Der Schwarze Mann

Thomas Paul

 

Der Schwarze Mann

 

 

 

Fantasy-Thriller

Inhalt

Er lauert unter den Betten.

Er hat tausende Kinder zu sich ins Dunkle geholt.

Nun ist er hier. Bei uns. Und unglaublich hungrig.

 

Das Grauen kommt an einem Freitag nach Ronbuch.

In der kleinen Stadt im Schwarzwald taucht ein geheimnisvoller Zirkus auf, der sich im Park niederlässt. Was zu Anfang wie eine nette Abwechslung wirkt, entpuppt sich schon bald als wahrer Albtraum. Denn der Zirkus hält den Schwarzen Mann gefangen - ein Dämon, der über Angst und Schrecken herrscht.

 

Bei einem Unfall kann der Schwarze Mann fliehen und taucht im Wald unter. Schon bald verschwinden die ersten Kinder, mehrere Erwachsene sterben. Wenig später wird die gesamte Stadt von einer mysteriösen Dunkelheit eingekesselt, damit niemand mehr entkommen kann. Die Lage scheint aussichtslos. Nur die Polizistin Carolin Pfeiffer stellt sich dem Schwarzen Mann entgegen und setzt alles daran, die entführten Kinder zu retten. Sie kann jedoch nicht ahnen, dass der Zirkus noch ein zweites schreckliches Geheimnis hütet. Eines, das ganz Ronbuch zu vernichten droht ...

Autor

Thomas Paul, Jahrgang 1980, lebt und arbeitet in der Nähe von Stuttgart. Er schreibt nicht nur Fantasy-Romane und Thriller für Erwachsene, sondern auch Jugendbücher.

Mehr Infos über seine neuesten Projekte finden Sie auf seiner Homepage.

 

E-Mail: thomaspaul-autor@web.de

Internet: thomaspaul-autor.de

Prolog

 

 

Da ist jemand in meinem Zimmer.

Felix spürte es ganz deutlich, obwohl er bis gerade eben tief und fest geschlafen hatte. Er lag eine Weile benommen in seinem Bett und hoffte, dass dieses Gefühl nur eine Nachwirkung seines Traumes war und er gleich wieder einschlafen durfte. Doch das blieb ein unerfüllter Wunsch. Irgendwas hielt ihn wach. Ein fieser Nerv, der sich wie eine Nadel in sein Bewusstsein bohrte und ihn vor einem Fremden, Bösen warnte. Vor jemand, der sich in seinem Zimmer herumtrieb.

Wer kann das sein?

Felix wollte es nicht herausfinden. Denn dazu hätte er die Augen öffnen und durch die Dunkelheit blicken müssen. Und zudem die Ohrenschützer abnehmen, die er auf dem Kopf trug. Seine Mutter hatte ihm befohlen, dass er sie nachts aufsetzte. Die Ohrenschützer waren zwar äußerst klobig und unbequem, aber Felix hatte schnell ihren Wert zu schätzen gelernt. Sie ermöglichten es ihm, ruhig zu schlafen, während seine Mutter im Nebenzimmer ihrer Arbeit nachging. Und sie erfüllten noch einen weiteren Nutzen: Sie dämmten das Gewitter draußen zu einem Flüstern herab. Seit Felix zu Bett gegangen war, tobte über Stuttgart der wohl schlimmste Sturm in diesem Jahr. Der Regen prasselte wie eine Gewehrsalve gegen die Scheiben. Der Donner stampfte mit Riesenfüßen aufs Dach und die Blitze waren so gleißend hell, dass sich ihr Licht durch Felix’ geschlossene Augenlider grub.

Doch nichts davon hatte ihn aufgeweckt.

Es war etwas anderes gewesen.

Nämlich dieses unergründliche - und irgendwie auch sehr furchteinflößende - Gefühl, dass sich jemand in seinem Zimmer befand. Jemand oder etwas. Eine dunkle Präsenz, die Felix noch nie zuvor gespürt hatte - aber bei der er instinktiv wusste, dass sie gefährlich war. Vielleicht sogar tödlich.

Geh weg!, dachte er. Wer immer du bist: HAU AB!

Doch diese Präsenz ging nicht. Sie kreiste unaufhörlich um sein Bett.

Felix reagierte anfangs so, wie alle neunjährigen Jungen in dieser Situation reagiert hätten: Er zog die Bettdecke über seinen Kopf. Das Donnergrollen verstummte daraufhin fast gänzlich. Aber diese seltsame Präsenz blieb. Und sie wuchs von Sekunde zu Sekunde mehr zu einer Bedrohung heran.

Jemand war hier.

Eindeutig.

Felix presste die Augen zusammen, um zurück in seine Träume zu fliehen. Doch sein Herz pochte immer erregter und jeder Muskel in seinem Körper schlug zusehends Alarm. Er konnte beim besten Willen nicht mehr einschlafen. Nicht, solange dieser Jemand in seinem Zimmer lauerte.

Wer kann das sein?, fragte sich Felix erneut. Ein Einbrecher? Ein Gast von Mutter? Oder Papa? Er wünschte sich natürlich sehnlichst, dass es sein Vater war. Aber Felix hätte sich auch über die beiden anderen Möglichkeiten gefreut. Denn diese Präsenz wirkte noch sehr viel gefährlicher als es ein betrunkener Liebhaber oder ein Dieb je hätte sein können.

Mama!, wollte Felix schreien. Hilf mir.

Er tat es nicht.

Sein Vater hatte ihm vor der Abreise an die Ostfront eingebläut, dass er nun der Mann im Haus war. Und dass er seine Mutter beschützen musste - nicht umgekehrt. Außerdem war Mutter beschäftigt. Felix konnte sie manchmal trotz der Ohrenschützer hören. Sie, ihren Gast und dieses nervtötende Quietschen des Bettes.

Du musst dir selbst helfen, hörte er seinen Vater im Geiste. Vergiss nicht: Du bist jetzt der Mann im Haus.

Felix bemühte sich, die Anweisung zu befolgen. Schließlich wollte er, dass sein Vater stolz auf ihn war, wenn er aus dem fernen Russland zurückkam. Dabei wusste Felix nicht einmal, ob sein Vater überhaupt noch lebte. Doch darauf kam es jetzt nicht an. Sein Vater hatte ihm einen Auftrag gegeben, er vertraute ihm ... und solange er nicht da war, würde sich Felix um das Haus und den Hof kümmern müssen.

So wie sich das für einen echten Mann gehört.

Die Stimme seines Vaters floss wie warme Milch durch seinen Kopf und verlieh ihm neuen Mut. Nicht viel; nicht einmal ansatzweise genug, um sich stark und erwachsen zu fühlen. Aber es reichte, dass Felix die Ohrenschützer von seinem Kopf nehmen und die Augen öffnen konnte. Seine Welt schien plötzlich zu neuem Leben zu erwachen; bekam Schärfe und Profil und wirkte so erfrischend, dass er innerlich aufatmete. Er hob die Bettdecke einen Spaltbreit an und lugte darunter hervor, um sich der Gefahr in seinem Zimmer zu stellen.

Auf den ersten Blick konnte er nichts Verdächtiges erkennen.

Vielleicht habe ich mir diese Präsenz doch nur eingebildet?

Felix wusste es nicht. Er war noch viel zu schlaftrunken, um klar denken zu können.

