Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert
Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.
Internet: https://ebooks.kelter.de/
E-mail: info@keltermedia.de
Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74092-201-6
Doktor Roberta Steinfeld konnte nicht anders, sie musste das junge Mädchen einfach umarmen, mochte es an der Haustür noch so sehr Sturm klingeln.
Pamela bot aber auch ein zu anrührendes Bild, wie sie da in ihrem Bett saß, mit großen traurig dreinblickenden Augen.
Bambi passte viel besser zu ihr, aber so wollte sie ja nicht mehr heißen, seit sie wusste, dass sie von den Auerbachs adoptiert war. Mit denen wollte sie nichts mehr zu tun haben, und deswegen musste auch ›Bambi‹ daran glauben, der Name, den man ihr liebevoll gegeben hatte und mit dem sie bis zu diesem schrecklichen Moment gern gelebt hatte. Jenem Moment, in dem sie zufällig erfahren hatte, dass sie nicht zu den Menschen gehörte, die sie über alles geliebt hatte.
Ihre Welt war zusammengebrochen, und sie stand hilflos vor den Scherben ihres glücklichen Lebens.
»Frau Doktor, wer immer es auch ist, ich glaube, da draußen wird gerade die Klingel abgerissen. Sie müssen sich meinetwegen nicht sorgen, ich bin wieder okay, und ich mache auch keine Dummheiten, das verspreche ich Ihnen.«
Roberta richtete sich auf.
Pamela hatte recht, wer immer auch der späte Besucher war, gehörte nicht zu den geduldigen Menschen.
Sie nickte Pamela zu, dann verließ sie das Gästezimmer, in dem die Kleine untergebracht war, seit sie sie nachts unterwegs gefunden hatte.
Sollte der Besucher Max sein, ihr Ex? Ihm war es zuzutrauen, einfach vorbeizukommen, er war in jeder Hinsicht schmerzfrei. Und jetzt war er auf jeden Fall wütend auf sie, weil sie ihr Telefon auf laut gestellt hatte, als seine schwangere Gespielin zu Roberta gekommen war, um sie um die Scheidung von Max zu bitten.
Natürlich war es tragisch für die arme Frau gewesen, hören zu müssen, dass Max Kinder hasste und das er nicht im Traum daran dachte, Henny zu heiraten, an deren Namen er sich nicht einmal erinnert hatte. Aber Max war so etwas wie ein Staatsschauspieler, der sich im Glanz seiner Bewundererinnen sonnte, und auch wenn sie ihm nichts bedeuteten, wollte er gut vor ihnen dastehen.
Ja, der späte Besucher konnte Max sein, zumal sie ihn bei einem Anruf nicht angehört, sondern aufgelegt hätte.
Der Gedanke machte sie wütend, und sie war ziemlich ungehalten, als sie die Haustür aufriss.
Es war nicht Max!
Roberta starrte den späten Besucher an wie einen Geist. Sie hätte mit allem gerechnet, mit ihm nicht. Und war es nicht verrückt, dass Pam gerade eben erst noch über ihn gesprochen hatte? Ihren Bruder Hannes, der ja nun auch nicht mehr ihr Bruder war, aber mit dem zu sprechen sie sich vorstellen konnte?
Hannes Auerbach stand vor ihr, mit langen Haaren, den Bart hatte er mittlerweile abrasiert. Er war braun gebrannt, sah sportlich und verwegen aus. Klar, jeden Tag auf dem Wasser zu sein als Surflehrer oder in der Tiefe als Tauchlehrer.
Aber er lebte doch in Australien?
Wieso war er hier?
Hatte er den Job geschmissen und wollte nun doch anfangen zu studieren?
Diese und andere Gedanken gingen Roberta blitzschnell durch den Kopf.
Sagen konnte sie nur: »Hannes … Sie?«
Ein breites Grinsen ging über sein Gesicht, er zeigte dabei ein prachtvolles Gebiss, was jeden Zahnarzt entzücken würde.
»Wo kommen Sie her … Nein, warum sind Sie hier?« Sie wusste doch, dass er aus Australien kam.
Er wurde ernst.
»Ich bin wegen meiner kleinen Schwester hier. Mama hat mir erzählt, was passiert ist. Das ist so gruselig, ich muss ihr helfen. Und deswegen bin ich auch direkt vom Flughafen zu Ihnen gekommen, weil ich ja weiß, dass Bambi bei Ihnen ist.«
Roberta war gerührt.
