© 2017 Volker Griese

Satz Volker Griese

Gesetzt aus der Georgia

Einbandkollage nach zeitgenössischen Abbildungen

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt.

ISBN 978-3-7448-9215-5

Geschichte, das wird ja gerne als unfein ignoriert,
ist leider weitgehend Kriminalgeschichte.

(Rolf Hochhuth)

Mit den Menschen ist es wie mit Autos:

Laster sind schwer zu bremsen.

(Heinz Erhardt)

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Es heißt, dass jede Handlung ein singuläres Ereignis der jeweiligen Zeit, eine Reaktion ist, hervorgerufen von den Zeitläuften und den soziologischen und persönlichen Umständen der Handelnden. Aber gewisse Handlungs- oder Verhaltensmuster wiederum ähneln sich durchaus. Immer wieder lassen sich Parallelen entdecken. Immer wieder kommen uns heutige Dinge, Handlungen bekannt vor. Ob Streitereien innerhalb von Familien, die sich eruptiv in einem Mord Ausdruck verschaffen, Menschen durch Denunziation zu Tode kommen, der Staat seine Macht missbraucht, Menschen sich radikalisieren und sich nur noch im Terror auszudrücken meinen oder, wenn verkannte und fehlgeleitete Künstler für einen Skandal taugen, dies alles ist nichts Neues. Hinter Bekanntem, das sich ins kollektive Bewusstsein eingeprägt hat, gibt es dabei auch die kleinen, unbekannten Begebenheiten, die sternschnuppengleich aufgetaucht und schon bald wieder dem Gedächtnis entschwunden sind.

Der vorliegende Streifzug durch die Verbrechensgeschichte des Landes zwischen Nord- und Ostsee ist rein subjektiv gewählt und will mit seinen novellistisch-zugespitzten Erzählungen, die immer auch nur als Beispiele für viele andere reale Ereignisse stehen, ein lebendiges Lesebuch sein.

Der Bogen spannt sich über mehr als siebenhundert Jahre. Die Leser erleben 1250 den Mord am dänischen König auf der Schlei, leiden 1678 auf Gut Depenau während der Hexenprozesse mit, nehmen 1866 Teil am grausamsten Massenmord der jüngeren Landesgeschichte, an der Auslöschung einer ganzen Familie in Groß-Kampen, finden sich 1928–29 im Terror und Tumult der ›Landvolkbewegung‹ wieder oder erleben 1952 den Hype um die Restaurierung der Lübecker St. Marienkirche und die Aufdeckung des sogenannten Fälscherskandals.

Kain und Abel einmal vertauscht.

Der Königsmord auf der Schlei, August 1250

Gellend schneiden lang gezogene Schreie von Möwen durch die Luft. Die von ihrem Tagesgeschäft heimkehrenden Schleifischer in der Missunder Enge vor Brodersby kennen das. Immer wenn sie sich mit ihrem Fang dem Land nähern, kommen die Ratten der Lüfte heran, immer darauf aus, dass etwas von der Beute für sie abfällt. Erst lässt sich einer dieser Vögel am Himmel sehen, der schon bald durch sein Geschrei alle sich in der Nachbarschaft befindenden herbeilockt. Sie haben es sogar schon erlebt, wie die grauweißschwarzen Langschnäbel um ihr Schiff kreisten, um dann Raubvögeln gleich niederzustürzen, in der Hoffnung einen Fisch aus der Balje zu erwischen. Heute allerdings ist es anders. Die Möwen kommen nicht näher, sie lassen sich von dem herannahenden Boot überhaupt nicht ablenken. Ihre ganze Konzentration scheint auf einen dunklen Punkt im Wasser hin gerichtet zu sein. Immer wieder drehen sie ihre Kreise und stoßen ihre durchdringenden, langgezogenen Schreie aus. Einige stürzen herab, der Wasseroberfläche zu, um dann aber doch kurz davor vor der eigenen Courage in Respekt zu verfallen, und sich wieder nach oben den restlichen Vögeln hinzuzugesellen. Immer wieder dieses gleiche Schauspiel.

Die Fischer im Boot schauen nach vorne. Je näher sie kommen, umso deutlicher wird eines erkennbar: An der Stelle, die die Vögel wie im Rausch umkreisen, hin zum Brodersbyer Ufer, wirkt es so, als ob sich etwas im Wasser bewegt; wenn es auch nur auf und ab zu schwimmen scheint. In Sichtweite herangelangt, meinen sie, es handele sich um einen aus dem Wasser ragenden stumpfen Ast. Doch irgendwie passe das ja nicht zu dem Verhalten der Möwen. Sie beschließen der Sache einmal auf den Grund zu gehen und halten mit ihrem Gefährt auf die Stelle zu.