Nervös durchforstete er mit all seinen Sinnen den Raum und achtete auf jede Kleinigkeit. Das Gewitter heulte unverändert ums Haus, rüttelte an den Dachschindeln und nahm die Mauern unter schweren Beschuss. Doch nichts davon war so laut wie die Geräusche aus Mutters Schlafzimmer. Das Bett nebenan ächzte im Takt - Quiep, Quiep, Quiep -, und bei jedem Ruck stöhnte seine Mutter leise vor sich hin. Es klang, als hätte sie Schmerzen. Aber Felix kannte dieses Stöhnen inzwischen gut genug, um zu wissen, dass dem nicht so war; dass seine Mutter weder einen Arzt noch seine Hilfe benötigte. Höchstens Geld, damit sie die Schulden bezahlen konnte, solange sein Vater in diesem verfluchten Krieg war.

Felix wärmte sich an all diesen vertrauten Geräuschen, bis er noch mehr Mut gefasst hatte. Danach lenkte er seinen Blick zum Fenster. Der Regen malte silberne Schlieren auf das Glas, und die alte Eiche vor dem Haus plusterte sich unter den Windböen auf, als wäre sie ein riesenhafter Vogel. Doch diese dunkle Präsenz kam nicht von dem Unwetter, so gerne sich Felix das auch eingeredet hätte. Sie war irgendwo in seinem Zimmer ... und so frostig kalt wie der Tod höchstpersönlich.

Was ist das nur?

Sein Blick wanderte weiter zum Schreibtisch. Dem Schrank. Dem Stuhl. Alles sah in der Dunkelheit wie ein buckeliges Monster aus, und das Blitzlicht verlieh jedem Gegenstand überdies noch einen gespenstischen Glanz. Aber letztlich war alles davon absolut harmlos. Bis auf diese Präsenz. Sie war unerträglich nahe. So nahe, dass Felix sie wie eine zweite Haut auf seinem Rücken spürte.

Moment mal! Bedeutet das etwa ...

Felix stockte, als wäre der folgende Gedanke nur ein fauliger Geruch, der sich gleich wieder verziehen würde, wenn er nur lange genug die Luft anhielt. Aber der Gedanke ließ sich nicht mehr aufhalten und rollte mit einem eisigen Schauder durch seinen Kopf.

... bedeutet das etwa, dass jemand UNTER meinem Bett ist?

Felix konnte gerade noch den Impuls unterdrücken, aufzuspringen und schreiend aus dem Zimmer zu laufen. Denn er durfte sich jetzt nicht bewegen! Mit ein bisschen Glück würde ihn dieser Jemand gar nicht bemerken ... und womöglich irgendwann verschwinden.

Und wenn nicht? Wenn dieser Unbekannte extra wegen mir gekommen ist?

Felix zwang sich zur Ruhe.

Du bist der Mann im Haus, beschwor er sich. Also benimm dich gefälligst auch wie einer!

Er atmete leise durch und konzentrierte sich auf das, was vielleicht nur wenige Zentimeter unter ihm war. Und tatsächlich: Er konnte ein Rascheln hören. Als würde etwas Großes, Schweres über den Boden kriechen. Felix belauerte es sekundenlang - so wie das Rascheln ihn belauerte. Es bewegte sich zielsicher vom Fußende des Bettes nach oben in seine Richtung.

Dann stoppte es jäh.

Felix’ Angst raste dafür umso schneller, und sein Herz trommelte jetzt so laut, dass er befürchtete, dieser namenlose Jemand könnte es hören. Wieder schrie, nein bettelte alles in ihm danach, zu fliehen. Und wieder musste Felix diesen Impuls mit aller Gewalt unterdrücken. Weil er das abscheuliche Gefühl hatte, dass er nicht mehr fliehen konnte, egal wie sehr er sich auch beeilen würde.

Stattdessen lauschte er immer verbissener unter sein Bett.

Es blieb still. Zu still.

Eine Stille, die sich wie ein Gebiss um ihn schloss.

Felix begann zu zittern. Auf seinem Rücken bildete sich ein öliger Schweiß, der sich in seinen Achselhöhlen sammelte. Und wenig später breitete sich auch zwischen seinen Beinen eine Feuchtigkeit aus, als hätte er sich eingenässt.

Die Stille unter seinem Bett erreichte ihren Höhepunkt; wurde bleischwer und bekam ein fast ohnmächtiges Karat. Felix hoffte schon, dass sich sein Besucher nun endlich verzogen hatte.

Doch dann spürte er ihn unter sich.

Den Finger.

Oder eine Kralle.

Jedenfalls irgendwas Spitziges, Scharfes, das mit einer ungestümen Kraft gegen die Matratze drückte. Felix schrak zusammen. Nicht bewegen!, zischte seine Vernunft. Doch es war unmöglich, jetzt noch ruhig liegen zu bleiben. Und viel zu spät. Denn ehe sich Felix versah, hatte er sich bereits nach links gewälzt. Er schlug die Bettdecke beiseite und rechnete damit, nur ein zerknittertes Laken neben sich zu sehen. Doch im Gewitterleuchten wölbte sich wirklich eine kleine Beule in der Matratze nach oben; weiß und spitz wie ein Pickel, der kurz vor dem Platzen stand.

Eine Beule, die sich bewegte.

Der Finger unter der Matratze hatte wohl bemerkt, dass Felix zur Seite gewichen war - und nun begann er, nach ihm zu suchen. Denn die Beule schweifte im Zickzack über das Bett; zuerst nach oben und unten und schließlich nach rechts, von Felix fort. So ist es gut. Aber dann stoppte die Beule abrupt, als hätte sie eine Witterung aufgenommen, und drehte sich so ruckartig um, dass sich das Laken zu einer Spirale kringelte. Etwas unter der Matratze kratzte hörbar über den Stoff. Es war eindeutig eine Kralle, kein Finger, und sie schien Felix regelrecht anzustarren. Wollte ihn paralysieren, so wie es ein Raubtier mit seiner Beute tun würde.

Felix wurde die Sache unheimlich.

Falsch.

Unheimlich war die Sache schon von Anfang an gewesen, doch nun entfachte sie die blanke Panik in ihm. Er spannte jeden Muskel an, um sich aus dem Bett zu katapultieren. Was immer auch gleich geschah, er musste schnell sein - verdammt schnell - und durfte sich keinen Fehler erlauben.

Die Beule zögerte noch kurz.

Dann raste sie los.

Kam wie eine Haifischflosse genau auf ihn zu.

Der Anblick war so grotesk, dass Felix die Beule in der ersten Sekunde einfach nur anglotzte. Sie wölbte sich immer weiter vor ihm auf, bis sich das Laken mehrere Zentimeter weit in die Höhe spannte. Felix hörte, wie der Stoff ächzte, und sah die ersten Risse darin. Wahrscheinlich hätte nur noch ein letzter Ruck gefehlt und die Kralle wäre vollends durch das Laken gedrungen. So lange wollte Felix jedoch nicht warten. Er löste sich endlich aus seiner Starre und sprang auf die Beine, aber die weiche Matratze raubte ihm fast den gesamten Schwung. Anstatt im hohen Bogen aus dem Bett zu schnellen, rutschte Felix nur unbeholfen von ihm herunter. Fahrig streckte er die Arme nach etwas aus, an dem er sich festhalten konnte. Doch seine Hand griff nur ins Leere - und so knallte Felix wuchtig zu Boden. Ein heißer Schmerz explodierte in seiner Hüfte, aber Felix beachtete weder ihn noch das lähmende Gefühl, das durch seinen Körper strömte. Seine Aufmerksamkeit richtete sich voll und ganz auf die Beule über ihm.

