Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Hesperiden

Victor Blüthgens Märchen für jung und alt

Nachdenkliche Märchen

Neufassung und Digitalisierung von Peter M. Frey

Copyright © 2017 Peter M. Frey

Herstellung und Verlag

BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 9783743132665

Nachdenkliche Märchen.

Der junge Schmetterling.

»Knack!«, sagte die Schmetterlingspuppe, die an einer Staude von Wiesenschaumkraut hing, und da sprang sie auf. Die Puppe war schon sehr hübsch, zart grün und mit einem Schimmer von Gold überzogen, aber der Schmetterling, der nun herauskroch, war noch hübscher. Er hatte zwar bloß ganz, ganz kleine Dingerchen von Flügeln, die wie Läppchen hingen, aber sie sahen doch schon braunrot aus mit schwarzen Tupfen und einem zackigen schwarz- und blaustreifigen Rand, und als er so recht von Grund aus Atem holte, da konnte er merken, dass die Flügel zusammengefaltet waren, denn jetzt dehnten sie sich und wurden zuletzt ein Paar richtige Schmetterlingsflügel. Eine Weile saß der Schmetterling noch, denn er fühlte sich sehr matt. Endlich aber konnte er fliegen.

Das erste Mal flog er aus Angst. Er war nämlich in einem Garten ausgekrochen, in dem zwei Kinder spielten, ein Junge und ein Mädchen. Diese kamen an der Wiesenschaumkrautstaude vorbei, und da sah ihn plötzlich das kleine Mädchen und blieb stehen. »Pst!«, machte es und zog den Jungen am Kittel, indem es auf den Schmetterling zeigte. »Sieh nur, das ist der allerschönste Schmetterling, den es gibt.«

»Ah bah!«, sagte der Junge, »es ist ja ein Fuchs, es gibt sehr viele kleine Füchse.«

»Dann ist er gewiss der allerallerschönste kleine Fuchs, der in der Welt ist, das kannst du mir glauben«, sprach das kleine Mädchen, und nun spitzte es die Finger und kam auf den Zehen ganz leise über das Gras geschlichen. Aber das kleine Mädchen hatte einen Schatten, und der Schatten kam vor ihm zum Schmetterling.

»Es wird mit einem mal so kalt«, dachte dieser, »so kalt und so dunkel.«

Und nun kam die Angst über ihn, und ehe er recht wusste, was er tat, schwebte er über die Wiese hin.

Große und kleine Blumen sahen zum ihm herauf und sprachen: »Bleibe!« Aber der Schmetterling wollte fliegen, das gefiel ihm doch noch besser als die Blumen, und er flog bis er müde war. Um den Garten lief ein Plankenzaun, und an einer Stelle dicht bei diesem Zaun wuchsen große Nesselbüsche. Dort setzte er sich zuletzt.

»Ich wäre gern geblieben, als das artige Ding zu mir kam, das mich so wunderschön fand«, dachte der Schmetterling. »Die Blumen fanden mich gewiss auch schön, sonst hätten sie mich nicht bleiben heißen; aber sie wollten mir das nicht gleich so ins Gesicht sagen.«

Es schwirrte hinter ihm, und als er sich umsah, gewahrte er fünf Schmetterlinge auf einmal, welche Haschen spielten. »Heda!«, rief es unter ihnen, »dort sitzt einer von der Familie. Das muss der Jüngste sein.« Und alle fünf flogen herunter und setzten sich zu dem neu Ausgeschlüpften.

»Wo kommst du her?«, fragte einer.

»Von dort drüben«, antwortete der junge Schmetterling. »Du musst uns den Ort zeigen; dort stehen ja gar keine Nesseln. Wir wollen zusammen hinfliegen.«

Und sie flogen über die Wiese zu dem Wiesenschaumkraut, an dem noch die Puppenhülse hing.

