Nora ist alleinstehend, und sie arbeitet als Schreibkraft in einer Anwaltskanzlei. Ihr Leben ist grau und eintönig und von Lieblosigkeit geprägt. Nur die Lektüre von Romanen bringt Farbe in ihren Alltag, allerdings ohne Sehnsüchte zu wecken. Vor ihrem fünfzigsten Geburtstag häufen sich Erlebnisse, die sie an ihrem bisherigen Leben zweifeln lassen. Kann sie die Krise meistern und ihrem Leben eine Wende geben? Der Roman beschreibt das weibliche Gegenstück zur Figur von Gerold Trank in „Eingeholte Zeit“ vom selben Autor.

Andreas Pritzker, geboren 1945, ist Schweizer, Physiker und Schriftsteller. Bisher sind von ihm erschienen: „Filberts Verhängnis“ (Roman, 1990), „Das Ende der Täuschung“ (Roman, 1993), „Eingeholte Zeit“ (Erzählung, 2001), „Die Anfechtungen des Juan Zinniker“ (Roman, 2007), „Allenthalben Lug und Trug“ (Roman, 2010), „Losfahren“ (Roman, 2016), „Aus der Zeit gefallen” (Erzählung, 2015). Er war Mitherausgeber des REFUNA-Jubiläumsbuchs „1/3 Technik, 1/3 Politik, 1/3 Psychologie” (2004) und verschiedener Texte in erzählter Geschichte. Zudem hat er in Zusammenarbeit mit Zeitzeugen die „Geschichte des SIN” (2013) verfasst.

© 2017 Andreas Pritzker

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BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt (D)

Umschlagbild: CanStockPhoto

ISBN: 978-3-7448-3238-0

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Inhaltsverzeichnis

1

Nora war eine unauffällige Person. Die Menschen nahmen sie nur zur Kenntnis, wenn sie ihnen in den Weg geriet. Sonst wurde sie einfach übersehen. Sie hingegen musterte die Menschen, die ihr ins Gesichtsfeld gerieten – wie wenn sie in deren Erscheinung etwas suchte.

Die Welt der Dinge nahm sie ebenso wahr. Die Pflästerung – streckenweise aus teuren Granitplatten. Hausfassaden zwischen Jugendstil und Moderne. Eine Wartebank. Die Linden. Die Trams mit Fronten wie Hundeschnauzen. Die Schaufenster mit Figuren, die ganz anders waren als die meisten Menschen. Doch in erster Linie galt ihre Aufmerksamkeit den Menschen.

Sie schritt mit ihrem Neffen Daniel durch die Bahnhofstrasse, und nach einer Weile fragte sie ihn, welche Menschen ihm unterwegs aufgefallen seien. Daniel konnte sich nur an aussergewöhnliche Erscheinungen erinnern, meistens Frauen, die er attraktiv fand. Aber den Arbeiter im roten Overall, der die Abfallkörbe leerte, hatte er nicht bemerkt. Und Nora hätte er ebenso wenig wahrgenommen, wenn sie ihm als Fremde begegnet wäre. Unterwegs blickte er sie manchmal von der Seite an, oft zweifelnd, wenn ihm das, was sie sagte, nicht gefiel. Sie hingegen beobachtete alles und dachte, der Junge geht blind und taub durchs Leben.

Sie warf ihm vor, er nehme bloss wahr, was sich ihm plakativ ankündige. Was sich ihm nicht sofort augenfällig anbot, existiere gar nicht. Sie fragte ihn, ob er sich wenigstens zu dem, was er sehe, Gedanken mache. Ob er die Dinge, die sich unter der Oberfläche befänden, zur Kenntnis nehme. Nein, erklärte er. Wenn es da etwas gebe, das ihn betreffe, käme dies ohnehin früher oder später auf ihn zu.

„Und was, bitte, nützt es dir, wenn du alles genau beobachtest und dir Gedanken dazu machst?“

Darauf wusste sie keine Antwort. Die Gesamtheit wahrzunehmen, Unterschiede und Ähnlichkeiten zu erkennen, das Wahrgenommene zu überdenken, und dabei Zusammenhänge herstellen zu können, das gehöre einfach zu ihrem Wesen. Vielleicht helfe es ihr, die Welt zu begreifen.

