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Für Paprika-Tanja

Prolog

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Wo bin ich?

Meine keuchenden Atemgeräusche dröhnten laut in meinem Kopf. Sie klangen ungesund, als wäre ich krank. Alles war in Rot und Orange gehüllt, obwohl meine Augen geschlossen blieben. Da fiel es mir auf. Nicht nur, dass ich meine Lider nicht öffnen konnte. Nein. Ich fühlte mich nicht mehr. Wie paralysiert und festgefroren. Ich stellte mir fest vor, wie ich meinen Arm hob oder mit den Beinen strampelte. Es half nichts.

Wo bin ich?

Erinnerungen liefen in meinen Gedanken ab. Ich erkannte lediglich Bruchstücke, als hätte ich eine Filmrolle zerschnitten und zusammengeflickt. Immer wieder fehlten Teile. Schwarze Flecke, die meine Unwissenheit verhöhnten. Was verbarg mein Innerstes vor mir? Plötzlich blitzte ein Mädchen auf.

Fleur!

Ihr Name hallte durch meinen Kopf, noch ehe ich ihr Gesicht scharfgestellt hatte. Die Zeiger der Uhr drehten sich rückwärts. Die Zeit spülte sich in meinen Gedanken zurück und alles prasselte wie ein Funkenregen auf mich nieder. Mein Vater, der mich aufgegeben und das Rudel, das sich gegen mich gestellt hatte. Der Verrat und die Schmerzen, die in Fleurs Gesicht gezeichnet waren. Aber auch die schönste Zeit in meinem Leben: das Agony Grove Camp.

Das Schlagen meines Herzens spürte ich in meinem Inneren und ein warmes Gefühl breitete sich in meiner Magengegend aus.

Endlich nahm ich meinen Körper wieder wahr. Dieser Lichtblick hielt nicht lange. Ein schwarzer Schatten der Scham legte sich über ihn. Mein doppeltes Spiel, das ich durchgezogen und mich im Camp nie frei hatte durchatmen lassen. Der bittere Geschmack der Untreue und der Lügen legte sich erneut auf meine Zunge. Es schmeckte nach fauligem Fleisch. Anstatt es jedem recht zu machen, hatte ich alles verloren.

Der Käfig!

Endlich fügte sich das fehlende Puzzlestück ein. Ich war nicht tot. Ich schwebte im endlosen Saft der Gefangenschaft. In der Trumpfkarte meines Vaters. Sofort schossen mir seine Worte ins Ohr. Erst leise wie ein Federnstreich über eine Triangel. Das steigerte sich zu einem ohrenbetäubenden Trommelschlag.

»Ist sicherer als Fort Knox«, hatte er gesagt.

Dieser Erkenntnis verdankte ich es, dass mir bewusst wurde, wo ich im Moment verweilte, ohne es zu sehen. Dadurch schaffte ich es, meine Augen zu öffnen.

Wasser!

Zumindest fühlte es sich so an, als blinzelte ich unter Meerwasser. Nur, dass die Rot- und Orangetöne blieben. Ich atmete nicht, brauchte aber auch keinen Sauerstoff. Ein Blick nach unten zeigte mir meinen nackten Körper. In Embryostellung waberte ich im roten Meer meiner Gefangenschaft. Und hier würde ich auf ewig bleiben. Meine Familie würde mir meine Abtrünnigkeit niemals verzeihen. Wer sollte mich sonst retten? Fleur, der ich das Herz gebrochen hatte? Oder die anderen im Camp, die ich getäuscht hatte? Wohl kaum.

Die Stille, die mich umgab, erschuf zumindest ein Trugbild, das mich glauben ließ in Sicherheit zu sein. Deshalb wog ich mich in ihr und gab mich nach und nach auf.

Eigentlich habe ich es nicht anders verdient. Den Schlussstrich auf diese Weise zu ziehen erlaubt mir eines: zu glauben die gerechte Strafe erhalten zu haben.

Als ich das nächste Mal an mir hinunterschaute, löste ich mich in dem roten Meer auf. Ich tat Buße. Für dich. Für euch. Für mich. Lebt wohl.

Dunkle Erinnerungen

Vignette

Ich bin blind!

Dachte ich, als ich meine Lider öffnete. Die Welt hatte sich für mich in Weiß gehüllt. Ich rollte mit den Augen, massierte sie krampfhaft und blinzelte wie wild. Nach und nach bildete sich ein in Graustufen gehaltenes Kaleidoskop an Dunkelheit. Punkte flimmerten wie erloschene Glühwürmchen vor mir umher.

»Was zum …«, stöhnte ich.

Meine Stimme klang, als wäre ich eine siebzigjährige Kettenraucherin, die seit vier Jahren nichts mehr getrunken hatte. Angewidert von mir selbst räusperte ich mich mehrmals.

Jetzt erkannte ich die Holzdecke, roch den Duft des Waldes und streckte mich. Knochen knackten. Mein Haar fiel um mich, als ich mich aufsetzte. Die Sonne glitzerte auf meinen hellblonden Strähnen.

Was für ein schöner Tag.

So ausgeruht hatte ich mich seit Ewigkeiten nicht mehr gefühlt, seit … jenem Moment! Mein Geist wurde unruhig. Ich atmete schwer. Mein Herz drohte sich aus der Brust zu pressen, so schnell pochte es. Dann kamen sie: die Bilder. Mein Körper reagierte auf die Erinnerungen, die mein Unterbewusstsein noch vor mir verborgen hatte. Dafür schlugen sie nun mit voller Wucht auf mich ein. Ein längst vergessener Bumerang aus verdrängten Gedanken, der mich erwischte.

»Fabienne, Piper, die Wandler, Harry …« Mein Atem stockte. »Theo.«

Ehrfürchtig wisperte ich seinen Namen. Aus Angst davor, was er, einmal ausgesprochen, anrichten würde.

Panisch kämmte ich mit einer Hand mein Haar zurück. Machte mich völlig frei von allem, was mich zu erdrückten drohte. Mein Kopf wurde schwerer und kippte kurz zur Seite. Bald würde ich wieder ohnmächtig werden.

Nein! Reiß dich zusammen, Fleur.

Ich fixierte einen Punkt vor mir. Einen Riss im Holz des Fensterrahmens. Er bot mir Halt. Ich zwang mich langsam zu atmen.

Einatmen. Halten. Ausatmen. Warten. Einatmen. Halten. Ausatmen.