»Sehr merkwürdig«, meinten die fünf Schmetterlinge. »Und er ist doch ein richtiger Fuchs. Wie kann man nur so weit kriechen, um sich einzupuppen! Es ist etwas ganz Besonderes.«

»Ja, ich bin etwas ganz Besonderes«, sagte der junge Schmetterling. »Ein kleines Mädchen hat gesagt, ich wäre der allerallerschönste kleine Fuchs, der auf der Welt wäre; und ich glaube das auch, denn alle Blumen auf der Wiese luden mich ein, bei ihnen zu bleiben.«

»Oha!«, lachten die fünf Schmetterlinge, »dieser Fratz hält sich für den schönsten Fuchs auf der Welt! Das müssen wir weiter erzählen. Alles muss kommen und dieses Wunder von einem Fuchs sehen!« Und sie flogen fort, bis auf einen, der schon alt sein musste, wenigstens hatten seine Flügel an manchen Stellen keine Farbe mehr und waren auch ein wenig zerrissen.

»Du bist wirklich schön«, sprach er, »schön darum, weil du jung bist. Aber du darfst nicht zeigen, dass du es weißt, und du musst dich ein wenig vor denen hüten, die es dir sagen.«

Fort war er, und der kleine Schmetterling dachte ein Weilchen nach. »Jetzt weiß ich es«, sagte er endlich: »Er war bloß neidisch, weil er schon alt und hässlich war. Es ist so süß, wenn man bewundert wird, noch viel angenehmer als wenn man fliegt, und ich liebe die Leute, die mich bewundern.«

Und der Schmetterling schwang sich auf und schwebte die Wiese auf und nieder, um sich von den anderen Faltern besehen zu lassen. Aber die Weißlinge, Augenfalter und was noch da war, kümmerten sich nicht um ihn; eigentlich war es schade, denn es waren ein paar hübsche himmelblaue Augenfalter darunter: Mit denen hätte er gern Freundschaft geschlossen.

Er dachte an die Blumen, die ihn eingeladen hatten, und ließ sich auf eine große Skabiose hinunter. Er sagte dieser etwas Artiges über ihr Aussehen, und dann hielt er inne, in der Erwartung, dass sie nun von ihm zu sprechen anfangen würde. Aber sie sagte bloß, es täte ihr leid, dass er zu spät käme, sie hätte für den Augenblick allen Honig vergeben; und als der Schmetterling fragte, ob sie ihn denn vorhin wegen des Honigs gerufen hätte, meinte die Skabiose verwundert: »Ja, warum denn sonst?«

»Dann kann ich ja wieder fliegen«, sprach der Schmetterling empfindlich. Aber er blieb doch noch sitzen, denn es kam ein anderer Schmetterling auf ihn zugeflattert. Das war wieder ein Fuchs, ein richtiger Nesselfuchs. Der schwebte ein Weilchen in seiner Nähe herum, und dann kam er auch auf die Skabiose. Er war gewiss auch noch jung, denn er war schüchtern. Aber endlich fing er an zu reden.

»Wie reizend du bist«, sagte er. »Darf ich mit dir fliegen? Ich möchte immer da sein, wo du bist.«

»Du bist sehr artig«, antwortete der erste und legte die Flügel zierlich auseinander. »Du darfst mich betrachten so viel du willst und auch ein wenig unterhalten. Es ist doch schade, dass man sich nicht selbst betrachten kann. Ich möchte gern sehen, wie schön ich eigentlich bin.«

»Es geht«, sprach der andere, »sehr gut geht es, komm nur mit mir.«

Und sie flogen zu einer glatten Kugel; angesichts eines Hauses mit einer Veranda stand sie auf einem zarten Gestell von Eisen im Kies. Der ganze Garten spiegelte sich in ihr und je näher man kam, desto größer erblickte man sich. Die Schmetterlinge flatterten um die spiegelnde Kugel, und das eitle kleine Geschöpf wiegte sich und drehte sich; es gefiel sich gar zu sehr. »Wie froh kann ich sein, dass ich kein Kohlweißling geworden bin!«, sagte es, indem es sich dicht unter die Kugel setzte und nach oben blickte, von wo ihm das braunrote Kleidchen mit den schwarz und blauen gezackten Kanten entgegen strahlte. Es sah nicht einmal das kleine Mädchen, das die Verandatreppe herniederstieg. Aber der andere Schmetterling sah es. »Nimm dich in Acht!«, rief er ängstlich, »es kommt jemand, der dich anfassen wird!«

»Ach«, antwortete der Erste, »das ist ja das kleine Mädchen wieder, das mich so sehr liebt.«

Und das kleine Mädchen kam zu Kugel und sagte: »Jetzt werde ich ein Affe«, und damit hielt es die Nase so dicht wie möglich zur Kugel hinauf. »Hu, wie grässlich«, lachte es. Mit einem Mal erblickte sie den Schmetterling.