„Und zu welchem Zweck willst du die Welt begreifen?“

Sie habe keine Ahnung, gestand sie. Sie tue es eben, und es bereite ihr Befriedigung. Zudem denke sie sich Geschichten aus zu dem, was sie sehe.

Er dachte nach und erwiderte: „Bei mir ist es anders. Ich kann meine Gedanken nicht einfach umherschweifen lassen. Ich fokussiere sie auf ein festgelegtes Ziel. Andernfalls könnte ich mein Studium nicht durchstehen.“

Und davon profitiere sie, meinte sie lachend. Daniel unterstützte sie bei Fragen der Informatik. Und zum Dank dafür hatte sie ihn zum Mittagessen eingeladen. Bei ihr zu Hause. Sie würde ihm einen Fleischkuchen mit Brät zubereiten. Den liebte er über alles. Eigentlich erstaunlich, wo doch die Jungen zum Vegetarismus neigten. Das Rezept entstammte der Sammlung von kostengünstigen Speisen ihrer Mutter. Schon sie hatte den eigenwilligen Enkel damit zu sich gelockt.

„Haben denn die Geschichten, die du dir ausdenkst, irgendeinen Bezug zu dir selbst?“ wollte Daniel wissen.

Sie stutzte. Nein, sie beziehe die Geschichten nicht auf sich. Sie tue es ebenso wenig wie bei all den Romanen, die sie lese. Sie denke sich Geschichten aus, weil diese ihr neue Puzzlestücke der Existenz eröffneten, die nicht weniger real seien als die in der Welt, in der sie lebte.

„Und wie sehen denn diese Geschichten aus?“

Sie versuche etwa, sich in den Arbeiter, der die Abfallkörbe leere, zu versetzen. Was denke er sich dabei? Gut, dass die Menschen Kehricht produzierten, so habe er wenigstens eine bezahlte Arbeit. Oder finde er seine Tätigkeit sinnlos, weil sie nie zu einem abschliessenden Ziel führe? Vielleicht denke er sich überhaupt nichts dabei. Und wenn doch, teile er womöglich seine Gedanken mit einem Kollegen, wenn sie abends in einer Bar beim Bier sässen. Oder mit seiner Frau, wenn er beim Sonntagsspaziergang ins Sinnieren gerate. Oder er spreche darüber mit seinem Sohn, wenn dieser ihn frage, was er den ganzen Tag über mache.

Daniel setzte an, um etwas zu sagen, doch dann schwieg er.

Beim Hauptbahnhof stiegen sie ins Tram. Unterwegs regte sie an, Daniel könnte seinen Grossvater besuchen. Dieser habe Probleme mit seinen Hörgeräten, und Daniel sei bestimmt in der Lage, dem alten Mann zu helfen.

„Würde ich gerne, aber hab keine Zeit. Es stehen bald Zwischenprüfungen an, ich muss lernen was das Zeug hält. Daher muss ich auch gleich nach dem Mittagessen zurück an die Hochschule.“

Nora schaute durchs Fenster auf die vorbeiziehende Stadt. Der Herbst kündigte sich dieses Jahr früh an. Ein unangenehm kühler Wind strich durch die Strassen, die Wolken hingen tief und düster über den Häusern, das Tageslicht schimmerte dumpf und schien kurz vor dem Erlöschen, die Farben waren verschwunden, sie hinterliessen eine schmutziggraue Ansicht der Welt.