Ich traute mich nicht mehr meine Lider zu schließen. Zu sehr verängstigten mich die Schwärze und die Bilder der Vergangenheit. Eine Träne schlich sich schüchtern auf eine Wange.

Theo, der sich in einen Puma verwandelte, blitzte auf. Sein silbernes Fell und sein nach Blut gierendes Maul. Die Tür flog so plötzlich auf, dass ich aufschrie, bevor ich überhaupt realisierte, was vor sich ging.

»Fleur!«

Ich wollte mich schlafend stellen, doch bis ich diesen Gedanken fassen konnte, hatte er mich schon sitzend im Bett entdeckt.

»Wie geht es dir?«

Ich schluckte.

»Du erinnerst dich?«

Ich nickte. Alles in mir spannte sich an. Verschloss sich vollkommen vor der sich mir nähernden Person.

»Hab keine Angst.«

Ich lachte. Also innerlich. Äußerlich war ich ein Wrack. Ich sollte keine Angst haben? Nachdem ich von allen Seiten und jedem verraten wurde? Wem konnte ich noch trauen?

»Du hast uns alle gerettet, Fleur«, nuschelte er.

Seine roten Haare wirkten dunkler. Nicht mehr so hell, freundlich und strahlend wie früher.

»Ich schleudere dich bis nach Ägypten, wenn du näher kommst, Seth.« Meine Stimme klang wieder mehr nach mir.

Er lächelte.

»Wenn du schon wieder frech sein kannst, geht's dir nicht so schlecht, wie du tust, Fatma.«

Die Sache mit den falschen Namen würde wohl für immer unser Ding bleiben.

»Dir aber auch nicht, Salvatore.«

Der Moment der Leichtigkeit verschwand und seine ernste Miene kehrte zu ihm zurück.

»Ich muss dir etwas sagen.«

»Spuck's aus.«

»Dein …« Ihm wurde das Wort abgeschnitten.

Laute Schreie drangen von draußen zu uns herein. Seth murmelte etwas und biss sich auf die Unterlippe.

»Wo ist sie?«, brüllte jemand wie ein wild gewordener Stier.

»Das ist unmöglich«, sagte ich mehr zu mir selbst.

Ich sprang auf. Meine Füße knickten weg, doch ich fing mich und humpelte weiter.

»Lasst mich zu ihr oder ich fackle euer Sektendorf nochmals ab!«

Seth wandte sich von mir ab und ließ mich vorbei. Ich lehnte mich gegen den Türrahmen. Die Sonne blendete mich und erst als ich mich an die Helligkeit gewöhnt hatte, gab sie den Blick zu ihm frei.

»Fleur!«

Seine Stimme riss alle Dämme in mir nieder. Die Vertrautheit, die mitschwang, packte mich und täuschte mir vor in Sicherheit zu sein. Ich schluchzte unkontrolliert auf. Und als er endlich alle Stufen zu mir hochgesprungen war, fiel ich ihm in die Arme.

»Josh!«, winselte ich und vergrub mein Gesicht in seine breiten Schultern.

Der für ihn typisch süßliche Grasduft stieg mir in die Nase und beruhigte mich. Sein muskulöser Körper hielt mich fest und endlich verflüchtigte sich das Gefühl, zu fallen. Ihn hier zu haben fühlte sich richtig und falsch zugleich an. Wie hatte mein bester Freund es bis hierher geschafft? So viele Fragen, die ich stellen wollte. So viele Geschichten, die ich erzählen wollte. Aber sie alle mussten warten. Denn dieser Moment gehörte nur uns beiden.

Mittlerweile stand ich nicht mehr. Meine Beine hatten vor einigen Minuten nachgegeben. Einzig und allein Josh hielt mich aufrecht. Er schottete mich von allem ab. Und ich weinte. Weinte mir einfach den Frust von der Seele. Wohlwissend, dass sie alle um uns standen. Sie, diejenigen, die mich verraten oder im Stich gelassen hatten.

»Du bist eine Zauberin und sagst mir einfach nix«, flüsterte er mir nach einer gefühlten Ewigkeit ins Ohr.

Ich lachte, weinte und hustete.

»Weißt du noch unser Codewort, das wir ausgemacht haben?«, lautete seine rhetorische Frage. »Wenn das jemand sagt, müssen wir dem anderen glauben, was er erzählt, egal, wie abstrus die Geschichte ist?«, hakte er trotzdem nach.

Ich nickte in die Mulde zwischen seinem Hals und seiner Schulter.

»Erdnussbutterwurst. Ich habe magische Fähigkeiten«, murmelte ich, doch mein bester Freund verstand mich.

»Erdnussbutterwurst. Deine Eltern haben mir alles erzählt und ich bin mit deiner Mutter hier.«

Ich stieß mich von Josh ab und taumelte ein paar Schritte zurück.

»Mom ist hier?«

Tatsächlich standen unzählige der anderen, auszubildenden Enchanter um uns verteilt. Sie gingen zur Seite. Als bildeten sie eine Rettungsgasse. Dann sah ich sie.

»Fleur.«

»Mom.«

Meine Hand legte sich wie von selbst auf meinen Mund. Wie lange war ich bewusstlos gewesen? Ich drehte den Kopf nach links und rechts. Der Wald um uns begrüßte mich mit umgeknickten Baumstämmen, verbrannten Tannen, kaputten Ästen und verwelkten Blättern. Doch das Camp schien heile. Bis ich den verkohlten Boden und Brandlöcher erkannte. Sie befanden sich bereits im Aufbau?

»Fleur, es tut mir so leid.«

Nachdem sie diesen Satz, der ihr auf der Seele brannte, ausgesprochen hatte, fiel jegliche Scheu von ihr ab. Sie stürmte auf mich zu.

»Es tut mir so unglaublich leid. Wir wollten dich nur beschützen. Dein Vater und ich … Wir waren uns so sicher, dich beschützen zu können«, plapperte sie drauflos.

Josh trat beiseite und Mom packte mich so fest an den Händen, dass ich dachte, sie bräche mir gleich beide Gelenke.

»Hätten Dad und ich gewusst, dass sie dich so oder so finden würden, hätten wir dich darauf vorbereitet. Wir hätten dich alles gelehrt.«

Ohne Punkt und Komma quasselte sie auf mich ein. Sie wollte alles loswerden. Am besten auf einmal.