Nur ein paar Bootslängen von dem im Wasser schwimmenden Gegenstand entfernt, wird er deutlich erkennbar. Die Fischer stutzen und sehen sich an. Kein Ast ragt hier aus dem Wasser – und klar wird jetzt auch das Kreisen und Schreien der Möwen – es handelt sich vielmehr um einen steifen Arm, der im Wasser dümpelt und zum Himmel, zum ewigen Gericht, hinzudeuten scheint. Ganz nah herangekommen lässt sich auch der nur knapp unterhalb der Wasseroberfläche schwimmende Körper ausmachen. Scheinbar sind Schnüre oder Ketten um ihn geschlungen. Die Fischer greifen zu Stangen, bugsieren den Körper nah an die Reling und beginnen ihn aus dem Wasser aufs Bootsdeck zu hieven. Schon als der Leichnam nur ein Stück aus dem Wasser ragt, wird für alle Beteiligten deutlich, dass sie es hier nur mit einem Torso zu tun haben. Der Kopf fehlt. Trotz der Nässe scheint die Kleidung so auszusehen, als ob sie zu einer herrschaftlichen Person gehört. Die Fischer stutzen, schauen sich an, sagen nichts; jeder hat seinen Gedanken, dem er nachgeht. Soll nicht vor knapp zwei Monaten ein Boot mit dem dänischen König Erik an Bord hier auf der Schlei umgeschlagen, gekentert sein? Der König wäre ertrunken hieß es. Was wäre …? Doch wenn, wenn er es wirklich wäre –, wieso fehlt der Kopf? Und was haben die Fesseln zu bedeuten? Schweigend bezieht jeder seinen Posten. Das Boot wird auf Kurs getrimmt und nimmt seine Fahrt zu ihren Katen am Ufer bei Missunde wieder auf. An Land angekommen, begibt sich sofort ein Fischer auf den Weg zur kleinen bei Brodersby gelegenen Kapelle und seinem dort hausenden Priester. Die anderen scharren den Torso erst einmal an Land ein.

Als dem Mann Gottes die Nachricht von der Leiche ohne Kopf, von dem in feine Kleidung gehüllten Körper mitgeteilt wird, stutzt auch er zunächst. Der Nachrichtenüberbringer erhält einen kurzen Dank und die Mitteilung, er, der Priester, werde sich darum kümmern. Wenig später befindet sich schon ein Bote auf dem Weg zum Domkapitel in Schleswig. Nur wenige Stunden vergehen, als auch schon eine Schar Priester der St. Petri Kirche bei den Fischern eintrifft. Sie lassen sich die Stelle zeigen, wo der Leichnam verscharrt wurde, lassen ihn wieder ausbuddeln und reinigen. Die Priester tuscheln untereinander. Zwar wäre der Körper nicht mehr vollständig und auch schon in Fäulnis übergegangen, aber davon bräuchte man ja niemanden etwas zu erzählen. Die Überreste werden vorsichtig in ein Leinentuch gehüllt, auf ein Pferd festschnallt, dann entschwindet die Schar in Richtung Stadt.

Tage später, der Leichnam hat seine Ruhestätte erst einmal im Dom gefunden, ist es in der ganzen Gegend schon kein Geheimnis mehr: Die Nachricht, es handele sich bei dem aufgefischten Körper um den dänischen König Erik IV., der da aus dem Wasser gezogen wurde, verbreitet sich schnell landauf landab.

*

Mythologische Beispiele von ungleichen, von in ihrem Wesen geradezu konträren Brüderpaaren gibt es genug. Da tötet die ägyptische Gottheit ›Seth‹, der schlichtweg das Böse personifiziert, seinen Bruder ›Osiris‹, der als Totengott für das Fortleben der Menschheit steht, und zerstückelt ihn; bei den Hethitern geraten die schon in ihren Namen für alle Unwissenden klar gekennzeichneten Brüder ›Schlecht‹ und ›Gerecht‹ aneinander; in der römischen Überlieferung war es ›Romulus‹, der seinen Bruder ›Remus‹ erschlug. Oder denken wir an die biblische Überlieferung, in der ›Kain‹ seinen jüngeren Bruder ›Abel‹ tötet. Neid, Missgunst, Habsucht – allesamt Motive, die Geschwisterpaare aneinandergeraten, gegeneinander vorgehen, ja, schließlich auch vor einem gemeinen Mord oder Totschlag nicht zurückschrecken lassen. Und das nicht nur in Sagen und Märchen.

*

Als der dänische König Waldemar II. 1241 stirbt, folgt ihm der seit 1232 mitregierende Sohn Erik auf den Thron. Obwohl als Nachgeborener zunächst von der Thronfolge ausgeschlossen, reklamiert aber auch der Sohn Abel, seit 1232 Herzog von Schleswig, seine Ansprüche und mehr als das. Er versucht schon bald Gefolgsleute für seinen Königsanspruch zu gewinnen und beginnt Intrigen am dänischen Hof zu spinnen. Die zunächst hinter den Kulissen, im Verborgenen ausgetragenen Animositäten zwischen den Geschwistern, vor allem vonseiten Abels, eskalieren immer mehr, bis die offene Feindschaft des Bruders, die Androhung, ihn vom Thron zu stoßen, dem jungen König nur eine Wahl lässt. Um diesem Spuk ein für alle Mal ein Ende zu bereiten, kommt nur Sieg oder Niederlage in Frage. Ein Feldzug soll entscheiden. Mit viel Aufwand werden Söldner angeworben, geködert mit einem reichlichen Handgeld und mit dem Versprechen auf gute Beute. Dem Einmarsch der Truppen Eriks 1248 im schleswigschen Herzogtum kann Abel nur wenig entgegensetzen. Der heftig geführte Bruderkrieg lässt neben der Stadt Flensburg zahlreiche weitere Handelsplätze verwüstet zurück. Natürlich wird auch Schleswig, der Sitz, das Machtzentrum des Herzogs, belagert. Abel selbst, mit einer nur allzu kleinen Streitmacht an anderer Stelle durch Truppen seines Bruders festgehalten, kann selbst nicht vor Ort eingreifen.