Als sie an der Tramhaltestelle vor ihrer Wohnung im Stadtkreis Seebach ausstiegen, sah Nora eine junge Frau warten. Sie stand da, dünn, bleich und unscheinbar. Daniel gönnte ihr keinen Blick, sah nicht, wie sie das Gesicht verzog und ein Ohr mit der Hand bedeckte. Sie hat Schmerzen, murmelte Nora, und nun blickte auch Daniel hin, verwundert, dass seine Tante sich für so etwas interessierte. Nora blieb stehen. Sie hätte die junge Frau gerne mit ein paar mitfühlenden Worten getröstet, gefragt, ob sie ihr helfen könne, doch Daniel drängte sie, weiterzugehen. Aber ein dunkel gekleideter, weissbärtiger Greis mit hellblauen, wässerigen Augen näherte sich und stellte fest: „Sie haben Schmerzen im Ohr, man sieht’s.“

Die junge Frau stiess hervor: „Was geht das Sie an?“

Der Greis tätschelte ihr den Arm und erklärte: „Ich will nur helfen.“ Er legte die Hand auf das Ohr der jungen Frau. Die Umstehenden – und nun sogar Daniel – blickten gespannt auf das Paar. Liess sich die Frau das gefallen? Sie liess es geschehen und rief nach einer Weile: „Der Schmerz ist weg!“

Der Greis sagte: „Sehen Sie.“

„Und was geschieht, wenn er wieder kommt? Kann ich dann zu Ihnen kommen?“

„Nicht nötig, denn Sie können sich selbst heilen. Sie müssen nur wollen, und fest daran denken, dass Sie den Schmerz aus ihrem Ohr hinaustreiben.“

Den Schmerz vertreiben nützt doch nichts, dachte Nora. Er hat doch bestimmt eine Ursache, und diese muss man angehen.

Ein Tram fuhr heran, die beiden Menschen stiegen ein, die junge Frau setzte sich ans Fenster, hielt sich immer noch am kranken Ohr fest und blickte verwundert drein.

2

Während Nora das Essen zurbereitete, schaute sich Daniel in der Wohnung um. Er wagte gar einen Blick ins Schlafzimmer. Er kam in die Küche. Seine Miene strahlte Ablehnung aus. Er sagte: „Du solltest dich neu einrichten. Mit IKEA-Möbeln. Die ganze Wohnung würde sogleich freundlicher aussehen. Jetzt wirkt sie, Entschuldigung, miefig.“

Nora wollte wissen, was denn mit ihren Möbeln nicht in Ordnung sei.

„Alles alt und abgenutzt, und zusammengewürfelt. Für eine Studentenbude geht das ja, aber du bist fünfzig und verdienst doch ganz anständig.“

Seit siebenundzwanzig Jahren bewohnte Nora ihre Wohnung – ihre erste, nachdem sie bei den Eltern ausgezogen war. Anfänglich waren die beiden Zimmer fast leer gewesen. Sie hatte ein paar Möbel mitnehmen können, die von den Grosseltern stammten: einen Esstisch und sechs Tessinerstühle aus den 1930er Jahren, einen Kleiderschrank und eines der beiden Ehebetten, ein hässliches, altertümliches Lager mit Sprungfedern und einer Rosshaarmatratze. Im Verlauf der Jahre waren weitere Stücke hinzugekommen, alle vererbt mit Ausnahme eines modernen Betts, das sie selbst gekauft hatte.

Nun standen in der Wohnung Einrichtungsstücke von ihrer verstorbenen Mutter, und als ihr Vater ins Altersheim gezogen war, waren weitere Möbel hinzugekommen. Und wann immer ihr Bruder und seine Frau sich etwas Neues angeschafft hatten, war das Alte regelmässig bei Nora gelandet. Immerhin hatte sie mit diesen Geschenken ältere Möbel ausrangiert, sonst wäre die Wohnung noch voller gewesen. Ihr Blick streifte durchs Wohnzimmer. Der Esstisch war grösser als nötig, denn sie hatte kaum je mehr als einen Gast. Als sie ihn genauer betrachtete stellte sie fest, dass die Beine schon arg ramponiert waren, und die Tischplatte war übersät mit Flecken, welche sich verewigt hatten, so dass sie jeder Möbelpolitur standhielten. Auch der Cordbezug des Sofas trug die Spuren der Zeit. Einst dunkelrot, war der Stoff nun nur noch bräunlich, und die Rippen waren auf den Sitzflächen abgewetzt. Das Sofa war riesig, aber darin lebte sie. Sie lag dort und las, oder schaute einen Spielfilm am Fernsehen an. Und manchmal, wenn sie zu müde war um ins Bett zu gehen, zog sie die Decke über sich und schlief verkrümmt. Am nächsten Morgen stand sie mit Rückenschmerzen unter der Dusche und nahm sich vor, so etwas nie mehr zu tun.