»Gusti, Gusti, der Fuchs, ich glaube, es ist wieder der Schöne von vorhin!«

Und der Schmetterling flog auf und schwebte neckend um ihren Lockenkopf und um das ausgestreckte Händchen, und plötzlich setzte er sich auf ihren Finger. Das kleine Mädchen machte große, entzückte Augen; ganz leise ging es zur Treppe und die Treppe hinauf in die Veranda.

»Seht nur, seht nur, wie reizend!«

In der Veranda saß eine ganze Gesellschaft, und alle sagten: »Das ist wirklich reizend, das haben wir noch nie gesehen.«

Draußen flatterte der andere Schmetterling angstvoll um das Laub des wilden Weines, aber der, welcher drinnen war, hatte gar keine Angst. »Wie sie hingerissen sind«, dachte er, und das Herzchen klopfte ihm vor Stolz. »Es ist unbeschreiblich süß, so gefeiert zu werden. Sie sehen auf nichts weiter als auf mich.« Er schlug das Flügelkleidchen weit auseinander und kroch auf dem Finger auf und nieder; er flog dem Vater auf die Hand und der Mutter auf den Strickstrumpf, und er nippte von dem Honig, der auf den Kaffeetisch getropft war. Dann kehrte er wieder zu dem kleinen Mädchen zurück.

»Bei mir ist er am liebsten«, sagte das kleine Mädchen und nahm die andere Hand und streichelte ganz leise mit den Fingerchen über den Flügel. »Ach, das ist lustig: Wie er abfärbt! Meine Fingerspitze sieht schon ganz wie der Flügel aus, und der Flügel wird so durchsichtig, als ob er aus Glas wäre.«

Als der Schmetterling aus der Veranda flog, saß der Gespiele ganz traurig im Laub. »Du Armer!«, sprach er. »Du scheinst nicht zu wissen, dass die Schönheit so vergänglich ist, und dass man sich nicht darf angreifen lassen. Es ist gefährlich, sich bewundern zu lassen.«

»Aber süß!«, sagte der junge Schmetterling. »Ich kenne nichts Süßeres; es ist noch süßer als Honig.« Und er sah mit glänzenden Augen über den Garten. »Komm mit mir«, meinte er dann.

»Wohin willst du fliegen?«, fragte er andere.

»Hinaus«, sprach jener. »Über den Zaun, in die Welt!«

»Ach, dort wohnen so viele Leute; willst du zu allen gehen, die dich schön finden?«

»Ja«, sagte der junge Schmetterling. »Gefeiert und bewundert will ich werden; ich kann nicht anders.«

»Ich will dich immer feiern und bewundern«, sprach der zweite Schmetterling. »Ist dir das nicht genug? Du bist schon nicht mehr so schön wie du warst und du wirst rasch ganz hässlich werden in der Welt.«

»Du meinst es gut, aber ein Bewunderer ist zu wenig; es wird langweilig; in der Laube da drinnen wurde es mir zuletzt langweilig. Adieu, mein Freund!«

Und der junge Schmetterling flog über den Garten und über den Plankenzaun hinaus in die Welt.

Ein paar Tage nachher saß ein altes Bettelweib neben dem Plankenzaun draußen im Graben und kaute an einem Stück Brot. Ein Schmetterling kam vom Acker herübergeflattert, sog an ein paar Blumen, und wie er das Bettelweib erblickte, flog er ihm auf die Hand. Er sah jämmerlich aus; von den Flügelrändern war hie und da etwas abgezupft, und die Flügel zeigten fast gar keine Farbe mehr, nur da, wo sie an den Leib gewachsen waren, glänzte ein herrliches Fleckchen braunrot.

