Seit zwanzig Jahren arbeitet er als Schriftsteller. Wenn er eines gelernt hat, dann das Erzählen. Als seine Frau Katja stirbt und er den Verlust nicht fassen kann, kommt er deshalb auf die Idee zu erzählen. Wie Scheherazade: tausendundeine Nacht erzählen, bis das Sterben aufhört. Den Tod besiegen durch Geschichten. Sich selbst erzählen, hinein ins Herz der Dinge, an jenen innersten Ort, wo die Zeit aufgehoben ist. Doch dieses Erzählen, das er früher beherrschte, ist nicht mehr so einfach. Zu sehr ist es Routine geworden, und die Geschichten, die er erfinden könnte, sind Legion. Dennoch wagt er das Abenteuer, und wo er am Ende seines Trips in die Fiktion der Seele landen wird, ist ungewiss.

Rainer Gross, Jahrgang 1962, studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Theologie. Er lebt mit seiner Frau als freier Schriftsteller seit 2014 in Reutlingen.

Bisher veröffentlicht: Grafeneck (Pendragon 2007, Glauser-Debüt-Preis 2008); Weiße Nächte (Pendragon 2008); Kettenacker (Pendragon 2011); Kelterblut (Europa 2012).

Bei BoD u.a. erschienen: Die Welt meiner Schwestern (2014); Yūomo (2014); Schrödingers Kätzchen (2015); Haut (2015); My sweet Lord (2016); Holiday (2016); Am Ende des Regenbogens (2016).

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© 2017 Rainer Gross

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

Layout und Umschlaggestaltung: Rainer Gross

Umschlagfoto: © Depositphotos.com/edmon

Alle Rechte vorbehalten

ISBN: 9783744862493

Es ist heiß. Über dreißig Grad. Seit sie die Bäume vor dem Haus gefällt haben, knallt die Sonne auf den Balkon und heizt das ganze Wohnzimmer. Ich habe die Balkontür offen und ein Fenster über Eck, sodass es manchmal einen Durchzug gibt. Ich habe wenig an. Es sieht mich ja niemand. Ich bin ja allein in der Wohnung. Katja hätte es auch nichts ausgemacht, mich in Shorts und Muskelshirt zu sehen. Im Gegenteil. Aber seit ich allein bin, ist es mir wurscht, wie ich herumlaufe. Auch draußen. Ich gehe auch so an die Tür, wenn der Postbote klingelt. Was selten geschieht. Früher habe ich mir immer gebrauchte Bücher aus dem Internet bestellt, die hat er dann in den gepolsterten Umschlägen gebracht. Ganze Wände standen voll mit Bücherregalen. Beim Umzug in die Zweizimmerwohnung habe ich ausgemistet, ganze Kartons voll Bücher weggeschmissen. Bücher, die ich nie lesen werde oder die ich gelesen habe und kein zweites Mal lese. Seither gibt es nur noch zwei Regale, eins im Wohnzimmer und eins im Schlafzimmer. Ein drittes Zimmer habe ich nicht mehr. Das war Katjas Zimmer. Katja war meine Frau. Sie ist vor sechs Monaten an Krebs gestorben.