Sie war verschwunden.

Die Matratze hatte sich wieder gesenkt, und das Laken hing schlaff von ihr herab. Nur das Blitzlicht bewegte sich jetzt noch auf dem Bett und erzeugte in den Falten etliche Grimassen, die Felix hämisch angrinsten. Als wollten sie ihm zurufen: April, April! Du hast nur schlecht geträumt, Junge.

Doch Felix wusste es besser.

Die Beule war kein Albtraum gewesen. Und diese dunkle Präsenz erst recht nicht. Denn unter seinem Bett kam noch immer dieses merkwürdige Rascheln hervor ...

Zögernd senkte Felix den Blick.

Unter dem Bett war es stockdunkel. Aber innerhalb dieser Dunkelheit bewegte sich etwas. Ein schwarzes Wesen, das manchmal die Umrisse eines Mannes und manchmal die eines Tieres besaß ... aber das sicherlich nichts von beidem war. Felix hätte sein gesamtes Taschengeld dafür hergegeben, wenn er das Licht hätte einschalten können. Doch das war leider unmöglich. Die Stadt hatte den Strom abgestellt, um keine feindlichen Bomber anzulocken, und die einzige Taschenlampe im Haus lag einen gefühlten Kilometer weit entfernt.

Felix wartete deshalb nervös auf den nächsten Blitz.

Eine Sekunde. Zwei. Drei.

Es kam keiner. Selbst das Gewitter schien vor Angst wie versteinert zu sein.

Dafür raschelte das Wesen unter dem Bett wieder. Es drehte sich in Felix` Richtung, musterte ihn, fauchte. Ein kurzes, garstiges Achrrr.

Hallo? Wer ist da?

Es wäre so einfach gewesen, diese Frage zu stellen, aber Felix’ Zunge klebte ihm fest am Gaumen. So wie sein Blick fest an diesem Wesen klebte. Er bemühte sich laufend, zwei Arme, zwei Beine oder einen Kopf an ihm zu erkennen. Doch dieses Wesen besaß entweder nichts davon oder von allem mehr, als jedes andere Geschöpf auf dieser Welt.

Was zur Hölle ist das bloß?

Felix hatte keine Ahnung. Und erst recht keine Lust, es jemals zu erfahren. Er schielte nach rechts. Bis zur Tür waren es nur drei Meter. Vier weitere bis zum Schlafzimmer seiner Mutter. Und noch mal drei, um sich zu ihr ins Bett zu retten. Ein Katzensprung!

Könnte ich das schaffen?

Ein heftiger Donnerschlag zerriss die Nacht in zwei Hälften. Gleichzeitig flackerte wieder ein Licht durch das Zimmer.

Endlich! Der Blitz!

Doch es war kein Blitz.

Dieses Licht kam aus zwei Augen, die unter dem Bett aufglühten. Augen wie die einer Giftschlange - gelb und mit schlitzförmigen Pupillen, die von einem unersättlichen Hunger beseelt waren. Einem Hunger nach Kindern. Sie starrten Felix gierig an und zogen sich dabei immer enger zusammen. Ein stummer Countdown, der die letzten Sekunden bis zum Angriff herunterzählte. Vielleicht sogar die letzten Sekunden in Felix’ Leben.

Dann schoss das Wesen unter dem Bett hervor.

Felix sah die Augen wie Feuerbälle auf sich zurasen. Sah ein Maul voller Reißzähne. Sowie zwei krallenbewehrte Pranken, die genau die richtige Größe hatten, einen Jungen zu zerfleischen.

Das war der Moment, an dem Felix aufhörte zu denken. Er zappelte sich kreischend hoch. Seine Bettdecke klebte noch wie ein Kokon an ihm fest und schnürte ihm die Beine zusammen. Felix breitete automatisch die Arme aus, um das Gleichgewicht zu halten, während er einen linkischen Hüpfer zur Seite machte. Er wäre sofort wieder zu Boden gestürzt, wenn ihn das Wesen nicht mit seinen Krallen gestreift und die Bettdecke zerschnitten hätte, als bestünde sie nur aus Papier.

Felix schüttelte die Stofffetzen von sich ab und rannte los.

Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie sich das Wesen neben ihm vollends aufrichtete. Seine Haut war pechschwarz und waberte wie eine Flüssigkeit umher, und sein Körper schien keine feste Form zu besitzen. Als es Felix entdeckte, stieß das Wesen ein weiteres garstiges Fauchen aus seinem Rachen und sprang mit einem katzenhaften Satz über das Bett.

Felix ahnte, dass er die Tür nicht mehr erreichen konnte.

Dass dieses Zimmer zu seinem Grab werden würde.

Trotzdem stürmte er unversehens weiter und riss die Arme nach vorne; dorthin, wo sich die Klinke befinden musste. Er hatte nur eine Chance, die Tür zu öffnen, nur eine Chance, zu entkommen ... und es war wohl nur dem puren Glück zu verdanken, dass er die Klinke tatsächlich auf Anhieb fand. Er drückte sie mit seinem ganzen Körpergewicht nieder, zog die Tür auf und schlüpfte in den Flur hinaus. Das Wesen war ihm dicht auf den Fersen. Seine Krallenhände strichen hauchknapp an ihm vorbei und hackten vier Kerben in den Türrahmen. Holzsplitter flogen durch die Luft. Irgendwas Metallisches knirschte. Und Felix glaubte sogar, den einen oder anderen Funken hinter sich zu sehen. Dann fiel seine Zimmertür zurück ins Schloss. Das Wesen stieß ein drittes, diesmal recht zorniges Fauchen aus, bevor es mit vollem Karacho gegen die Tür rempelte. Womms! In dem Holz bildete sich ein gezackter Spalt und für einen Augenblick befürchtete Felix, dass dieses Wesen die Tür mitsamt dem Rahmen einfach aus der Wand sprengen würde.

Doch so weit kam es nicht.

Die Tür hielt. Aber die Krallen schabten bereits über das Holz und suchten nun ebenfalls nach der Klinke.

Es ist noch nicht vorbei.

Felix wankte den Flur hinunter. Auf der Kommode brannte eine einzelne Kerze und spendierte ihm gerade so viel Helligkeit, dass er nicht gegen ein Hindernis lief. Vielleicht wäre es klüger gewesen, aus der Wohnung zu fliehen, doch Felix war im Moment weit davon entfernt, etwas Kluges zu tun. Und so taumelte er geradewegs auf das Schlafzimmer zu. Seine Mutter stöhnte unverändert darin, und das Bett quietschte wie ein defektes Musikinstrument. Quiep, Quiep, Quieeep! Eigentlich hatte ihm Mutter strikt verboten, ins Schlafzimmer zu kommen, solange sie arbeitete. Aber daran konnte und wollte sich Felix jetzt nicht halten. Bei wem hätte er sich sonst verstecken sollen - wenn nicht bei seiner Mutter?

Er hätte ohnehin keinen Rückzieher mehr machen können, so schnell, wie er war.

In voller Fahrt riss er die Tür auf.