Als einer der Truppenteile unter Henrich Ämeltorp eines Nachts in die Stadt an der Schlei dringen, macht sich eine Abordnung auf den Weg zur herzoglichen Familie. Hat man doch im Vorwege gehört, Abels Tochter sei in der Stadt geblieben und müsse sich somit unter den Eingeschlossenen auffinden lassen. Die Freude steht Henrich Ämeltorp im Gesicht geschrieben, als er mit einer Handvoll Männer die Gemächer der herzoglichen Burg durchschreitet. Die junge Frau wäre ein richtig guter Fang, ein entsprechend wertvolles Pfand. Doch die Eindringlinge werden nur zu bald enttäuscht. So sehr sie den Herzogssitz und anschließend die Gebäude der Stadt auch durchsuchen, sie bleibt verschwunden. Dass sie sich in verschiedenen Bürgerhäusern barfuß und in zerlumpter Kleidung wie eine einfache Dienstmagd versteckt, das kommt den Kriegsleuten nicht in den Sinn.

Der schleswigsche Herzog gibt zunächst alles verloren und flieht außer Landes zum Erzbischof von Bremen. Hier am Hof des Bischofs beginnt Abel in den folgenden Wochen, Kontakte zu verschiedenen deutschen Fürstenhäusern aufzunehmen. Und man deutet durchaus an, dass ein gewisses Verständnis für Abel da sei, man bereitstehe, ihm erneut seinen Herzogssitz zu verschaffen. Gewisse Gegenleistungen müssen natürlich verhandelt werden. Doch die Details lassen sich auch später immer noch besprechen, so der Tenor. Nicht lange dauert es, da zieht Abel mit einem regelrechten Haufen fremder Söldner zurück ins Schleswigsche, finanziert von deutschen Herrschern. Diesmal ist das Siegerglück vor allem und nicht zuletzt dank seiner Truppenübermacht aufseiten Herzog Abels. Diesmal muss sich König Erik aus dem Herzogtum Schleswig zurückziehen. Da keine Aussicht auf Beute besteht, belasten die königlichen Söldner nur die dänische Staatskasse, die ohnehin schon mehr als genug ausgeplündert war. Sie dürfen gehen. Auch Abel löst seine von Deutschen finanzierten Truppen schließlich auf. Sie haben ja ihre Arbeit getan. Die Gegenleistung? Nun, so heist es bei seinen Unterstützern, man würde bei Gelegenheit darauf zurückkommen. Sie, sowie der erneut eingesetzte Herzog, haben zunächst auch andere Dinge im Kopf. Erst einmal gilt es, sich am Verhandlungstisch mit dem König zu behaupten. Und um den durch Krieg erreichten Status quo zu sichern, muss zumindest ein Vergleich her.

Letztlich erhält Abel sein Herzogtum wieder zurück, doch nur als Erblehen. Eigentümer, Lehensherr, bleibt fortan der dänische König. Weder Abel, noch seine Helfer aus Deutschland, sind erbaut, wie sich die Dinge in den sich hinziehenden Verhandlungen entwickeln, aber alle akzeptieren schließlich den Kompromiss – erst einmal.

Die durch die kriegerische Auseinandersetzung geleerte Staatskasse versucht der König sofort wieder zu füllen. Doch woher nehmen? Wie in allen Zeiten muss einmal mehr das Volk dazu herhalten. Der Kämmerer verfällt dabei auf ein simples Verfahren. Jeder Pflug wird fortan mit einer Steuer belegt. Monatelang ziehen die Steuereintreiber über das Land, lassen sich die Pflüge zeigen und treiben mit Härte die Abgaben ein. Das Volk hat schnell den passenden Ökelnamen, einen Plattdeutschen Spitznamen für ihren König bei der Hand: Wann immer man auf Erik IV. zu sprechen kommt, ist nunmehr die Rede von ›Erik Plogpennig‹.

*

Es dauert nicht lange, dann wird wieder gerüstet, werden wieder Truppen angeworben. Nur zwei Jahre nach dem Bruderkrieg herrschen erneut unruhige Zeiten im Land zwischen Nord- und Ostsee. Diesmal droht eine militärische Auseinandersetzung zwischen dem dänischen Gesamtstaat, der sich seit dem zurückliegenden Vergleich in zunehmendem Maße für sein Lehen, dem Herzogtum Schleswig, verantwortlich fühlt und der immer wieder seine Eigenständigkeit reklamierenden Grafschaft Holstein. Zankapfel im Sommer des Jahres 1250 ist die Grenzstadt Rendsburg.