»Das ist ein armes Vieh«, sprach das Bettelweib, »der hat auch schon was durchgemacht im Leben. Ja ja, Schönheit vergeht und das Schminken hilft auch nicht lange.« Und sie sah mit ihren alten, roten Augen vor sich hin, als ob allerlei vergessene Bilder und Erinnerungen vor ihnen aufstiegen. Manchmal lachte sie, und dann machte sie wieder ein blödes, trauriges Gesicht. Sie vergaß ganz das Brot und den Schmetterling. Endlich dachte sie doch wieder an beides und warf den Schmetterling von der Hand in das Gras. »Fort, du Gräuel«, schrie sie dahinter, und nun biss sie wieder in das Brot.

Es war der arme junge Schmetterling, den sie in das Gras geschleudert hatte, derselbe, der einst so schön gewesen war.

Er flog aus dem Gras empor und über den Plankenzaun in den Garten. Die Blumen blühten noch auf der Wiese, und sie riefen ihn wie einst, aber das war ihm jetzt gleichgültig. Die flatternden Schmetterlinge aber sahen jetzt auch auf ihn, nicht bloß ein paar von seiner Art, sondern selbst die Weißlinge und Augenfalter. »Puh, wie der aussieht!«, hörte er sagen. Die Nesselfüchse flogen ihm aus dem Weg, und den einen erkannte er: es war der Nämliche, der ihn an die Kugel geführt hatte.

»Kennst du mich nicht mehr?«, fragte er ihn, als er vorüberstrich. Aber er bekam keine Antwort.

»Ob ich nur wirklich so hässlich bin?«, dachte der junge Schmetterling. Die spiegelnde Kugel war ihm eingefallen und er suchte sie auf. Eine Weile saß er still unter der Kugel, und endlich sagte er: »Es ist wahr, ich habe mich sehr verändert.« Er zitterte am ganzen Leib, so erschrocken war er. Aber plötzlich rief er: »Ich will schön sein, und ich will schön sein! Wenn ich nur wüsste, wie das zu machen wäre.«

Er hörte in der Veranda die Stimme des Jungen und des Mädchens, und er flog ohne Besinnen hinein. Da saß er auf dem Tisch vor dem kleinen Mädchen, und das schlug die Hände zusammen und rief: »Gusti, ein Schmetterling, der ganz ohne Farbe ist und gerade so zahm, wie unser Fuchs war!«

»Er ist auch einmal ein Fuchs gewesen«, sprach Gusti. »Wir wollen ihn viel schöner machen als er gewesen ist nämlich mit Farben von Papas Palette. Er soll eine ganz neue Schmetterlingsart werden, die es noch gar nicht gibt. Sieh, ob du ihn fangen kannst.«

Wie gern er sich fangen ließ! Er konnte die Zeit gar nicht erwarten, bis Gusti geholt hatte, was er brauchte. Der Junge brachte auch eine Schere mit; zuerst klappte er dem Schmetterling die Flügel zusammen und schnitt die Ränder schön zackig aus, und dann malte er bunte Pünktchen auf.

»Nun flieg!«, sagte der Junge.

Und der junge Schmetterling flog; es ging auch, aber schwer und langsam. Wie entzückend er jetzt in der Kugel aussah! Er begab sich gleich auf die Wiese, und alles dort sagte: »Ah!«, und die Blumen machten die Augen auf, so weit sie konnten. Endlich setzte er sich, und die anderen Schmetterlinge setzten sich um ihn herum und bewunderten ihn. Bloß ein alter Fuchs sagte gar nichts: Aber er flog zu ihm auf die nämliche Blume und besah ihn genau.

»Ich habe es gleich gedacht«, meinte er, »es ist nicht Natur, alles bloß geschminkt. Ein anständiger Schmetterling hält nichts von geschminkten Personen.« Und die anderen Schmetterlinge sprachen: »Ist es möglich: Diese Person ist geschminkt! Es ist unverschämt von ihr, uns so zu betrügen!« Und damit flogen sie auseinander.

»Schön bin ich doch«, rief ihnen der junge Schmetterling nach, »schöner als ihr alle. Ich bin eine ganz neue Art!« Er naschte noch von ein paar Blumen und schwebte dann wieder über die Planken.

Und nun wurde er erst bewundert! Wo er sich zeigte, liefen ihm alle Kinder nach. Überall hörte er sagen: »Solch ein Schmetterling ist in der ganzen Welt noch nicht gesehen worden!« Und wenn er sich jemandem auf die Hand setzte, drängte sich alles, ihn zu betrachten. Ein paarmal kamen freilich Leute dazu, die sprachen: »Es ist gar kein natürlicher Schmetterling, es hat ihn jemand bunt gemalt.« Aber die Kinder meinten: »Schön ist er doch!« Und die klugen Leute sagten hinterher dasselbe.