Ein Gestank nach Alkohol und Schweiß schlug ihm ins Gesicht, und eine mörderische Hitze baute sich wie eine gläserne Wand vor ihm auf. Felix hielt inne, obwohl er noch längst nicht in Sicherheit war. Aber der Anblick in dem Zimmer irritierte ihn viel zu sehr, als dass er noch einen Schritt hätte gehen können. Seine Mutter Anna lag splitterfasernackt und mit gespreizten Beinen im Bett. Über ihr kniete Herr Böhm, ein Nachbar. Er war ebenfalls nackt und grunzte tierisch, während er sein Becken mit brutalen Stößen gegen Annas Schoß hämmerte. Auf dem Nachttisch standen eine Schnapsflasche sowie zwei Gläser. Daneben brannten mehrere Kerzen, aber selbst ihr orangefarbenes Licht konnte nicht darüber hinwegtäuschen, wie bleich Herr Böhm und wie abgemagert Anna war. Felix wusste natürlich, dass die beiden gerade Liebe machten. Auch wenn ihn diese ruckartigen Bewegungen mehr an einen Nahkampf erinnerten ...

»Mama!« Felix wetzte von der Tür fort und landete mit einem Satz auf dem Bett.

Seine Mutter und Herr Böhm schraken auseinander.

Anna schlug reflexartig die Bettdecke über ihren Leib, während Böhm auf die Matratze plumpste. Sein Penis zuckte, als hätte er einen Rohrkrepierer. Eine erfolglose Sekunde lang tastete auch Böhm nach irgendwas, mit dem er seine Blöße bedecken konnte (obwohl es da nicht viel zu bedecken gab), bevor er einfach die Hände über seinen Schoß legte. Er wirkte völlig perplex; wurde dann aber immer zorniger. Bei Anna fand dasselbe Mienenspiel statt, nur in umgekehrter Reihenfolge. Aus ihrem wütenden Blick wurde zunehmend ein sehr besorgter.

»Felix ... Liebling ... was ist los?«, stotterte sie.

Und Böhm feuerte sogleich hinterher: »Was willst du hier, Junge? Verzieh dich! Sofort!«

Felix beachtete weder ihn noch seine Mutter. Er behielt nur die offene Tür im Auge. Aus seinem Zimmer drang kein Geräusch mehr, und auch im Flur war es verdächtig still. Aber diese böse Präsenz streunte noch immer durch die Wohnung. Und kam näher.

»Hast du nicht gehört, du Rotzbengel? Verzieh dich!« Böhm holte zu einer Ohrfeige aus, doch Anna konnte seinen Arm gerade noch abfangen. Sie setzte sich auf und streifte eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht. Schweißperlen benetzten ihre Stirn, und das billige Rasierwasser von Böhm klebte wie eine Seuche an ihr.

»Liebling?« Sie streckte die Hand nach Felix aus. Normalerweise war es ihm zuwider, von derselben Hand berührt zu werden, mit der Anna schon Böhm (und seinen Penis) angefasst hatte. Doch jetzt war ihm dieser Ekel fremd. Er schmiegte sich an seine Mutter und genoss das warme, schützende Gefühl, das von ihr ausstrahlte ... und das ihn augenblicklich beruhigte. Jetzt war er sicher. Jetzt würde alles wieder gut werden. Hoffentlich.

»Nun sag schon! Was ist los?«, flüsterte Anna in sein Ohr. »Hast du Angst vor dem Gewitter?«

»Da war jemand in meinem Zimmer«, schluchzte Felix.

»Jemand? Was meinst du damit?«

»Es war ... der Schwarze Mann.« Felix musste nicht den Kopf heben, um zu wissen, wie Anna und Böhm darauf reagierten. Er konnte ihre skeptischen Blicke regelrecht fühlen.

»Der Schwarze Mann?«, polterte Böhm, fast wie erwartet. »Bist du bescheuert? Es gibt keinen Schwarzen Mann.«

»Ich schwöre ... es ist die Wahrheit. Er war da und hat mich gejagt.«

»Das war nur ein Hirngespinst. Und nun verkriech dich wieder in dein Bett, Junge, bevor ich richtig ungemütlich ...«

»Helmut, bitte!«, fuhr Anna dazwischen. »Siehst du nicht, dass mein Sohn verängstigt ist?«

»Verängstigt?«, keifte Böhm. »Dem Bengel fehlt nur eine ordentliche Erziehung.« Sein Blick nahm Felix ins Visier. »Was bringen die euch in der Hitlerjugend eigentlich bei? Heulen und jammern? Kein Wunder, dass wir den Krieg verlieren. Bei solchen Waschlappen ...«

»Das reicht jetzt!«, ermahnte Anna.

»Tut es nicht«, entgegnete Böhm aufgebracht. »Sorg dafür, dass uns dein missratener Sohn zufriedenlässt. Ich habe für eine ganze Stunde bezahlt - und mir bleiben noch genau zwanzig Minuten, um mich mit dir zu vergnügen.« Er zeigte anklagend auf einen Wecker, der zwischen den Gläsern und Kerzen auf dem Nachttisch tickte. Es war kurz vor Mitternacht.

»Stell dich nicht so an, Helmut. Du hättest sowieso keine fünf Minuten mehr durchhalten können«, erwiderte Anna mit verletzender Stimme.

In Böhms Gesicht stieg eine beschämte Röte hoch. Er überlegte noch einen Moment krampfhaft, was er erwidern könnte, um seine Ehre zu retten. Dann schwang er sich herum. Der Lattenrost gab ein weiteres Quiep von sich, als Böhm aus dem Bett stieg. Er war so betrunken, dass er auf den Füßen tänzelte und beide Arme ausbreiten musste, um nicht gleich wieder auf das Laken zu stürzen. Trotzdem wankte er recht zielsicher zu einer Kommode auf der anderen Seite des Zimmers hinüber.

»Was hast du vor?«, fragte Anna, obwohl sie es sich denken konnte.

»Ich will mein Geld zurück«, erklärte Böhm.

»Das kannst du nicht machen! Ich bin ...«

»Kann ich wohl.« Böhm öffnete eine Schatulle auf der Kommode und zog ein paar Geldscheine daraus hervor. Er nahm sich mehr, als ihm zustanden. Anscheinend hatte er bereits ein Schmerzensgeld mit eingerechnet. »Für diese miese Nummer wirst du keinen Pfennig von mir bekommen. Und wenn du mich daran hindern willst, werde ich dich bei der Sittenwache anzeigen«, drohte er ihr. »Ehrlich, ich weiß gar nicht, was die anderen Männer so erotisch an dir finden ...«

Weiter kam er nicht.

Draußen im Flur flackerte die Kerze ... und erlosch.

Anna, Böhm und Felix sahen zur Tür herum und beobachteten, wie sich die Dunkelheit in der Wohnung ausbreitete. Aber es war keine normale Dunkelheit. Sie rauschte nicht einfach bloß durch den Flur, sondern bewegte sich anmutig über die Wände und den Boden, als würde sie wie eine schwarze Pflanze langsam wachsen. Einige Schatten davon schlängelten sich auch in das helle Schlafzimmer herein, obwohl das physikalisch völlig unmöglich war. Trotzdem kräuselten sie sich in öligen Wellen über den Teppich und suchten jemanden. Suchten ein neues Opfer. Suchten nach Felix.

»Was ist das?«, hauchte Anna. In ihrer Stimme lag allmählich dieselbe Angst wie in der ihres Sohnes.

»Das ist der Schwarze Mann«, flüsterte Felix. Er drängte sich immer fester an seine Mutter; so fest, dass er sie Stück für Stück über das Bett schob.