Es ist mir mittlerweile gelungen, wieder eine Ordnung in der Wohnung herzustellen. Ich meine nicht nur den letzten Umzugskarton, den ich ausgeräumt habe. Ich meine eine Zusammenstellung der Dinge, die mir wichtig sind und mir Sicherheit geben. Das Regal hinter mir zum Beispiel, in dem die ganzen deutschen Schriftsteller stehen, Hemingway und Proust und dann die chinesische und japanische Literatur, klassisch und zeitgenössisch. Das tut mir gut: zu wissen, dass ich die Bücher habe und dass sie an ihrem Platz stehen. Was ich immer wieder in die Hand nehme, ist der Genji-Monogatari, die Geschichte des Prinzen Genji aus dem mittelalterlichen Japan. Oder das wahre Buch vom südlichen Blütenland von Zhuangzi oder, nach der alten Transkription, Dschuang Dsi. Auch das Kopfkissenbuch der Dame Sei Shonagon und einige Bändchen mit Haikus, in denen ich gern blättere. Und natürlich Bashōs Reise ins Hinterland und ein Bildband mit den dreiundfünfzig Stationen des Tokkaido von Hiroshige. Dabei entdecke ich auch einen Band mit Märchen aus Tausendundeiner Nacht, eine Neuübersetzung, nehme den dicken Schmöker heraus und lese hinein. Befremdliche Lakonie, man denkt vielleicht, das wird ornamental ausgeschmückt, blumige Sprache und so, aber die Dinge werden straff hererzählt. Das bringt mich auf Scheherazade.

Die Geschichte ist rasch berichtet: Ein Wesir ist von der Treulosigkeit der Frauen tief enttäuscht und beschließt, sich nicht mehr betrügen zu lassen. Er heiratet jeden Tag eine neue Frau und lässt sie am nächsten Morgen töten. Scheherazade will dem ein Ende bereiten und heiratet den Wesir. In der Nacht erzählt sie ihm eine Geschichte, die abbricht, als der Morgen kommt. Anstatt sie töten zu lassen, will der Wesir das Ende der Geschichte hören, und Scheherazade erzählt am nächsten Abend weiter, erfindet immer weitere Untergeschichten und Rahmenhandlungen, das Ganze verschachtelt sich unübersichtlich tausendundeine Nacht lang, bis der Wesir seine Frau am Leben lässt. Das hat mich auf den Gedanken gebracht zu schreiben: Erzählen, damit niemand mehr stirbt. Gegen den Tod erzählen. Deshalb sitze ich hier.

Ich habe die Vorhänge zugezogen. Im Dämmerlicht rücken die Dinge des Wohnzimmers nah zusammen. Draußen höre ich den Lärm von einer Baustelle, schwere Maschinen, die viel bewegen, aber laut sind, je mächtiger, desto dröhnender. Das hat der Mensch geschafft, denke ich: Geräte bauen, mit denen er Tonnen von Erde bewegen kann und Eisenträger heben und Steine zertrümmern, aber gegen den Krach hat er nichts erfunden. Unbekümmert gehen die Bauarbeiter zu Werke. Sie sitzen am Hebel, der die hunderte Pferdestärken bewegt, sie sitzen mitten im Wirkungskreis und haben oft einen Hörschutz auf: Ihnen kann es egal sein, wie viel Krach sie machen. Ihnen ist es egal. Manchmal habe ich den Eindruck, das müssen sie die ganze Nachbarschaft wissen lassen: was sie alles bewegen können. Ab und zu höre ich das Gurren der Ringeltauben, die in den Birken ringsum nisten. Eine Stimme nebenan auf dem Balkon. Irgendwo bohrt jemand in die Ziegelwand. Im Hausflur plärrt ein Kind. Musik habe ich nicht spielen. Früher habe ich viel mit Musik geschrieben, aber jetzt lenken mich die Gefühle, die die einzelnen Stücke auslösen, eher ab. Katja hat auch nur über Ohrhörer Musik gehört, von ihrem mp3-Player. Wenn sie in ihrem Zimmer war. Manchmal noch irre ich auf dem Flur umher und suche die Tür, die Tür zu ihrem Zimmer, wo ich davor stehen und sacht klopfen und dann hineinschauen würde, um sie auf dem Bett liegen zu sehen, die Ohrhörer drin und die Augen geschlossen. Was ist denn?, würde sie fragen. Nichts, würde ich antworten, ich wollte nur nach dir sehen. Manchmal fange ich an zu zittern und muss mich gegen die Flurwand lehnen. Tränen laufen mir aus den Augen, kalt und taub. Ich kann nicht begreifen, dass sie nicht mehr da ist.

