HarperCollins YA!®

Copyright © 2018 by HarperCollins
in der HarperCollins Germany GmbH

Copyright © 2018 by Brigid Kemmerer
Originaltitel: »More than We Can Tell«
erschienen bei: Bloomsbury Children’s Books, New York

Published by arrangement with
Bloomsbury Publishing Plc. All rights reserved.
Covergestaltung: Formlabor, Hamburg
Coverabbildung: suns07butterfly, pimchawee, Kuryanovich Tatsian, Binkski, Muamu / shutterstock

ISBN E-Book 9783959677813

www.harpercollins.de

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

Für meine Mutter,

die mich dazu erzogen hat, stark und –

was noch wichtiger ist – liebenswürdig zu sein.

1. KAPITEL

Emma

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OtherLANDS Player Dashboard

USER NAME: Emma Blue (PRIVAT)

USER LEVEL: Admin/Developer

SPIELERNAME: Azure M

NEUE NACHRICHT

Donnerstag, 15. März, 17:26:00 Uhr

Von: N1ghtmare

An: Azure M

Du bist scheiße.

Und genau das werde ich dir ins Gesicht sagen, wenn ich ihn dir ins Mundloch stopfe.

Widerlich. Wenigstens hat dieser Kerl nicht auch noch ein Foto von seinem Penis mitgeschickt.

Mein Finger verharrt über dem Spieler sperren-Button.

Ich sollte es tun. Ich weiß, dass ich es tun sollte.

Nightmare ist angepisst, weil ich ihn aus einem Team gebootet habe, nachdem er einen anderen Spieler belästigt hat. Das war am Ende der Mission, und weil ich ihn rausgeworfen habe, hat er alle XPs verloren, die er bis dahin verdient hatte. Zwei Stunden Gaming für die Katz.

Allerdings hat OtherLANDS nicht die größte Fanbase. Vielleicht zweihundert Spieler an einem guten Tag. Ich habe das Game als Teil eines Schulprojekts entwickelt. Danach lud ich einen Link ins 5Core-Forum der Bezirksschule hoch, weil ich ein paar Spieler brauchte, um es zu testen. Nie hätte ich gedacht, dass es irgendjemand wirklich spielen würde.

Aber genau das ist passiert. Und jetzt … habe ich tatsächlich Spieler. Ich habe eine Community geschaffen. Und ein einziger Idiot, der mich auf 5Core trollt, könnte genügen, um alle anderen zu verscheuchen.

Jetzt sehe ich seinen Post.

Azure M ist sauer wegen ein bisschen Trashtalk und hat mich gesperrt. Deshalb haben Mädchen beim Gaming nichts zu suchen.

Ich bin mir absolut sicher, dass es ein Er ist. Denn finde mal eine weibliche Person, die »ihn dir ins Mundloch stopfe« sagen würde.

Seufzend lösche ich seine Nachricht.

Dann klicke ich auf iMessage und schicke Cait Cameron eine Nachricht.

Cait: Mundloch? Ist das nicht irgendwie doppelt gemoppelt?

Cait: An manchen Tagen bin ich echt froh, dass mir die Leute schlimmstenfalls sagen, ich sei hässlich.

Cait macht Make-up-Tutorials, die sie auf YouTube stellt.

Sie ist nicht hässlich. Kein bisschen.

Doch ihr Make-up ist schon exzentrisch. Sie steht auf Cosplay und die Nachbildung irgendwelcher Figuren. Ich bin nicht Geek genug, um da mitzuhalten. Ihr wahres Talent sind ihre eigenen Kreationen. Einmal tauchte sie mit winzigen glitzernden Schuppen auf den Wangen wie bei einer Meerjungfrau im Unterricht auf. Ein andermal war sie geschminkt, als hätte sie ihre Haut mit einem Reißverschluss geöffnet – ein Lehrer zwang sie, das gleich wieder abzuwaschen.

Ich hab es nicht so mit Make-up, aber letztes Jahr ließ ich mich einmal von ihr schminken, nachdem sie ewig lang gebettelt und mir versichert hatte, sie hätte die perfekte Idee für mich. Schließlich trug sie dieses durchscheinende Zeug von meinen Schläfen bis zum Kinn auf, sehr dezent, dann kam noch ein dunkler Lidstrich und silberner Lidschatten dazu. Ich fand, dass es ziemlich cool aussah, bis diese Idioten in der Schule anfingen mich zu fragen, ob ich darauf programmiert sei, anderen Lust zu bereiten.

Noch während der ersten Stunde ging ich aufs Klo, um alles zu entfernen.

Cait hat es seither nie mehr erwähnt. Ich auch nicht.

Jetzt schreibe ich ihre eine weitere Nachricht.

Cait: Kann nicht. Habe gerade alles vorbereitet, um einen neuen Winged-Eyeliner an meiner Mom auszuprobieren.

Würg. War ja klar.

Kaum habe ich das gedacht, fühle ich mich wie eine echte Bitch. Früher waren Cait und ich quasi siamesische Zwillinge, aber irgendwann zu Beginn des Schuljahrs fingen wir an, uns voneinander zu entfernen. Ich weiß nicht, ob es am Gaming oder am Make-up oder sonst was liegt, allerdings passiert es immer öfter, dass eine von uns etwas anderes zu tun hat. Ich wünschte, ich wüsste, wie wir das wieder hinkriegen. Aber wenn Fischschuppen und durchscheinender Puder die Lösung sind, wird daraus wohl nichts.

Seufzend kehre ich zu OtherLANDS zurück und logge mich als Spieler statt als Admin ein.

Sofort erhalte ich eine Teamanfrage von Ethan_717.

Lächelnd setze ich mir das Headset auf. Vielleicht wird der Nachmittag doch nicht total blöd.

Keine Ahnung, wer Ethan in Wirklichkeit ist. Er geht auf die Highschool, weil in seinem 5Core-Profil steht, dass er an der Old Mill ist. Aber das grenzt die Möglichkeiten nicht gerade stark ein. Ethan könnte ein ausgedachter Name sein, wobei Ethan_717 nicht nach einem Rollennamen klingt, also vielleicht doch echt ist. Im Spiel sieht er wie ein Krieger aus, in schwarzer Rüstung und mit rotem Cape. Eine Maske verbirgt die untere Gesichtshälfte, und er hat zwei elektrische Schwerter. Wenn er sie im Kampf zieht, zischen blaue Blitze an den Klingen entlang – eine meiner besten Leistungen als Designerin.

Er weiß kaum etwas über mich, auch wenn er einer der wenigen ist, denen ich verraten habe, dass ich OtherLANDS entworfen habe. Für alle anderen im Spiel und auf 5Core bin ich einfach Azure M, irgendeine Spielerin oder ein Spieler. Und niemand hier verbindet Azure M mit Emma Blue.

Sobald wir ein Team gebildet haben, können wir uns über die Headsets unterhalten.

»Hey M«, sagt Ethan. Sein Avatar winkt.

»Hey E.« Mein Lächeln wird breiter. Er hat eine nette Stimme. Ein bisschen tiefer, als man erwarten würde, und ein klein wenig heiser. Irgendwie sexy.

Okay, ja, vielleicht steh ich ein bisschen auf Ethan. Es schwirren zwar keine animierten Schmetterlinge in meinem Bauch herum, aber trotzdem.

