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© 2017 Rudolf A.Treumann

Text und Illustrationen

Coverzeichnung mit frdl. Erlaubnis nach dem Foto von

© Eric Isselée Lifeonwhite.com “Löwe liegend”

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7448-4412-3

Der Name des Löwen

I

Emma heissen alle Möven,

doch warum sie Emma heissen

und nicht Sophie oder Lara,

das weiss keiner, den ich frage.

Sehn sie etwa aus wie Emma?

Nein, die Emma, die ich kenne,

sieht nicht aus wie eine Möve

(eher noch wie eine Henne,

was ich ihr jedoch nicht sage,

denn dann wird sie bitterböse

und gewiss nicht ohne Grund.

Sie ist nämlich eine nette,

wenn auch mal ein wenig rund).

Anders steht es um die Löwen,

weil die heissen alle Leo,

was bereits die Römer wussten

und in sauberem Latein

schrieben:

leo nomen leonis est.

II

Alle Löwen heissen Leo.

Solche mit den roten Mähnen,

die sich um die Köpfe kringeln

und die andern mit den Strähnen.

Hängen ihnen in die Stirn

Und verdunkeln ihre Augen.

Sie verdecken auch ihr Hirn.

Niemand weiss, sind sie nun klug

oder stehn sie auf Unfug?

Besser sehe man sich vor.

Abends hören wir sie gähnen

oder vor Behagen stöhnen.

Löwe Leo kennt sie alle,

trifft sie häufig in der Halle,

wenn er auf die S-Bahn wartet.

Lehnt sich an die kühle Säule

und geniesst die Löwenfäule

die ihn pünktlich übermannt,

wenn der Abend ihn umringelt

und der Hunger in ihm züngelt,

wenn er eine Löwin sichtet

und für sie ein Liedchen dichtet.

III

Löwe Leo steht vor seiner schwarzen Tafel

und denkt nach, was er drauf schreiben soll.

Eine leere Tafel fordert ihn geradezu heraus.

Schrecklich schwarz und inhaltslos wie diese.

Kreide liegt bereit im Kreidekasten.

Leo braucht sich nicht danach zu bücken.

Leo nimmt in jede Pranke eins von diesen

feinen weissen Tafelkreidestücken

und vergnügt als erstes sich damit, seine

langen braunen Krallen weiss zu malen,

so wie es die feinen Damen tun. Doch die malen

sie sich braun und rot und grün und blau.

Leo Löwes Krallen sind von selber braun. Darum

denkt er, weiss sei richtig für den Unterschied.

Links zuerst und dann noch einmal rechts.

Gleich sind beide Pranken voller Kreidestaub.

Mit Verlaub, ich brauche keine Maniküre, denn

ich bin der Löwe Leo und kein Mannequin,

denkt er ärgerlich bei diesem Kinderspiel.

In die Pranken klatschen ist die Medizin dagegen.

Zwar steht Leo Löwe einen Augenblick in einer

Wolke Kreidestaub und muss die Luft anhalten.

Staub einatmen ist bestimmt nicht ungefährlich,

auch für Löwen nicht. Der Staub ist ungesund.

Selbst in der Savanne und der Wüste hat der

Löwe Leo viel gehört von Staub und Raucherlunge.

Doch ein Sandsturm ist viel schlimmer als das

bisschen Kreidestaub im Fell, der ist die Hölle.

Leo Löwe muss sich vor ihm hüten, sollte er, was

unwahrscheinlich ist, doch einmal hinein geraten.

So, die Pranken sind jetzt kreidefrei und gelb,

braun die Krallen, wie es sich gehört für Löwen.

Leo klatscht noch einmal kräftig in die Pranken,

einmal mit der rechten in die linke, mit der linken

in die rechte. Er betrachtet sie von rechts, von links

und dann noch einmal von links und rechts.

Leo ist zufrieden mit dem Resultat. Jetzt die Kreide

hergenommen und noch rasch etwas geschrieben.

Aber was? Nun ja, wenn einem sonst nichts einfällt

auf die Schnelle, schreibt man seinen Namen.

Was auch sollte es andres sein?

Später dann kann etwas Klügeres folgen, etwas von

Bedeutung, ja vielleicht sogar für die Zeitung.

Oder Professoren von der Universität. Und,

wenn es sehr hoch kommt, die Regierung.

Also beide Pranken angehoben und im Takt

so gut es geht geschrieben, los!

Laut liest Leo Löwe: LEO OEL. Ausgezeichnet.

Leo nämlich schreibt mit beiden Pranken.

Das macht keinen Unterschied für ihn.

Weder ist er Rechtsprank, noch ein Linksprank.

Gottseidank.

Weil: ein Löwe muss mit beiden Pranken jagen,

ist doch klar? Und natürlich kann er auch

mit beiden Pranken schreiben. Gegenteiliges ist

unnatürlich, unbekannt und für Löwen ungebührlich.

Mit dem Lesen allerdings

wird es schwierig für die Leute, nicht für Löwen,

weil auch Bücher sie von beiden Seiten lesen, vorwärts,

rückwärts und von vorn und hinten. Kein Problem.