»Geschminkt sein, das ist das Richtige«, dachte der junge Schmetterling frohlockend. »Die Natur ist vergänglich, aber die Schminke hält. Ich bin froh, dass ich keine Natur mehr auf den Flügeln habe.« Und nun war er so stolz wie in seinem Leben noch nicht.

Einige Zeit verging, und eines Tages saß ein kleines zerrupftes Ding unter der Kugel im Garten und spiegelte sich, das war wieder der junge Schmetterling. Er hatte nur noch die halben Flügel, und die Schminke hatte doch nicht gehalten. Nur Spuren derselben waren noch zu erkennen. Es war traurig, wie er aussah. Aber er schien gar nicht betrübt, sondern sagte: »Das tut nichts. Ich lasse mich noch einmal schminken!«

Er konnte sich kaum in der Luft halten, als er in die Veranda flog, so spärlich waren die Flügel. Und er musste warten, ehe die Kinder kamen. Das kleine Mädchen hielt ihn erst für eine Heuschrecke und fürchtete sich, als er auf sie zukam. Dann erkannte sie ihn doch. »Er ist zu jämmerlich, Gusti«, sagte sie. »Er dauert mich, und du musst ihn noch einmal malen.« Gusti besah ihn, und dann drehte er sich herum. »Wirf ihn weg oder mache ihn tot«, sprach er. »Es ist nicht der Mühe wert, ihn noch einmal aufzuputzen. Wenn er tot wäre, so wäre es das Beste für ihn.«

Der junge Schmetterling wurde nicht wieder geschminkt, und er flog endlich zurück in den Garten. Niemand wollte mehr etwas von ihm wissen. Wo er hinkam, wichen die anderen Schmetterlinge ihm aus oder jagten ihn fort.

Da saß er auf einer einsamen Distelblüte. Er hatte sich tief zusammengeduckt und sah nicht rechts noch links. »Ich werde nie mehr bewundert werden«, sprach er trüb, »nie - nie- nie! Wenn ich tot wäre, das wäre das Beste für mich.« So saß er eine Weile, und dann schnurrte er in das Gebüsch und kroch tief in das Gras hinunter.

Niemand hat ihn wieder gesehen.

Der Heidegeist.

Es war ein junger Mensch, der hieß Lajosch. Er saß dort, wo die Felder eines ungarischen Heidedorfes aufhörten und die Heide anfing, auf einem Stein und hatte nichts an als ein Paar weite, unten ausgefranste Leinwandhofen und ein weites Leinwandhemd mit einem Gürtel, dazu einen alten schmutzigen Filzhut auf dem pechschwarzen Zottelhaar. So gingen die Leute in dem Heidedorf alle. Er tat nichts, als dass er mit seinen schwarzen träumerischen Augen auf die Heidi hinaussah, auf welcher der Nachmittag lag; und wie weit konnte er sehen! Bis dahin, wo der Himmel und das Graugrün der glatten Ebene sich berührten. Es waren gewiss viele Meilen bis dahin. Der Himmel war wie ein blaues Meer, und die Heide wie ein grünes, am Himmel war nichts zu sehen, und auf der Heide auch nichts. Und eben weil nichts zu sehen war, träumte Lajosch so gedankenlos vor sich hin. Seine Seele war das dritte Meer, auf dem nichts zu sehen war.

Endlich war es ihm doch einen Augenblick, als sähe er etwas, nämlich kleine hellere und dunklere Punkte, die sich bewegten - weit, weit fort in dem Grünen; und nun dachte Lajosch auch etwas: Er dachte, dass es die Pferde eines Tschikosch seien, vielleicht des Tschikosch Sador Pal, den er kannte. Ein Tschikosch ist nämlich ein Pferdehirt in der Heide.

Mit einem mal, er wusste nicht, wie es kam, stand Lajosch auf und ging auf die Heide.

