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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2017 Klaus Eckhardt

Umschlaggestaltung: Henrike Eckhardt

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7448-0418-9

Inhalt

Vorwort

Ich hatte keine Gelegenheit, meinen Großvater mütterlicherseits, Hermann Groß, persönlich kennenzulernen. Er starb vor meiner Geburt, am 2. März 1957 im Alter von 66 Jahren. Früh, wie es in der Familie hieß, unter anderem wegen der Entbehrungen, die er während seiner Gefangenschaft im Ersten Weltkrieg erleiden musste.

Hermann Groß stammte aus der kleinen Ortschaft Goffontaine (auch Stahlhammer genannt) im heutigen Osten der Stadt Saarbrücken. Er meldete sich Anfang August 1914 als Kriegsfreiwilliger zum 2. Schwere-Reiter-Regiment „Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich-Este“, einem Kavallerieverband der Bayerischen Armee mit Friedensstandort in Landshut. Warum er gerade diesem Verband beitrat, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Zu berücksichtigen ist, dass das saarländische Kohlerevier mit Saarbrücken Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts zwar zu Preußen gehörte, die Grenze zum Königreich Bayern, das damals auch Teile der heutigen Bundesländer Rheinland-Pfalz und Saarland umfasste, aber nur einige Kilometer östlich von Goffontaine entfernt verlief.

Ausschnitt der Karte des Deutschen Reichs im Maßstab 1:100.000, Blatt 570, aus dem Jahr 1909. Der nachträglich eingefügt Pfeil verweist auf Goffontaine. Die Grenze zwischen Preußen und Bayern verläuft ungefähr in Nord-Süd-Richtung rechts der Ortsnamen Bischmisheim und Fechingen (Quelle: Landkartenarchiv.de).

Ende Juli 1917 wird Hermann Groß auf einem Patrouillenritt durch russische Soldaten auf dem Gebiet der heutigen Ukraine gefangen genommen. Er wird mit der Transsibirischen Eisenbahn bis fast an den Pazifik transportiert und in Chabarowsk nahe der Grenze zu China interniert. Mit einer langen Gefangenschaft scheint nicht zu rechnen zu sein. Tatsächlich wird im Dezember 1917 der Separatfrieden von Brest-Litowsk zwischen den Mittelmächten und Russland geschlossen. Im April 1918 beginnt der Abtransport der Gefangenen aus Chabarowsk Richtung Westen. Die Hoffnung auf die baldige Rückkehr in die Heimat wird jedoch bitter enttäuscht. Bereits im November des Vorjahres ist in Russland die Revolution und mit ihr der Bürgerkrieg zwischen den Bolschewisten und konterrevolutionären Kräften ausgebrochen. Die „Tschechische Legion“ bringt die Transsibirische Eisenbahn unter ihre Kontrolle und stoppt die Gefangenentransporte. Erst im September 1920, nach mehr als drei entbehrungsreichen Jahren, erreicht Hermann Groß wieder Deutschland.

Die erste, handschriftliche Fassung seiner Erinnerungen an die Kriegsgefangenschaft datiert aus dem Jahr 1922. Das Schriftbild, in dem die Aufzeichnungen nachfolgend wiedergegeben sind, lehnt sich an eine kurz darauf entstandene Schreibmaschinenabschrift an. Die handschriftlichen Zeichnungen stammen von Hermann Groß selbst. Die Fotos und übrigen Dokumente sind seinem Nachlass entnommen. Die Karte auf Seite → und sämtliche Fußnoten stammen vom Herausgeber.

In den Text eingestreut sind Auszüge von Briefen, die Hermann Groß aus Russland an seine Familie geschickt hat. Mehr noch als die Nacherzählung seiner Erlebnisse geben sie Einblick in seine Gefühle, die von Heimweh, Hoffnung und Niedergeschlagenheit geprägt sind.