Immer wieder hatte es in der näheren Vergangenheit Streit um die Stadt an der Eider gegeben. Immer wieder reklamierte der dänische König, dass es eine dänische Stadt sei, sie vollständig auf dänischem Grund und Boden läge. Und überhaupt: Es lägen Unterlagen vor, dass sie seit der Zeit König ›Kanuts des Sechsten‹ zum dänischen Reich gehöre. Die holsteinischen Grafen winkten immer wieder ab und behaupteten das genaue Gegenteil. Und wenn auch hinzugezogene Ratgeber schließlich als Kompromiss festzustellen meinten, der umstrittene Ort, läge teils auf schleswigschem, teils auf holsteinischem Gebiet, so erschien das für den dänischen Herrscher als reine Haarspalterei und ohne tiefer gehende Bedeutung. Nur Gut oder Böse, nur Schwarz oder Weiß, Haben oder Nichthaben ergab Sinn. Was liegt da näher, als einmal den Knoten durchzuschlagen und ein für alle Mal, endlich und unumkehrbar, Tatsachen zu schaffen.

Bis zur Verteidigungsanlage des Danewerk bei Schleswig, deren Wälle und Gräben schon auf das frühe Mittelalter zurückgehen, geleitet König Erik erst einmal seine Truppen. Die Gegenseite wird von Graf Johann von Holstein angeführt, wieder einmal verstärkt durch Freunde aus dem Süden. Wieder einmal hat der Erzbischof von Bremen seine Finger im Spiel und auch der Bischof von Paderborn tritt als Finanzier auf, um Truppenteile für die Allianz der holsteinischen Grafen, verstärkt um Truppen aus der freien Stadt Lübeck, zu finanzieren. Ruhig, verdächtig ruhig dagegen, verhält sich in dem ganzen Streit der eigene Bruder, der Herzog von Schleswig, durch dessen Territorium Könik Erik ja gerade marschiert.

Die Aufklärer des Königs bringen keine guten Nachrichten ins Lager am Danewerk. Die Streitmacht der Gegenseite, die gerade das nur mäßig bewachte Rendsburg eingenommen hat, erscheint ihnen doch um einiges größer als die eigenen Verbände. Erik bleibt nur ein Ausweg, will er nur den Hauch einer Chance haben, bei diesem vom Zaun gebrochenen Streit mit heiler Haut davon zu kommen. Er muss sich schnell einen Verbündeten suchen. Vielleicht, so sinniert er, ließe sich sein Bruder, wenn er sich bisher auch neutral verhalten habe, und trotz der bisherigen Zwistigkeiten, auf seine Seite ziehen. Vielleicht, so seine Hoffnung, findet er in Abel einen Unterstützer. Es wäre ein Versuch. Es wäre vielleicht der Ausweg. Er will, nein, er muss den Kontakt einfach suchen, nicht als König mit großem Gefolge, vielmehr allein, von Bruder zu Bruder. Nur so rechnet er sich überhaupt etwas aus. Nur so könne er überhaupt kleinere Zugeständnisse machen, die er vor seinem Gefolge nicht geben kann, ohne das Gesicht zu verlieren.

Von der Ankündigung des Königs, ihn, den intriganten, den Ränke schmiedenden Bruder auf der Jürgensburg zu besuchen und zwar allein, ist Abel zunächst einmal überrascht. Bis zum Eintreffen bleibt nicht viel Zeit. Es reicht, um ein paar Getreue um sich zu versammeln, als Erik auch schon über die Holzbrücke reitet, die die Schleswiger Innenstadt mit der Insel verbindet. Der Empfang des angekündigten Gastes an diesem, dem heiligen St. Laurentius gewidmeten Mittwoch, dem 10. August, erscheint erstaunlich freundlich, sehr freundlich, einige Uneingeweihte meinen zu sehr, mehr geheuchelt. In den großen Saal geführt, wo Abel einiges hat auftragen lassen, setzen beide Brüder sich an einen Tisch mitten unter anwesende Ritter und deren Waffenträger. »Am Abend Humpenaus, Zinken und Tanz, | Beim Brettspiel König und Knappen, | Der Mond flicht draußen den alten Kranz | Um Lauben und steinerne Wappen.«

Nach einigem Hin und Her, eher Belanglosem, lenkt Erik das Gespräch auf die derzeitigen Unruhen. Zunächst weitläufig die ganze Entwicklung erklärend und andeutend, dass er eigentlich gar keine Lust mehr an diesem ganzen Kriege habe, sich vielmehr auf seinen Königsthron zurückziehen und seine Jahre in Ruhe verbringen wünsche, kommt Erik dann auf den Punkt: Könne er, Abel, Herzog von Schleswig, nicht mit ihm gemeinsame Sache machen, und gleichfalls Truppen gegen die Bedrohung aus dem Holsteinischen aufstellen lassen? Abel verzieht keine Miene. Er schweigt. Nach einer kurzen Pause wischt er sich den Mund ab, ordert ein Spielbrett samt Figuren und gibt fast im gleichen Atemzug an, er hätte noch etwas Dringendes zu erledigen. Noch beim Aufstehen winkt er den Ritter Henrich Rarkvider herbei, von dem er weiß, dass er, wie sein Bruder, ein guter Schachspieler sei. Und so nimmt Rarkvider dem König gegenüber Platz und die Schachpartie ihren Lauf. Er beherrscht das Brettspiel gut, weniger gut ist seine Gabe der Konversation. Das Gespräch stockt schnell. Der König, schon etwas verstimmt, dass sein Bruder ihm die gestellte Frage unbeantwortet und ihn hier mit einem einfachen Ritter am Tisch sitzen ließ, wird immer ungehaltener.