Während sie den Tisch deckte, versuchte Nora, die Wohnung mit Daniels Augen zu sehen. So wie er die Welt sah, vermisste er bestimmt das Design. Sie musste zugeben, dass er Recht hatte. Die Wohnung war planlos gefüllt und dabei überfüllt worden. Die Möblierung war zudem unpraktisch. Sie erlaubte ihr nicht, Dinge, die zusammengehörten, beieinander einzuordnen. Doch schreckte sie vor einer Neueinrichtung zurück. Sie fühlte sich nicht in der Lage, ein solches Vorhaben auszuführen. Alles sprach dagegen. Sie fuhr kein Auto, sie kannte kaum jemanden, der ihr helfen würde, denn Daniel wagte sie nicht auch noch hierfür in Anspruch zunehmen. Und sie hatte Angst, Geld auszugeben.

Daniel gab noch eins drauf. „Die Wohnung ist düster, erst recht bei diesem Wetter. Die Fensterfläche spottet jeder Norm, die Zimmer sind zu klein, der Balkon ist mickrig, selbst wenn kein Gartengrill drauf steht. Warum ziehst du nicht um und erneuerst dabei deine Einrichtung?“

Nora seufzte. Wozu etwas ändern, dachte sie. Sie konnte ihr Leben mit dem, was sie hatte, meistern. Ein Umzug hätte sie überfordert. Solche Angelegenheiten sind nichts für jemanden wie mich, dachte sie automatisch, und es war, wie wenn ihr dieser Satz ihr ganzes Leben lang eingeprägt geworden wäre.

„Und noch was“, fuhr Daniel fort, „in der ganzen Wohnung hat es keinen Spiegel, in dem du dich in voller Grösse betrachten kannst. Kontrollierst du dein Aussehen niemals?“

Nora fand, sie brauche das nicht. Bei ihr gebe es nichts zu sehen. Sie kenne die Kleider, die sie morgens anziehe, sie wisse, dass sie zu dick sei, und das Gesicht sehe sie immerhin im Spiegel im Bad. Abgesehen von einer Tagescreme schminke sie sich nicht, und sie trage nicht umsonst eine kurze Frisur, die keiner Pflege bedürfe.

Daniel zuckte mit den Schultern und setzte sich zu Tisch. Sie blickte ihn an und merkte verwundert, dass er – oder sonst jemand – noch nie diese Themen aufgeworfen hatte. Und dann wurde ihr bewusst, dass Daniel durchaus in der Lage war, seine Umwelt wahrzunehmen, wenn er wollte, und sich erst noch Gedanken dazu zu machen. Ich blöde Kuh, dachte sie. Und ich lebe tagaus tagein in dieser Wohnung und nehme sie gar nicht wahr.

Sie fand, sie müsse sich bei ihrem Neffen für seine Ratschläge bedanken, auch wenn sie diese nicht befolge. Daniel grinste. „Ich habe schliesslich deine Ratschläge auch nicht befolgt. Erinnerst du dich, wie du mir empfohlen hast, gegen meine Pickel reines Wasser zu trinken, täglich einen Liter? Das habe ich nicht getan, weil ich nicht daran glaubte. Hätte ich vermutlich, wenn ich diesen Tipp in der Zeitung oder in einer Fernsehsendung gefunden hätte. Woher hattest du eigentlich die Idee?“

Nora erklärte, es sei ein altes Hausrezept. Sie habe es im Roman einer amerikanischen Autorin gefunden. Eine Negermutter erteilte ihrer Tochter diesen Rat. Sie wisse schon, fuhr Nora fort, dass heute niemand erwartete, reines Wasser könne etwas bewirken. Es müsse eine Medizin her mit einer möglichst natürlichen Substanz, sonnengetrocknete Austern oder ausgepresste Lianen aus dem Regenwald, der Saft mit Meeressand gefiltert, damit die Menschen an eine Wirkung glaubten.