Die Erinnerungen meines Großvaters an seine Kriegsgefangenschaft in der vorliegenden Form zu veröffentlichen, ist das Ergebnis familiärer Zusammenarbeit. Mein Vater, Heinz Eckhardt, hat das gesamte Skript vor Jahren nochmals auf Schreibmaschine abgeschrieben. Diese Vorlage hat mein Sohn, Karsten Eckhardt, digitalisiert. Ich selbst habe den digitalisierten Text Korrektur gelesen und um die zusätzlichen Materialien und Erläuterungen ergänzt. Meine Mutter, Dietgard Eckhardt, geborene Groß, hat mit mir die alten Dokumente durchgesehen, beim Entziffern der handschriftlichen Texte geholfen und mir von ihrem Vater, meinem Großvater, erzählt.

Klaus Eckhardt

Geschichtlicher Hintergrund

Der 1. Weltkrieg begann im Sommer 1914. Die Mittelmächte um das Deutsche Kaiserreich und seinen Hauptverbündeten Österreich-Ungarn standen gegen die "Entente" um Frankreich, das Vereinigte Königreich und Russland.

Am 15. März 1917 dankte Zar Nikolaus II ab. Die provisorische liberalnationalistische Regierung Russlands war - im Gegensatz zur radikalen Linken im eigenen Land, den Bolschewisten - entschlossen, den Krieg an der Seite der Westmächte fortzusetzen. Am 1. Juli 1917 traten die russischen Truppen in Galizien, auf dem Gebiet der heutigen Ukraine, zu einer letzten großen Sommeroffensive mit Stoßrichtung Lemberg an, die sich jedoch schon bald festlief. Die Mittelmächte antworteten mit einer Gegenoffensive, die am 19 Juli begann und die Front bis hinter Tarnopol und Czernowitz zurückdrängte. Während dieser Offensive wurde Hermann Groß gefangen genommen. Insgesamt mehr als zwei Millionen Soldaten der Mittelmächte teilten sein Schicksal der russischen Kriegsgefangenschaft.

Ausschnitt aus „Adolf Stieler's Hand Atlas über alle Theile der Erde und über das Weltgebäude“ von 1891 (Quelle: Landkartenarchiv.de). Czernowitz, in dessen Nähe Hermann Groß gefangen genommen wurde, liegt rechts unten unweit der damaligen Grenze zwischen Österreich-Ungarn und Russland.

Im November 1917 brach in Russland die bolschewistische Revolution aus. Die Armee und das Volk waren kriegsmüde, an einen längeren militärischen Widerstand war nicht mehr zu denken. Die provisorische bolschewistische Regierung richtete an die kriegsführenden Mächte einen Friedensappell. Den Mittelmächten bot sich damit die schon lange erhoffte Chance, die Koalition ihrer Kriegsgegner durch einen Separatfrieden im Osten zu sprengen. Am 3.Dezember begannen in Brest-Litowsk zunächst Waffenstillstandsverhandlungen, am 22. Dezember dann Friedensverhandlungen zwischen den Mittelmächten und Russland. Angesichts der desolaten Lage im eigenen Land und nach einem raschen und weiten Vorstoß deutscher Truppen nach Osten musste die bolschewistische Führung unter Lenin die Friedensbedingungen der Mittelmächte annehmen. Am 3. März 1918 wurde der Vertrag von Brest-Litowsk unterzeichnet.

Hermann Groß im Jahr 1916.

Die Hoffnung auf eine baldige Heimkehr erfüllte sich für viele Kriegsgefangene dennoch nicht.