Es ist heiß. Am Schreibtisch läuft mir der Schweiß den Rücken hinab, ich kann spüren, wie er mein Rückgrat entlang rieselt; die Ellbogen, die ich aufstütze, hinterlassen nasse Flecken auf dem Holz. Es hat dreißig Grad im Wohnzimmer, ich habe auf dem Thermometer nachgesehen. Schließlich halte ich es nicht mehr aus und lasse mir in der Badewanne kaltes Wasser einlaufen. Kein Vollbad, nur so bis zum Nabel. Lege mich hinein. Wahnsinn. Es braucht nicht lange, bis der Körper heruntergekühlt ist. Dann beginne ich zu frieren. Aber es hat geholfen. Statt mich abzutrocknen, bin ich nackt und nass durch die Wohnung gegangen, habe in der Küche Saft getrunken, aus dem angebrochenen Tetrapack im Kühlschrank, habe mir eine Zigarette gedreht und geraucht, und dann war ich auch schon trocken.

Ich gehe nicht aus dem Haus. Ich gehe nicht vor die Tür. Ich will die Welt da draußen nicht sehen. Ein Freund hat mir mal erzählt, dass er sich nach dem Unfalltod seiner Schwester zwei Wochen lang in der Wohnung vergraben hat, die Vorhänge zugezogen, und ununterbrochen die Mondschein-Sonate von Beethoven gehört hat. Oder war es die Jupiter-Symphonie von Mozart? Egal, jedenfalls mache ich den Tag zur Nacht, auch ohne Mozart. Wenn es endlich Abend wird, die Dämmerung kommt – es ist jetzt Mitte August, sie kommt eine Stunde früher als noch vor einem Monat – und es draußen still wird, dann atme ich auf. Der Tag ist überstanden. Ein Gefühl von Freiheit überkommt mich, das Gefühl, dass nun alles möglich ist. Frieden, ja. Dann beginne ich die kurze Nacht. Morgens um fünf wird es ja schon wieder hell. Mittags verschlafe ich manchmal die heißeste Zeit auf dem Sofa. Das alles kann ich tun, wenn ich meine Arbeit erledige. Ich muss nicht aus dem Haus. Ich habe meine Bezüge, schreibe täglich fürs Abendblatt eine Glosse, habe drei Buchrezensionen liegen, die ich noch abliefern muss, und mein letzter Roman hat immerhin schon eine Auflage von zehntausend Exemplaren. Bisher haben die Einnahmen gereicht, um die Wohnung zu finanzieren. Nachdem Katjas Zweitverdienst weggefallen ist, wurde es knapp. Ich konnte die Dreizimmerwohnung nicht mehr halten.

Manchmal schaue ich auch fern. Gerade am Nachmittag und am Vorabend schaue ich eine amerikanische Serie, die Katja so gern gesehen hat. Eigentlich gefällt sie mir überhaupt nicht, aber es ist mit den Jahren zu Katjas Serie geworden. Ich schalte ein und trinke Tee nebenher und stelle mir vor, nein, ich tue so, als ob sie jetzt hier wäre und

Ach, was soll’s.

So geht das nicht. Ich kann nicht von Katja erzählen. Oder genauer: Ich will es nicht. Ich könnte die Dinge hererzählen, wie wir uns kennen gelernt haben, der erste Kuss, das Händchenhalten am See, der gemeinsame Bummel durch die Altstadt, das Sitzen am Kanal und der eine Augenblick des Zaubers, als ich das Gefühl hatte, direkt in ihre Seele schauen zu können undsoweiter undsoweiter. Dieses ganze David-Copperfield-Zeug, das mich unsäglich langweilt. Wieso langweilt? Weil es die banale Kehrseite des Lebens ist. Weil die Wirklichkeit, als sie geschah, keine Geschichte war. Weil ich damals nicht der war, der ich jetzt bin, wenn ich die Geschichte erzähle, weil ich überhaupt, wenn ich erzähle, ein Anderer bin, ein Alias, ein Fremder in meinem Kopf, den ich nicht scheuchen kann. Ein Flötenspieler, blue notes, und wenn er mit seinen urzeitlichen Trillern und Weisen beginnt, tanzt meine Fantasie und ich muss ihm folgen, folgen in die Abgründe einer Welt, die noch voller Geheimnis und Rätsel und voller bunter Bilder steckt, eine Regenbogenwelt, ein Flug zum Regenbogen, regenbogene Geschöpfe, die sich in meinem Netz verfangen, und regenbogene Iriden, die mich im Laubdämmer traurig ansehen, weil sie den Jahrmarkt abgebrochen haben – das alles ist viel spannender, lebendiger, wahrer.