Dabei ist das lächerlich. Die Old Mill liegt fünfundvierzig Minuten von mir entfernt. Ich habe keine Ahnung, wie er wirklich aussieht. Meine Güte, er könnte ein Neuntklässler sein.

»Ich wollte noch ein paar andere Leute dazuholen«, meint er. »Lust, eine Mission zu erfüllen?«

Das ist die andere Sache, die die Schmetterlinge im Zaum hält: Er ist zwar witzig und nett, redet allerdings immer nur über das Spiel.

Seufz.

»Klar«, antworte ich.

»Was ich dir noch sagen wollte: Es gibt da in der Elfenwald-Grafik ein Loch. Ich schicke dir auf 5Core einen Screenshot, wenn wir fertig sind, damit du es reparieren kannst.«

»Lieb von dir. Danke.«

Wie schon gesagt. Nur Gaming. Nur Computerzeug.

Was in Ordnung ist. Ich denke, ich sollte sogar dankbar sein, dass Ethan mich noch nicht nach meiner Körbchengröße gefragt hat.

Einen Augenblick später taucht ein weiterer Spielername auf der Teamliste auf. GundarWez. Sein Avatar gesellt sich auf dem Bildschirm zu uns. Er ist riesig und komplett schwarz gekleidet – da kommen mir all die Individualisierungsmöglichkeiten, mit deren Programmierung ich so viel Zeit verbracht habe, wie die absolute Verschwendung vor. Ich habe noch nie mit ihm gespielt.

»Hi Gundar«, spreche ich in mein Mikro.

»Hey«, sagt Ethan.

»Hi Azure. Hi Ethan.«

Ich muss ein Lachen unterdrücken. Wegen des riesigen Avatars hätte ich eine tiefe Stimme erwartet. Doch Gundar klingt, als wäre er neun.

Noch ein Spieler taucht auf. Der Name erscheint auf der Teamliste, und mir vergeht das Grinsen.

N1ghtmare. Mr. Mundloch höchstpersönlich.

Sein Avatar ist weiblich. Logisch. Brüste so groß, wie mein Coding es erlaubt – was zum Glück nicht allzu ordinär wirkt. Winzige Taille. Breite Hüften. Die Kleidung und den Ton seiner Haut hat er so eingestellt, dass alles einheitlich beige ist, deshalb sieht sein Avatar nackt aus. Am liebsten würde ich die Farbe aus meinem Coding entfernen.

Ich erstarre, bin zwischen Ekel und Verwirrung hin- und hergerissen. Es kommt mir wie Absicht vor, aber ich weiß nicht, inwiefern. Er kann erst gesehen haben, dass ich auch im Team bin, als Ethan ihn hinzugefügt hat.

Vielleicht ist es ja in Ordnung. Ich weiß, dass viele Leute Dinge in eine Privatnachricht schreiben, die sie niemals in ein Mikrofon sagen würden.

»Sorry«, meint er, und seine Stimme klingt rau und hart. Eine halbe Sekunde lang glaube ich, dass er sich tatsächlich entschuldigt. Doch dann sagt er: »Ich dachte, das wäre hier ein echtes Team.«

»Ist es auch«, erwidert Ethan. »Wir sind zu viert. Wollen wir eine Mission …«

»Nein. Nur wenn du die Schlampe bootest.«

Anscheinend sagen manche Leute auch Dinge in ein Mikro, die eigentlich nicht laut ausgesprochen werden sollten. Mein Ekel verwandelt sich in Wut – und Scham.

»Nur zu.« Meine Stimme klingt gleichgültig, obwohl mein Herz hämmert. »Boote dich doch selbst, Nightmare.«

»Kommt gar nicht infrage. Ich bin hier, um zu spielen. Ich will nur nicht mit irgendeiner Drecksschlampe spielen.«

»Tja, und ich will nicht mit einem Arschloch spielen«, gifte ich zurück.

»Leute«, sagt Ethan. Er seufzt. »Da ist ein Kind im Team.«

»Ich bin kein Kind!«, meldet sich Gundar.

Ich zucke zusammen. Ihn hatte ich ganz vergessen.

»Alter«, stößt Nightmare hervor. »Kannst du sie mal booten? Sie kann nicht spielen. Die wird nur die ganze Mission versauen.«

»Alter«, sagt Ethan, und in seiner Stimme schwingt Ironie mit, »sie hat das Spiel gebaut.«

Ich zucke zusammen. Eigentlich versuche ich, das keinem zu erzählen.

»Ist es deshalb so scheiße?«

»Was ist denn dein Problem?«, hake ich nach.

»Ihr seid mein Problem«, antwortet Nightmare. »Dämliche, weinerliche Bitches, die glauben, sie verstünden was von Gaming, nur weil sie ein paar Programmierkurse belegt haben. Dabei sind sie in Wirklichkeit einfach nur scheiße. Und jetzt halt dein Mundloch, sonst mache ich mein Versprechen wahr und stopf dir da was rein …«

Ich knalle meinen Laptop zu und reiße mir das Headset herunter. Mein Herz rast. Meine Augen fühlen sich irgendwie heiß an.

Das ist nichts Neues. Ich sollte mich gar nicht aufregen.

Ich bin gut. Ich habe dieses Spiel gebaut. Ich weiß, was ich tue. Es gibt da in der Elfenwald-Grafik ein Loch.

Okay, es ist nicht perfekt. Aber ich kann es reparieren. Und was hat dieser Nightmare-Kerl? Einen Komplex? Eine überstrapazierte rechte Hand?

Igitt. Ich kann nicht glauben, dass ich das gerade gedacht habe.

Ein Kratzen an meiner Zimmertür. Bevor ich aufstehen und sie öffnen kann, hat meine gelbe Labradorhündin Texas sie schon mit ihrer Schnauze aufgestoßen. Heftig wedelt sie mit dem Schwanz und stupst mit ihrer schnüffelnden Nase gegen meine Hände.

Das klingt super, doch tatsächlich ist das ihre Art, mir mitzuteilen, dass sie mal raus muss.

Gut. Ich brauche sowieso eine Ablenkung. Ich fahre den Rechner runter, stopfe mir mein Handy in die Tasche und laufe die Treppe runter.

Alle Lichter brennen, aber es ist keiner da. Texas springt herum und starrt eindringlich auf die Hintertür.

Ich schnappe mir ihr Halsband und spähe in die Dunkelheit hinaus. Mom steht mit einem Glas Wein in der Hand auf der Terrasse. Sie trägt dunkle Jeans und eine schicke Jacke, ihre Haare sind hochgesteckt. Kein Make-up. Das hält sie für Zeitverschwendung. Sie ist Kinderkardiologin, deshalb könnte man meinen, sie läuft über vor Sensibilität und Mitgefühl, aber vielleicht braucht sie das alles bei der Arbeit auf. Hier ist sie nämlich zugeknöpft und kritisch.

Verglichen mit ihr sieht Dad aus wie ein Kiffer. Er hat sich seit Tagen nicht rasiert und trägt ein Sweatshirt mit Reißverschluss und Jeans. Er fläzt sich in einem der Adirondack-Sessel und balanciert einen Laptop auf seinen Knien. Auf dem Boden neben ihm steht eine offene Bierflasche.