»Wollten nur das Beste.«

Ihr Griff wurde fester.

»Du bist so stark.«

Sie starrte mich an. Ihre Augen waren eingefallen und tiefe Ringe zierten sie. Fahle Haut, abgemagert und krauses, wirres, braunes Haar. So kannte ich sie nicht. Sie strahlte ständige Kontrolle und Perfektion aus. Jetzt nicht mehr.

»Sieh dich an.«

Langsam ließ sie von mir ab, um mir meine Haare hinter das Ohr zu streichen.

»Bitte, bitte, bitte, hasse uns nicht. Du bist das Wichtigste auf der Welt. Wir …«

»Mom!«

Meine Stimme stoppte sie und rührte sie gleichzeitig zu Tränen. Ihr Blick wurde glasig und ihr Kinn bebte. Sie hatte vermutlich noch eine Million Sätze auf Lager, die sie mir alle sagen wollte, damit ich wusste, wie sehr die beiden sich dafür hassten, was mir passiert war.

Und ja: Ich war verdammt noch mal sauer. Und ja: Es war mir scheißegal, wie kindisch das rüberkam. Trotzdem liebte ich meine Eltern und ich erkannte, wie sehr sie die Schuld zerfraß.

»Es ist okay. Wir haben andere Probleme als deine Schuldgefühle und meine angeknackste Psyche«, erwiderte ich und nickte. Mehr um mich selbst zu versichern, dass ich es ernst meinte, als um meiner Aussage Nachdruck zu verleihen.

»Du bist so stark geworden«, kam es von meiner Mom.

Zumindest ließ sie von mir ab. Für eine Sekunde. Dann umfasste sie meine Wangen und drückte darauf herum.

»Es geht dir gut?«

»Na ja, ich lebe.«

Sie küsste mich auf die Stirn, ehe sie mich losließ. Ich nahm Joshs Hand und wackelte mit ihm und meiner Mom zum Lagerfeuerplatz.

»Wo ist dein Freund? Und Greta? Und Dad?« Drei von einer Million Fragen abgearbeitet.

»Zu Hause. Sie helfen deinem Vater Enchanter zu finden. Sie sollen hierherkommen, um zu helfen. Dabei müssen sie aber darauf achten, dass die Städte trotzdem noch genügen Leute zum Selbstschutz haben«, erzählte Josh mir.

Mit gerunzelter Stirn und offenem Mund starrte ich ihn an.

»Schau mich nicht so blöd an. Für mich ist es mindestens genauso verstörend, dass ich weiß, wovon ich rede.« Ich hatte seinen Humor so sehr vermisst.

»Wieso habt ihr es ihnen überhaupt gesagt, Mom?«

Josh kam ihr zuvor.

»Als hätte Greta jemals irgendeine Ausrede deiner Eltern geglaubt. Sie weiß ganz genau, dass du niemals, ohne etwas zu sagen, weggehen würdest.«

»Sie hat vor unserer Tür gecampt, Fleur«, warf meine Mutter ein.

Ich schnaubte belustigt.

»Greta hat sogar gedroht die Polizei zu rufen, weil sie vermutet hat, wir haben dich vor lauter Fürsorge umgebracht, damit dich niemand anderes umbringen konnte.«

Ja, dabei konnte es sich definitiv nur um meine Greta handeln. Durchgeknallt, paranoid, irre und brutal ehrlich. Dafür liebte ich sie. Und ich wettete, dass sie die Geschichte von den Gaben sofort geglaubt hatte. Ich konnte nicht umher und musste mir Greta vorstellen, wie sie Kriegsbemalung auftrug und in Army-Outfit herumlief.

Im Augenwinkel erkannte ich, dass die anderen Camper uns folgten.

Am Lagerfeuerplatz, oder besser gesagt, das, was davon übrig geblieben war, setzte ich mich.

»Und jetzt will ich die ganze Geschichte wissen. Was ist, während ich ausgeknockt war, passiert?«

»Das ist dann wohl mein Part«, sprach Seth und trat aus der Menge hervor.

Verwirrt schaute ich zu Josh und meiner Mom. Sie hoben entschuldigend die Schultern. Vermutlich, weil sie mir nicht weiterhelfen konnten. Joshs Augen tanzten durch die Gegend. Sosehr er sich auch bemühte – alles zu fassen gelang ihm nicht. Selbst meine Mom wirkte überfordert und kaute auf ihrer Unterlippe herum.

»Wir«, begann Seth, »sind gerade erst angekommen und wurden bisher nur darüber informiert, was dir passiert ist und dass sie das Camp neu aufbauen. Der Rotschopf hat uns abgeholt.«

Gibt es außerhalb des Camps doch Handyempfang oder wie haben die kommuniziert? Hier drinnen funktionieren ja nicht mal Smartphone-Akkus. Aber im Moment gibt es wichtigere Dinge.

Die anderen setzten sich indessen auf den Boden um uns herum. Warum wichen die nicht von unserer Seite? Meine Mom legte eine Hand auf meinen Oberschenkel. Die Hitze machte meinen Verstand nur noch matschiger. Ich fühlte mich wieder wie zu Beginn des Camps, als ich von nichts eine Ahnung hatte.

»Alles«, sprach Seth weiter, »fing damit an, dass du die Wandler in den Wald geschleudert hast. Das Chaos, das uns danach heimsuchte, war nicht zu unterschätzen, denn seitdem gibt es ein großes Problem.« Er rieb sich den Arm.

»Welches Problem?«

»Die Barriere ist …«, versuchte er eine Antwort.

Und dann knallte es hinter mir.

Der Regen fällt nicht weit von der Wolke

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»Sie greifen an!«, zischte James, der um die Ecke bog.

Er lebte? Und Hunter? Was war mit ihm? James schob seine runde Brille hoch in sein schwarzes, zurückgegeltes Haar.

»Das müssen wir wohl auf später verschieben. Tut mir leid, dass deine Verschnaufpause nicht länger angehalten hat, aber wir brauchen jede Unterstützung«, wies Seth mich an und folgte James.

Die anderen Camper schauten sich verunsichert an. Mit jeder Sekunde, die verstrich und gezögert wurde, schien ihre Moral mehr und mehr zu verpuffen.

»Was ist los mit euch?«, fragte ich harsch in die Runde.

Sachte stand ich auf. Meine Beine zitterten, doch ich ließ mir nichts anmerken.