Die Zwiesel fuhren vor seinen Schritten in ihre Löcher; ein paar Raubvögel flogen auf und kreisten über ihm. Er schritt durch das kurze Gras, durch Wolfsmilcharten und Heideblumen, welche die Nachmittagssonne sengte, und dachte, er müsste den Pferden allmählich näher kommen; aber dem war nicht so, und das ärgerte ihn. Er ging desto schneller. Als der Tag sich neigte und die Sonne wie ein Ball vor glühendem Eisen in rötlichen Dunst versank, blickte er sich um: Das Heidedorf war nicht zu sehen.

Lajosch fürchtete sich weder vor der Einsamkeit noch vor dem Schlafen unter freiem Himmel. Er fand zuletzt noch einen kleinen Sumpf mit ein paar alten Pappeln darum, und dort legte er sich auf den Boden.

Aber zu schlafen vermochte er nicht. Er horchte auf die Stimmen der Heide, ein Rascheln, einen Schrei, fernes Gebell und das Glucken aufsteigender Sumpfblasen. Endlich fing er an, die Sterne zu zählen.

Da ging ein Windessausen über die Heide; die Pappelzweige klapperten zusammen und die Blätter zischelten, und Lajosch meinte von weit her Musik zu hören und Pferdegetrappel. Als er sich ein wenig aufrichtete, gewahrte er einen lichten Nebel, in dem sich Rosse tummelten und Gestalten bewegten. Das Sausen schwoll zum Sturm an, Wirbel kreiselten um ihn und schüttelten Staub und dürres Graswerk über ihn, und wie der Sturm, so rasten die Rosse näher mit den Reitern darauf, lange Peitschen flogen und knallten. Hunde bellten und sprangen an den Pferden in die Höhe, und durch alles ertönten ein Zimbal und eine Geige.

»Der Heidegeist!«, sagte Lajosch und duckte sich ins Gras.

Er sah nichts mehr, aber er hörte, wie es rund um den Sumpf sprach: »Guten Abend, Herr!«, und es war, als ob das die alten Pappeln sein müssten, die es sprachen. Da rief eine Stimme:

»Was macht mein Haus im Schilf und Rohr?

Was macht meine Tochter im finsteren Moor?«

Und um den Sumpf herum sagte es:

»Das Häusel ist bland, Euer Kind das steht

Und flicht die Zöpfe beide,

Hat gesponnen von früh bis spät

Pappelwolle zum Kleide.«

»Es ist gut«, sprach die Stimme. »Aufgespielt, ihr Faulen!« Und das Zimbal und die Geige klangen, und was sie spielten, war ein Tschardasch, den Lajosch kannte. Ein Tschardasch ist eine Tanzweise, und ein Zimbal ist ein kleiner Klavierboden mit Saiten, die man mit zwei Klöppeln schlägt.

»Lajosch lag wie ein Toter. Mit einemmal vernahm er ein Schnaufen dicht neben sich, das Schnaufen von Pferdenüstern, und der warme Hauch ergoss sich über seinen Nacken. »Joi!«, rief es rau über ihm, »da liegt ein Bursche. Auf ein Pferd mit ihm!« Und Lajosch hörte Geschnalz und Pferdetritte, die näher kamen, und dann fühlte er, wie es ihn am Gürtel packte und durch die Luft schwang, bis dass er saß. Er öffnete furchtsam die Augen; da fand er sich auf einem Pferderücken und blickte in eine zottige Mähne.

»Wie heißt du?«

»Lajosch.«

»Willst du mit reiten?«

»Ja.«

Er sah einen alten Mann zu Pferd neben sich, mit weiten weißen Beinkleidern, bauschigen Hemdärmeln und offenen Schnürenrock dazu einer Astrachenmütze auf dem Kopf. Sein grauer Bart hing bis auf die rote Pferdedecke und sein Haar bis tief in die Rücken nieder, und durch die gewaltigen Brauen funkelten seine Augen wie Glühwürmer. Das war der Heidegeist. Zwei Zigeuner ritten, der eine hatte das Zimbal vor sich und hämmerte, und der andere geigte. Weiterhin jagten sich wilde Pferde; braune Burschen und langzöpfige Dirnen saßen darauf, nacktfüßig und jauchzend schwangen sie Peitschen, die Pferde im Kreis wirbelnd, dass sie kaum zu erkennen waren, oder wie Pfeile mit ihnen da- und dorthin schießend. Der Sumpf war voll flackernder Lichter, und die Pappeln glichen nicht mehr Bäumen, sondern ehrwürdigen Greisen mit langem graugrünem Haar, die gesenkten Hauptes in das Wasser blickten. Plötzlich wallte das Wasser auf und zerteilte sich; ein schönes schwarzäugiges Mädchen stieg heraus in weißem seidenglänzendem Rock und rotem Mieder mit Goldschnüren und flog auf den Alten neben Lajosch zu, der sie auf sein Pferd hob und küsste, und da sah Lajosch, dass sie zwei schwarze Zöpfe hatte so lang wie sie selber, die ganz mit rotem Band durchflochten waren.