Bis Ende 1917 hatten sich der russischen Armee mehrere Zehntausend Tschechen angeschlossen, die überwiegend aus der österreichischungarischen Armee dessertiert oder in Kriegsgefangenschaft geraten waren. Im März 1918 wurde geplant, sie mit der Transsibirischen Eisenbahn nach Osten zu transportieren, am Pazifik einzuschiffen und nach Westeuropa zu bringen, damit sie sich dort dem Kampf gegen die Mittelmächte anschließen könnten. Doch schon während des Transports durch Sibirien zeichnete sich das Scheitern dieses Vorhabens ab. Als es zu Auseinandersetzungen mit bolschewistischen Kräften kam, besetzte die „Tschechische Legion“ Ende Mai die Stadt Tscheljabinsk und brachte als stärkste bewaffnete Macht der Region die Transsibirische Eisenbahn unter ihre Kontrolle. Damit war den meisten in Sibirien internierten Kriegsgefangenen, darunter mehr als 20 000 Reichsdeutschen, der Rückweg versperrt. Quälende und entbehrungsreiche weitere Jahre der Internierung folgten. Erst ab Mai 1920 begann die geordnete Rückführung der Gefangenen nach Westen.

Herman Groß beginnt seinen Bericht im Juli 1917 mit seiner Verlegung nach Ostgalizien, einem Landstrich, der damals zu Österreich-Ungarn gehörte, heute aber im Westen der Ukraine liegt. Zur Orientierung zeigt die folgende Seite eine Karte mit den heutigen Staatsgrenzen und Stationen seines Berichts.

Stationen des Berichts vor dem Hintergrund der heutigen Staatsgrenzen. Die Entfernung zwischen Saarbrücken und Chabarowsk beträgt mehr als 8 000 km.

In Galizien

Mit der Bahn waren wir von Stochod, wo wir ein ganzes Jahr vor dem Brückenkopf vor Toboly in sumpfigen Stellungen gelegen hatten, nach Galizien gekommen. Es war ein großer Durchbruch geplant, bei dem durch eine schnelle, bogenförmig umfassende Bewegung mehrerer Kavalleriedivisionen die in Galizien befindlichen russischen Truppen umfasst werden sollten. Nach der langen Grabenrutscherei freuten wir uns wieder auf einen frisch-fröhlichen Reiterkrieg mit seiner Ungebundenheit und Abwechslung.

Da bekamen wir in Lemberg die Nachricht, dass die Russen die Österreicher weiter im Süden zurückgedrängt hätten und dass die bayerische Kavalleriedivision, bei der ich Vizewachtmeister der Reserve und Offiziersaspirant bei der 5. Schwadron des zweiten Schweren Reiterregiments war, dorthin befohlen sei, um das russische Vordringen zum Stehen zu bringen. Wir fuhren also über Stryj südwärts. Nachts hielt der Zug, ein Adjutant brachte Befehle. Es war stockdunkel und regnete in Strömen. Eilig wurden die Pferde ausgeladen, aufgesessen, und im Zotteltrab ging es auf einer aufgeweichten Straße nach Süden weiter. Es war so dunkel, dass man nichts sehen konnte und sich nach dem Geklapper der Hufe richten musste, um nicht die Fühlung zu verlieren.