Auf beide fällt das Licht der Feuerschale. Ich kann nicht hören, was sie sagen, doch in Anbetracht ihrer gereizten Mienen, würde ich darauf wetten, dass Mom ihm mal wieder irgendeinen Vortrag hält.

Dann schnappe ich das Ende eines Satzes auf: »… gefällt nicht, was das für eine Wirkung auf Emma hat.«

Gaming. Sie jammert übers Gaming. Wie immer.

Da entdeckt sie mich, und ihr Gesichtsausdruck wird wütender. »Das ist ein Vieraugengespräch!«, ruft sie.

Es sind die ersten Worte, die meine Mutter heute zu mir gesagt.

Ich schiebe die Tür ein Stückchen auf. »Der Hund muss raus.«

»Dann geh mit ihr.« Als ob ich nicht schon im Begriff wäre, genau das zu tun. Sie nippt an ihrem Wein. »Du musst hin und wieder raus aus deinem Zimmer. Um ein bisschen Zeit in der echten Welt zu verbringen.«

Das ist ein Seitenhieb auf meinen Vater. Er verbringt sein Leben vor dem Computer, in virtuellen Welten. Er ist Game-Designer.

Apfel, Stamm. Jaja. Ich weiß.

Man kann sich ja vorstellen, wie gut das meine Arztmutter findet, die mich bestimmt schon mit fünfundzwanzig eine so renommierte Klinik wie die Johns Hopkins hat führen sehen. Würde ich mich mit einem Biobuch in mein Zimmer verkriechen, hätte sie bestimmt kein Problem damit.

Dad streicht sich seufzend mit der Hand übers Gesicht. »Lass sie in Frieden, Catharine.«

»Ich würde es begrüßen, wenn du mich in diesem Punkt unterstützt, Tom.« Sie macht eine tödliche Pause. »Wenn du nicht zu beschäftigt mit deinem Spiel bist.«

Ich schiebe die Tür wieder zu. Den Rest dieser Auseinandersetzung brauche ich nicht mehr zu hören. Ich könnte den Dialog auswendig niederschreiben.

Niemand in diesem Haus würde jemals »Mundloch« sagen, aber der Ton ist genauso gehässig.

Seufzend greife ich nach der Hundeleine und laufe nach vorn zur Haustür.

2. KAPITEL

Rev

Happy Birthday, mein Sohn.

Ich hoffe, ich kann stolz auf dich sein.

Robert.Ellis@speedmail.com

Die Nachricht war im Briefkasten. Der Umschlag ist an mich adressiert.

Nicht an mein heutiges Ich. Er würde mich niemals Rev Fletcher nennen. Vielleicht weiß er nicht mal, dass ich inzwischen so heiße.

Er hat den Brief an mein Ich von vor zehn Jahren adressiert. Es steht kein Absender drauf, aber auf dem Poststempel ist Annapolis zu lesen.

Ich kriege keine Luft. Ich fühle mich verletzlich und ungeschützt, als würde ein Scharfschütze sein Gewehr auf mich richten. Ich warte darauf, dass eine Kugel meinen Hinterkopf trifft.

Lächerlich. Ich stehe auf dem Gehweg in unserem Vorort. Es ist März. Die Luft ist noch kühl. In der Ferne geht die Sonne unter. Zwei Mädchen im Grundschulalter fahren auf der Straße Fahrrad, singen ein Lied und lachen dabei.

Mein Vater braucht keine Kugel. Dieser Brief genügt.

Er brauchte ja auch vor zehn Jahren keine Kugel.

Manchmal wünsche ich mir, ich hätte damals eine Waffe gehabt. Eine Kugel wäre eine schnelle Lösung gewesen.

Er kennt meine Adresse. Ist er hier? Könnte er hier sein? Flackernd gehen die Straßenlaternen an, und ich lasse den Blick noch mal die Straße hinunterschweifen.

Da ist niemand. Außer mir und diesen Mädchen, die jetzt Achterfiguren fahren.

Als ich meinem Vater zum ersten Mal weggenommen wurde, konnte ich monatelang nicht schlafen. Ich lag im Bett und wartete, dass er mich in der Dunkelheit schnappen würde. Um mich zu schütteln, mir Verbrennungen zuzufügen und Vorwürfe zu machen. Als ich dann schlafen konnte, träumte ich, das alles würde passieren.

Jetzt fühle ich mich wie in einem Albtraum. Oder als hätte ich eine Panikattacke. Die restliche Post habe ich zusammengeknüllt.

Dieser Brief muss verschwinden.

Bevor ich selbst begreife, was ich da tue, bin ich im Garten hinter dem Haus. Flammen lecken an einem kleinen Haufen Stöckchen und Blätter in einer von Moms feuerfesten Glasschüsseln. Gekräuselter Rauch steigt auf. Der süßliche, schwere Duft erinnert mich an den Herbst. Ich halte den Umschlag über die Schüssel, und die Flammenzungen lecken daran.

Das Papier fühlt sich an, als wäre es Hunderte Male zusammen- und wieder auseinandergefaltet worden. Erst in drei Teile und dann noch einmal in der Mitte. Die Falten sind so ausgeprägt, dass das Blatt möglicherweise zerfällt, wenn ich nicht aufpasse. Als hätte er die Worte vor Jahren geschrieben, aber bis jetzt gewartet, um sie mir zu schicken.

Happy Birthday, mein Sohn.

Ich bin vor drei Wochen achtzehn geworden.

Das Papier riecht irgendwie vertraut, eine Spur Eau de Cologne oder Aftershave, die an alte Erinnerungen rührt und mir die Anspannung wie ein Messer zwischen die Schulterblätter rammt.

Ich hoffe, ich kann stolz auf dich sein.

Die Worte sind auch vertraut, so als würden die zehn Jahre, die vergangen sind, seit er das zuletzt zu mir gesagt hat, nichts bedeuten.

Am liebsten würde ich meine ganze Hand in das Feuer halten.

Dann denke ich daran, was mein Vater mir regelmäßig angetan hat, und mir wird klar, dass es ihn wahrscheinlich erst recht stolz machen würde, wenn ich meine Hand in eine Schüssel mit Feuer steckte.

In meinem Kopf flackert die E-Mail-Adresse auf wie eine kaputte Leuchtreklame.

Robert.Ellis@speedmail.com

Robert.

Ellis.

Robert Ellis.

Die Flamme erfasst das Papier. Es brennt und zerfällt an einer Ecke.

Ein erstickter Laut dringt aus meiner Kehle.

Bevor mir bewusst wird, dass ich es dort hingeworfen haben muss, liegt das Blatt auf dem Boden, und ich trete die Flamme aus. Nur die eine Ecke ist verbrannt, der Rest unbeschädigt.

Ich schiebe mir die Kapuze meines Sweatshirts vom Kopf und fahre mir mit der Hand durch die Haare. Meine zitternden Finger bleiben in den zerzausten Strähnen hängen. Meine Brust schmerzt. Ich keuche, als sei ich tausend Meter gerannt.

Ich hoffe, ich kann stolz auf dich sein.

Es kotzt mich an, dass ein Teil von mir das auch hofft. Das sogar braucht. Ich habe ihn seit zehn Jahren nicht gesehen, und eine kleine Nachricht bringt mich dazu, nach seiner Anerkennung zu lechzen.