Böhm dagegen falzte grimmig die Lippen. »Hör endlich mit diesem Unsinn auf!«, schimpfte er. »Das sind nur Rauchschwaden. Euer Ofen ist verstopft, nichts weiter.« Um es Anna und Felix (und auch ein kleines bisschen sich selbst) zu beweisen, marschierte er energisch um das Bett. Er angelte im Vorbeigehen seine Unterhose vom Boden und brachte irgendwie das Kunststück fertig, sie im Laufschritt über seine speckigen Hüften zu ziehen. Schließlich hatte er die Tür erreicht ... und verharrte mitten in der Bewegung. Vielleicht weil er etwas sah oder hörte. Vielleicht aber auch, weil er plötzlich begriff, dass diese Schatten nie und nimmer aus einem Ofen stammen konnten.

Was es auch war, es blieb sein Geheimnis.

Denn im nächsten Moment schnellte etwas aus der Dunkelheit auf ihn zu.

Es waren keine Hände und auch keine Zähne, aber etwas, das genauso kräftig und scharf war und sich binnen eines Wimpernschlags in seinem Oberkörper festkrallte. Böhm konnte nicht einmal mehr einen Schrei ausstoßen oder gar Schmerzen spüren. In seinem Gesicht zerplatzte lediglich ein fassungsloser Ausdruck, dann wurde er auch schon in den Flur gezerrt. Seine Füße schrammten gegen den Türrahmen und knackten trocken. Doch dieses Geräusch bildete nur den Auftakt einer ganzen Serie von grausamen Lauten, die danach in dem Flur ertönten. Denn der Schwarze Mann war noch längst nicht fertig mit ihm. Obwohl Böhm über neunzig Kilo wog, schmetterte ihn der Schwarze Mann zwei weitere Male gegen die Wand, als wäre er eine luftgefüllte Puppe. Allein der erste Aufprall reichte aus, um sein Rückgrat zu brechen, und der zweite raubte Böhm vollends jegliche Lebenskraft. Er sah noch kurz mit schreckensgroßen Augen ins Schlafzimmer und flehte stumm nach Hilfe, obwohl er bis dahin eigentlich schon tot war. Dann zerrte ihn der Schwarze Mann zu sich in die Dunkelheit.

Anna und Felix kauerten im Bett und starrten die offene Tür an. Sie waren unfähig zu denken, unfähig sich zu bewegen oder zu schreien. Sie konnten nur dabei zuhören, wie der Schwarze Mann soeben Herr Böhm fraß. Aus dem Flur kam ein Bersten und Knacken, Schmatzen und Reißen ... und schließlich folgte noch ein letztes, fleischiges Kratsch. Dann brachen die Geräusche ab.

Nur der Donner stampfte jetzt noch ums Haus und machte die tödliche Stille ein wenig erträglicher.

»Großer Gott!«, schluckte Anna. »Großer allmächtiger Gott!«

Felix wusste natürlich, dass Gott nichts mit diesem Albtraum zu tun hatte. Und dass kein Gebet den Schwarzen Mann noch aufhalten konnte. Denn aus dem Flur krochen bereits neue Schatten wie schwarze Wurzeln in das Schlafzimmer herein. Um sich die nächsten Leckerbissen zu holen.

Anna sprang urplötzlich hoch und riss Felix dabei zwangsläufig mit auf die Füße. Er konnte sich jedoch nicht lange in der Senkrechten halten und sackte sogleich wieder zurück auf die Matratze. Seine Mutter indes stolperte los, quer über das Laken, auf den Bettrand zu.

»Mama, was hast du vor?«

Anna gab ihm keine Antwort. Wahrscheinlich wollte sie nur die Tür schließen, doch sie kam nicht einmal bis zur Kommode. Als sie auf den Boden sprang, schnellte eine Hand unter dem Bett hervor. Eine Hand aus lodernder Dunkelheit, die sich formte und dehnte, als besäße sie keinerlei Knochen, aber deren Krallen sich mit einem bestialischen Ruck um Annas Fuß zusammenschnürten. Anna wollte die Hand in einem ersten Reflex einfach von sich abschütteln, aber der Druck an ihrem Knöchel verstärkte sich zu einem brennenden Schmerz und betäubte jegliche Kraft in ihr. Sie machte noch einen linkischen Stolperschritt nach vorne, dann stürzte sie zu Boden. Anna japste einen Schrei aus der Kehle. Zu mehr war sie nicht fähig, denn im selben Moment spannte sich die schwarze Hand an - und zerrte sie unters Bett! Panisch wirbelte Anna herum. Sie streckte ihre Arme nach dem Nachttisch aus, doch ihre Finger glitten nur nutzlos über das polierte Holz. In ihrer Not winkelte sie das rechte, freie Bein an und rammte es mit der Ferse gegen das Bettgestell, um sich daran abzustützen.

Es gelang ihr tatsächlich, zu stoppen.

Irgendwie konnte sie sich sogar drei, vier Zentimeter weit von dem Bett fortdrücken ... bis sich die Krallen noch tiefer in ihren Fuß bohrten und sie wieder unters Bett zerrten. Doch Anna gab nicht auf. Sie würde sterben, wenn sie es tat, und so verkrampfte auch sie jeden Muskel ihres Körpers und lieferte sich mit dem Schwarzen Mann ein erbittertes Tauziehen. Sie rutschte auf dem Boden vor und zurück - mal ins Leben, mal in den Tod. Und gerade, als Anna glaubte, sie könnte entkommen, fuhr eine zweite und dritte (!) Hand unter dem Bett hervor und grub sich in ihren nackten Oberschenkel.

Anna starrte schockiert an sich herab.

Die Schmerzen tobten bis dahin längst wie ein Feuersturm durch ihren Kopf. Aber das Einzige, was Anna gerade noch wahrnehmen konnte; das Einzige, was sie in diesem Moment dachte, war die verstörende Frage: Welches Wesen besitzt denn DREI Hände?

Sie würde die Antwort gleich erfahren.

Der Schwarze Mann zog sie nämlich immer weiter zu sich.

Annas linkes Bein war bereits halb in der Dunkelheit versunken, und ihr rechtes konnte der Belastung nicht mehr standhalten. Es bog sich an dem Bettgestell nach oben, bis es beinahe ihr Gesicht berührte, und sprang kurz darauf mit einem hohlen Plopp aus dem Hüftgelenk. Und das war im Vergleich zu den vielen anderen Qualen ein fast schon zärtlicher Schmerz. Denn unter dem Bett ertönte wieder dieses Reißen und Schmatzen, als wäre Anna in einen Fleischwolf geraten. Sie kreischte aus voller Kehle und schlenkerte die Arme hin und her, um irgendwo Halt zu finden. Ihre Finger kratzten über den Boden, zupften an dem Laken und griffen nach dem Bettpfosten ... doch sie konnte nicht mehr genug Kraft aufwinden, sich an irgendwas davon zu klammern.

»Felix!«, winselte sie. »Bitte ... tu etwas ...«

Felix wusste nur zu gut, dass er nichts tun konnte; dass seine Mutter verloren war und er besser sein eigenes Leben retten sollte. Aber er war nun mal der Mann im Haus, er hatte seinem Vater versprochen, dass er Anna beschützen würde - und so lehnte er sich vor und packte sie an der Schulter. Ihre Haut war so schweißnass, als käme sie frisch aus der Badewanne, wodurch Felix immer wieder von ihr abrutschte. Um sie noch besser greifen zu können, robbte er ein Stück weiter über die Bettkante hinaus, und noch eines, und noch eines ... so weit, dass er beinahe selbst auf dem Boden gelandet wäre - und zwar mitten in einer vierten Krallenhand, die unter dem Bett hervorkam und sich ebenfalls in seiner Mutter verbohrte!