Nach einer für den König endlos erscheinenden Zeit kehrt der Bruder wieder zurück und nimmt den Platz von Rarkvider ein. Das Schachspiel wird beiseitegeschoben. Ist Erik schon verstimmt, schüttet der Bruder weiteres Öl ins Feuer, als er vom zurückliegenden Bruderkrieg zu sprechen anfängt: »Du erinnerst dich wohl, als du vor nicht allzu langer Zeit die Stadt Schleswig ausplündertest, dass meine Tochter unter anderen armen Mägden und Frauen sich auf ihrer Flucht durch die Stadt barfuß verstecken musste.« Dem König, dem dieses Thema nun völlig ungelegen kommt, macht eine wegwerfende Handbewegung: »Gib dich zufrieden, lieber Bruder! Ich habe, Gott seis gedankt! so viel, dass ich ihr wieder zu einem Paar Schuhen verhelfen kann.« Die unter nichtssagendem Schulterzucken herausrutschende arrogant sarkastische Antwort – oder solls vielleicht lustig wirken? – dient nicht gerade dazu, die Situation zu beruhigen. Mehr zu sich gewendet presst Abel hervor: »Es ist nur wegen meiner Tochter«, lauter dann: »Das sollst du mir büßen«. Eigentlich hat Abel kein näheres Interesse an diesem Thema und noch weiterer Worte, seine Entscheidung war schon zuvor gefallen, schon als er davon gehört hatte, dass der König alleine zu ihm auf die Burg kommen werde. Die Anordnungen waren getroffen und jetzt, nach dieser arrogant wirkenden Antwort, gibt der Herzog seinem vor kurzem in den Saal eingetretenen Kammerjunker Tyge Post ein verstecktes Zeichen. Der wiederum winkt zwei Ritter herbei. Gemeinsam gehen sie auf König Erik zu, dem plötzlich alles klar wird. Die Blindheit hatte ihn geschlagen, die Hoffnungslosigkeit im anstehenden Krieg hatte ihm anscheinend die Sinne vernebelt.

Von den Männern umgeben, erklären sie ihn, den König von Dänemark, für gefangen genommen. Als Abel vom Tisch aufsteht, erhält der Kammerjunker noch den Befehl, König Erik auf ein vor der Burg ankerndes Boot zu bringen. Dann wendet er sich ab und geht, den Bruder keines Blickes mehr würdigend.

Als das Boot auf die Schlei hinausgerudert ist und mit gesetztem Segel schließlich seine Fahrt aufnimmt, machen sich erneut Männer an einem zweiten Boot zu schaffen. Es ist Lauge Gudmundsen, der treueste Freund des Herzogs, einer der immer seine Hand in allen Intrigen gegen den König im Spiel hatte, der willfährige Helfer. Langsam legt das Boot ab, nimmt seinen Kurs auf und folgt dem ersten in gemessenem Abstand. Der Freund hatte zuvor freie Hand erhalten. Der Satz des Herzogs, »tue, was dir gefällt«, klingt noch in seinen Ohren nach.

Als König Erik das ihnen folgende Gefährt erkennt, ahnt er, dass das nichts Gutes bedeutet, wenn er sich zuvor vielleicht auch noch etwas Hoffnung gemacht hatte. Die Zeit verstreicht. Der Konvoi nimmt seine Richtung auf die Schleienge, dem Möwensund bei Missunde. Hier geschieht es, dass Gudmundsens Boot Fahrt aufnimmt und sich mehr und mehr an das erste Gefährt heranschiebt. Schließlich befinden sich beide auf gleicher Höhe. Gudmundsen lässt sein Boot an das erste heransteuern, und als sich beide Bordwände berühren, springt er herüber. Zur Begrüßung ruft er dem ihm entgegenblickenden und gefasst wirkenden König zu: »Du sollst wissen, dass du in dieser Stunde sterben musst.« Erik gibt sich keiner Illusion hin: »Ich weiß es wohl, dass ich sterben muss, sobald ich in deine Hände fallen würde,« entfährt es in gepresstem Ton seinem Mund. Und dann: Falls er noch einen Wunsch freihabe, so würde er zur Ablegung der Beichte sich noch einen Priester wünschen. Gudmundsen und die Männer im Boot schauen sich an. Ja, das ließe sich machen. Gibt es doch ganz in der Nähe bei Brodersby eine kleine Kapelle mit einem Mönch, einem Priester. Die Boote steuern daraufhin auf das Ufer zu, legen an und einer der Männer holt den Priester herbei, der die Beichte abnimmt. Dann startet der Konvoi wieder zu seiner Fahrt auf die Schlei hinaus. Noch kaum aus dem Möwensund heraus lässt Gudmundsen den König hinknien, ergreift ein hinter seinen Gürtel gestecktes Beil und hackt Erik mit einem Schlag den Kopf ab. Mit Ketten umwickelt und Steinen beschwert gleitet der Leichnam über die Reling und verschwindet im dunklen Wasser. In einem mit Steinen gefüllten Leinensack folgt der Kopf.