»Rev?«

Mein Herz explodiert fast. Zum Glück habe ich blitzschnelle Reflexe. Ich stoße die Schüssel mit einem Fuß um und trete mit dem anderen auf den Brief.

»Was?«

Es klingt eher wie eine Warnung als nach einer Frage. Meine Stimme drückt Wut aus.

Geoff Fletcher, mein Dad – nicht mein Vater –, steht an der Hintertür und schaut zu mir hinaus. »Was machst du da?«

»Schulprojekt.« Es ist offensichtlich, dass ich lüge. Ein kleiner Brief zwingt mich dazu.

Er mustert mich sichtlich besorgt und tritt auf die Veranda hinaus. »Alles in Ordnung?«

»Ja. Mir geht’s gut.«

Ich klinge nicht so, und er ist kein Idiot. Er kommt an den Rand der Veranda und schaut zu mir herunter. Das lachsfarbene Poloshirt und die gebügelte Kakihose sind sein Lehrer-Outfit. Er ist letztes Jahr fünfzig geworden, aber das sieht man ihm nicht an. Er ist sportlich und fast ein Meter neunzig groß. Als mich eine Sozialarbeiterin mit sieben Jahren hierherbrachte, fürchtete ich mich vor ihm.

»Hey.« Inzwischen sieht er besorgt und alarmiert aus. »Was ist los?«

Meine Gedanken sind ein einziges Chaos.

Ich sollte den Fuß von dem Brief nehmen, ihn aufheben und ihm geben. Er könnte sich darum kümmern.

Ich denke an meinen Vater. Ich hoffe, ich kann stolz auf dich sein.

Fast zittere ich vor innerer Zerrissenheit. Ich will nicht, dass Geoff davon erfährt.

Geoff. Nicht Dad. Mein Vater hat mich schon im Griff, obwohl sein Brief gerade mal seit fünfzehn Minuten in meinem Besitz ist. Nachdem ich einmal gelogen habe, muss ich jetzt weiterlügen.

Ich mag das Gefühl nicht.

Ich kann Geoff nicht ansehen. »Ich habe gesagt, mir geht’s gut.«

»Du siehst aber nicht so aus.«

»Mir geht’s aber gut.« Meine Stimme klingt harsch, fast wie ein Knurren. »Okay?«

»Ist irgendwas passiert?«

»Nein.« Ich bohre die Fingernägel in meine Handflächen, und mein Herz rast, als müsse es vor etwas davonlaufen.

»Rev …«

Endlich heb ich ruckartig den Kopf. »Würdest du es einfach lassen

Er wartet einen Moment, und meine Wut bleibt einfach in der Luft zwischen uns hängen. »Warum kommst du nicht rein und redest mit mir?« Seine Stimme ist leise und sanft. Geoff ist der Meister im Chillen. Das macht ihn zu einem guten Stiefvater. Zu einem guten Dad. »Ich wollte gerade anfangen, das Abendessen vorzubereiten, damit wir essen können, wenn Mom heimkommt.«

»Ich gehe zu Declan.«

Eigentlich rechne ich damit, dass er es mir verbietet. Ich merke erst, wie sehr ich es mir gewünscht hätte, als er sagt: »Ist gut.«

Das ist keine Zurückweisung, fühlt sich aber trotzdem so an. Ganz plötzlich möchte ich um Verzeihung bitten. Für die Lüge, die Wut, dafür, dass ich etwas tue, was meinen Vater schützt.

Aber ich kann nicht. Ich setze meine Kapuze wieder auf und lasse mir die Haare ins Gesicht fallen. Meine Stimme klingt reumütig, als ich sage: »Ich räum das hier erst noch weg.«

Er schweigt ziemlich lange, also bücke ich mich, klaube die Schüssel vom Boden auf und schiebe die angekokelten Sachen hinein, während ich mit dem Fuß auf dem Brief stehen bleibe. Meine Bewegungen sind angespannt und ruckartig. Ich kann ihn immer noch nicht ansehen.

»Danke«, sagt er. »Bleib nicht zu lange, ja?«

»Ja.« Ich drehe die Schüssel in meinen Händen und halte den Blick darauf gesenkt. Ein Windstoß zerrt an meiner Kapuze, aber sie hält und verbirgt mein Gesicht. »Tut mir leid.«

Er antwortet nicht, und wieder spüre ich die Anspannung zwischen meinen Schultern. Ich riskiere es, hochzuschauen. Er steht nicht mehr auf der Veranda.

Da höre ich, wie sich die Schiebetür aus Glas bewegt. Er hat mich nicht mal mehr gehört, ist wieder reingegangen und hat mich mit meinem Problem hier draußen gelassen.

Mein bester Freund ist nicht zu Hause.

Wie ein Einbrecher habe ich im Dunkeln gewartet und mich auf den Asphalt in der hinteren Ecke von Declans Einfahrt gehockt. Zuerst kam mir die Luft nicht so kalt vor, aber inzwischen ist sie mir in die Knochen gekrochen, und ich fühle mich wie festgefroren.

Aus den Küchenfenstern fällt Licht nach draußen, und ich kann seine Mutter und seinen Stiefvater drinnen herumgehen sehen. Sie würden mich natürlich reinbitten, wenn sie wüssten, dass ich hier draußen bin, aber ich bin zu panisch und unentschlossen. Ich fische mein Handy aus der Tasche und schicke ihm eine Nachricht.

Dec: Nein. Kino mit J. Was gibt’s?

»J« ist seine Freundin Juliet. Ich starre auf mein Handy und konzentriere mich aufs Atmen. Mir war gar nicht klar, wie sehr ich mich darauf verlassen hatte, dass er hier sein würde, bis ich einsehen musste, dass er es nicht ist.

Ich stehe auf, trete aus dem Schatten und gehe los. Nach Hause kann ich nicht, aber ich kann auch nicht hierbleiben – außer ich möchte erfrieren. Ich sollte zum Sport gehen, aber donnerstags trainieren sie mit den Anfängern, und wenn ich mir einen von denen heute Abend vornehmen würde, könnte das böse ausgehen.

Mein Schweigen muss zu lange gedauert haben, denn schon schickt Declan die nächste Nachricht.

Meine Finger schweben über dem Display. Ich wäre bereit gewesen, ihm von dem Brief zu erzählen, aber jetzt … kommt es mir nicht richtig vor.

Ich zwinge mich zu antworten.

Mein Handy klingelt fast sofort. Das ist er.

»Was ist los?«, fragt er eindringlich flüsternd. Ob er mich schon aus dem Kinosaal anruft?

»Nichts. Mit geht’s gut.« Meine Stimme klingt rau und dumpf.

Er schweigt lange. Declan kennt alle meine Geheimnisse. Und normalerweise bin ich nicht so zugeknöpft.

»Brauchst du mich zu Hause?«, fragt er leise.

Sein Tonfall erinnert mich an Geoff. Als müsse man behutsam mit mir umgehen. Vielleicht stimmt das ja, aber ich werde nicht gern daran erinnert.

Ich zwinge mich, locker zu klingen. Fast gelingt es mir. »Klar. Und kannst du mir noch eine Packung Schokoladeneis mitbringen, Alter? Nein. Du bist doch im Kino.«

»Rev.«

»Es ist nichts, Dec.«

»Irgendwas ist passiert.«

»Nichts ist passiert. Wir unterhalten uns später, okay?« Mit einem Tastendruck beende ich das Gespräch.