„Nun übertreibe nicht, Tantchen“, rief Daniel. ‘Tantchen’ nannte er sie nur, wenn er verärgert war. Dann sah er, dass sie lächelte, und lachte mit.

Beim Essen kam Daniel auf die Informatik zu sprechen. Noras Chef, Rechtsanwalt Grief, in dessen Kanzlei sie alle möglichen Schreibarbeiten sowie die Buchhaltung erledigte, hatte ihr nebst Kaffeekochen und dem Verwalten der Akten den PC-Support aufgebrummt, nachdem der junge Mitarbeiter, der diese Aufgabe nebenbei erledigt hatte, ausgetreten war. Sie hatte sich weigern wollen, aber Grief hatte gesagt, falls sie die Aufgabe nicht übernehmen könne, müsse er sich nach einer jüngeren Kraft umsehen.

Für ihre Schreibarbeiten sowie die Buchhaltung benützte sie einen PC. Sie hatte einen Einführungskurs in Windows und Office besucht, und das Buchhaltungsprogramm machte ihr dank ihrer Erfahrung keine Probleme. Sonst hatte sie von Informatik so gut wie nichts verstanden. Grief hatte das eingesehen und ihr auf Kosten der Kanzlei einen Vertiefungskurs zugestanden. Da er für die Kurskosten aufgekommen war, hatte Grief entschieden, dass die zusätzliche Funktion keine Lohnaufbesserung verdiente.

Grief, der sechzigjährig war, weigerte sich, einen Computer zu bedienen. Er war sogar stolz darauf, dass er die Informatik kaum nutzte. Dies tat seine Assistentin Saskia für ihn. Ausser für Nora und Saskia gab es noch einen PC für den jungen Rechtsanwalt, der sich in der Kanzlei die Sporen abverdiente, bis es ihm langweilig wurde und er einem ähnlichen Nachfolger Platz machte. Die jungen Männer konnten die wichtigsten Anwendungen des Officeprogramms benutzen, hatten aber von der Wartung der Software keine Ahnung. Und wenn irgendetwas nicht funktionierte waren sie ratlos. Sie alle fanden, für das reibungslose Funktionieren dieser Instrumente müsse der Arbeitgeber sorgen, indem er einen Spezialisten beauftrage.

Der Vertiefungskurs war von einer jungen Frau durchgeführt worden. Sie hatte vor den Augen der Schüler einen PC auseinander genommen, ihnen die Festplatte und weitere Bestandteile gezeigt und erklärt, wie das ganze funktionierte. Das hatte Nora gefallen. Sie hatte gelernt, die Software aktuell zu halten und die notwendigen Sicherheitsprogramme zu installieren, und am Schluss war sie in der Lage, die drei Maschinen der Kanzlei samt Drucker über ein Funknetz miteinander und mit dem Internet zu verbinden.

Indessen gab es beim Informatikbetrieb immer wieder Störungen. Daniel hatte ihr erklärt, die Systeme seien nicht derart ausgereift, dass sie stabil arbeiteten – was immer das bedeutete. Nora hatte jedoch schnell gemerkt, dass die notwendigen Informationen für die Lösung alltäglicher Probleme im Internet gut zugänglich waren.

Gab es ein grösseres Problem, fiel etwa das ganze Funknetz aus oder blieb eine Maschine hängen, wandte Nora Daniels erfolgreichstes Rezept an: die Geräte abzuschalten und wieder zu starten. Und erst wenn auch das nicht funktionierte, rief sie ihn an.

Jetzt gab Daniel ihr den Rat, sich weiter zu bilden. „Das müsste dein Chef einsehen. Ich werde nicht immer da sein, um zu helfen. Du solltest also die nächste Kursstufe in Angriff nehmen, und danach in der Lage sein, einen PC neu zu installieren und die Netzwerkprobleme zu lösen.“

Nora zweifelte daran, dass dieser Vorschlag realistisch war. Erstens traute sie sich selbst eine weitere Entwicklung nicht zu. Vielleicht, wenn sie zwanzig Jahre jünger gewesen wäre. Und zweitens würde Grief nicht einsehen, wozu er in Noras Weiterbildung investieren sollte, denn schliesslich hatte die Kanzlei mit ihren Informatik-Anwendungen keine Probleme.