Wir waren ein Detachement von zwei Schwadronen des 2. Schweren Reiterregiments, die dritte und die fünfte Schwadron, unter Führung des Rittmeisters Graf von Syretti. Im Morgendämmern kamen wir durch einen größeren Ort. Der Stab der Schweren Reiter Brigade war schon dort. Bei ihnen bekamen wir weitere Befehle und Aufklärung über die allgemeine Lage. Zurückgehende österreichisch-ungarische Truppen kamen uns aufgelöst entgegen, wir ritten auf einer Holzbrücke über die Lomniza und kamen an einem regentrüben Morgen in einem Talkessel gelegenen Dorfe, Landestrau, an. Die 3. Schwadron rückte in einem anderen Ort einige Kilometer entfernt. In Landestrau war alles durcheinander: Einzeln oder in Trupps zurückgehende Österreicher, jammernde Weiber, einschlagende russische Granaten, Maschinengewehrgeknatter, dazu strömender Regen. Wir waren abgesessen, hockten bei einer Bauernfamilie um den Tisch herum und hatten unsere klatschnassen Mäntel, Röcke und Stiefel am Ofen hängen. Da kam ein Meldereiter vom Grafen von Syretti. Mein Rittmeister, Freiherr von Plockwils, gab mir den Befehl, mit einem Schützenzug (als "Korsettstange") in die Österreicher einzuschwärmen. Mit meinen Schützen zog ich die lehmige steile Bergstraße hinauf. Ein trostloses Bild: Zugrückflutende Haufen (unsere Bundesgenossen), schlapp mit Hängeköpfen, im Straßengraben weggeworfene Infanterie- und Artilleriemunition, Handgranaten, krepierte Pferde, umgeworfene Wagen. Ein Offizier, wer es war, konnte ich damals noch nicht unterscheiden, rief mir menschenfreundlich zu: "Wo wollen's hin, Herr Kamerad? Gangen's z'ruck, die Russ'n kemma!" Mit diesen Leuten war nichts mehr anzufangen, ich ließ sie ruhig laufen, drunten im Dorf wird man sie auffangen. Auf der Höhe fragte ich einen Offizier, wo die Linie sei. "Hier, Herr Kamerad" antwortete er. Ich sah nichts als einzelne herum hockende Haufen Österreicher, in Geländemulden gedrückt. Auf meine Frage: "Warum verschanzen Sie sich denn nicht?" die wehleidige Antwort: "Wir müssen doch wieder z'ruck." Als sie merkten, was ich wolle, fingen sie an, sich um meine Leute zu reißen: "Kommen's z'mir, kommen's z'mir!". Meine Leute waren schwer geladen: "Christkindlesg'schwerl, damische Deifi" waren die gelindesten Koseworte. Das brachte etwas Beruhigung, zum Glück: denn meine Reiter waren, weil sie nicht, wie gehofft, Gräben vorgefunden hatten und daher zu buddeln anfangen mussten, in ein gefährliches, zu Tätlichkeiten geneigtes Stadium von Wut geraten. Ich ließ sie sich auf ein nicht allzu langes Stück der nunmehr sich bildenden Linie verteilen und mit Verschanzen beginnen, welchem Beispiel jetzt die Bundesgenossen allmählich folgten. Es dauerte nicht lange, bis etwas entstanden war, was notdürftig hätte Deckung bieten können.

Von Russen war, soweit das Auge reichte, nichts zu sehen. Ich war wohl noch keine halbe Stunde da, als ich den Befehl bekam, mit den Schützen wieder bei der Schwadron einzurücken. Als ich ins Quartier kam, wunderte ich mich über die überaus fröhliche Laune, in der sich die Herren befanden. Rittmeister von Plockwils, Oberleutnant Hofmeier und Leutnant Müller bogen sich vor Lachen und erzählten mir, dass soeben ein k.u.k. General hereingestürzt sei mit dem verzweifelten Ruf: "Wo ist meine Brigade, wo ist meine Brigade?" die Tür wieder zuschmiss und ehe sich die Herren von ihrem Staunen erholen konnten, wieder verschwand.