Durch Annas Körper ging ein harter Ruck.

Ihre Haut blähte sich stellenweise auf, und Felix konnte sehen, wie sich etwas darunter bewegte. Lange, sichelförmige Finger, die sich durch Annas Eingeweide wühlten und sie innerlich vollkommen aushöhlten. Gleichzeitig klappte sie wieder ihren Mund auf. Doch anstatt zu kreischen, sprudelte diesmal etwas Schwarzes, Flüssiges zwischen ihren Lippen hervor. Felix hielt es für Blut. Doch es war kein Blut. Es war dieselbe lebendige Dunkelheit, aus der auch die Krallenhände bestanden. Sie floss in dicken Strömen über Annas Hals, ihre Brust und die Arme hinweg und schmiegte sich wie ein Leichentuch über ihr Gesicht. Der Schwarze Mann war noch so gnädig und gab ihr einen letzten Moment Zeit, damit sie von ihrem Sohn Abschied nehmen konnte.

Es tut ... mir leid, stand in ihrem entsetzten Blick. Ich hätte ... auf dich hören sollen.

Dann wurde Anna urplötzlich schlaff und glitt vollends unters Bett.

Felix prallte zurück. Er hatte das Gefühl, er würde ebenfalls schreien, obwohl aus seiner Kehle bloß noch ein heiseres Winseln kam. »M-M-Mama?«, stammelte er.

Seine Mutter antwortete ihm nicht.

Sie lag einen halben Meter unter ihm und wurde von dem Schwarzen Mann gefressen. Die Schmatzlaute waren so grässlich, dass sich Felix wünschte, er könnte seine Ohrenschützer wieder aufsetzen. Ein wildes, tierisches Kratsch-Kratsch-Kratsch.

Felix’ Vernunft setzte aus.

Er wollte aus dem Bett springen; wollte fliehen, doch damit hätte er seinen eigenen Tod nur noch beschleunigt. Denn inzwischen waberte die Dunkelheit wie Öl auf dem gesamten Boden des Schlafzimmers umher. Manchmal formten sich einzelne Finger oder ganze Krallenhände daraus hervor, strichen über die Möbel und sanken zurück ... und sie alle machten Felix unmissverständlich klar, dass er in der Falle saß. Dass auch er gleich gefressen werden würde. Als Nachspeise.

Und jetzt?

UND JETZT?

Sein Blick jagte durchs Zimmer. Er sah zu der Schnapsflasche auf dem Nachttisch. Zu der Stehlampe neben dem Bett sowie zu einem Stuhl, der in greifbarer Nähe stand. Alles konnte ihm als Waffe dienen, aber nichts davon würde ihm helfen. Zuletzt robbte sein Blick zu einem Foto an der Wand, auf dem sein Vater abgebildet war. Anna hatte es mit einem Seidenschal verhängt (vielleicht weil sie das Gefühl hatte, er würde sie bei ihrer Arbeit beobachten), aber seine Gesichtszüge schimmerten trotzdem unter dem hauchdünnen Stoff hervor. Besonders sein gütiges, warmherziges Lächeln.

»Papa, bitte ... komm nach Hause«, schluchzte Felix. »Hilf mir ...«

Natürlich kam sein Vater nicht. Er war viele tausend Kilometer von hier entfernt und kämpfte für Hitlers Traum.

Dafür kam jemand anderes.

Ein neues Rascheln geisterte unter dem Bett hervor.

Es war in dem Gewittergrollen kaum zu hören, doch Felix’ überreizte Sinne schlugen trotzdem sofort darauf an. Sein Kopf schnellte herum. Der Schwarze Mann bewegte sich soeben auf das Fußende des Bettes zu. Felix rutschte panisch davor zurück, bis er mit dem Rücken gegen das Kopfteil stieß. Hier war Endstation. Von seiner Flucht. Von seinem Leben.

Das Rascheln bewegte sich unterdessen weiter und weiter, und dann ...

Wosch!

... landete eine schwarze Hand auf der Matratze.

Und nur eine Sekunde später folgte die zweite.

Wosch!

Ihre Krallen tasteten wie fünfbeinige Spinnen über das Laken und gruben sich mit spielerischer Leichtigkeit darin fest. Zwischen ihnen linsten die giftgelben Augen des Schwarzen Mannes über das Bett. Sie zogen sich wieder zu dünnen, feixenden Klingen zusammen, als sie Felix entdeckten. Danach richtete sich der Schwarze Mann gemächlich auf. Wobei er nicht wirklich ein Mann war. Sein Körper hatte keinerlei Substanz; war nur ein Stück rauchige Dunkelheit, die sich ständig verformte, und die kein Licht jemals durchdringen konnte.

Er ließ sein verstörendes Aussehen kurz auf Felix einwirken, ehe er sich auf das Bett herabsenkte und auf den Jungen zukroch.

Felix presste sich heulend ins Kopfkissen. Er roch den Schweiß seiner Mutter und bildete sich ein, dass sie noch immer neben ihm liegen würde. Es ist gleich vorbei, Liebling, hörte er sie in seiner Fantasie sagen. Nur ein kurzer Schmerz, dann hast du es überstanden. Dann sind wir wieder vereint. Aber Felix wollte nicht so enden wie seine Mutter! Er wollte keine Schmerzen haben; wollte nicht in diese abscheuliche Finsternis. Denn er war überzeugt davon, dass der Schwarze Mann mit ihm noch etwas sehr viel Schlimmeres tun würde, als nur zu fressen. So wie mit allen Kindern, die er nachts aus ihren Betten holte.

Der Schwarze Mann hatte ihn nun erreicht und thronte genau über ihm.

Felix zitterte, heulte, spürte, wie er langsam starb. Denn von dem Schwarzen Mann ging ein Gefühl der absoluten Leere aus, das alles Leben einfach in sich aufsaugte. Und er war so schrecklich kalt! Kälter, als alles, was Felix je erlebt hatte; eine Kälte, die sein kleines Herz in eine frostige, schneeweiße Kugel verwandelte.

Er schloss die Augen und ergab sich seinem Schicksal.

Gleichzeitig plärrte irgendwo eine Sirene los. Ein langes, an- und abschwellendes Heulen, das die ganze Stadt aus ihrem wohlverdienten Schlaf rüttelte.

Felix schielte unter seinen Augenlidern hervor zum Fenster. In der Ferne leuchteten mehrere Suchscheinwerfer auf, die über die Gewitterwolken am Himmel tasteten. Und in das Sirenenheulen mischte sich mehr und mehr ein tiefes Brummen, wie das von einem Hornissenschwarm. Auch der Schwarze Mann reckte den Kopf zum Fenster und lauschte. Ein ärgerlicher Ausdruck rollte über sein Gesicht. Offenbar wusste er so gut wie Felix, was dieses Brummen bedeutete. Aber keiner von ihnen konnte sich mehr davor in Sicherheit bringen. Denn plötzlich raste etwas aus dem Himmel herab und schlug mit der Wucht einer Götterfaust neben dem Haus in den Garten.

Und im nächsten Moment ging die Welt in Flammen auf.

75 Jahre später

Kapitel 1

Der Zirkus

Freitag, 10.45 Uhr

 

 

Das Grauen kam an einem Freitagmorgen nach Ronbuch.

