteten. Dort fühlte auch ich mich in einem olympischen Flow: unermüdlich unternehmungslustig.
Beim Turnen, vor 28 Jahren noch eine der von mir begleiteten Kernsportarten, war ich zwar wie zu Hause, als ich den von sechs Goldmedaillen gesäumten Triumphzug des Weißrussen Witali Scherbo mit erkennbarer Begeisterung beschrieb. Fast wohler jedoch fühlte ich mich bei Sportarten, die ich bis dahin noch nie von nahem beobachtet hatte. Beim Fechten zum Beispiel, einem besonders raffinierten sportlichen Waffenkampfduell zwischen Attaque und Riposte, die ich am Fernseher nie und an der olympischen Planche nur schwer ergründen konnte. Wer da getroffen hatte oder schwer getroffen wurde, war für mich nur an den Lichtern zu sehen, die im Fall des Falles aufleuchteten. Was ich aber in Barcelona mitbekam, wo die deutschen Florettdamen die Goldmedaille durch eine 6:9-Finalniederlage gegen Italien verpassten, waren die auch jenseits der sportlichen Kampfbahn hörbaren Sticheleien zwischen der nach ihrer Mutterschaft gerade noch rechtzeitig zurückgekehrten Anja Fichtel-Mauritz, der zweifachen Olympiasiegerin von Seoul, und ihren Mitstreiterinnen, unter denen die Tauberbischofsheimerin Zita Funkenhauser eine besonders spitze Zunge hatte. Als fast alle Reporter nach dem Wettkampf den Star Anja Fichtel-Mauritz umlagerten, zischte Zita Funkenhauser: „Sollen sie doch alle zu ihr gehen. Ich werde auch mal Mutter. Aber knapp nach den Olympischen Spielen.“
Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Eine deutsche Silbermedaillengewinnerin bei den Seouler Sommerspielen vier Jahre zuvor ging mit ihren Erfolgserlebnissen ohne große Worte ziemlich still um: die Radrennfahrerin Jutta Niehaus. Die Pedaleurin, die völlig überraschend Zweite im Straßenrennen wurde, erfüllte so gar nicht das Klischee der vom eigenen Triumph überrumpelten Medaillengewinnerin. „Ich komme mir vor wie nach einem normalen Rennen“, kommentierte die Rheinländerin ihren größten Tag als Sportlerin, als wäre sie bei einem Kriterium irgendwo in Deutschland Zweite geworden. Der Versuchung, Jutta Niehaus zu etwas mehr Begeisterung zu verhelfen, widerstand ich in jenen Momenten zum Glück. Reporter sollten den Respekt aufbringen, Athletinnen und Athleten auf der Suche nach dem eigenen Glücksgefühl bei sich selbst zu lassen.
Wie hell eine Bronzemedaille leuchten kann, erlebte ich in der Kabine der Olympiamannschaft des Deutschen Fußball-Bundes mit. Sie schaffte es 1988 als einzige aus der Bundesrepublik Deutschland, dank des 3:0-Sieges über Italien im Spiel um Platz drei, den Traum von Olympia zu einer Abenteuerreise mit Gewinn zu machen. Beseelt vom olympischen Geist und an den letzten Tagen beflügelt vom ganz besonderen Spirit des Olympischen Dorfs, genossen die zwei Jahre später als Weltmeister gefeierten Bundesligastars Frank Mill, Jürgen Klinsmann, Thomas Häßler und Karl-Heinz Riedle im Kreise ihrer Mannschaftskameraden ein Gemeinschaftsgefühl, das sie 1990 in noch intensiverer Weise beim Weltmeisterschaftstriumph in Italien umhüllte. Mill, der damals Kapitän der von Hannes Löhr trainierten Olympia-Auswahl war, schwärmt heute noch von zwei unvergesslichen Wochen in Südkorea. „Diese Eindrücke vergisst du nicht“, sagt er beim Blick zurück auf seine einprägsame olympische Episode.
Und so ergeht es auch olympischen Zeitungsreportern, die in ihrem steten Drang und Eifer zu einem Teil der olympischen Bewegung werden, mögen sie auch hier und da auf dem rastlosen Weg zwischen Nähe und Distanz zu den Protagonisten an ihre eigenen Grenzen stoßen und Sieger mit Besiegten verwechseln. Egal. Sie waren dabei und haben zu spüren bekommen, dass sie sich dem ganz besonderen Reiz dieses größten und atmosphärisch dichtesten Sportfest der Welt nicht entziehen können. Warum auch?