»Was soll das noch bringen? Das Kämpfen?«, sagte ein Mädchen mit blassrosa Haaren und Augen, die blau, grau sowie grün vermischt waren.

»Hannah, richtig?«

Sie nickte.

»Wir dürfen nicht aufgeben. Nicht jetzt! Nicht nach all den Opfern.«

Erneutes Knallen unterbrach mich. Alle duckten sich.

»Und umso länger wir hier schwafeln, desto unnötiger werden die Verluste!« Verkrampft klammerte ich mich an Joshs Schulter, um nicht umzukippen.

Trotz Schwindel erkannte ich ihr zögerliches Nicken. Hannah sprang auf. Die anderen taten es ihr gleich. Nach und nach liefen sie in die Richtung, in die Seth gehastet war.

»Du bleibst hier. Josh, du passt …« Sie packte ihn an der Schulter und versuchte ihn zurückzuhalten.

»Das kannst du vergessen, Mom. Ich kämpfe!«, behaarte ich auf meinen Absichten. »Glaubst du im Ernst, ich habe mich die letzten Wochen nach Strich und Faden verarschen und für dumm verkaufen lassen, um mich jetzt zu verkriechen?«

Mit der flachen Hand schlug ich mir auf die Wange. Damit stachelte ich mich selbst auf. Die behagliche und ängstliche Fleur sperrte ich in die Tiefen meiner Ohnmacht ein.

Sei stark, Fleur!

»Ich bewundere es, wie stark du bist, aber ich bin deine Mutter und … Hey!«

Bereits nach dem Wort Mutter war ich losgegangen, um meinen Leuten zu helfen. Ich würde sie nicht im Stich lassen. Im Hintergrund hörte ich Josh und meine Mom tuscheln, aber das kümmerte mich nicht.

Auch wenn ich bemerkte, wie meine Mutter sich quälte, dass sie mich nicht über dieses Camp aufgeklärt hatte. Nun, damit hatte sie riskiert, was geschehen war: unvorbereitet hier zu landen. Dadurch zwang sie mich nach über einem Jahrzehnt voller Bevormundung zu lernen auf eigenen Beinen zu stehen, und das würde ich beibehalten.

Mit einem festen Griff um das Holzgeländer einer Hütte zog ich mich um die Ecke und registrierte das Ausmaß des Krieges zwischen Enchantern und Gestaltwandlern: verwüstete Holzgebäude, ruinierte Felder mit Gemüse, zerstörte Töpfe und andere Dinge sowie tiefe Krater. Der Geruch von Asche schwirrte in der Luft.

»Bleibst du noch lange hier stehen und siehst nur zu?«, verspottete mich meine Mom, als sie an mir vorbeirannte und mir zuzwinkerte.

Oh, Mann! So kenne ich meine Mutter gar nicht.

Ohne Umschweife sauste ich hinter ihr her. Der alte Sportplatz diente als Kampfring. Die Holztribüne, hinter der sich während meine Zeit hier einiges abgespielt hatte, fiel in sich zusammen. Am Rand heilten einige Curas die Verletzten. Ihre Hände glühten gelb.

Mitten im Geschehen stellte ich mich Rücken an Rücken zu Seth. In diesem Moment erspähte ich ein bekanntes Gesicht.

Hunter!

Er beugte sich über Hannah und behandelte eine Kopfwunde. Erleichtert hörte ich Seth seinen Spruch zu Ende bringen, der einen Wolf am Boden festklebte. Mit sechstem Sinn riss ich den Kopf nach links, weil meine inneren Alarmglocken klingelten. Doch das Warnsignal kam zu spät. Eine Hyäne sprang auf mich zu, von so weit oben herab, dass sie direkt vor der Sonne wie ein riesiger Schatten auf mich hinunterstürzte. Reflexartig warf ich meine Arme vor mein Gesicht.

»Fass meine Tochter nicht an, du Biest!«

Ich schaute zur Stimme.

Mom!

Sie legte ihren Zeigefinger an die Innenseite des Daumens. Es sah aus, als schnipste sie einen kleinen Kieselstein vom Daumen weg. Kurz darauf fiel der Wandler mit enormer Wucht zur Seite. Ich verfolgte die Hyäne. Sie schoss ungebremst in einen Baum, der unter der Kraft, die auf ihn einwirkte, durchbrach. Der Wandler lag wieder als Mensch am Boden, bis der obere Stamm ihn begrub.

Meine Kinnlade klappte nach unten. Für wenige Augenblicke bewegten sich diejenigen in meiner Umgebung nicht mehr. Alle erstarrten im Kampf und blickten zu meiner Mutter. Mir war es vollkommen entflogen, dass die Gabe der Spirits auch in ihr wohnte. Niemals hätte ich gedacht, dass sie derartig mächtig war.

»Wow!« Damit sprach Seth wohl aus, was uns allen auf der Zunge lag.

»Fuck, war das geil. Wer ist die Alte?«, brüllte Hannah über die Kampffläche, die sich wieder füllte, damit der Kampf weitergehen konnte.

»Ich bin Fleurs Mutter«, antwortete sie stolz und ich unterdrückte ein Grinsen.

Die Wandler begutachteten sie, woraufhin ich sie zu uns winkte, damit sie nicht ins Fadenkreuz unserer Feinde gerät.

»Seitdem der Baum abgefackelt ist, heißt es auch: Tschüss, Barriere! Sie schneien immer wieder in kleineren Gruppen herein.«

Seth beantwortete meine unausgesprochene Frage. Beim Bild des brennenden Baumes blendete mir mein Verstand das Gesicht von Fabienne in den Kopf ein. Meine Freundin, die mich enttäuscht hatte. Dabei verspürte ich ein festes Band, das sich nach und nach zwischen uns geknüpft hatte. Daraus lernte ich, dass das Schlimme am Verrat war, niemals von deinen Feinden auszugehen, sondern nur von deinen Freunden.

Die Kämpfe nahmen wieder an Fahrt auf. Mittlerweile handelte es sich nur noch um drei Wandler. Ein weißer Tiger, ein Stier und ein schwarzer Hirsch. Bei manchen Tierarten wunderte ich mich immer wieder, wenn ich ihnen in diesem gebirgigen Waldsetting begegnete.

Ob es derselbe Stier ist, der damals hier gewesen ist?