Bei den meisten Büchern ist es ohnehin egal,

ob sie nun von vorn gelesen werden oder hinten.

Das Ergebnis ist in jedem Fall dasselbe.

Nur sehr selten nicht, denkt Leo Löwe.

Klüger wird man meistens nicht, wenn man sie liest,

eher dümmer. Darum wäre es besser,

damit gleich von hinten zu beginnen.

Hat genug gelesen man,

sie zurückzustellen ins Regal,

wo sie dicht gedrängt als Art-Deco

sich ausgezeichnet machen.

Diesen Zweck erfüllen schon die inhaltlosen Einbände.

Leo bringt sie ins Bücherbrockenhaus schnurstracks.

Irgendeiner kann für wenig Geld sie sich dort holen,

wenn er nichts zu tun und gähnend Langeweile hat.

Jetzt tritt der Löwe Leo einen Schritt zurück,

um sein Werk aus der Entfernung zu betrachten.

Ausgezeichnet. Eine leere Tafel schwarz und tot

ist ein Schrecken. Aber wenn beschrieben,

fängt die Tafel unversehens an zu leben.

Der Löwe Leo hat sofort eine Idee, eine

wunderbare, ungeahnte und originelle.

Ein Gedanke reiht sich an den andern ihm,

festgehalten will er sein, notiert, geschrieben.

Leo springt vor Vergnügen in die Luft. Und

dann macht er sich daran, sie aufzuschreiben.

IV

Der Löwe Leo ist herumgesprungen,

hat gebrüllt aus vollen Lungen,

hat sein Löwenlied gesungen

und gehorcht, wie es verklungen.

Löwe Leo schüttelt seine Mähne,

sperrt das Maul auf, zeigt die Zähne,

gähnt gewaltig tief im Rachen

und fängt fröhlich an zu lachen.

Freut sich über die Idee,

denn Ideen fallen nicht vom Himmel.

Erstens muss man etwas wissen.

Zweitens braucht man Fantasie.

Leo Löwe wird ein Buch draus machen,

kriegt sofort den Dichterfimmel,

lässt sich nieder auf ein Knie,

lässt sich von der Muse küssen.

Danach wischt er sich sein Maul.

Küssen, denkt der Löwe Leo,

Küssen macht die Löwen faul.

V

Dabei fällt dem Löwen Leo ein,

die Muse soll eine alte Dame sein.

So hat einer der von ihr Geküssten

sie gerade erst beschrieben, als des

Chefgott Zeus und der Göttin

Mnemosyne zarte Tochter.

Mnemosyne, Göttin der Erinnerung.

Ach, der Löwe Leo winkt gleich ab: die

Griechen brauchten dringend Götter,

Dinge zu benennen wie Erinnerung.

Solche Sachen sind dem Löwen Leo

heute selbstverständlich.

Doch welch schönes Bild: der Chefgott

Zeus umarmt die nebelsanfte Mnemosyne.

Muse, ihrer beiden Tochter, ist die Lust,

an den Dichter übergeben mit dem Kuss

und erinnert so in Ewigkeit daran.

Nicht, wie üblich in dem Fall, als schlimmer

Götterstreit mit allen seinen üblen Folgen.

Ihre wunderschöne sanfte Tochter Muse,

ein Gebilde luftig leicht und unberechenbar,

wird zur ewig jugendlichen Dame Muse,

die den Dichterlöwen heute noch,

dreitausend Jahre später küsst.

Alle Dichter hat sie überlebt und ist

noch immer wild auf jeden jungen neuen

Dichter, ihn zu küssen, feurig oder kühl,

ganz nach Belieben. Das, denkt Leo Löwe,

sollte Chefgott Zeus trotz Abdankung erfreuen.

VI

Musen, diese alten Damen, altern auch.

Leo Löwe ist sich dessen sicher, wenn nicht absolut,

so doch relativ gesehen. Ihren ersten Streit,

noch sehr jung, angeblich, kurz nach der Geburt,

hatte mit dem Philosophen Platon sie bereits,

was das zarte Wesen tief verletzte.

Danach hat sie in Athen und Rom

manchen Dichter und auch manche Dichterin geküsst,

ehe ein Jahrtausend lang sie schweigen musste.

Denn nachdem die Götter abgeschafft

waren und ersetzt durch ein Triumphirat von

Keuschheit, war die süsse Sinnlichkeit der

Poesie dahin. Nur noch Lobgesänge

sang man, nichts für unsre sinnesfreudige Muse.

Lyrik lebt vom Heidentum, nicht Religion.

Als das neu erblühte, kam auch sie zu neuen Ehren,

unsre lebensfrohe Muse. Doch, erstaunlich,

mystisch in der Rückbesinnung auf die alten Götter,

ungeachtet aller Aufklärung und Nüchternheit.

Leo Löwe nickt, selbst er, der Realist und

restlos aufgeklärte Löwe, der er ist,

denkt beim Dichten an die alte Muse,

die noch immer jung und frisch, ihm

einen Vers in seine Ohren flüstert.