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.07.2020, Nr. 170, S. 28
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Von Hartmut Scherzer
Der Este Rein Aun im roten Trikot der Sowjetunion hebt den Sieger auf, der nichts vom Goldgewinn weiß. Noch halb bewusstlos und noch immer schwankend, klammert sich Holdorf an ihn. Ich habe die Szene von der Pressetribüne im Medji-Nationalstadion aus beobachtet. Weil es ein „German final“ sei, hat der amerikanische Sportchef der Nachrichtenagentur United Press International (UPI) seinen deutschen Reporter zusätzlich – und erstmals – zu den Leichtathleten geschickt. „The balding German“ (balding = schütteres Haar) führt nach dem ersten Tag. „He could win.“ Chancen hatte auch Hans-Joachim Walde. Es ist der frühe Abend des 20. Oktober, kühl und feucht. Am Himmel hängt der gelbe Vollmond. Das Flutlicht ist eingeschaltet. Nur ein paar tausend schweigsame Japaner haben ausgeharrt. Deutsche Olympia-Teilnehmer und die Jungen und Mädchen des deutschen Jugendlagers machen sich lautstark bemerkbar.
„Es muss ein Sadist gewesen sein, der den mörderischen 1500-Meter-Lauf an das Ende des Zehnkampfes gesetzt hat“, kommentiert die Frankfurter Journalisten-Legende Richard Kirn die finale Qual. Seidler hat das „Happy End“ wunderbar beschrieben: „Aun sagt zu Holdorf: ,Olympic champion – you olympic champion.’ Holdorf sah ihn fragend an, blieb aber stumm und brach abermals zusammen. Aun wartete lange. Er blieb wie ein Wachposten bei seinem siegreichen und ausgepumpten Rivalen. Dann hob er ihn ein zweites Mal auf und sagte ihm noch einmal, dass er gewonnen habe. Holdorf verstand ihn jetzt und lächelte ihm zu. Von Aun gestützt ging er einige Schritte auf den Rasen zu, wo der alte Meister Yang noch immer ausgestreckt lag. Jetzt richtete auch er sich auf, er war vielleicht noch erschöpfter. Yang hängte sich bei seinem jungen Bezwinger ein, und beide wankten fest umschlungen und taumelnd auf den Ausgang zu. Der olympische Zehnkampf klang mit einem ,Ballett zweier Betrunkener’ aus.“
Yang Chuan-Kwang, 31 Jahre alt, startete für Formosa, wie Taiwan damals hieß, studierte und trainierte seit Jahren an der University of California in Los Angeles (UCLA). Rafer Johnson, der hünenhafte afroamerikanische Olympiasieger von 1960, war sein Trainingskamerad. C. K. Yang, Achter 1956 in Melbourne und Zweiter in Rom hinter seinem Freund, war der große Favorit gewesen. Für Tokio wurde aber kurzfristig eine neue Punktwertung eingeführt, um mehr Ausgeglichenheit bei den zehn Disziplinen zu schaffen.
Ungünstig für Yang, dessen Weltrekord von 9121 auf 8089 Punkte schrumpfte. Er konnte nicht länger seine Wurfschwäche durch seine Sprungstärke ausgleichen – wie mit 4,84 Meter (Bestleistung) im Stabhochsprung. Im Kampf um die Medaillen hatte er kaum noch Chancen und wurde auch nur Fünfter. Willi Holdorf siegte mit der persönlichen Bestleistung von 7887 Punkten – als erster Deutscher. Der Vorsprung vor Aun: knappe 45 Punkte. Er beendete die Hegemonie der Amerikaner, die seit 1932 alle sechs olympischen Zehnkämpfe gewonnen hatten. Großen Wert legte Holdorf stets auf den Vergleich, „dass ich auch nach der alten Wertung Olympiasieger geworden wäre“. Mit 8119 Punkten.