Aber Hannes und Pamela waren auch ein Herz und eine Seele, das hatte sie schon mitbekommen. Aber sich auf die weite Reise zu machen, Australien lag ja nicht gerade mal um die Ecke: Das war unglaublich.
»Kommen Sie rein, Hannes«, sagte sie, »und legen Sie ihren schweren Rucksack ab. Wissen Ihre Eltern, dass Sie hier sind?« Er schüttelte den Kopf.
»Nein, das war ein ganz spontaner Entschluss, und ich wollte es mir von niemandem ausreden lassen, besonders nicht durch meine Mutter, die manchmal vergisst, dass ich erwachsen bin. Bambi …«, er hielt kurz inne, »ach, sie will ja jetzt Pam genannt werden, die Abkürzung von ihrem eigentlichen Namen. Das hat Mama mir erzählt, aber ich finde es okay. Es ist nur noch so fremd, da muss man sich erst einmal dran gewöhnen.«
Sie hatten nicht laut gesprochen, dennoch stand Pamela plötzlich vor ihnen.
»Hannes«, rief sie nur glückselig, ehe sie sich in seine Arme stürzte, »du bist es wirklich.«
Es war eine anrührende Begrüßung, Pamela vergaß, dass sie mit den Auerbachs nichts mehr zu tun haben wollte, sie vergaß, dass Hannes ein Auerbach war.
Hannes war da!
Roberta freute sich, weil sie die Hoffnung hatte, dass nun alles ein gutes Ende nehmen würde. Sie kam sich aber auch ziemlich überflüssig vor.
Was immer jetzt auch geschehen würde, es war eine Angelegenheit zwischen den Geschwistern.
Aber im Flur stehen lassen konnte sie die beiden auch nicht.
Sie räusperte sich.
»Ich denke, ihr solltet ins Wohnzimmer gehen, dort ist es gemütlicher, und ihr habt euch doch gewiss viel zu sagen.«
Sie folgten Roberta ins Wohnzimmer, sie bot ihnen etwas zu trinken an.
Und Hannes sagte: »Frau Doktor, ich weiß, es ist unverschämt. Aber haben Sie vielleicht ein Butterbrot für mich? Ich habe tierischen Hunger.«
Diese Bemerkung brachte ein wenig Leichtigkeit in die angespannte Situation.
Roberta nickte, verschwand in der Küche, und als sie zurückkam, redete Hannes auf die Kleine ein.
Hier hatte sie wirklich nichts mehr zu suchen, sie stellte den Teller mit den Broten hin. Dank der Fürsorge von Alma war der Kühlschrank immer gut bestückt, und es mangelte auch nicht an Brot. Also war es kein Problem gewesen, etwas zurechtzumachen.
Der Teller stand noch nicht einmal, als Hannes sich auf ein Brot stürzte und es beinahe gierig verschlang.
»Boh, ist das lecker. Australien ist ja toll, aber das Brot und die Wurst sind nicht der Knaller. Und die leckere Leberwurst gibt es überhaupt nicht.«
Roberta lachte.
»Ja, dann guten Appetit«, sagte sie. »Wenn das hier nicht ausreicht, es gibt noch mehr. Wenn was sein sollte, ihr findet mich in der Praxis.«
»Aber Frau Doktor, wir können Sie doch nicht vertreiben«, rief Pamela und schaute Roberta schuldbewusst an.
»Ihr vertreibt mich nicht«, sagte Roberta. »Hannes, es ist schön, dass Sie da sind.«
Sie mochte den jungen Mann wirklich sehr gern. Sie hatte Hannes als letztes Familienmitglied der Auerbachs kennengelernt, als er damals von seiner Weltreise zurückgekehrt war und für Australien nach eine Impfauffrischung benötigte und ein Gesundheitszeugnis.
Er erinnerte sie an Kay. Aber jetzt zeigte sich, welch weiches Herz er doch hatte, war einfach aus Australien gekommen, um seiner kleinen Schwester beizustehen. Wenn das keine Geschwisterliebe war! Roberta war ganz gerührt und konnte sich von der Überraschung noch nicht erholen.
Gut, um ihren Abend war es geschehen, doch das machte überhaupt nichts.
Für so etwas würde sie noch ganz andere Dinge in Kauf nehmen.
Hannes Auerbach war ganz spontan gekommen, um Pamela beizustehen.