Das Wetter hellte sich auf und die der bayerischen Kavalleriedivision zugeteilten Gardereservejäger kamen an. Wie auf dem Exerzierplatz entfalteten sie auf dem gegenüberliegenden Berghang ihre Schützenlinie und trieben in schneidigem Angriff die dort am weitesten vorgedrungenen Russen zurück. Bei unserem Bundesgenossen wurde die Nachricht verbreitet: "Hinter uns stehen die Deutschen mit Maschinengewehren und schießen alles, was zurückgeht, zusammen." Die 3. Schwadron war mit dem Gegner in Fühlung getreten, der russische Vormarsch stockte. Die Division kam an, das Detachement wurde abgelöst und hinter die Lonniza gezogen. Zwei Tage war ich dort Verbindungsoffizier bei einem ungarischen Artilleriestab, dann wurden wir gegen die Karpaten zu verschoben, wo wir einige Tage als "Korsettstange" dienten. Es kamen noch deutsche Truppen an. Den Russen wurde gründlich eingeheizt. Sie wurden zum Rückzug gezwungen. Die Schützen wurden eingezogen, wir holten auf, und Tag und Nacht ging es hinter dem Gegner her. Wieder Regen, in die Luft gesprengte Munitionslager, halb zerstörte Brücken, steife Knochen, müde Pferde. Der Regen hört auf, der Himmel wird hell. Auf einer Höhe hält der Divisionsstab, die Lage wird erklärt, Befehle gegeben, weiter geht es. Die Schwere Reiter-Brigade zieht in geschlossener Marschordnung auf offener Chaussee. Plötzlich kommen Granaten und Schrapnelle angesaust, mitten in die Marschkolonne hinein. Vor mir reißt es Reiter und Pferde in den Chausseegraben. Matsch, Blut, Fluchen, Unruhe. Das erste Regiment reitet auf der Straße weiter, das zweite macht kehrt und trabt langsam Deckung suchend zurück. Die Pferde sind unruhig, links und rechts schlagen Granaten ein. Leutnant von Hertling, der vor mir ritt, hat eine Schrapnellkugel eine daumendicke Delle in den Stahlhelm geschlagen, er ist eine Zeit lang ganz dösig. In einem Nadelwald finden wir Deckung, das Schießen hört auf, es wird Nacht.

Meine letzte Patrouille

Der Morgen des 24. Juli 1917 dämmert. Ich streife die Pferdedecke, mit der ich mich zugedeckt hatte, von mir. Ich liege auf einem Reisiglager unter einer dicken Fichte, ringsum schlafende Reiter und im Nebel schnaufende Pferde. Ich stehe auf und gehe an einen Wassergraben am Waldrand, um mich zu waschen. Als ich zurückkomme, sind auch die anderen munter. Der Rittmeister reibt sich den Schlaf aus den Augen, Oberleutnant Hofmeier hat sich eine Zigarette angebrannt, und Leutnant Müller reckt seine durch die Nachtkühle und das harte Liegen steif gewordenen Glieder. Die Feldküche raucht schon, die Reiter tränken und füttern die Pferde. Bald sitzen wir scherzend auf dem Waldboden, trinken unseren Morgenkaffee und kauen "Barrass" mit Marmelade. Ich hatte mir eben meine Mexiko angezündet, da kam Oberleutnant Hofmeier angeschlendert und sagte, dass er soeben gehört habe, dass ich mit einer Patrouille zur Aufklärungseskadron des Prinzen Adalbert von Bayern abgestellt würde. Es dauerte nicht lange, da wurde ich durch eine Ordonnanz zum Brigadestab, der einige hundert Meter weiter im Walde lag, befohlen.

Die Herren saßen um auf dem Boden ausgebreitete Karten. Ich wurde von Seiner Königlichen Hoheit aufgefordert, mich dazu zu setzen. Prinz Adalbert legte an Hand der Karten die Lage dar: Der Gegner war weiter im Rückzug, die Aufklärungseskadron hatte einen sich gegen Czernowitz ziehenden Streifen aufzuklären. Falls sich der Feind nicht am jenseitigen Bistrizarufer stellte, hatten zwei Offizierspatrouillen den Auftrag, auf den den zugeteilten Streifen im Norden und im Süden begrenzenden Straßen mit dem Gegner Fühlung zu halten. Die südlich über Nadworna, Kolomea und Sniatyn führende wurde Leutnant von Kirschbaum zugeteilt, mir die nördlich über Nadworna, Tysmienica1, Tlumacz und Horodenka führende. Man wünschte uns viel Glück und wir ritten ab.