Das konnten die Einwohner des beschaulichen Städtchens im Schwarzwald natürlich nicht wissen. Und selbst wenn man es ihnen gesagt hätte, hätten sie es kaum geglaubt. Denn das Grauen versteckte sich in einem Zirkus, der von Süden herauf über die Landstraße fuhr und sich bedächtig der Stadt näherte. Es war nur ein sehr kleiner Zirkus, der gerade mal aus einem Dutzend Fahrzeugen bestand. Die meisten davon waren klapprige Kutschen, die von Pferden gezogen wurden. Aber es befanden sich auch motorisierte Fahrzeuge darunter; Geländeautos und Lastwagen, die ebenfalls ihr Verfallsdatum längst überschritten hatten und eher einem rollenden Museum als einem Wanderzirkus glichen. Später sollte sich niemand mehr in Ronbuch daran erinnern können, woher dieser Zirkus kam. Manche Leute würden behaupten, er wäre wie eine Fata Morgana auf der Straße erschienen. Andere dagegen würden überzeugt davon sein, dass dieser Zirkus aus einer fernen Zeit oder vielleicht sogar aus der Hölle selbst gekommen war. Nur in einem Punkt würden die Leute übereinstimmen: nämlich dass der Zirkus den Tod im Gepäck hatte.

Aber wie gesagt, niemand konnte das anfangs wissen.

Die erste Person, die das Grauen an diesem sonnigen Morgen zu Gesicht bekam, war Carmen. Sie stand in Strapsen und roter Spitze - ihrer Arbeitskleidung - rund einen Kilometer vor Ronbuch am Straßenrand. Hinter ihr parkte ein geräumiger Wohnwagen. Gut versteckt, damit er niemanden störte. Aber er war mit so vielen roten Herzchen geschmückt, dass ihn auch niemand übersehen konnte. Obwohl das eigentlich gar nicht mehr nötig gewesen wäre. Carmens Kuscheloase war im weiten Umkreis bekannt - und die beste Adresse für alle Männer, die sich einsam fühlten.

Im Moment war Carmen jedoch außer Dienst.

Sie hielt eine Zigarette in der rechten Hand sowie eine dampfende Tasse Kaffee in der linken und genoss ihr Katerfrühstück. Sie wollte eben ihren letzten Schluck nehmen, als sie das Hufgeklapper der Pferde hörte. In diesem verlassenen Wald hatte Carmen seit jeher das Gefühl gehabt, die Zeit würde stillstehen, aber ein Hufgeklapper war selbst für diese ländliche Gegend recht ungewöhnlich. Carmen hielt jedenfalls irritiert inne, stellte sich auf die Zehenspitzen und wandte sich in die Richtung, aus der das Geklapper kam. Ihre High Heels waren hoch genug, dass sie die meisten Männer damit überragte; trotzdem musste sie noch einen zähen Moment warten, ehe sie etwas in der Ferne entdecken konnte.

Aber ihre Geduld lohnte sich.

Denn dieser Zirkus war schon fast eine kleine Sensation.

An seiner Spitze fuhr tatsächlich eine echte Pferdekutsche, wie man sie wohl zuletzt vor zweihundert Jahren benutzt hatte. Sie quälte sich im Schritttempo über die Straße. Dahinter folgten noch elf weitere Wagen, bei denen der eine kurioser aussah als der andere. Carmen entdeckte marode Fuhrwerke, die teilweise nur noch von ihrer Farbe zusammengehalten wurden. Geländeautos, auf denen unzählige Kisten verschnürt waren. Und einen Lastwagen, der mehrere Tierkäfige transportierte. Hinter den Gitterstäben vollführten drei Schimpansen buchstäblich ein Affentheater, indem sie schreiend von einer Ecke in die andere sprangen. Der Löwe nebenan fand das alles andere als lustig und fauchte genervt, während das Zebra im hinteren Teil des Lastwagens stoisch auf seinem Heu herumkaute.

Carmen beschäftigte sich jedoch nicht weiter damit.

Am Ende dieses Konvois folgte nämlich das ungewöhnlichste Gefährt überhaupt. Es war ein Eisenbahnwaggon, an den jemand Gummireifen montiert hatte, damit er auf der Straße fahren konnte. Auf seinem Dach lag die Plane für das Zirkuszelt, als wäre sie ein riesiger Regenschirm. Und auf der Seitenfläche des Waggons stand in goldenen Buchstaben geschrieben: CIRCUS CONVALLI - Der Ort, an dem Wunder wahrwerden. Neben diesem Schriftzug prangerte ein Clowngesicht auf dem Holz; mit kalkweißer Haut sowie einer roten Knollennase. Aber dieser Clown wirkte in keinster Weise fröhlich (auch wenn er grinste). Stattdessen erinnert er Carmen unweigerlich an Pennywise - das Monster aus Stephen Kings ES.

Und genau dieses Clowngesicht war es auch, das ihr einen leichten Schrecken einjagte.

Es sollte nicht der letzte sein.

Mit einer Mischung aus Faszination und Misstrauen reckte sich Carmen immer weiter in die Länge und starrte die Straße hinunter. Sie war weit davon entfernt, das Grauen zu erkennen, das sich ihr näherte. Aber sie hatte schon jetzt das subtile Gefühl, dass sie gleich etwas sehen würde, das schon lange kein Mensch mehr zu Gesicht bekommen hatte.

Denn allmählich kamen die Gestalten in Sichtweite, die mit dem Zirkus reisten.

Gestalten ...

Carmen wunderte sich über ihre eigene Wortwahl. Doch genau das waren die Menschen, die dort auf den Kutschböcken oder hinter den Lenkrädern saßen: Gestalten. Frauen und Männer mit Kleidern am Leib, als wären sie aus dem tiefsten Mittelalter hierherversetzt worden, sowie zotteligen Frisuren, die eher an Spinnweben als an Haare erinnerten. Und keiner von ihnen trug einen freundlichen Schimmer an sich. Sie waren wie das Clowngesicht auf dem Waggon - Figuren aus einem Horrorkabinett.

Carmen durchlief ein weiteres Frösteln. Sie spielte mit dem Gedanken, ob sie sich in ihrem Wohnwagen verkriechen sollte. Doch dann erwachte ihr Geschäftssinn. Düstere Gestalten hin oder her ... die meisten Männer von diesem Zirkus sahen krank aus. Krank vor Einsamkeit. Und dagegen hatte Carmen die passende Medizin. Sie schnipste ihre Zigarette davon und stellte die Kaffeetasse ins Laub. Danach kämmte sie sich mit den Fingern einmal durch ihre rote Mähne und brachte ihren Vorbau - Doppel D, dank Silikonkissen - in Stellung. Noch ein lasziver Blick dazu und schon hatte sie ihren Köder ausgelegt.

Jetzt mussten die Kerle nur noch anbeißen.

Langsam rollte der Zirkus an ihr vorbei.

Einige Männer riskierten durchaus einen Blick auf sie. Mehr aber auch nicht. Wahrscheinlich hätte Carmen nackt am Straßenrand posieren oder mit Kondomen um sich werfen können ... und keiner dieser Halbzombies hätte auch nur ein Jucken in der Hose verspürt. Stattdessen starrten die Männer sie lediglich mit ihren maskenhaften Gesichtern an. Als wären sie in diesem Zirkus ebenso gefangen wie die Tiere. Nur ohne Gitterstäbe.