So etwas gab es wirklich, meistens las man es doch nur in Romanen und dann fragte man sich, ob da nicht ein wenig übertrieben wurde.
Roberta ging in ihre Praxis, doch sie war sich nicht sicher, ob sie da effektiv zum Arbeiten kommen würde. Sie musste immer an Hannes und Pamela denken.
Es war aber auch eine zu schöne Geschichte. Man sagte ja immer, dass das Leben die schönsten Geschichten schrieb. Das stimmte wirklich!
Roberta griff nach einer Krankenakte, die ganz obenauf lag.
Früher, als sie noch mit Max verheiratet gewesen war, war sie die Chefin einer großen Facharztpraxis gewesen. Es war schon ein Unterschied zu dem, was sie hier im Sonnenwinkel machte. Da war sie nicht nur eine Ärztin für alle Krankheiten, sondern sie war Psychologin, Lebensberaterin, Kummerkasten zugleich. Das verlangte man von einem Arzt mit mehr oder weniger einer Landarztpraxis. Anfangs hatte sie Schwierigkeiten damit gehabt. Anfangs war alles schwierig gewesen, sie noch angeschlagen von ihrer Scheidung, dem Verlassen ihrer Praxis. Und die Leute hier trauerten Enno Riedel nach, ihrem Vorgänger, der nach Philadelphia gegangen war.
Das alles war Schnee von gestern, mittlerweile liebte sie ihre Arbeit, weil sie umso vieles näher am Patienten war als in ihrer großen Praxis zuvor. Und Roberta konnte sich wirklich nicht vorstellen, das alles hier noch einmal aufzugeben. Sie war angekommen. Ja, das war sie wirklich, und deswegen würde sie sich mit Enno in Verbindung setzen und ihn bitten, ihr sein Haus zu verkaufen, das sie zunächst einmal nur gemietet hatte.
Sie standen noch immer in Verbindung, und es war nicht abzusehen, dass er noch einmal nach Deutschland zurückkommen würde. Er und ganz besonders seine Familie fühlten sich wohl in Amerika.
Es war schon verrückt, wie es sich manchmal im Leben fügte. Sie und Enno hatten zwar zusammen studiert, doch danach hatten sie sich mehr oder weniger aus den Augen verloren und waren nur ganz sporadisch in Verbindung gewesen.
Und ausgerechnet als sie am Tiefpunkt ihres Lebens angelangt war, hatte er sich gemeldet, und sie hatte vom Sonnenwinkel erfahren.
Ein Spruch fiel ihr ein: »Die Dinge passieren, wenn die Zeit reif ist.«
Wie wahr er doch war!
Ohne ihre Scheidung, ohne all die unschönen damit verbundenen Auseinandersetzungen wäre ihr niemals in den Sinn gekommen, ihr bisheriges Leben zu verlassen und es gegen ein so ganz anderes einzutauschen.
Ja wirklich, alles hatte so sein sollen.
Sie vertiefte sich in die Patientenakte, und es gelang ihr sogar, für einen Moment nicht an die Geschwister zu denken, die sich in ihrem Wohnzimmer unterhielten und deren Gespräch hoffentlich zum Guten führen würde.
*
Hannes war da, der Gefährte ihrer glücklichen Kindheit. Pamela konnte es noch immer nicht fassen und starrte Hannes nur an, der zunächst einmal unbeirrt all die Brote aufaß, die Roberta für ihn zubereitet hatte.
Als er gesättigt war, schob er den Teller beiseite, dann blickte er seine kleine Schwester, und das würde sie für ihn wohl immer bleiben, ernst an.
»Bambi, ich nenn dich jetzt einfach noch mal so, weil ich mich an das Pamela oder Pam erst noch gewöhnen muss.«
Als sie etwas sagen wollte, winkte er ab. »Du, das ist ganz okay so, Bambi kannst du nicht ewig bleiben.«
Er setzte sich neben sie, legte kameradschaftlich einen Arm um ihre Schulter, und sie begann leise zu weinen, weil es so unglaublich schön war, dass Hannes hier war. Sie war ihm immer am nächsten gewesen, und deswegen dachte sie nicht eine Sekunde lang daran, dass er ein Auerbach war, zu der Familie gehörte, mit der sie doch eigentlich nichts mehr zu tun haben wollte.