Irgendwas ist definitiv nicht in Ordnung mit mir.

Mein Handy summt sofort wieder.

Mein Vater hat mir einen Brief geschickt, und ich weiß nicht, was ich tun soll.

Das kann ich nicht schreiben. Selbst es nur zu denken, kommt mir schon schwächlich und unreif vor. Ich habe einen lila Gürtel in Brasilianischem Jiu-Jitsu, aber ich komme nicht mit drei auf ein Stück Papier gekritzelten Zeilen zurecht, die für mich im Briefkasten lagen.

Er antwortet nicht. Vielleicht ist er sauer. Oder vielleicht bin ich es.

Gut. Keine Ahnung, warum mich das glücklich macht.

Ich greife wieder nach meinem Handy. Beginne eine neue E-Mail. Füge die E-Mail-Adresse meines Vaters hinzu.

Dann schreibe ich in die Betreffzeile: Lass mich in Ruhe.

Ich schreibe keine Nachricht.

Drücke nur auf Senden.

Und dann gehe ich weiter, lasse mich von der Dunkelheit verschlucken.

3. KAPITEL

Emma

Die Abendluft ist frisch, nur eine Spur zu kalt, sonst wäre es perfekt. Wenn wir Glück haben, lauert der Frühling schon hinter der nächsten Ecke. Texas trottet neben mir her und wedelt dabei ein bisschen mit dem Schwanz. Wir spazieren schon eine Ewigkeit. Eigentlich sollte ich die Ruhe, die Stille und die frische Luft genießen, aber stattdessen geht mir die Auseinandersetzung mit Nightmare durch den Kopf.

Sonst halte ich mein Versprechen, dir da was reinzustopfen.

Sie kann nicht spielen.

Du bist scheiße.

Meine Augen werden wieder heiß, ohne dass ich darauf gefasst bin. Ich hole schluchzend Luft und reiße mich dann zusammen.

Mein Telefon meldet den Eingang einer E-Mail. Ich wickle mir die Leine ums Handgelenk und fische das Handy aus meiner Tasche.

Es ist eine Nachricht über 5Core. Von Ethan.

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Donnerstag, 15. März, 18:46:00 Uhr

Von: Ethan_717

An: Azure M

Hey, hier ist der versprochene Screenshot.

Und der Typ ist ein Arschloch. Ich habe ihn gebootet. Tut mir echt leid. Schreib mir eine Nachricht, wenn du wieder online bist.

Die Nachricht lässt meine Tränen versiegen. Ich lächle.

Dann öffne ich den Screenshot, den Ethan geschickt hat. Ich brauche einen Moment, um zu erkennen, was ich da sehe, aber dann muss ich lachen. Sein bulliger Avatar wird von einem Bergrücken zerteilt, wobei ein Arm mit Schwert in typischer Haltung erhoben ist. Es sieht fast aus, als würde er um Hilfe winken.

Ich bin an der Ecke der katholischen Kirche St. Patrick’s angekommen, wo sich vor dem Parkplatz eine riesige Grünfläche erstreckt. Als ich noch klein war, gingen wir als Familie hier regelmäßig zur Messe, bis Mom und Dad es eines Tages einfach bleiben ließen. Es kommt mir fast gehässig vor, dass wir den Hund jetzt auf diesen Rasen machen lassen. Immerhin haben wir eine Plastiktüte dabei. Zählt das dann?

Die Straße liegt völlig verlassen da, also bleibe ich unter einer Straßenlaterne stehen, lasse Texas von der Leine und ihr Geschäft erledigen. Während ich warte, schreibe ich eine Antwort.

Er muss gerade online sein, weil seine Antwort sofort folgt.

Ich strahle das Handy an. »Komm, Tex. Wir haben ein Date.«

Texas kommt nicht.

Ich hebe den Kopf. Der Rasen ist leer.

Ich blicke mich um. Die Straße ist leer. Ein schwacher Lichtschein dringt aus der Kirche.

Ein Windstoß fährt durch die Bäume und durch meine Jacke, sodass ich erschauere. Es riecht, als würde es bald regnen.

Ich lausche, um Texys Steuermarke klimpern zu hören. Nichts.

»Tex!«, rufe ich. »Texy! Komm!«

Wie kann ich einen neun Jahre alten Hund in weniger als dreißig Sekunden verlieren?

Lass doch mal die Finger von diesen technischen Geräten.

Mom bringt mich um.

Dann höre ich es. Das leise Klimpern ihrer Steuermarke in der Ferne. Sie muss um die Ecke des Gebäudes gelaufen sein. Ich jogge los und entdecke sie auf der Rückseite der Kirche unter einem bunten Glasfenster. Inzwischen ist es schon fast stockdunkel, aber sie sieht aus, als würde sie irgendwas fressen.

OMG. Wenn sie da ein totes Tier gefunden hat, kotze ich.

»Texas!«, schreie ich und sprinte in die Dunkelheit. »Tex. Geh da weg!«

»Ihr geht’s gut«, sagt eine männliche Stimme. »Ich habe ihr das gegeben.«

Ich stoße einen spitzen Schrei aus, rutsche übers Gras und falle hin.

»Tut mir leid«, sagt der Kerl mit leiser Stimme. Jetzt sehe ich ihn: eine dunkle Gestalt, die an der Kirchenwand kauert. Er trägt dunkle Jeans und einen Hoodie, dessen Kapuze groß genug ist, um sein ganzes Gesicht zu beschatten. Ich komme mir vor, als würde ich mit einem Sith-Lord sprechen.

»Sorry«, entschuldigt er sich gleich noch mal. »Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich dachte, du hättest mich gesehen.«

Taumelnd komme ich wieder auf die Füße. Mein Handy ist irgendwo ins Gras geflogen, und ich habe nichts, um mich zu verteidigen.

Unglaublich, dass ich mir zuerst Sorgen um mein Handy mache.

»Wer bist du?«, frage ich atemlos. »Was machst du mit meinem Hund?«

»Nichts! Das sind Chicken Nuggets.«

Texy ist total begeistert, das muss man dem Typen lassen. Schwanzwedelnd schaut sie zu mir hoch und kaut glücklich.

Mein Puls ist noch nicht bereit, ihm das alles abzukaufen. »Dann hockst du nur ganz zufällig neben einer Kirche und futterst Chicken Nuggets?«

»Ja. Also das mit dem zufällig stimmt. Aber dein Hund futtert.« Seine Stimme klingt ironisch und ruhig. Er hat sich nicht von der Stelle gerührt.

Ich schlucke meine Panik runter. »Die sind aber nicht mit Rattengift gespickt oder so was?«

»Natürlich nicht.« Er klingt gekränkt.

»Was machst du denn hier?«

»Mir gefällt’s hier.«

»Ein guter Ort, um eine Leiche zu verbuddeln.«

»Was?«

»Nichts.«

Texas frisst die Nuggets auf, läuft zu ihm und stupst gegen seine leeren Hände. Verräterin. Er krault sie hinter den Ohren, und sofort lässt sie sich neben ihm auf den Boden plumpsen. Irgendwas an ihm kommt mir vertraut vor, aber ich weiß nicht genau, was.