Auch das war ein Gedanke, der Carmen zutiefst verstörte.

Sie wollte sich schon resigniert abwenden und nach ihrer Tasse greifen, da fing ihr Blick etwas ein, das sie bislang noch gar nicht bemerkt hatte: Auf der Rückseite des Eisenbahnwaggons baumelte ein weiterer Käfig. Er hatte einen Durchmesser von anderthalb Metern und fingerdicke Gitterstäbe, die sich nach oben hin zu einer Kuppel verjüngten. Ähnlich wie bei einem Vogelkäfig. Carmen hätte ihn für ein harmloses Requisit gehalten. Doch in dem Käfig saß kein Tier, sondern ein Mann ...

Ein sehr finsterer Mann.

Carmen spürte bei seinem Anblick zum ersten Mal das Grauen, ohne sich dessen bewusst zu sein. Denn dieser Mann war nur ein vager Schatten, als würde das Sonnenlicht einfach von ihm abperlen. Er saß auf dem Boden seines winzigen Verschlags und hatte den Kopf gegen die Gitterstäbe gelehnt. An seinem Körper hingen die schmuddeligen Reste einer blauen Latzhose sowie die eines Baumfällerhemdes. Schwarze, fettige Haare bedeckten größtenteils sein Gesicht und täuschten vor, er würde schlafen.

Aber das tat er nicht.

Ganz und gar nicht.

Unter seinen Haaren blitzten zwei geheimnisvolle Augen hervor, die Carmen vom ersten Moment in eine Art Trance versetzten. Ohne es zu bemerken, stöckelte die Vollblutnutte auf ihren High Heels los, dem Zirkus hinterher. Sie war nicht die Einzige, die in den Sog dieses seltsamen Mannes geriet. Immer wieder änderte ein Vogel urplötzlich seinen Kurs und flatterte willenlos um den Käfig. Ein Eichhörnchen, das über die Straße hopsen wollte, schlug einen Haken und lief dem Mann meterweit nach, als würde es magnetisch von ihm angezogen werden. Selbst die Schatten im Wald neigten sich in seine Richtung und schnellten erst wieder unter die Bäume zurück, nachdem der Zirkus ein Stück weitergefahren war.

So ähnlich erging es auch Carmen.

Sie verlor sich so sehr in den Augen dieses Mannes, dass sie ihm zwanzig, dreißig Meter weit folgte, bis sie irgendwann mitten auf der Straße benommen stehenblieb. Ihr Kopf wummerte wie nach einer Sauftour. Sie fror, sie zitterte und litt an dem aberwitzigen Gefühl, dass der Mann all ihre Gedanken durchwühlt hatte. Und das Grauen hämmerte wie ein kaltes Herz in ihrer Brust. Ein Grauen, das sie nie wieder loswerden sollte.

Dann verschwand der Zirkus hinter einer Hügelkuppe und fuhr weiter auf Ronbuch zu. Die kleine Stadt lag in einer Talsenke, als wäre sie vor Urzeiten wie ein Schiffswrack im Wald gestrandet. Ihre Häuser bestanden zumeist aus Fachwerkbauten oder Ziegelfassaden, und dazwischen führten nur drei Straßen hindurch, die die einzigen Lebensadern dieses verschlafenen Nestes darstellten.

Die Idylle änderte sich jedoch, als der Zirkus die Stadt erreichte.

Er war wie ein Schluck Koffein, der die rund dreitausend Einwohner aus ihren Tagträumen weckte. Bürgermeister Rolf Lambrecht war zum Beispiel gerade zu Fuß unterwegs zum Rathaus, als die zwölf Fahrzeuge an ihm vorbeirollten. Er rieb sich verwundert die Augen, doch er musste schnell erkennen, dass der Zirkus keine Halluzination war. Jürgen Salfeld erging es nur hundert Meter entfernt so ähnlich. Der Pfarrer wurde unfreiwillig zum Gärtner, weil er vor lauter Glotzen mit seinem Auto in den Vorgarten seines Nachbarn fuhr. An der großen Kreuzung der Stadt - der einzigen Kreuzung, die Ronbuch besaß -, hockte der alte Harry im Gasthaus Zum Falken und genoss sein Frühstück. Als der Zirkus um die Ecke klapperte, rutschte ihm das Messer aus der Hand und hätte ihn beinahe zum Eunuchen gemacht. In der Grundschule nebenan wollte Bettina Maaß gerade ihren Schützlingen das Einmaleins beibringen, da sprangen die Mädchen und Jungen von ihren Stühlen und rannten zu den Fenstern, um einen Blick auf diese bunte Parade zu werfen.

So wie ihnen, erging es fast allen Einwohnern.

Obwohl der Zirkus die Stadt noch nicht mal zur Hälfte durchquert hatte, war ganz Ronbuch auf den Beinen. Hunderte Frauen und Männer strömten aus ihren Häusern und starrten die dubiosen Gestalten in den Fahrzeugen an, als wäre die Pest im Anmarsch. Doch keiner war so mutig, den Zirkus aufzuhalten. Warum auch? Alle glaubten, dass er sowieso gleich wieder die Stadt verlassen würde.

Aber der Zirkus war nicht auf der Durchreise.

Anstatt die Kreuzung zu überqueren - und damit zurück in den Wald zu gelangen -, bogen die Fahrzeuge nach rechts ab. Ins Stadtzentrum. Sie rollten noch bis zur Kirche, bevor sie ruckartig ausscherten und auf die Gegenfahrbahn gelangten. Ein Mann musste sein Auto so scharf abbremsen, dass die Reifen quietschten. Er hämmerte wütend auf die Hupe und zeigte den Zirkusleuten seine ganze Gastfreundschaft mit dem Stinkefinger, doch keiner davon beachtete ihn. Sie setzten ihren Weg störrisch fort, holperten mit ihren Fahrzeugen über den Gehweg und rumpelten zum Schluss noch durch eine Hecke. Dann hatte sie einen Park erreicht, der sich wie eine grüne Insel mitten in Ronbuch erhob.

Hier stoppten sie endlich.

Nacheinander kletterten die Zirkusleute aus ihren Fahrzeugen und sprangen auf den Rasen herab. Und von diesem Moment an war das Grauen da.

Kapitel 2

Selbstmord am Morgen, vertreibt Kummer und Sorgen

Freitag, 10.55 Uhr

 

 

Carolin Pfeiffer war unterwegs, um ein Leben zu retten. Es gehörte zu ihrem Job, Leben zu retten. Sie hatte es schon unzählige Male getan. Zuletzt vor knapp zwei Minuten - nämlich ihr eigenes - als sie mit dem Polizeiauto beinahe von der Straße abgekommen und gegen einen Baum geprallt wäre. Nur ein wildes Lenkmanöver hatte sie vor der Beerdigung bewahrt. Seit dem fuhr Carolin etwas langsamer, aber immer noch schnell genug, dass sie bei jeder Kurve ins Schlingern geriet. Diese Landstraße war nun mal nicht für Notfälle gemacht! Für gewöhnlich schlichen auf ihr nur Traktoren entlang oder drehten ein paar Touristen ihre Runden mit dem Fahrrad. Carolin hingegen pflügte mit dem blau-weißen Mercedes über den Asphalt, als würde sie ein Formel-1-Rennen fahren. Trotzdem war das nicht schnell genug; trotzdem würde sie wahrscheinlich zu spät kommen.

Bei einem Selbstmord zählte jede Minute.