»Wenn du jetzt weinen musst, dann tu das, kleine Schwester. Es ist ja ganz schrecklich, was geschehen ist, auf welche Weise du erfahren hast, dass du keine Auerbach bist, sondern dass Mama und Papa dich adoptiert haben, als du noch ganz klein warst.«
Der Schmerz überkam sie, und sie weinte heftiger, und Hannes ließ sie gewähren. Als sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, versuchte er ihr zu erklären, wie leid allen alles tat, dass ihre Eltern aus Liebe gehandelt hatten, dass sie Angst davor gehabt hatten, sie zu verletzen. Er sprach auch davon, dass sie es am Morgen nach Jonnys Tod erfahren sollte.
»Ehrlich mal, Bambi, da konnten sie es doch wirklich nicht tun. Du warst voller Schmerz, weil Jonny, der treue Begleiter deiner Kindheit, plötzlich in der Nacht gestorben war. Sie mussten dich trösten. Allen war nur daran gelegen, dich nicht in ein tiefes Loch fallen zu lassen, und Oma und Opa hatten zum Glück die glorreiche Idee, mit dir ins Tierheim zu gehen, und dort hast du ja Luna gefunden. Und wie die auf deinen Weg gekommen ist, das war ja wohl ein Wunder. Es war Jonny, der dir Luna geschickt hat.«
Das stimmte alles, aber sie hätten es ihr schon viel früher sagen können oder danach. Luna war ja nun auch schon eine ganze Weile ihre Weggefährtin.
Das sagte sie ihm.
»Weißt du, Hannes, es ist ja so peinlich, dass ich mich mit allen von euch verglichen habe. Ich wollte sein wie Mama oder Papa, wie Ricky oder manchmal auch wie Jörg, und ganz besonders stellte ich eine Ähnlichkeit mit dir fest. Erinnere dich bitte, als du von deiner Weltreise zurückkamst, habe ich das wieder mal fälschlich festgestellt, und da hast du nicht widersprochen.«
Das war auch wieder wahr, und Hannes versuchte ihr klarzumachen, dass er unmöglich den Eltern in den Rücken fallen konnte.
»Glaub mir, ich habe Mama noch einmal ins Gewissen geredet, es dir endlich zu sagen. Ich habe mich auch nicht wohlgefühlt, wenn du solche Feststellungen machtest. Aber erinnere dich bitte daran, dass ich dir immer wieder gesagt habe, dass du du bist und eine solche kleine Persönlichkeit, die sich mit niemandem vergleichen muss.«
Allmählich dämmerte es Pamela, dass Hannes auch ein Auerbach war.
»Ach, Hannes, ich war immer so stolz darauf, dich als Bruder zu haben. Besonders als du von der Weltreise zurückgekommen bist, als mich alle um dich beneideten, weil du so toll warst mit deinen langen Haaren und dem Bart, weil du so verwegen warst wie ein Pirat.«
»Bambi, ich bin ich, und ich bin und bleibe dein Bruder, ob nun mit Bart und langen Haaren oder ohne. Wir zwei haben unsere Kindheit miteinander verbracht, eine glückliche Kindheit, von der ich nicht einen Tag missen möchte. Gut, vom Blut her sind wir keine Geschwister, aber doch von unseren Herzen. Du wirst für immer meine kleine Schwester bleiben, die ich über alles liebe. Und Bambi, was glaubst du, weswegen ich gekommen bin?«
Hannes blickte seine kleine Schwester ernst an.
»Bambi, wir zwei sind immer durch dick und dünn gegangen, wir hielten stets wie Pech und Schwefel zusammen. Und daran hat sich bis heute überhaupt nichts geändert. Da sind irgendwelche Gedanken in deinem Kopf, die da nicht hineingehören. Wir lieben dich alle, du bist unser Nesthäkchen, und wenn man dich ansieht, da geht die Sonne auf. Ohne dich wäre das Leben nur halb so schön. Bitte vergiss dieses unerfreuliche Gespräch der beiden Frauen bei ›Calamini‹. Erinnere dich lieber an all das Schöne, das wir miteinander hatten.«
»Das versuche ich doch«, rief sie ganz verzweifelt und hatte schon wieder Tränen in den Augen. »Es geht nicht, denn es war verkehrt, meine leiblichen Eltern totzuschweigen. Ich bin so alt geworden und weiß erst jetzt von ihnen.«
Hannes versuchte, dem Gespräch den Ernst zu nehmen.