Vorläufig blieben die beiden Patrouillen zusammen. Um das russische Artilleriefeuer nicht auf uns zu lenken, ritten wir, möglichst die Geländemulden ausnutzend, auf die Bistriza zu. Die beiden Patrouillen trennten sich. Befehlsgemäß überschritt Leutnant von Kirschbaum die Bistriza südlich, ich nördlich des Ortes auf einer Holzbrücke, die die Russen in ihrer Eile zu zerstören vergessen hatten. An einem Gehöft ließ ich absitzen und schrieb eine Meldung. Ein Mann kam aus dem Haus, und als er erfuhr, dass wir Deutsche seien, lief er ins Haus zurück, kam aber sofort mit seiner Frau und erwachsenen Töchtern wieder, die uns freudestrahlend Brot reichten. Die Leute freuten sich wie Kinder mit Tränen in den Augen und wären uns am liebsten um den Hals gefallen. Für uns gab es keinen Aufenthalt, es wurde aufgesessen und weiter geritten. Ich traf wieder mit Leutnant von Kirschbaum zusammen, und bald holten uns auch die Kavallerie-Radfahrer ein. Ein Bahnübergang war von Russen besetzt, die sich aber, als die Radfahrer ausschwärmten, verrollten. Durch den Aufenthalt holte uns auch die Aufklärungseskadron ein, wir mussten uns also beeilen, wieder nach vorwärts Abstand zu gewinnen. Eine Holzbrücke war angebrannt und rauchte. Wir löschten schnell, so gut es ging, ritten seitwärts über den Bach und kamen schnell vorwärts. Im nächsten Dorf trennten wir uns. Leutnant von Kirschbaum ritt geradeaus durch den brennenden Ort weiter, ich nach Norden nach Tysmienica zu. Am Eingang eines Dorfes sagte man mir, dass eine Kosakenpatrouille sich schlafend in einem Haus befinde. Ich ließ zwei Reiter absitzen, um das Haus zu durchsuchen. Als diese noch nicht die Tür erreicht hatten, sprengten die Kosaken auf der anderen Seite davon und verschwanden, ehe wir schießen konnten, hinter Hecken und Zäunen. Dann kamen wir an ein einsam an der Straße liegendes Schloss, das die Russen, wie uns der etwas deutsch sprechende Verwalter sagte, vor einer Stunde angezündet hatten und von dem jetzt prasselnd die brennenden Balken stürzten. Gegen Mittag erreichte ich Tysmienica. Dort waren gerade österreichisch-ungarische Truppen eingezogen, auf dem Bahnhof waren sie damit beschäftigt, brennende Munitionsladungen zu retten. An einem Bach tränkte ich die Pferde. Die Stadt hatte schwer gelitten, überall zeigten sich die Spuren der russischen Wut: eingetrümmerte Türen, erschossene Hunde, geplünderte Läden, jammernde Weiber, brennende Häuser. Jenseits der Stadt, wo sich die Straße eine Anhöhe hinaufzieht, überholte ich einen ungarischen Stab. Ich machte Meldung und bat um Aufklärung über die Lage, konnte aber nichts erfahren, was für mich wichtig gewesen wäre. Es begann zu regnen. Um an den mitgenommenen Haferrationen zu sparen, ließ ich die hungrigen Pferde in einem Haferfeld weiden und ritt dann durch die langsam vorrückende Infanterieschützenlinie hindurch schnell nach vorwärts. Die Straße führte bergauf und durch einen Wald. Am Waldausgang war das Dorf Nadorozna2 vom Gegner frei. Wir ritten hindurch. Ein barfüßiger Junge kam uns nachgelaufen und sagte, dass hinter uns im Dorf eine etwa dreißig Mann starke Kosakenabteilung sei. Von meinen zehn Reitern waren zwei mit Meldungen fortgeschickt, ich hatte nur noch acht und wollte mich daher mit den Kosaken nicht einlassen. Ich zog die Spitzenreiter ein, bog südwärts über die Felder ab und näherte mich wieder in weitem Bogen dem Dorf. Am Dorfrand sah ich einige Reiter, die absaßen und sich schussfertig im Straßengraben näherten. Ich schickte einen Reiter hin, der feststellte, dass es ungarische Husaren, die Kavalleriespitze der vorrückenden Truppe, seien. Auf der Straße sah ich von einer Anzahl von Pferden herrührende Fußspuren, die sich bald nordwärts von der Straße entfernten. Die Kosaken schienen sich zwischen den Husaren und mir nicht wohlgefühlt zu haben und waren daher ausgewichen. Es regnete wieder, die Luft wurde dick, das Gelände wellig und unübersichtlich, ich kam nur langsam vorwärts. Die Spitzenreiter glaubten an einem Gehöft, das einige hundert Meter nordwärts der Straße lag, abgesessene Kavallerie gesehen zu haben. Es war aber nichts. Die Straße senkte sich, das Städtchen Tlumacz kam in Sicht. Häuser brannten, auf den jenseitigen Höhen erkannte ich Artillerie auf dem Rückzug und abziehende Fahrzeuge.