Ich beuge mich ein bisschen vor. »Sag mal … kenne ich dich?«

»Ich glaube nicht.« So wie er das sagt, klingt es fast, als würde er sich selbst kleinmachen. »Oder vielleicht. Gehst du auf die Hamilton?«

»Ja. Du auch?«

»Ich bin in der Zwölften.«

Er ist ein Jahr über mir. Ich mustere seine dunkle Gestalt.

Und dann weiß ich es. Zwar kenne ich seinen Namen nicht, aber ich weiß, wer er ist. Der Hoodie hätte mich auch gleich darauf bringen können, weil er immer so einen trägt. Ich habe schon gehört, dass die Kids ihn den Sensenmann nennen, aber keine Ahnung, ob er davon weiß. Er hat nicht den Ruf, gefährlich zu sein, sondern gilt nur als ein bisschen freakig. Ich kenne ihn nicht wirklich, aber ich habe ihn bemerkt, so wie Außenseiter einander immer bemerken.

Meine Furcht von vorhin ist verschwunden, und ich beginne zu überlegen, warum ein Teenager wohl hier in der Dunkelheit hockt.

»Geht es dir gut?«, frage ich.

Er schüttelt den Kopf. »Nein.«

Er sagt das so nüchtern, ohne viel Emotion, dass ich einen Moment brauche, um zu begreifen, dass er Nein gesagt hat. Seine Hände sind in Texys Fell vergraben, und sie drückt sich gegen ihn.

Ich schaue zu meinem Handy, das im Gras liegt. »Soll ich jemanden für dich anrufen?«

»Ich glaube nicht.«

Ich setze mich ins Gras. Es ist kalt und ein klein wenig feucht. »Ist dir irgendwas zugestoßen?«, frage ich leise.

Er zögert. »Das ist eine heikle Frage.«

Ist es das? »Bist du dir sicher, dass ich niemanden anrufen soll?«

»Bin ich.«

Wir sitzen eine Weile schweigend da. Texy legt ihren Kopf in seinen Schoß und schiebt ihren Hals unter seinen Arm. Er hat die Hände immer noch in ihrem Fell vergraben, und es sieht aus, als wäre sie ein Rettungsring, an den er sich in höchster Not klammert.

Schließlich schaut er hoch. Ich weiß gar nicht genau, woran ich das erkenne – die Kapuze bewegt sich nur ein bisschen. »Glaubst du an Gott?«

Dieser Abend könnte echt nicht surrealer sein. Ich befeuchte meine Lippen und antworte ehrlich. »Ich weiß nicht.«

Er stellt mir keine Fragen, wie ich befürchtet habe. »Da gibt es diesen Vers, den ich mag«, sagt er. »›Wer zweifelt, gleicht den Wellen im Meer, die vom Sturm hin- und hergetrieben werden.‹«

Ich kneife die Augen ein wenig zusammen. »Zitierst du das aus der Bibel?«

»Ja.« Er sagt das, als wäre es das Normalste von der Welt. »Weißt du, was mir daran gefällt? Dass es den Zweifel unvermeidlich scheinen lässt. Es ist in Ordnung, unsicher zu sein.«

Ich blinzle und lasse die Worte auf mich wirken. Es sollte eigentlich abschreckend sein, doch irgendwie ist es das nicht. Es fühlt sich an, als würde er mir etwas von sich anvertrauen.

Ich wünschte mir, ich würde seinen Namen kennen.

»Mir gefällt es auch«, sage ich.

Er schweigt noch länger als davor, doch ich spüre, wie er versucht, mich einzuschätzen. Ich starre zurück – also, ich schaue da hin, wo ich seine Augen vermute. Schließlich habe ich ja nichts zu verbergen.

»Bist du draufgekommen, woher du mich kennst?«, fragt er.

»Ich hab dich an der Schule gesehen.«

»Weißt du irgendwas über mich?«

Die Frage kommt mir hintergründiger vor, als sie es sollte. Daraus folgere ich, dass hinter seiner Geschichte mehr steckt, als dass er immer Hoodies trägt. »Bis jetzt weiß ich nur, dass du gern neben Kirchen sitzt und aus der Bibel zitierst«, sage ich. »Und das habe ich in den letzten zwei Minuten erfahren.«

Er lacht leise, aber es klingt überhaupt nicht amüsiert.

»Warum hast du gefragt, ob ich an Gott glaube?«, frage ich.

Er verzieht das Gesicht und blickt woandershin. »Ich vergesse immer, wie sehr ich nach einem Freak klinge, wenn ich so was sage.«

»Du klingst überhaupt nicht nach einem Freak.«

Er greift in seine Tasche und holt ein gefaltetes Stück Papier heraus. »Ich habe diesen Brief mit der Post bekommen, und eigentlich sitze ich hier, um zu entscheiden, was ich jetzt tun soll.«

Er hält mir den Brief nicht hin, also warte ich, ob er noch mehr sagen wird. Als er es nicht tut, frage ich: »Willst du mir was darüber erzählen?«

Er zögert, dann reicht er ihn mir doch. Ich falte das Blatt auseinander, und dunkle Flocken fallen ins Gras. »Jemand hat dir einen angekokelten Brief geschickt?«

»Das hab ich gemacht. Ihn angebrannt.«

Ich fahre mir mit der Zunge über die Lippen. »Warum?«

»Weil der Brief von meinem Vater stammt.« Pause. »Ich habe ihn seit zehn Jahren nicht gesehen.« Wieder eine Pause. Sie lastet noch schwerer. »Es gab Gründe dafür.«

»Gründe«, echoe ich und mustere ihn, während ich versuche, das Gefühl in seiner Stimme zu identifizieren. Ich versuche zu verstehen, was jemanden dazu bringt, einen Brief anzuzünden, nachdem man den Verfasser zehn Jahre lang nicht gesehen hat. Zuerst denke ich, es wäre Wut, weil seine Stimme so etwas Drohendes hat. Aber das ist es nicht.

Als ich es weiß, bin ich überrascht. »Du hast Angst«, flüstere ich.

Er zuckt zusammen – aber er widerspricht mir nicht. Seine Finger sind in Texys Fell verkrampft, die Knöchel treten weiß hervor.

Ich denke an meine überkritische Mutter, meinen lässigen Vater. Wir haben auch schon gestritten, aber ich hatte noch nie Angst vor ihnen.

Es gab Gründe dafür.

Abrupt steht er vom Boden auf. Er ist größer, als ich gedacht habe, groß und schlank mit breiten Schultern. Seine geräuschlosen, fließenden Bewegungen erinnern mich an einen Ninja.

Wenn ich ihn so ansehe, kann ich mir gar nicht vorstellen, dass er vor irgendetwas Angst hat.

Dann meint er: »Ich muss nach Hause.«

Er klingt ein bisschen erschrocken, umso mehr erstaunt es mich, dass er die Hand ausstreckt, um mir hoch zu helfen. Er ist kräftig. Sein Griff gibt mir das Gefühl, federleicht zu sein.

Sobald ich vor ihm stehe, bewegt er sich nicht mehr. Licht fällt von irgendwoher in seine Augen und lässt sie unter der Kapuze glitzern. »Ich danke dir.«

»Wofür?«

»Dafür, dass du mich gesehen hast.« Dann dreht er sich um und joggt über die Straße, bevor er in der Dunkelheit verschwindet.