Die nur Stunden später vom Herzog von Schleswig verbreitete Meldung, das Boot mit dem dänischen König an Bord wäre plötzlich, wie auch immer, auf der Schlei gekentert, zieht in den folgenden Wochen durch die dänischen Lande.

*

Die folgende Zeit ist der schleswigsche Herzog recht umtriebig. Er arbeitet auf ein Ziel hin, auf die lang ersehnte Königswürde, die jetzt in greifbare Nähe gerückt zu sein scheint. Selbst als nach zwei Monaten das Domkapitel die Nachricht vom Fund des königlichen Leichnams bekannt gibt, lässt sich Abel nicht beirren. Wie schon in den Wochen zuvor, sucht er immer wieder einzelne Adlige persönlich auf oder schickt Vertraute auf die Reise zu ihnen. Mit gutem Zureden hier, Versprechungen auf zukünftige Posten und Pfründe dort, gelingt es schließlich, ausreichend Gefolgsleute auf seine Seite zu ziehen. Dem im Herbst des Jahres anstehenden Landesthing in Viborg kann er jetzt gelassen entgegensehen. Wie seit Jahrhunderten finden vor den Toren dieser Stadt die Versammlungen des Volkes statt, soweit sie etwas zu sagen haben. Hier treffen Adlige, Edelleute und Bischöfe zusammen, um Politik zu treiben. Hier wird Recht gesprochen, hier wird auch über die Königswürde abgestimmt.

Und so steht dann auch das nicht verstummende Gerede um einen angeblichen Brudermord auf der Liste der anzusprechenden Dinge. Doch ohne mit der Wimper zu zucken, gibt der zur Rede gestellte Herzog von Schleswig vor dem Ausschuss an, dass einzig und allein ein Unglück, ein Zufall zum Tode des Bruders geführt habe. Sein Boot sei auf dem Wasser aus unbestimmtem Grunde einfach gekentert. Er schwöre bei Gott und seinem Leben, das es die volle Wahrheit sei. Vierundzwanzig anwesende Edelleute, die notwendige Zahl zum Freispruch, bekräftigen dabei Abels Schwur. Somit vom Vorwurf des gemeinen Brudermordes freigesprochen, steht dem Antritt des Erbes nichts mehr im Weg. Am 1. November erfolgt schließlich die Krönung des Herzogs von Schleswig zum König von Dänemark. Endlich hat Abel sein über Jahre verfolgtes Ziel erreicht.

Allerdings ist ihm die Freude am Thron nicht allzu lange vergönnt. Kaum zwei Jahre später, als er in einem Kriegszug gegen die freien Friesen zieht, um dieses Land seinem Reich einzuverleiben, fällt Abel in der Schlacht von Oldenswort am 29. Juni 1252. Den Priestern am Schleswiger Dom, die trotz des Beichtgeheimnisses von ihrem Kollegen aus Brodersby über den Brudermord informiert waren, allerdings nichts nach außen haben dringen lassen, übernehmen den Leichnam Abels als ehemaligen Herzog von Schleswig und bestatten ihn in der Gruft des Domes. Doch schon bald tauchen erste Gerüchte auf, dass es im und um den Dom herum spuke. Und die Schuld wird dabei eindeutig dem gewesenen Herzog zugesprochen. Der Ursprung des Gemunkels, ob von gewisser Seite gezielt verbreitet, interessiert, in einer Zeit des Aberglaubens, eigentlich niemanden. Als das Gerede über den immer wieder seinem Grab entsteigenden Abel und seine mögliche Verstrickung in den Mord im Volk immer größer wird, beschließt das Domkapitel, den Leichnam bei Nacht und Nebel aus der Gruft zu entfernen und ihn in einen Sumpf, dem Pölzer Holze bei Gottorf zu versenken, so wie es seit Jahrtausenden Verbrecher über sich ergehen lassen mussten. Doch der Leichnam Abels findet anscheinend auch während der folgenden Zeit keine Ruhe. Der einmal angestachelte Aberglauben der Menschen vermeint immer wieder – und handelt es sich auch nur um einen einsamen Reiter im Nebel oder im beginnenden Dämmerlicht –, einen wild auf einem Pferd Daherstürmenden, einen »Rübezahl« zu erblicken. Das könne nur, so die schnell feststehende Meinung des einfachen Volkes, der meineidige Brudermörder sein.