»Hujoh!«, rief der Heidegeist, und jagte bei dem Sumpf vorüber, auf dem die Lichter verloschen; hinter ihm her flogen die Geisterpferde, die Luft sauste und zischte, und wenn der Staub aufflog, war er ein schimmernder Nebel, bis er wieder gesunken war. Sie trafen auf eine Umzäunung, in der eine Herde von Pferden erschreckt umher tobte. Der Heidegeist zeigte auf einen Schimmel, der wie Schnee leuchtete, eine Peitschenschnur traf ihn und er sprang mit einem Satz über den Zaun und der Heidegeist schleuderte das schöne Mädchen durch die Luft, dass sie auf den Rücken des Schimmels flog. Die weiße Mähne flatterte ihr bis in das Gesicht, und sie ergriff ein Haarbüschel und wickelte ihn um die Hand. So saß sie.

Lajosch hatte alle Furcht verloren. Sein Herz in der Brust jauchzte bei dem wilden Ritt, denn er kannte kein größeres Vergnügen als zu reiten; das war es, warum er mit Sador Pal, dem Tschikosch, Freundschaft gehalten hatte, und er wäre selber am liebsten ein Tschikosch geworden. Aber was war ein Ritt auf dem kleinen schwarzen Hengst Sador Pals gegen diese Jagd durch die Sternennacht über der Heide! Die Geister kamen zu ihm heran im Vorüberstreifen und nickten ihm zu, die Männer und die Dirnen, und einmal auch das schöne Mädchen des Heidegeistes; es sah ihm eine Weile ins Gesicht und sprengte dann über Seite. Das Antlitz des einen Mannes kam ihm bekannt vor: Er sah aus wie der Karman Schandor, den er als kleiner Junge gekannt hatte und den mit einem mal niemand mehr gesehen, seit ihn die Panduren gesucht hatten, weil er Pferde gestohlen haben sollte.

Und zum Reiten kam noch die Musik! Man hörte ganz deutlich die schwirrenden Läufe des Zimbal und das wilde Kratzen der Geige, denn die Zigeuner spielten alles so rasch wie man den Frisch, die zweite Hälfte des Tschardasch spielt.

In der Ferne loderte ein Feuer auf; es brannte vor einer verlassenen Heideschenke, dort hielt alles an und sprang von den Pferden. An der Mauer standen Krüge und die Geister tranken; auch Lajosch, und er schmeckte, dass er guten Wein trank, und als er ein paar Tropfen davon auf die Erde schüttete, waren es glühende Funken, die erloschen. Dann tanzte alles, einen Tschardasch nach dem anderen. Lajosch konnte sie alle singen: »Im Waldesdunkel, im dichten Wald«, »Ruhig fließt die Marosch«, »In der Stille hab ich wollen lieben«, und wie sie sonst anfingen. Das Feuer flackerte so lustig, die Tänzer stampften und regten die Hände so wild, die Haare flatterten, die Dirnen flogen im Kreis durch die Luft um die kreischenden Burschen. Und Lajosch tanzte mit; er konnte nicht anders, denn des Heidegeistes Tochter kam und fasste seinen Arm und wollte mit ihm tanzen.

Es war merkwürdig, dass sie die Einzige war, die blühend rote Wangen hatte. Alle anderen waren so blass wie Wachs.