Zumindest entdeckte ich keinen Bären, der Hector – Theos Vater – hätte sein können. Auch eine Mutterspinne entdeckte ich weit und breit nicht.

»Lasst niemanden fliehen!«, schrie ich, damit mich jeder verstand.

Ich spürte den mahnenden Blick meiner Mutter, aber er störte mich nicht. Niemals wieder würde ich mein Vertrauen leichtfertig verschwenden. Vielleicht handelte ich unbesonnen und gekränkt wie ein bockiges Kind. Doch der Verrat der wichtigsten Menschen nagte an mir.

Ohne Kriegsgeschrei, aber ebenso ehrgeizig sprintete ich los, dem Feind entgegen. Der Tiger öffnete seinen gierigen Schlund. Statt ängstlich zu überlegen, stürzte ich ihm entgegen. Mit meiner Telekinese hielt ich ihm sein Maul offen, malte mit meinen Armen einen Kreis in die Luft, sodass der Wandler am Rücken lag.

»Hier!«, machte sich Hannah bemerkbar.

Ich kannte ihre Kräfte nicht, doch ich schleuderte ihr den Feind wie Kanonenfutter entgegen.

»Schere, Stein, Papier: Nur den Speer hab' ich für das Tier!«, zauberte sie.

Ein Speer materialisierte sich vor dem Mädchen. Sie stemmte ihr Gewicht dagegen und hielt die Waffe in die Luft. Das Geräusch, als die Speerspitze in das Fleisch des Feindes eindrang, werde ich niemals vergessen. Es war der Klang der Veränderung. Der Ton, der etwas in mir tötet und etwas Neues erschuf.

Gleich danach hing ein lebloser Mensch daran. Skrupel kletterte an mir hoch wie an einer losen Seilleiter. Doch der Sturm, der in mir tobte, schnitt sie entzwei.

Warum müssen wir Jugendliche, gerade dem Kindesalter entwachsen, dazu angehalten werden, andere Lebewesen zu töten, anstatt alle in Frieden zu leben?

Ich hasste es, aber die Alternative – uns töten zu lassen – half uns auch nicht. Was das mit unserer Psyche anrichtete, daran wollte ich nicht denken.

»Weiter!«, spornte ich die Camper an.

So weit sollte es nicht kommen. Die Wandler zogen sich zurück. Hinein in die Wälder.

»Verfolgt sie!«

»Nein!«, keifte eine Frau hinter mir.

Mit einem Satz drehte ich mich um.

»Piper! Ist es nicht das, was du von mir wolltest?«

Sie schüttelte den Kopf und ihre unendlich langen, weißgrauen Haare schwirrten umher.

»Darum geht es nicht«, erklärte sie. »Ich lobe deinen Einsatz, aber ich muss euch eine Neuheit im Camp zeigen, die euch interessieren wird.«

Die Campleiterin sprach in Rätseln. Es wirkte so, als würde niemand meinen Vorschlag für gut befinden, also gab ich nach und näherte mich ihr.

Meine Mutter hechtete neben mich.

»So habe ich dich nicht erzogen! Du sollst dich in der Not wehren, aber nicht grundlos töten«, schimpfte sie.

»Du hast mir beigebracht mich zu verstecken und unselbstständig zu sein.« Die eisige Kälte mit der ich meine Worte wählte und aussprach, verblüffte mich selbst.

Ohne auf ihre Antwort zu warten, beschleunigte ich meine Schritte und schloss zu Piper auf.

»Hunter, du lebst! Ich freue mich, dich zu sehen«, sprach Hunter in meinem Namen und knuffte mich in die Seite.

»Oh, Hunt! Tut mir leid. Ich bin noch total durch den Wind.« Ich legte meinen Arm um ihn und er seinen um mich.

»Natürlich freue ich mich. Wie geht es dir?«

»Den Umständen entsprechend. Bin selbst erst gestern Nacht aufgewacht.«

»Wie lange bin ich ohnmächtig gewesen?«

»Das ist jetzt der vierte, fünfte, sechste Tag? So in der Art«, klärte er mich auf. Krass! Damit hätte ich nicht gerechnet.

Josh sprang von der Holztreppe, als wir neben ihm vorbeigingen, und huschte zu uns.

»Alles klar?«

»Ja, danke, Joshy.«

Hunter musterte ihn missbilligend.

»Ganz ruhig, Brauner. Ich bin kein Konkurrent. Du kannst dein Alphamännchengehabe wegstecken. Ich habe einen Freund.« Mein bester Freund nahm ihm den Wind aus den Segeln.

»Ich! Was! Nein!«

Josh und ich prusteten los. Ganz wie in alten Zeiten. Wehmut kam auf. Es fühlte sich an, als wäre das Jahrhunderte her.

»Deine Mutter ist echt stark«, lenkte Hunter vom Thema ab.

»Tja, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.«

»Na ja, ganz so ähnlich seid ihr euch nicht. Wohl eher: Der Regen fällt nicht weit von der Wolke«, warf Josh ein.

Damit hatte er recht. Baumkrone zu Boden war eine zu geringe Entfernung. Da passte Wolke zu Boden besser.

Piper stieg in die Trümmer des alten Haupthauses, in dem auch der magische Baum stand. Vorsichtig folgte ich ihr, wobei ich merkte, dass der Kampf und die unerbittliche Hitze der Sonne mir zu schaffen machten.

»Was willst du uns hier zeigen, Piper?«, informierte sich Seth.

Sie schaufelte mit ihren Händen Dreck beiseite, ehe sie ihren Zeigfinger hob.

»Kommt!«

Wir versammelten uns um sie. Erst erkannte ich nichts. Ich ging in die Hocke.

»Das kann doch nicht wahr sein«, flüsterte ich.

»Ich weiß auch nicht, wie das möglich sein kann«, entgegnete Piper darauf.

»Was bedeutet das?« Klar, Josh hatte keine Ahnung davon.

»Das ist ein Nachkömmling des magischen Baumes«, erklärte ich ihm, »der eine Barriere um das Camp geschaffen hatte, um die Feinde abzuhalten und uns unsichtbar für Außenstehende zu machen.«

»Das heißt, die Barriere kommt zurück?«

»Ich weiß es nicht, Josh. Piper?«, wandte ich mich an sie.

»Die Antwort findet ihr dort hinten.« Sie zeigte in Richtung des Sees.

Erst untersuchte ich das Gewässer, bis ich verstand. Türkisfarbiger Schimmer zog sich durch die Luft.