Wollten sich die von dem feigen Mord wissenden Priester reinwaschen? Auf die gleiche Weise und nahezu zeitgleich tauchen Gerüchte über angebliche Wunderwerke auf, die sich dagegen am Grab des ermordeten Königs Erik zugetragen hätten. Und war es nicht auch schon bei der Auffindung des Leichnams mit merkwürdigen Dingen zugegangen? Konnte es nicht als Wunder ausgegeben werden, dass der Leichnam nach zwei Monaten im Wasser nicht richtig in Verwesung übergegangen war? Hatte es nicht geheißen, dass die Möwen schon Tage vorher immer die Stelle im Wasser umflogen hätten, und die Schreie, klangen die nicht immer wie »Erik! Erik! «? Und wollte sich hinterher nicht Irgendjemand auch an blaue, auf dem Wasser tanzende kleine Flämmchen erinnert haben, die schon Tage zuvor den Ort bezeichnet hätte, an der später die Hand aus dem Wasser ragen sollte? Die paar Zeugen, die Fischer, so sinnieren die Priester, wären in ihrem Aberglauben leicht zu überzeugen. So nimmt dann alles seinen wohlvorbereiteten Gang. Doch der Papst im fernen Rom, mit den entsprechenden Information versehen, spielt da nicht mit. Der von den Schleswiger Dompriestern verlangten Heiligsprechung bleibt der Erfolg versagt. Den Menschen im dänischen Reich ist es egal. Der ermordete König wird ihnen für die folgende Zeit auch so immer ein Märtyrer und Heiliger sein.

Und für die Menschen an der Schlei, was bleibt ihnen bei der merkwürdigen Geschichte? Immer wenn sich Möwenschwärme zeigen, denken sie in den folgenden Jahrzehnten an den gemeinen Mord, der hier bei ihnen geschehen ist, denken dabei an ihren ehemaligen Herzog. Bald schon hat der Volksmund einen Begriff für die Vögel parat: Es handelt sich einfach um ›Abels Taube‹.

Ritt nach dem Blocksberg.

Ein Hexenprozess auf Gut Depenau, Herbst 1678

Der Glaube an Magie und Zauberei war im Volk seit Anbeginn verbreitet, doch nur selten mit einem Pakt mit dem Teufel verbunden. Erst als Papst Innozenz VIII., Vater von mehreren unehelichen Kindern, eine Verfügung unterschrieb, die Zauberei mit bösen Geistern und dem Teufel verband und später Kaiser Karl V. mit der »Halsgerichtsordnung« den Begriff des schon zuvor in Einzelfällen geahndeten ›Schadenszaubers‹ auch direkt als Strafbestandteil einführte, wurde eine Buße für den tatsächlich herbeigeführten Schaden gefordert. Eine Grenze war jetzt von Staatswegen überschritten. Die christliche Kirche, selbst die heilige Inquisition hielt sich allerdings zunächst noch etwas bedeckt. Zauberei und Magie und der Glaube des Volkes daran, seien Einbildung, wären allenfalls eine heidnische Irrlehre, hieß es. Das Augenmerk sei vielmehr auf Häretiker, auf Abweichler von der kirchlichen Lehre zu richten. Doch das sollte sich zum ausgehenden 15. Jahrhundert ändern. Nun gab es zur Legitimation von Hexenverfolgung das benötigte schriftliche Werk, den schon bald berüchtigten ›Hexenhammer‹ des Dominikaners Heinrich Kramer, der in seinem Werk die systematische Vernichtung von Hexen forderte und dabei klare Regeln aufstellte, wie sie, seiner ganz privaten Meinung nach, zu erkennen, zu verfolgen und zu verurteilen seien. 29 Auflagen des Werkes erschienen über die Jahrzehnte bis ins 17. Jahrhundert und bildeten die Grundlage des gespenstischen Schauspiels, über das noch zu berichten ist.

Und dann war da noch die Welt, die sich änderte. Da war auf der einen Seite der Protestantismus, der die Allmacht der katholischen Kirche und damit auch deren Welterklärung zertrümmerte, und da gab es mit einem Mal die äußeren Umstände, welche die Menschen bis ins Mark verunsicherten. Unerklärbaren Pestepidemien folgten Hungersnöte durch Missernten im Gefolge der Klimaänderung der ›Kleinen Eiszeit‹ im Zeitraum 1570 bis 1630. Deren monatelange Kälteeinbrüche mit kaum enden wollenden Hagel- und Regenperioden, von niemandem begreifbar, sich die Bevölkerung einfach nicht erklären konnte. Und da war die Verrohung der Sitten während des sich scheinbar endlos dahinziehenden 30-jährigen Krieges. Es mussten einfach neue Deutungsmuster her. Und hier war es zunehmend der »Druck von unten«, die Erklärungsversuche aus der einfachen Bevölkerungsschicht heraus, wie man in die missliche Lage gelangt und wer dafür als Ursache, als Verantwortlicher zu gelten hatte, dem über die Jahre aber stetig nachgegeben wurde. Die Öffnung dieses Ventils gegenüber »Volkes Meinung« war ein wesentlicher Schritt in die Richtung der merklich zunehmenden Hexenprozesse mit Ende des 16. Jahrhunderts. Da waren es dann, damals wie heute, Menschen, die sich nicht so wie die »normalen« Bürger gaben, die mit ihrem Gehabe der breiten Masse als suspekt galten, denen man schon immer alles zugetraut hatte, die für dieses und jenes verantwortlich zu zeichnen schienen. So wurde dann auch damals die Mehrzahl der der Hexerei Beschuldigten bei der Obrigkeit denunziert. Und was man von den Menschen behauptete, ob es wahr oder falsch sein mochte, was machte es schon aus, solange man seinen geistigen Horizont durch die Obrigkeit vertreten fand und vielleicht dabei auch noch einen eigenen Vorteil daraus bezog.