4. KAPITEL

Rev

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Gesendet: Donnerstag, 15. März, 19:02:08 Uhr

Von: Robert Ellis robert.ellis@speedmail.com

An: Rev Fletcher rev.fletcher@freemail.com

Betreff: RE: Lass mich in Ruhe

Wie kommst du denn auf »Rev Fletcher«?

Egal, ich bin jedenfalls froh, von dir zu hören. Wenn du wirklich in Ruhe gelassen werden wolltest, hättest du mir keine E-Mail geschickt.

Da hat er natürlich recht.

Du hast Angst.

Auch sie hat recht. Diese E-Mail scheint die Angst noch zu verdoppeln.

Ich kann nicht glauben, dass ich ihr den Brief gezeigt habe. Erst als ich schon auf dem halben Weg nach Hause bin, fällt mir ein, dass ich sie gar nicht nach ihrem Namen gefragt habe. Sie geht zwar auch auf die Hamilton, aber ich weiß nicht mal, in welchem Jahrgang sie ist.

Nicht, dass das eine Rolle spielen würde. Die Hoffnung auf eine Beziehung mit einem Mädchen habe ich schon lange aufgegeben.

Ich muss dauernd an ihre Augen denken. Wie sie durch meine Wut und Verunsicherung einfach hindurchgeblickt und mich mit drei Worten treffend charakterisiert hat.

Du hast Angst.

Das habe ich dann gleich unter Beweis gestellt, indem ich weggerannt bin.

Ich bin so ein Idiot.

Mein Handy meldet den Eingang einer Nachricht. Von Kristin.

Ich zucke zusammen. Von Mom.

Ich rechne damit, dass sie wissen will, was mit mir ist, denn bestimmt hat Dad ihr schon erzählt, dass ich nach der Schule den launischen Teenager gegeben habe. Zu meiner Überraschung tut sie das nicht. Also nicht wirklich.

Ich bleibe mitten auf der Straße stehen.

Ein Notfall-Pflegekind bedeutet, dass ein Kind sofort aufgenommen werden muss. Geoff und Kristin sind für die Betreuung von Babys und Kleinkinder mit besonderen Bedürfnissen zertifiziert, daher kriegen wir viele von ihnen. Manche bleiben auch nur kurz – vielleicht weil die Eltern einen Autounfall hatten oder es einen medizinischen Notfall gab –, manchmal dauert es dann einfach etwas, bis rechtlich geklärt ist, wer die Vormundschaft übernimmt. Manche Kinder bleiben auch länger – etwa weil die Mutter verhaftet wurde oder eine Entziehungskur macht. Das letzte Baby blieb neun Monate bei uns. Das extra dafür reservierte Zimmer stand nicht mal eine Woche leer, aber das tut es sowieso nie lange.

Normalerweise würde ich mich jetzt beeilen, nach Hause zu kommen, um zu helfen.

Heute Abend stehen mir jedoch meine eigenen komplizierten Gefühle im Weg. Ich mache mir Sorgen wegen meines Vaters und frage mich, ob irgendwann etwas in mir umschnappen wird. Ich frage mich, wann ich so bösartig und grausam werde wie er.

Am liebsten würde ich Declan eine Nachricht schreiben und fragen, ob ich bei ihm pennen kann, aber als auf dem Display unsere letzten Nachrichten erscheinen, zieht sich alles in mir zusammen. Ich kann ihm nichts erklären, ohne meinen Vater zu erwähnen. Doch dazu bin ich noch nicht bereit. Was auch an Declans Persönlichkeit liegt. Er ist jemand, dessen Zorn lodert, ich bin eher der Typ, der alles erstickt.

Wahrscheinlich ist das ihm gegenüber nicht fair. Alles steht irgendwie Kopf.

Vielleicht ist das einfach eine Überreaktion von mir. Ich kann ja nach Hause. Kann auf der Couch sitzen und für ein Baby lustige Gesichter schneiden.

Ich kann meinen Vater für eine Weile vergessen.

Einmal bekamen wir ein vier Tage altes Baby – das jüngste Kind, das ich je auf dem Arm hatte. Seine Mutter hatte bei der Geburt einen Schlaganfall erlitten und war einen Tag danach gestorben. Wir behielten das kleine Mädchen sechs Monate lang, während die Großeltern sich vor Gericht um die Vormundschaft stritten. Wir sahen ihr erstes Lächeln, gaben ihr den ersten Löffel Brei.

Kristin weinte, nachdem das Mädchen wieder fort war, tagelang.

Sie weint immer, wenn sie wieder weg müssen. Selbst wenn das schon nach vierundzwanzig Stunden der Fall ist.

Dann legt sie die Arme um meine Schultern und sagt, was für ein Glück sie und Geoff haben, dass sie mich behalten dürfen.

Das hat mir bis heute nie Unbehagen bereitet. Doch jetzt wird mir klar, was für ein Riesengeheimnis ich vor ihnen habe.

Der Brief meines Vaters brennt ein rot glühendes Loch in mein Gehirn.

Ich hoffe, ich kann stolz auf dich sein.

Das kann ich ihnen nicht sagen.

Als ich um die Ecke biege, steht vor unserem Haus ein Streifenwagen. Das ist nicht ungewöhnlich, vor allem nicht, wenn es um ein Notfall-Kind geht. Als ich durch die Haustür trete, erwarte ich, ein Baby oder Kleinkind schreien zu hören, aber es ist seltsam still. Vielleicht ist es ein richtig kleines Baby, das in einer Babyschale schläft.

Oben im Flur, vor dem Schlafzimmer von Geoff und Kristin, höre ich flüsternde Stimmen. Ich gehe die Treppe hinauf.

Da taucht Geoff auf. »Rev«, sagt er leise. »Komm mit runter. Wir wollen reden.«

Ich zögere, weil ich an unsere Auseinandersetzung wegen des Feuers in der Schüssel denken muss. Der Brief meines Vaters brennt in meiner Tasche. »Tut mir leid, dass ich laut geworden bin.«

»Ist schon okay.« Er klopft mir sanft auf die Schulter. »Du darfst ruhig ein Teenager sein. Ist jetzt alles in Ordnung mit dir?«

Nein. »Ja.«

»Dann komm mit. Ich muss mit dir reden.«

Er geht an mir vorbei, aber ich bleibe auf dem Absatz stehen und starre ihm nach. Plötzlich bin ich wieder sieben und starre eine andere Treppe hinunter, ohne zu wissen, was mich an ihrem Ende erwartet.

»Rev?«

Ich blinzle und bin zurück in der Gegenwart. »Sorry.«

Ich habe von oben immer noch kein Baby gehört – und es muss ein Baby sein, weil Kleinkinder schon längst einen Riesenkrach veranstaltet hätten. Geoff setzt sich auf die Couch und winkt mir, es ihm gleichzutun.

Er sieht so aus, als habe er ein ernstes Gespräch im Sinn.