Ich lebe davon, Geschichten zu erzählen. Erfundene, keine der Realität abgeschauten. In jedem Moment des Erzählens bin ich ein Ich, das es sonst nicht gibt, ohne Außenseite, ein Absolutum, unvollendet, ich bin der, über den ich schreibe, und zugleich der, der schreibt, eine Doppelung des Ichs, wie man sie normalerweise nicht erlebt, ein Spiegelspiel, Widerschein in den topasenen Tiefen des Steins, Glanz auf den silbernen Wellen des Sees, ein irrlichterndes Leuchten in den schwarzen Sümpfen, eine Wolke aus phosphoreszierendem Licht, das aus den Abgründen des Meeres steigt – ich muss Max Frisch rechtgeben, auch wenn er es fiktiv gesagt hat: Ich mache Erfahrungen nur noch, wenn ich erzähle.

Dann bin ich mir ganz nah. Ich verliere jedes Bild von mir, weiß umso weniger, wer ich bin, lasse mich diesem Strom der Wörter und dem farbenfrohen Reigen in meiner Vorstellung, ein Schleiertanz, eine Schlangenbeschwörung, und Scheherazade selbst sehe ich auf Seidenkissen und umfächelt von Pfauenfedern liegen, goldener Leib mit karmesinroten Lippen, die Augen schwarzumrandet von Kajal, und ich höre ihren Geschichten zu, die wie Blüten von ihren Lippen blättern, hypnotisch, und ich könnte hingehen zu ihr und mit ihr sprechen und sie fragen, endlich fragen, woher sie ihr Wissen hat, woher sie weiß, dass Erzählen den Tod besiegt und die Zeit aufhebt, ja, das könnte ich, und ich selbst bin es, der all diese Bilder und Geschichten erschafft, ein schillernder Atlasmantel, den ich mir umwerfe und mich in ihm verhülle, unkenntlich, ein Anderer, ein Alias. Fiktion. Selbstvergewisserung. Verkleidung. Masken und Mummenschanz. Das könnte ich. Das kann ich. Das habe ich gelernt. Und an meinem dünnen, seidenen Faden schießen die Kristalle der Wirklichkeit an wie ein Wunder, der Kristall wächst und entfaltet sich rosengleich, er beginnt zu duften und zu leuchten, und das Elixier, in das ich ihn halte, ist schwer und satt vor Bedeutung.

Dann weiß ich wieder, wer ich bin. Niemand. Ein unbekanntes, aufregendes, zu erkundendes Ich. Die Banalität des alltäglichen Ich-Sagens ist verschwunden. Ich habe sie überwunden, aufgehoben im dreifachen Sinn. Darin finde ich mich. Darin finde ich meine Welt.

Das sollte ich tun. Und nicht irgendwelche Konstellationen von Dingen und Personen hererzählen, die keinen Sinn mehr haben, weil die Wirklichkeit, die in ihnen gelebt, die sich in ihnen ausgedrückt hat, tot ist.

So geht das nicht. Ich muss aufhören zu berichten. Ich muss beginnen zu erzählen.

Wo soll ich anfangen? Vielmehr: Wem erzähle ich da eigentlich? Wer hört mir zu? Wer wenn nicht ich selbst. Ein Selbstgespräch, formvollendet.