Auf dem Höhepunkt der Verfolgungen wurde vor noch keiner so aberwitzigen Beschuldigung zurückgeschreckt; Neid, Hass und Rachsucht waren fortan Tor und Tür geöffnet. Leicht war es jemanden zu verleumden: Kröpfe, Geschwüre und Krankheiten aller Art selbst Gewitter oder Mäuseplagen und den Befall des eigenen Körpers mit Läusen, alles dies wurde einem missliebigen Menschen zur Last gelegt und oft erfolgte die Anzeige, dass es als Hexerei herbeigeführt worden sei.

Die verendete Kuh hatte bestimmt die um ein Stück Brot bettelnde Nachbarsfrau auf dem Gewissen. Dass sich die abgehärmte Frau einmal müde an den Trog gelehnt, mag ja durchaus auch so zu deuten gewesen sein, dass sie den Futterbottich dabei mit ihrer Hand verzauberte. Auf jeden Fall hat die Kuh seitdem nicht mehr gefressen. Die Erklärung war einfach und logisch. Die Schuldige stand fest. Und wenn einem das Getreide verdarb, auch da gab es für den geistig Beschränkten eher eine einleuchtende Erklärung von Zauberei oder Hexerei, als dass es auf natürliche Weise zu erklären wäre.

Und da Zauberei eigentlich kein zu ahndendes Verbrechen war, wurde aus dem Bund mit dem Teufel und der Abwendung von der christlichen Lehre ein gern konstruierter und damit ein auch zu ahndender Fall. Die Obrigkeit gab dem Volk zunächst, was es wünschte, hatte seine Ruhe und konnte darüber hinaus auch noch hin und wieder selbst ein wenig seine eigenen Interessen verfolgen. Doch zuletzt waren die zuständigen Behörden fast vollständig in diesen Denkmustern befangen, verfangen.

Dass es überwiegend Frauen traf, denen das Eingehen eines Bündnisses mit dem Teufel nachgesagt wurde, diesen Umstand entnahm man einfach der Bibel. Wurde nicht Eva im Paradies von der Schlange verführt, vom Baum der Erkenntnis zu essen? So war für manch einen von vornherein klar, dass die Töchter Evas generell den Verlockungen des Teufels zugänglicher seien als die Männer. Und da der Teufel allgemein in den Vorstellungen als Mann gehandelt wurde, der – wohl dem eigenen Selbstverständnis nachempfunden –, natürlich dem weiblichen Geschlecht nachstellte und mit ihnen sexuellen Verkehr hatte, so war es ganz natürlich, dass schon bald junge Hexen wie Pilze aus dem Boden schossen. Und das gerade und nicht zuletzt in Gegenden, die weitab von den Städten lagen, wie das von Dichtern später gern idyllisch beschriebene holsteinische Hügelland.

*

Als Abkömmling eines der ältesten aller holsteinischen Rittergeschlechter hatte es der 35-jährige Joachim von Brockdorff nicht einfach. Schon die Vorfahren taten sich bei der Eroberung des Landes zwischen den Meeren und den Kämpfen gegen die Slawen hervor. Doch der aufwendige, standesgemäße Lebensstil, diese Herausgehobenheit aus den Ständen der Bauern und Bürger, dieses Wesensmerkmal des Adels bedurfte des Geldes. Und genau an diesem fehlte es der Familie zunehmend. Unter der Generation des Vaters Detlev von Brockdorff, Erbherr zu Rixdorf, Depenau und Tramm, schmolz das einstige Vermögen stetig dahin. Die alte Weisheit des Volkes »riik as en Brockdörp« galt bald schon nicht mehr. So dauerte es nach dem Tod des Vaters 1670 nur ein paar Jahre, dann meldeten alle drei der Erbengemeinschaft gehörende Güter Konkurs an. Immerhin vermochte der Sohn das von ihm verwaltete, im Preetzer Güterdistrikt gelegene Gut Depenau, das seine Großmutter einst in ihre Ehe eingebracht hatte, für die eigene Familie zu sichern. Hier auf seiner eigenen Scholle hatte er schon zuvor als Verwalter ganz das Bedürfnis verspürt, dem Leben eines Landadligen nachzukommen; hier fühlte er sich selbst dem im fernen Kopenhagen residierenden König gleich. Das Land, die Gebäude, ja auch die Menschen waren sein Eigentum und – gemäß dem in den Güterdistrikten altüberkommenen Privileg, vor Jahrhunderten dem dänischen König von den holsteinischen Rittern abgetrotzt –, hier konnte er als oberster Gerichtsherr fast uneingeschränkt schalten und walten, fast wie es ihm beliebte. Die unmündigen, mangels einer Schule des Lesens und Schreibens unkundigen Leibeigenen würden ihm schon nicht in die Quere kommen.

*