»Das Schutzschild regeneriert sich!« Dann erkannten es auch die anderen.

»Ah, ja!«, hörte ich von irgendjemandem hinter mir.

»Ich sehe es!«

Immer mehr entdeckten es.

»Ich auch!«

Hoffnung schwang in ihren Stimmen mit.

»Stimmt!«, grölte James.

»Wenn wir Glück haben«, Piper stand auf und wischte sich Staub und Asche ab, »greifen sie nicht mehr an, bis das Schutzschild vollkommen wiederhergestellt ist.«

Hannah stellte sich neben mich und legte ihren Unterarm auf meine Schulter. Mir war gar nicht aufgefallen, wie groß sie war.

»Es wendet sich eben alles zum Guten. Jetzt haben wir uns doch etwas Entspannung verdient, oder?« Hannah wackelte mit den Augenbrauen.

»Wir sollten tatsächlich Kräfte tanken, sollten die Gestaltwandler zurückkehren«, pflichtete Seth ihr bei und die Gruppe löste sich auf.

Nachdem alle bis auf Piper, Seth, Hunter, Mom, Josh und mir verschwunden waren, stellte ich eine andere Frage, die mir auf der Seele brannte.

»Was ist aus Fabienne geworden?«

»Soll ich es dir zeigen?« Piper reichte mir ihre Hand.

Ich schluckte.

»Ja.«

Sie nickte.

»Der Anblick wird dich schockieren.«

Risikofaktor

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Die Tür knarrte, als ich sie bis zum Anschlag aufstieß. Die Duftwolke, die mir entgegenkam, entpuppte sich als eine Mischung aus abgestandener Luft, Fäkalien und betrügerischem Schweiß. Alles in dieser Hütte war abgedunkelt. Bretter an den Fenstern. Socken in Löcher in den Wänden gestopft.

»Wer ist das? Kann ich den Eimer bekommen?«

Ich atmete tief ein, auch wenn ich dadurch den Geruch auf meiner Zunge schmeckte. Mein Kinn bibberte. Tränen schossen mir in die Augen. Dieser Anblick zerstörte und befriedigte mich gleichzeitig.

Sie kniff ihre Augen zusammen und benötigte ihre Zeit, bis sie sich an die Helligkeit gewohnt hatte.

»Fabienne.« Meine Stimme klang heiser.

Sofort sprang sie hoch und hielt sich ihre Hand vors Gesicht, um die Sonne abzuschirmen.

»Bailey. O mein Gott! Bailey! Ich … Also. Wo soll ich anfangen. Ich bin so froh, und …«, sie stotterte und es kostete mich alle Kraft dieser gottverdammten Welt, standhaft zu bleiben.

»Bitte hör mich an!«

Ihre Hände zitterten an den Gitterstäben, in die sie gezaubert wurde. Ihre Handknochen schlugen dagegen. Wer sagte mir, dass das nicht nur wieder ein Trick von ihr war, um mich weichzukochen? Und dann, draußen aus dem Gefängnis, würde sie mir erneut das Messer des Verrats in den Rücken rammen?

Sei nicht mehr so dumm, Fleur!

»Fabienne«, sagte ich abermals.

»Ja? Ja!«

»Ich dachte, wir seien Freundinnen, aber ich hoffe, du wirst hier verrotten«, spie ich ihr entgegen und schlug die Tür hinter mir zu.

Selbstverständlich hörte ich ihr Rufen durch die geschlossene Tür, aber ich wollte ihre Ausflüchte nicht hören. Nicht nur, weil ich sie ihr niemals glauben könnte, sondern auch, weil ich zu verletzt dafür war, ihr zu verzeihen. Das Leben bot mir eine Zitrone an, nur um mir ihren bitteren Saft in mein blutendes Herz zu träufeln.

»Das ist deine Freundin, Schätzchen?«

»War, Mom. War. Jetzt ist sie nur noch ein Risikofaktor.«

Da Hunter mich geheilt hatte, verschwand der Schwindel und ich fühlte mich besser. Fabienne würde keine Gefahr darstellen, solange sie niemand entließ. Ihr fehlte die Energiezufuhr. Piper hielt sie lediglich am Leben, aber durch ihren geschwächten Körper konnte sie sich nicht befreien. Unsere Gabe und die Magie in uns war immer nur so stark wie wir selbst. Zusätzlich hatte Seth die Gitterstäbe extra undurchdringbar gemacht. Stäbe aus Diamanten, deren Schimmern ich im Sonnenlicht wahrnahm.

»Was machen wir jetzt?« Josh wich mir nicht von der Seite, was ich begrüßte.

»Wir helfen beim weiteren Aufbau des Camps, aber zuerst verbeugen wir uns beim Lagerfeuerplatz vor den Toten.« Ich war selbst verblüfft, wie ich vom schüchternen Mädchen zur Anführerin mutiert war.

»Toten?«, fragte er entsetzt nach.

»Der Kampf hat Leben gekostet«, mischte sich Piper ein. »Wir verbrennen sie hier und lassen ihre Gaben in einem magischen Ritual Frieden finden.«

»Tut mir leid, dass wir nicht auf dich gewartet haben«, fügte sie hinzu und sah mich dabei an. »Wir konnten nicht einschätzen, wie lange du bewusstlos sein würdest. Die Curas waren zu geschwächt, um alle vollständig zu heilen. Sie schafften es gerade so, jeden, der noch einen kleinen Lebensfunken in sich trug, zu retten.«

»Das verstehe ich. Deshalb dauert auch der Aufbau so lange?«, vermutete ich.

Als wir durch das Camp schlenderten, merkte ich erst, dass alles nur provisorisch errichtet wurde. Das war mir beim ersten Mal kaum aufgefallen.

»Genau. Es ist ein Haufen kaputt«, bestätigte Piper. »Die Spellmaker mussten selbst Kraft tanken. Dann noch die Angriffe der Wandler dazwischen. Das meiste haben wir sogar händisch bearbeitet und die Wunden der Verletzten auf herkömmliche Weise verarztet.«

»Chloe? Die Krankenschwester?«

Und Therapeutin für Fabienne, falls ihre Krankheit nicht auch nur gefakt gewesen ist.

»Tot.«

»Finch?«

Piper verneinte.

O nein! Seth hatte nicht nur einen, sondern beide Brüder verloren.