Ich weiß es nicht. Ich erzähle einfach. Ich sitze am Rechner, während es draußen blau wird und die Amsel ihr Abendlied singt, auf der Dachrinne oder in der Pappel gegenüber, während eine Tasse goldener Darjeeling neben mir dampft, während ein Nachtfalter gegen meine Tischlampe schlägt und sich nicht beirren lassen will in seinem Hunger nach Erleuchtung.

Ich erzähle, was ich mir vorstellen kann. Ich erzähle und denke an Katja. Ich gehe Umwege und Holzwege, bedächtig, geduldig, will einen Strudel hervorbringen, in dem alles nach oben kommt, was im Finstern haust, ich nähere mich auf verschlungenen Pfaden. Was ich suche, ist sie: Katja. Die Wirklichkeit ihres Daseins. Auch wenn sie jetzt tot ist. Irgendwo muss es diese Wirklichkeit noch geben. Sie kann nicht verloren sein. So vieles geht hinab über die Kante und versinkt im Dunkel, aber nicht das. Nicht Katja. Nicht das, was sie mir an Wirklichkeit, an echter Lebendigkeit geschenkt hat, was sie mir überhaupt an Wirklichkeit gegeben hat. Irgendwo muss das verwahrt sein, verwahrt gegen Zeit und Tod. In innersten Tempeln meinethalben, tief im Ich, in der Mitte, wo das Blut pocht und der Geist ein und ausgeht. Im Herz der Welt. In Gott vielleicht. Ich weiß es nicht. Aber ich muss es wiederfinden.

Wenn ich das verliere, verliere ich alles. Auch mich selbst. Ich werde nie wieder erzählen können. Ich werde Geschichten konstruieren und Handlungsabläufe entwerfen, Charaktere zusammensetzen und dramatische Fügungen planen, aber ich werde nicht mehr erzählen können.

Ich muss es finden. Es geht um alles.

Auf welchen Wegen nähere ich mich dem Haus auf der Lichtung, dem Tempel unter alten Bäumen, dem Palast des Wesirs, der Schatzhöhle des Odysseus? Ich muss erzählen.

Also gut. Erzähle ich eine Geschichte. Eine, die ich schon erzählt, ja veröffentlicht habe. In dem kleinen Städtchen Trarego kurvte ich mit meinem Motorrad durch die engen Gassen und fragte nach der Villa. Es war eine dreistöckige Barockvilla, baufällig mit einem zerfressenen Mosaik im Garten. Die Anderen waren schon da, ich stellte meine Maschine unter die Feigenbäume und nahm mit dem Marquis und Moritz ein Zimmer im obersten Stock. Wir hatten nichts als Matratzen und Schlafsäcke, traten morgens auf den Balkon und hatten den Blick hinab über die Dächer auf den See. Die Dielen knarrten, tagsüber machten sie Bibelarbeiten und Ausflüge, wie ich zu dem Verein gekommen war, weiß ich gar nicht mehr. Abends saßen wir in der dämmrigen Küche bei Kerzenlicht, weil der Strom ausgefallen war, und kochten auf dem Eisenherd Töpfe voll Spaghetti für alle. Ich war durch die Alpen gefahren und hatte siebzehn Pässe überquert; ich genoss die Gemeinschaft, auch wenn sie fromm war. Ohne Astrid hätte ich das nicht ausgehalten. Astrid war nicht fromm. Sie hatte viele Zweifel und Fragen. Wir saßen abends in den Fenstern und disputierten über den Glauben. Moritz stieß sich daran, er war ziemlich verbiestert, wir ließen uns nicht stören. Einmal am Strand fand sie in der Wühlkiste einer Boutique einen Lederbikini und hob ihn sich probeweise vor die Brust. Sie lachte. Die Anderen wandten sich empört ab. Darin würde ich dich gern einmal sehen, grinste ich. Es war ein prüder Haufen. Absetzen konnten wir uns nur manchmal am Nachmittag, wenn die Anderen am See waren. Wir redeten viel. Sie träumte von mir in der Nacht und fragte mich, ob sie das als Zeichen nehmen soll. Red keinen Quatsch!, sagte ich. Ob ich ihr bei ihren Zweifeln und Fragen helfen konnte, weiß ich nicht. Beim gemeinsamen Abschiedsessen in der Pizzeria tauschten wir Adressen, ich brach auf, ließ die Gemeinschaft zurück und machte mich auf den Rückweg durchs Gebirge. Ich erinnere mich, dass ich am Starnberger See vorbeifuhr, um Valentina zu besuchen, aber das ist eine andere Geschichte.