3

Nora erschien um halb acht und schloss die Kanzlei auf. Sie war immer die erste. Aus diesem Grund hatte sie einen eigenen Schlüssel bekommen. Allerdings musste sie zuvor ein in schönster Juristensprache verfasstes Dokument unterschreiben, in welchem ihr für den Fall, dass sie den Schlüssel missbrauchte oder verlor, ernste Folgen angedroht wurden.

Sie schaltete das Licht ein. Vor den Fenstern lag immer noch die Düsternis eines verregneten Herbstmorgens. Die Beleuchtung erfolgte indirekt. Nach der Pensionierung seines Schwiegervaters und Partners, Rechtsanwalt Nagel, hatte Grief die Räumlichkeiten neu gestalten lassen. An den Wänden hingen abstrakte Gemälde, und es standen Sockel mit ebenso modernen Skulpturen im Raum. Die Möbel stammten von USM-Haller.

Nora schloss den Archivraum auf. Auch für den hatte sie einen Schlüssel. Das einzige, das ihr verschlossen blieb, waren die Büros der Rechtsanwälte. Doch waren die Herren, Grief inbegriffen, so nachlässig, dass sie meistens vergassen, die Türen abzuschliessen. Nora schaltete das Funknetz sowie den Drucker ein. Sie kontrollierte, ob der Drucker über genügend Tinte und Papier verfügte. Hierauf fuhr sie ihren Computer hoch. Einmal hatte sie, als Dienstleistung, Saskias Maschine ebenfalls gestartet. Saskia hatte sich dies verbeten, aber nicht bei Nora selbst. In solchen Fällen wandte sie sich immer an den Chef. Grief hatte Nora zu sich gerufen und mitgeteilt, an Saskias Computer habe sie nichts zu suchen. Nora war mit hochgezogenen Augenbrauen stehen geblieben. „Was?“ hatte Grief gebellt. Ob sie denn Saskias Computer nicht mehr warten müsse? hatte Nora gefragt. Grief hatte kurz überlegt und dann angeordnet, dass sie das künftig mit Saskia zusammen tun müsse. Saskia werde die Befehle gemäss Noras Instruktionen eingeben. Nora war das egal, doch machte die Prozedur Saskia nervös.

Um viertel vor neun kam Saskia, und um neun Grief. Er trug heute seinen dunkelblauen Anzug mit Nadelstreifen. Das hiess, er musste entweder zum Gericht, oder er traf einen wichtigen Kunden. Er schwenkte einen Katalog und stellte sich damit am Empfangskorpus bei Saskias Schreibtisch auf. Saskia sprang sogleich hoch und gesellte sich zu ihm. Grief wünschte eine kleine Sitzgruppe für sein Büro, und die beiden vertieften sich eifrig in die Möbelschau. Auch Griefs Büro war mit USM-Mobiliar ausgestattet, bis auf einen prachtvollen, antiken Tresorschrank aus Metall. Der Safe hatte eine glänzende, schwarze-Oberfläche, ein vergoldetes Schlosse, vergoldete Füsse und einen vergoldeten Aufbau mit Blumenmotiven. Grief war mächtig stolz auf des Stück. „Die Sitzgruppe kommt vor den Safe zu stehen, sie muss auf jeden Fall dazu passen“, rief er.

Als sie ihre Wahl getroffen hatten, trat Nora zu Grief und fragte ihn, ob er kurz Zeit habe. „Bitte“, sagte Grief mit gönnerhafter Miene, „was kann ich heute für Sie tun?“ Nora war es peinlich, dass Saskia mithörte. Also erklärte sie den beiden, es wäre gut, wenn sie einen Vertiefungskurs in Informatik besuchen könnte. Das Gebiet entwickle sich laufend weiter, und manchmal träten bei der Wartung Probleme auf, bei denen sie bisher ihren Neffen um Rat gefragt habe, doch der habe zunehmend weniger Zeit. Saskias blickte Grief zweifelnd an, und dieser sagte, er werde es sich überlegen. Nora kehrte in ihre Ecke zurück und widmete sich ihrer Schreibarbeit.

*