»Dilara und Leyla?«

»Dilara starb gestern. Leyla geht es gut.«

Das Training mit Harry, als er Leyla und Dilara drangsaliert hatte, spielte sich vor meinem inneren Auge ab. Dilara hatte auf ihre Schwester aufgepasst, da Leyla nicht aus sich herauskam.

Ich passe auf sie auf, Dilara. Versprochen!

Die Luft glühte richtig. Die Atmosphäre spannte sich von Minute zu Minute mehr an. Ständig musste ich damit rechnen, erneut angegriffen zu werden. Die Barriere zog sich wie ein Riss in einem Spiegel immer weiter über das ganze Camp, doch wer konnte schon ahnen, ob die Gestaltwandler nicht bereits Kenntnis davon genommen hatten und einen Plan schmiedeten, die Saat des Baumes zu zerstören.

»Da ist es.« Meine Mutter sprach das Offensichtliche aus.

Eine Menge Asche bettete sich auf den Boden der Lagerfeuerstelle. Die Stimmung war zum Zerreisen gespannt. Nein, das konnte ich Fabienne nicht verzeihen. Sie hatte die Barriere zerstört und deshalb standen wir nun hier und erwiesen den Toten die letzte Ehre.

Joshs raue Haut traf auf meine, als er meine Hand nahm. Ich ergriff die meiner Mutter.

»Ich liebe dich und ich bin froh, dass du dich bis hierher durchgebissen hast.«

»Ich dich auch, Mom.«

»Ich euch auch, Leute.«

Mit meiner Schulter knuffte ich Josh in die Seite, um ihm zu sagen: dich natürlich auch.

Wir senkten unsere Häupter. Selbst Josh, der mit diesem ganzen Enchanter-Ding nichts anfangen konnte. Von Hunter, der beim Aufbau half, hatte ich erfahren, dass wir mittlerweile nur noch zu fünfzehnt waren. Fabienne miteinbezogen. Der einzige Verlust, über den ich mich freute, war Harry. Ihn hatte ich, zusammen mit den Gestaltwandlern, in den Wald zurückgeschleudert.

Theo zählte nicht mehr. Allein beim Denken seines Namens bäumte sich jeder Nervenstrang in mir auf. Natürlich liebte ich ihn noch. Liebe verging leider nicht so flüchtig, auch wenn er mich ausgenutzt hatte. Ein Teil von mir gönnte ihm den Tod. Ein andere sehnte sich nach seinem verwuselten Haar, seiner weichen Haut, seinen harten Muskeln und dem typischen Theogeruch: Tannenbaum und Erde.

Im Nachhinein wurde mir einiges klar. Seine Herzbeschwerden kamen davon, dass er seine Verwandlung so lange unterdrückt hatte, bis er alleine gewesen war. Und den Waldduft hatte er einzig und allein der Tatsache zu verdanken, dass er ein Tier aus dem Wald war.

Ich seufzte und löste mich von beiden.

»Ich vermisse euch alle schrecklich«, wisperte ich in den vorbeiziehenden Windhauch und schickte einen Luftkuss gen Himmel.

»Wir sollten Wachen um das Camp positionieren. Zumindest, bis die Barriere sich vervollständigt hat«, schlug Piper vor, als hätte sie nur darauf gewartet, bis wir fertig waren.

»Na, dann macht das doch!« Ich hatte keine Ahnung, worauf sie hinauswollte. Warum erzählte sie mir das?

»Denkst du, es wäre eine gute Idee?« Piper suchte hilflos Rat bei mir? Als wären wir die besten Freundinnen.

»Du fragst mich? Ich bin doch nur eine auszubildende Camperin.«

»Ja, aber ich habe gesehen, wie viel Kraft in deinen Emotionen steckt, und ich will dich auf meiner Seite wissen. Vor allem jetzt, nachdem du gesehen hast, dass ich dich nicht belogen hatte. Sie«, Piper spuckte das Sie aus, »sind böse!«

Mom quengelte wie ein Kleinkind neben mir.

»Können wir kurz reden?«

»Jetzt nicht, Mom.«

»Ja, dann machen wir das so«, stimmte ich Piper zu, die daraufhin zufrieden grinste und von dannen zog.

Hatte ich Piper jemals ehrlich lächeln sehen?

»Du solltest keine gemeinsame Sache mit Piper machen. Sie ist …«

»Nicht ganz dicht«, beendete Josh den Satz meiner Mutter.

Sie zeigte mit ihrer Hand auf Josh.

»Er sieht es auch.«

»Ich sehe es auch. Trotzdem müssen wir zusammenhalten. Wenigstens stehen wir auf derselben Seite.«

Hoffte ich. In Sicherheit konnte ich mich nicht wiegen. Niemals wieder. Mein Urvertrauen war zu erschüttert.

»Josh, kannst du beim Aufbau der Hütten helfen? Zumindest da, wo die Spellmaker noch zu wenig Energie haben, um ihre Gabe einzusetzen?«

»Klaro. Netz hat man hier keines, oder? Ich würde gerne Dean anrufen«, fragte er.

»Nope. Hast du ein Bild von Greta?« Ich musste sie unbedingt mal wiedersehen.

»Ja, Moment!«

Er kramte in seiner Hosentasche.

»Mom? Kannst du bei den Verletzten nachsehen? Im Bemuttern bist du ja gut.«

Sie warf mir einen typischen Mamablick zu. Den, den jedes Kind kennt, wenn es am Tisch mit der Familie etwas Unangebrachtes sagt und die Mutter einen mit ihrem Todesblick durchbohrt, aber immer noch lächelt, damit es niemand am Tisch mitbekommt.

Ich küsste sie auf die Wange. »Danke.«

»Hier ist das Bild, aber …«

Plötzlich huschte Seth um die Ecke. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht.

»Sie sind wieder da!«, brüllte er verschwitzt und außer Atem.

Das Streben nach Macht

Vignette

Das durfte doch nicht wahr sein! Diese Monster hatten sich wieder neu formatiert und griffen schon wieder an?

»Mom, bring Josh in eine der Hütten und beschütze ihn mit deinem Leben!«, donnerte ich im Laufen zu ihr nach hinten.

»Nein, ich komme mit dir!«

»Bitte! Ich komme klar.«

Josh äußerte sich dazu nicht. Bildlich stellte ich mir vor, wie er an der Innenseite seiner Wangen kaute und sich unwohl fühlte. Wahrscheinlich haderte er gerade mit sich, ob er sagen sollte, er käme alleine zurecht, obwohl er sich wünschte, meine Mom würde auf ihn aufpassen. Oder, ob er den Mutigen spielen sollte.