»Ich werde dir ein bisschen Zeit sparen«, erkläre ich. »Ich weiß bereits, was Sex ist.«

Er lächelt. »Du bist lustig.« Pause. »Bonnie hat angerufen. Sie brauchten einen Platz für einen Notfall.«

Bonnie ist Sozialarbeiterin und eng mit Kristin befreundet. »Mom hat mir schon geschrieben. Außerdem habe ich den Streifenwagen gesehen.«

»Er heißt Matthew.«

»Okay.« Ich warte darauf, dass die Bombe platzt, denn dass ein neues Kind ins Haus kommt, das ist normalerweise kein Anlass für ein ernstes Gespräch. Das bin ich gewohnt. Eigentlich mag ich es sogar.

»Matthew ist vierzehn.«

Ich erstarre kurz. »Oh.«

Keine Ahnung, wie ich darauf reagieren soll. Noch nie haben sie einen Teenager aufgenommen. Das älteste Kind, das wir je hatten, war neun. Es blieb für eine Nacht, weil der Vater eine Kellertreppe runtergefallen war und die Großmutter in Baltimore nicht sofort einen Flug bekommen konnte. Ich drehe und wende die Sache in meinem Kopf und überlege, dass ich mich eigentlich freuen sollte, weil ich dann keine Windeln wechseln muss.

Ich habe nichts dagegen, wenn ältere Kinder hier wohnen. Zumindest denke ich das. Außerdem liebe ich es an Geoff und Kristin, dass sie jeden willkommen heißen.

Aber kaum habe ich das gedacht, machen sich Zweifel in mir breit. Noch ein Teenager bedeutet, dass da jemand ist, der Fragen und Ansichten zu unserer Familie hat. Über mich. Den Gedanken hatte ich auch in dem Moment, als das Mädchen bei der Kirche mich erkannt hat. Jeder an der Schule weiß, wer ich bin, selbst wenn es nur ein Eindruck aus der Ferne ist. Man kann seinen Status als Freak schlecht verbergen, wenn man im Hochsommer mit langärmligen schwarzen Hoodies rumläuft. Und noch schwerer lässt sich verbergen, dass man adoptiert wurde, wenn man selbst weiß ist und die Eltern schwarz sind.

Nicht, dass ich das jemals verheimlichen wollte. Aber die Leute reden eben.

»Matthew war im letzten Jahr schon in vier verschiedenen Pflegefamilien«, sagt Geoff. »Heute Nachmittag hat er eine Prügelei angefangen, irgendwann hat die Familie dann die Cops gerufen. Es wurde keine Anzeige erstattet, aber sie wollten ihn dort nicht mehr haben.«

Vier Pflegestellen im Laufe des letzten Jahres? Ich bin mir nicht sicher, was ich dazu sagen soll.

»Was passiert, wenn er nicht hierbleibt?«, sage ich.

Geoff zögert. »Er müsste nach Cheltenham. Er hat es auch schon zweimal in Gruppenunterkünften probiert.«

In die Jugendstrafanstalt. »Wow«, sage ich leise.

»Bonnie glaubt nicht, dass es da ein Problem geben wird«, fährt Geoff fort. »Und du weißt ja, dass Kristin jedem Kind im Bezirk die Tür öffnen würde. Aber ich will sichergehen, dass das für dich in Ordnung ist.«

»Ist es.«

Geoff beugt sich vor. »Bist du dir sicher?«

Ich habe keine Ahnung. Ich weiß ja noch nicht mal, was ich von den Gedanken und Gefühlen halten soll, die in mir toben.

»Er kann bleiben.« Meine Stimme klingt rau.

»Rev. Es ist wichtig, dass du ehrlich zu mir bist.«

Er spricht über Matthew, nicht über den Brief, der in meiner Tasche steckt. Trotzdem zucke ich zusammen.

Ich muss etwas sagen, um es zu kaschieren, weil ich schon sehe, wie Geoffs Gesichtsausdruck sich verändert. »Es ist in Ordnung«, füge ich rasch hinzu. Ich muss mich räuspern. »Es wird anders sein, aber okay.«

Dann schaue ich hoch. »Wo wird er schlafen?« Das Extra-Zimmer ist für kleinere Kinder vorbereitet. Es gibt darin ein Kinder- und ein Gitterbett, eine Kommode, einen Wickeltisch und einen Schaukelstuhl. Es ist farblich in Weiß und einem Pfirsichton gehalten. Mit Schablonen sind Buchstaben an den oberen Rand der Wände gemalt. Außer dem Schaukelstuhl und der Kommode gibt es darin kein einziges Möbelstück, mit dem ein Teenager etwas anfangen könnte.

Geoff seufzt. »Das ist die andere Sache, die ich mit dir besprechen muss.«

Es ist nicht das erste Mal, dass ich mein Zimmer teile. Declan übernachtet andauernd hier. Geoff und Kristin haben sogar einen Futon extra für ihn reingestellt. Geoff meinte, es sei nur bis Samstag, dann könne er ein großes Bett kaufen, aber von Gesetzes wegen braucht Matthew ein Bett, deshalb liegt er jetzt hier.

Es ist schon nach Mitternacht. Er schläft nicht.

Ich auch nicht.

Er ist kleiner, als ich dachte, aber ziemlich kräftig. Geoff erzählte, Matthew habe die Schlägerei angefangen, doch beendet hat er sie sicher nicht. Seine ganze linke Gesichtshälfte ist geschwollen und von der Schläfe bis zum Kinn mit blauen Flecken übersät. Aus einem Kratzer an der Wange hat er geblutet, wahrscheinlich wäre es zu schmerzhaft, die Krusten zu entfernen. Seine Bewegungen sind steif und vorsichtig. Ich frage mich, mit wem er sich geprügelt hat.

Wahrscheinlich kann ich mich das noch länger fragen. Bis jetzt hat er nämlich genau zwei Worte mit mir gewechselt.

»Hey«, als Kristin uns vorgestellt hat.

Und »okay«, als ich ihm sagte, wo er seine Sachen hintun kann, die er in einem weißen Müllsack bei sich trug.

Und das war’s. Er putzte sich die Zähne und legte sich ins Bett. Komplett angezogen. Mit Jeans und allem.

Aber mir steht es nicht zu, über andere zu urteilen. Schließlich trage ich selbst lange Ärmel und Jogginghose.

Nach Geoffs Beschreibung hätte ich erwartet … jedenfalls etwas anderes. Angriffslust. Wut. Trotz. Angeberei.

Matthew ist still, aber wachsam. Er beobachtet mich aus dem Augenwinkel, obwohl sein Gesicht auf die Zimmerdecke gerichtet ist. Anspannung liegt wie eine zu schwere Decke über dem Raum.

»Schlaf ruhig«, sage ich leise. »Ich tu dir nichts.«

Er antwortet nicht und rührt sich nicht. Er blinzelt nicht mal.

Mein Handy macht ping. Declan.

Ich habe ihm früher am Abend geschrieben, damit er von dem Pflegekind weiß, aber auf seine erste Nachricht, in der er fragte, was mit mir los sei, habe ich nicht geantwortet. Noch immer steht sie wie ein riesiger Elefant im Raum. Oder auf dem Display. Egal.

Ich konzentriere mich auf die aktuellen Gegebenheiten.

Dec: Wie heißt er?

Dec: Geht er morgen mit uns zur Schule?

Das ist eine gute Frage. Ich fahre immer zusammen mit Declan zur Schule. Das muss ich Kristin fragen.