Willi Holdorf ist der „König der Leichtathleten“, mit 7887 Punkten gewann er die Goldmedaille im olympischen Zehnkampf. Über die Bronzemedaille freut sich ein weiterer Athleten der gesamtdeutschen Mannschaft: Hans-Joachim Walde. Silber ging an den für die Sowjetunion startenden Esten Rein Aun. Foto: picture alliance / dpa
Dank Satellitenübertragung schaut die Welt zu – erstmals sogar in Farbe.
Ausgerechnet in Yangs Spezialdisziplin, der drittletzten, droht Holdorf zu scheitern. Die Latte liegt in 4,10 Meter Höhe. Zweimal hat er sie heruntergerissen. Bei einem dritten Fehlsprung würden nur 3,70 Meter zu Buche stehen. Holdorf (Bestleistung 4,30 Meter) weiß: „Schaffe ich die Höhe nicht mehr, kann ich eine Medaille vergessen.“ Ihm sei „der Arsch auf Grundeis gegangen“, erzählte er mir bei einem Besuch in Achterwehr. Bundestrainer Friedel Schirmer habe ihm signalisiert, zum Anlauf den rechten Fuß zurückzunehmen. Walde, direkt bei ihm, rät: „Setze den rechten Fuß vor.“ Holdorf hört auf den Kameraden und genießt das „erlösende Gefühl, wenn man unten im Schaumgummi liegt und sieht, wie die Latte oben bleibt“.
Das Hightech-Zeitalter ist angebrochen. Durch Satellitenübertragung kann die ganze Welt zusehen – erstmals sogar in Farbe. Die vollelektronische Zeitmessung hat Premiere. Die aktuellen Zwischenstände im Zehnkampf aber müssen noch anhand der Wertungstabellen erstellt werden. Fieberhaft rechnen Schirmer und Heimtrainer Bert Sumser nach dem Speerwerfen die Situation vor dem 1500-Meter-Finale aus. Eine riskante Rechnung: Maximal 17 Sekunden – 14 wären sicherer – darf Holdorf langsamer sein als Aun. Bei 18 Sekunden ist der Este Olympiasieger.
Wer könnte das nun folgende Drama besser schildern als Willi Holdorf? In seinem 1965 erschienenen Buch „König der Athleten“ lässt er den Leser mit ihm leiden, sich quälen – und kämpfen: „Ich nehme gleich die Spitze, achte auf gleichmäßige, raumgreifende Schritte. Natürlich versuche ich, das Tempo zu drosseln. Ich spüre noch den Stabhochsprung in den Beinen. Doch Aun merkt sofort, was ich versuche, und geht vorbei. Er will ,sein’ Tempo laufen. Ich spüre, wie gegen Ende der ersten Runde meine Kräfte nachlassen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich die restlichen zweieinhalb Runden noch schaffen soll. Hans-Joachim geht vorbei. Damit nimmt er mir den Wind. Bei 800 Meter sehe ich Aun weit vorn. Wenn ich noch gewinnen will, muss ich unbedingt zulegen. Bei jedem Schritt spüre ich die Schwere meines Körpers. Doch ich muss schneller werden – ich muss, muss, muss! Hans-Joachim macht mir Platz. Ich gehe vorbei. Ich höre weder die Rufe der Zuschauer noch die Zeit, die mir mein Trainer zuruft. Ich sehe nur noch Aun. Leicht wie eine Feder läuft er vor mir her. Nein, er fliegt. Es ist wie ein Wunder – die Entfernung bleibt konstant. Das gibt mir Auftrieb. Jetzt wird die letzte Runde eingeläutet. Wir haben etwa 100 Meter Abstand. Ich sehe, wie der Russe schneller wird. Ich versuche, den Abstand zu halten. Meine Beine sind schwer wie Blei. Ich muss mich zu jedem Schritt zwingen.“
In Tokio beendet Holdorf seine Karriere, was er später bereut.
„Plötzlich finde ich mich auf der Zielgeraden wieder. Eben verschwindet Aun im Ziel. Meine letzte Chance. Ich werfe den Kopf zurück und versuche einen Endspurt. Kurz vor dem Ziel verlassen mich die Kräfte. Ich wanke schräg hindurch – sehe die Bahn auf mich zukommen und falle der Länge nach hin. Ich kann es nicht fassen. Das Rennen ist zu Ende. Ich bin erlöst. Ich will liegen, nur liegen und mich ausruhen.“ Der Rückstand: 12 Sekunden, die Gold wert sind.
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