»Verdammt«, zischte meine Mutter.

»Komm, Josh«, sagte sie dann und ich hörte, wie sich die Schritte der beiden von mir entfernten.

Zusammen mit Seth gelangten wir an den See, wo die anderen uns erwarteten. Was ich dort sah, saugte mein Gehirn aus, weil es unmöglich der Wahrheit entsprechen konnte. Die Wandler schwebten über den See – direkt zu uns.

Haben die noch noch andere, magische Fähigkeiten, von denen wir nichts ahnen?

»Das ist doch … Entwarnung!«

Was meinte Piper damit? Entwarnung?

»Wer ist da?« Nicht nur Hunter stellte sich diese Frage.

»Das ist der Präsident der Enchanter.« In ihrer Stimme veränderte sich etwas. Die Ehrfurcht vor diesem Mann schwang in jeder Silbe mit.

Handelte es sich hier nur um Respekt oder doch um Angst? Sein Ankommen verwirrte selbst die Natur. Nebel tauchte über dem See auf, schlich sich aus jeder Seite des Waldes, und das trotz Sonnenschein und Hitze. Wie eine Armee aus Wasserdampf folgten die Schwaden ihm und seinen drei Begleitern.

Kleine Stromzungen peitschten aus der Barriere. Seine Macht musste alles übertreffen, was ich bisher erlebt hatte, wenn meine gesamte Umwelt so heftig auf ihn reagierte. Unruhe kehrte in den Reihen der anderen Camper ein. Komischerweise blieb ich, untypisch für mich, vollkommen ruhig. Anscheinend konnte mich sobald nichts mehr schocken. Hannah fasste blitzschnell wie eine Schlange nach meinem Unterarm und hielt sich daran fest. Im Wasser formten sich kleine Wirbel. Wellen erreichten das Ufer und benetzten unsere Füße. Ich erwartete kühles Nass an meiner Haut. Stattdessen empfing mich beinah kochendes Wasser, weswegen wir alle einen Satz zurück machten.

»Hast du ihn schon mal gesehen?«, flüsterte ich Seth ins Ohr.

»Nein.«

Wenigstens war er im Bilde über seine Existenz und Funktion. Ich hingegen hatte keinen blassen Schimmer von den politischen Verstrickungen in der magischen Parallelwelt der Enchanter. Es frustrierte mich noch in so vielen Angelegenheiten im Dunklen zu tappen.

»Präsident Goines, es freut uns sie hier begrüßen zu dürfen«, säuselte Piper und verbeugte sich vor ihm.

Wir anderen machten ebenfalls einen höflichen Knicks. Endlich sah ich ihn besser. Die Nebelwolken, die um ihn getänzelt waren, stellten sich in den Hintergrund, als seine Füße den Boden berührten. Mitten in das heiße Wasser. Es störte ihn nicht. Er verzog keine Miene.

Seinen Körper zierten Tattoos, die ich kaum erkennen konnte, da ihr Schwarz beinahe so dunkel wie seine Hautfarbe war. Deshalb kontrastierte auch seine hellblaue, bodenlange Kutte umso intensiver mit seinen weißen Locken.

Piper knetete ihre Hände wie Teig. Hektische Bewegungen folgten. Ein nervöser Blick zu uns Camper. Was war mit ihr los?

»Wir hatten sie viel früher erwartet«, stammelte sie und kicherte daraufhin wie ein kleines Mädchen.

»Piper«, seine Stimme hallte in meinem Ohr und klang tiefer als der Grand Canyon, »deinen Spielchen nach zu urteilen hast du deinen Schützlingen nichts erzählt.«

Ihre Haltung wurde stocksteif.

»Ich wollte …«

»Du wolltest dein Ansehen bewahren und hast es dir damit gänzlich ruiniert. Kinder!« Er wandte sich von ihr ab und blickte zu uns. »Piper hat nicht um Hilfe gebeten. Es war nie vorgesehen, dass wir kommen. Vermutlich wollte sie alles alleine regeln, um keine Schwächen einzugestehen.«

Jeder sog tief die Luft ein, doch niemand wagte es, zu sprechen. Mich traf diese Bestätigung weniger hart. Verrat war kein Fremdwort mehr für mich.

Ein junger Mann trat hinter Goines hervor. Seine senfgelbe Kutte streifte ebenfalls den Boden und war mit Wasser aufgesogen. Seine braun-orangefarbene Haut passte gut dazu.

»Dadurch«, begann er zu sprechen, »hat sie euer aller Leben gefährdet. Sie war zu stolz und hatte Angst davor, wir würden ihr die Leitung absprechen … Ich bin übrigens Stavros.«

Das bedeutete, dass er anscheinend ein Enchanter war, der direkt hier in Griechenland positioniert wurde. Zumindest erlaubte ich mir diese Mutmaßung aufgrund seines Namens.

Ein weiterer Mann gesellte sich neben den anderen. Er hatte Ähnlichkeiten mit Hunter, nur, dass seine Haare platinblond waren.

»Es tut uns im Namen aller leid, dass ihr diese Qualen durchmachen musstet. Ich bin Romeo und wir werden dieses Camp nun übernehmen und Piper«, er schaute direkt zu ihr, »dich werden wir wegsperren, bis wir die Wandlerplage beseitigt haben.«

»Wenn ihr Fragen habt, Kinder, ich bin Makoto«, beendete die vierte und letzte Person den Satz. Eine Frau, die vermutlich asiatische Wurzeln hatte.

Meine Brauen sausten nach oben.

»W… wie bitte?« Piper würde gefangen genommen werden? Das erstaunte mich nun doch.

»Sht!«, sprach Stavros mit dem Zeigefinger an den vollen Lippen.

Noch während er diesen Laut machte, brach Piper zusammen. Direkt im heißen Wasser. Noch ehe jemand zu ihr hätte laufen können, begann sie zu schnarchen.

»Wahnsinn!«, kam es von Hannah.

»Das ist Stavros, der Spellmaker. Einer der stärksten weltweit«, klärte sie mich leise auf.

Bedeutete das, dass dieses Sht! bereits ein Zauberspruch war? Machte er nur mit diesem Laut Piper unschädlich?