Man tanzte und man trank. Und endlich saß alles wieder auf, und vorwärts ging es wieder in die dunkle Heide. Das Feuer bei der Heideschenke war erloschen. Die Peitschen knallten, die Hunde heulten und der schimmernde Nebel stob auf, und Lajosch war glücklich. Nur die eine Frage quälte ihn: Ob er nun auch anderen Tages wieder in dem Heidedorf sein könnte? Dort wohnten seine Eltern, seine Schwester, die Irma, und sein Bruder, der Ischtwan. Er hatte sie alle vier sehr lieb.

Sie ritten, bis der Himmel im Osten sich zu lichten begann; da lagen weite blitzende Wasserflächen vor ihnen und Lajosch dachte bei sich: Das ist die Theiß! Aber es waren nur ihre Sümpfe. Plötzlich sprangen die Pferde in das Wasser hinab und Lajosch schloss schwindelnd die Augen. Nass wurde er nicht, und als er die Augen öffnete, hielt er in einer Halle. Es war nicht hell und nicht dunkel darin; ein Zwielicht, das kam von den Wassertropfen, die überall an den Wänden glommen. Lajosch tat wie die anderen: Er sprang vom Pferd und legte sich auf ein dickes Schilflager zum Schlafen. Müde war er sehr, und sein Herz war bekümmert. Er wäre doch lieber oben auf der Heide geblieben und hätte das Heidedorf aufgesucht; er dachte daran, wie sehr vier Menschen sich ängstigen würden, wenn er noch immer nicht nach Hause kam. Aber er schlief ein.

Einmal wachte er wieder ein wenig auf während des Schlafes. Er fühlte einen Schmerz in der Brust, gerade über dem Herzen, und er fühlte, wie das Herz ängstlich schlug, und blinzelnd sah er schwarzes Frauenhaar vor sich und Zöpfe, die mit rotem Band durchflochten waren. Er holte tief Atem; da richtete es sich von seiner Brust auf und des Heidegeistes Tochter sah ihn mit ihren schwarzen, brennenden Augen so geheimnisvoll an; ihre Nüstern zuckten und ihr voller, roter Mund lächelte leise. Und Lajosch seufzte tief und schlief wieder ein.

Er merkte nichts weiter davon, wie des Heidegeistes Tochter von seinem Herzblut trank.

Als er aufwachte und mit den Übrigen zu Pferd wieder aus dem Wasser auf die Heide ritt, war es Nacht. Die Sterne blinkten und der Nachtwind raschelte durch die Gräser. Es ward ihm so leicht in der Brust, aber auch so leer; er griff nach seinem Herzen und es schlug noch, nur nicht so kräftig wie früher. Sie ritten wie in der Nacht zuvor. Die Gegend dünkte Lajosch zwar eine andere, den Sumpf mit den Pappeln trafen sie nicht; aber die Heideschenke, vor der sie Halt machten, war die gestrige. Die Geister sprachen mit ihm, und der eine davon war wirklich der Karman Schandor. Es war merkwürdig, dass er sich auf seinen Namen erst besinnen konnte, als Lajosch ihn nannte. Er wusste nicht einmal mehr, was Panduren waren. Nun bekam Lajosch Mut und fragte den Heidegeist, ob er ihn nicht wolle heimkehren lassen.

»In ein paar Tagen«, sagte der Heidegeist.

Ein paar Tage vergingen, und Lajosch fragte wieder. Aber er fragte eigentlich nur so nebenbei, weil er gerade an das Versprechen dachte, und er verwunderte sich selber, wie gleichgültig ihm bei der Frage das Herz war.

»Was willst du daheim?«, fragte er Heidegeist.

»Es ist nur wegen meiner Eltern«, antwortete Lajosch, »und wegen der Irma und des Ischtwan. Mir ist, als ob ich schon hundert Jahre von ihnen fort wäre, ich kann mich gar nicht mehr besinnen, wie sie ausschauen.

»Du kannst sie sehen.«

Sie schwenkten vom Weg ab und kamen an einen Ziehbrunnen, dort winkte der Heidegeist, und Karman Schandor sprang vom Pferd, ließ den Eimer hinab und zog ihn wieder herauf. In dem Eimer stand ein alter Mann und hielt sich mit zitternden Händen an die Kette. Seine Augen waren geschlossen. Und Lajosch ritt vor und schaute dem alten Mann in das braune Gesicht. Es kam ihm fast so vor, als ob es sein Vater wäre, aber so recht wusste er es doch nicht.