Merkwürdigerweise war am Stadteingang keine Postierung, die Straßen menschenleer, wie ausgestorben. Auf der Veranda eines vornehmen Steinhauses erschien schüchtern und zaghaft eine Dame, mehrere Damen und Herren traten, vorsichtig die Hälse reckend, hinzu. Ich rief einen Gruß hinüber. Darauf eine jubelnde Frauenstimme: "Daidsche!". Der Bann war gebrochen, ein Jubeln und Freudeweinen hub an. Auf meine Frage antwortete einer der Herren, dass die Russen soeben abgerückt seien. Überall kamen vorsichtig Leute aus den Häusern, hinter Vorhängen blickten verängstigte Frauenaugen heraus, jauchzende Kinder liefen neben uns her. Am Ostrand der Stadt stürzten brennende Holzhäuser zusammen, brennende Fässer und lodernde Möbel lagen auf der Straße, weinende Kinder liefen zwischen den Trümmern herum. Am Brunnen an der Kirche ließ ich die Pferde tränken und schickte eine Meldung fort. Dann ging es über eine halb zerstörte Eisenbahnüberführung auf stark gewundener Straße auf die östlichen Höhen. In der Abenddämmerung stießen wir auf eine sich quer über die Straße ziehende Grabenstellung. Ohne Feuer zu bekommen ritten wir ziemlich nahe heran. Bis zu den Hüften aus dem Graben herausragend glotzten uns die Russen an, ohne unterscheiden zu können, ob Freund oder Feind. An Feuerschein und Schall stellte ich die Stellung einer russischen Batterie am Rande eines Tannenwaldes fest, der sich südöstlich von uns einen Berghang hinaufzog. An weiteres Vordringen war also vorläufig nicht zu denken. Um meinen ermatteten Pferden etwas Ruhe für kommende Anstrengungen zu verschaffen, beschloss ich, für die Nacht Quartier zu beziehen und ritt zurück auf Häuser zu, an denen wir vorbei geritten waren. Dort traf ich mit einer österreichischen Kavallerieabteilung zusammen. Dem Rittmeister machte ich Meldung, und da eines meiner Pferde ein Eisen verloren hatte und ich versehentlich meinen Schmied als Meldereiter fortgeschickt hatte, bat ich ihn, dem Pferd ein Eisen aufhauen zu lassen. Der Rittmeister sagte mir, dass er die Nacht hier oben bleibe, hier konnte ich also nicht mehr unterkommen. Ich erklärte, dass ich dann in Tlumacz nächtigen wolle und bat ihn, mich bei Änderung der Lage zu unterrichten. Nahe der Stadt wurde ich von den Russen mit Schrapnells mit viel zu hohen Sprengpunkten beschossen. Ich bezog in der Stadt Quartier und schrieb eine Meldung.