Ich erzähle nicht. Ich bin zu abgeklärt, zu weit entfernt. Das sind alles Dinge und Sachverhalte, die sich hererzählen lassen. Wozu? Das ist alles weit weg. Immerhin ein Bild, an das ich mich erinnere. Oder das ich erfinde? Das aus meiner Seele steigt, nachts, am Schreibtisch, nebenher läuft der Fernseher, damit ich nicht so allein bin, und immer noch vergesse ich, dass hinter der Wand im Schlafzimmer keine Katja mehr schläft und der Nacht, den Stunden Sinn gibt.

Früher bin ich ins Kreisen gekommen. Ich habe drauflos erzählt und reflektiert und bin dann auf Geschichten gestoßen, Traumbilder, Adaptionen von Filmen, die ich lange vorher gesehen hatte, oder von Liedern, die mir nicht aus dem Kopf gingen. Stoff, aus dem ich gestalten konnte, was sich nicht greifen ließ. Das Ungestalte in meiner Seele. Das Unsagbare. Ich bin getaucht, ein Speläonaut mit der Aqualunge, in lichtlose Tiefen zu schimmernden Schätzen. Erzählen war Abenteuer.

Wo ist das geblieben?

Ich bin ein Schriftsteller geworden. Das rächt sich jetzt. Ich möchte auf Aventiure gehen wie der alte Iwein, gegen Drachen kämpfen und Löwen als Gefährten gewinnen, die Quelle der Weisheit suchen und Unholde erschlagen. Ich sollte Artus-Romane schreiben in schönem Mittelhochdeutsch, gereimt, wo sich sinne auf minne fügt und die Ehre das höchste Gut ist.

Kann ich das nicht mehr?

Früher habe ich mit einem Satz begonnen, einem Schlüsselsatz, etwa: Der Morgenhimmel war zerwühlt. Die Manuskripte muss ich noch irgendwo haben, wenn ich sie nicht längst in einem Roman verarbeitet habe. Der Morgenhimmel war zerwühlt, ja, ich erinnere mich: Da war ein Geruch, ein sachter Duft nach Kräutern in der blauen Dämmerung, ich bin aufgewacht in den blauen Abend hinein und erkenne die Musik, die vor dem Haus spielt, an den letzten leisen Klängen meines Traums undsoweiter, aber das funktioniert nicht mehr. Das bin ich nicht mehr. Das ist nicht mehr die Not, die es früher war. Heute ist es eine andere.

Welche?

Wer bin ich heute?

Ich weiß nichts von mir. Ich blicke zurück auf die letzten zwanzig Jahre meines Schriftstellerlebens und habe davon mit einem Gefühl der Klarheit und Festigkeit gelebt. Aber das ist eine Täuschung. Nichts ist fest, nichts ist sicher oder harmlos. Das Meer ist überall.

Ich muss erzählen.

Ich muss erzählen.

Ein neuer Schlüsselsatz: Damals mit Valentina am Starnberger See. Warum Valentina? Warum diese alte Geschichte? Ich weiß es nicht. Finde es heraus, würde Herr Hölderlin sagen. Fang an zu erzählen.

heut ist der Tag, den der Herr gemacht