Das vergessene Dorf

Thomas Paul

 

Germelshausen

Das vergessene Dorf

 

 

Fantasy-Thriller

Inhalt

Es ist auf mysteriöse Weise verschwunden.

Es kehrt alle hundert Jahre zurück.

Und es hütet ein schreckliches Geheimnis.

Germelshausen - das vergessene Dorf.

 

Beim Bau einer neuen Autobahn finden Arbeiter im Thüringer Wald ein Dorf, das seit dem Mittelalter verschollen ist. Doch die Einwohner sind längst nicht so tot, wie anfangs vermutet, denn auf ihnen lastet ein uralter Fluch. Als die Nacht aufzieht, bricht ein wahrer Albtraum los. Die toten Seelen erheben sich aus ihren Gräbern und verlangen Gerechtigkeit für das, was ihnen widerfahren ist.

 

Der Polizist Finn Boldt macht sich zusammen mit seiner Freundin Sara daran, die Vorfälle in dem Dorf zu untersuchen. Bei ihren Ermittlungen geraten die beiden immer tiefer in ein Netz aus Intrigen und unheimlichen Ereignissen. Doch Sara und Finn bleibt nur wenig Zeit. Falls es ihnen nicht gelingt, die Einwohner bis zum Sonnenaufgang von ihrem Fluch zu erlösen, müssen sie sterben ...

Autor

Thomas Paul, Jahrgang 1980, lebt und arbeitet in der Nähe von Stuttgart. Er schreibt nicht nur Fantasy-Romane und Thriller für Erwachsene, sondern auch Jugendbücher.

Mehr Infos über seine neuesten Projekte finden Sie auf seiner Homepage.

 

E-Mail: thomaspaul-autor@web.de

Internet: thomaspaul-autor.de

Prolog

Die Hexe und der Scheiterhaufen

Donnerstag, 28. Mai 1418

 

Heute werde ich sterben.

Alma wusste nicht, wie oft ihr dieser Gedanke schon wie ein Peitschenhieb durch den Kopf geschossen war. Jedenfalls oft genug, dass er ihr beinahe langweilig erschien. Trotzdem hatte er nichts von seinem Schrecken verloren und ließ Alma selbst jetzt noch ängstlich zusammenzucken. Dabei war es nichts Ungewöhnliches, hier in diesem pestverseuchten Dorf zu sterben. Seit Wochen kreiste über jedem einzelnen Bewohner der Schatten des Sensenmannes, sodass sich Alma längst mit ihrem Tod hätte abfinden müssen. Aber das konnte sie nicht, egal wie oft sie auch versuchte, sich an diesen grässlichen Gedanken zu gewöhnen.

Denn die Art, wie sie sterben musste, versetzte sie in Panik.

Auf dem Scheiterhaufen. Im Feuer. Unter qualvollen Schmerzen.

Und es gab nichts, was Alma jetzt noch dagegen tun konnte.

Sie saß im Verlies des Alten Turms. Wobei Verlies ein sehr geschönter Begriff für das Dreckloch war, in dem sie bis zu ihrer Hinrichtung ausharren musste. An der Längsseite ihrer Zelle gab es eine Holzbank, die zum Sitzen zu hart und zum Schlafen zu schmal war, aber die den einzigen Komfort darstellte, den Alma besaß. In der Ecke stand ein Eimer, in den sie ihre Notdurft verrichten musste (und der ungefähr das letzte Mal geleert worden war, als man sie hier eingesperrt hatte). Ein erbärmlicher Gestank strömte von ihm aus, der Alma jedes Mal die Sinne vernebelte, sobald sie zu tief Luft holte. Durch ein vergittertes Fenster rieselte das blauweiße Mondlicht von draußen herein. Doch diese dünne Strähne reichte bei Weitem nicht aus, um die Dunkelheit in dem Verlies zurückzudrängen. Geschweige denn das beklemmende Gefühl, das sich wie eine gläserne Faust um Alma zusammenballte.

Fröstelnd zog sie die Beine an ihren Körper, obwohl es in der Zelle alles andere als kalt war. Eine laue Frühlingsbrise durchdrang das Gemäuer und entfachte in Alma ein Gefühl von Sehnsucht und Liebe. Und damit auch eine tiefe Wehmut, die sich wie ein Pflock durch ihren Leib bohrte. Sie musste an Noel denken, den Sohn des Bürgermeisters. An sein Lächeln. Seine warmherzigen Augen. An die vielen Nächte, in denen sie sich heimlich mit ihm getroffen hatte. Und sie musste daran denken, wie grausam Noel ermordet wurde. Wie der Dolch in seiner Brust steckte. An das viele Blut, in dem er gelegen hatte.

Und ich soll daran schuld sein.

Almas Augen brannten. Sie hätte gerne geweint, doch sie konnte es nicht. Weil sie bereits alle Tränen vergossen hatte, die sie besaß. Bei Noels Tod. Bei ihrer Folterung. Und letztlich hier, in diesem Verlies. Jetzt gab es in ihrem Körper nur noch eine ohnmächtige Verzweiflung ... sowie die Hoffnung, dass sie Noel bald wiedersehen würde. Im Jenseits.

Almas Magen begann zu brodeln, je öfter sie daran dachte. Man hatte sie zu Unrecht des Mordes bezichtigt und ihr auf der Folterbank ein Geständnis herausgepresst. Und am Ende hatte man leichtfertig das Todesurteil über sie gefällt, das in wenigen Minuten vollstreckt werden würde. Aber Alma wollte nicht sterben! Nicht so. Nicht jetzt. Und schon gar nicht, um für die Tat eines anderen zu büßen. Doch was konnte sie dagegen tun? Wer würde ihr jetzt noch glauben - einer verurteilten Mörderin -, oder ihr helfen?

Niemand, lautete die ernüchternde Antwort. Ich bin allein.

Durch das Fenster wehten plötzlich ein paar Geräusche in ihre Zelle.

Schritte. Wortfetzen. Das Wiehern eines Pferdes. Und schließlich etwas, das wie eine Kutsche klang, die Holz und Reisig zum Marktplatz transportierte. Die Zutaten für ein ordentliches Feuer ...

Alma stemmte sich auf die nackten Füße und schlurfte zum Fenster. Ihre schweren Ketten folgten ihr auf Schritt und Tritt und rasselten über den strohbedeckten Boden. Eine davon streifte den Suppenteller, der neben ihr gestanden hatte, und der zusammen mit einem trockenen Stück Brot ihre Henkersmahlzeit darstellte. Alma hatte nichts davon angerührt, obwohl der Hunger inzwischen zum größten Schmerz von allen geworden war. Aber ihre Kehle schnürte sich bei der bloßen Vorstellung zusammen, etwas von diesem verdorbenen Fraß essen zu müssen. Deshalb kümmerte sie sich nicht weiter darum, als der Teller von der Holzbank kippte und seinen Inhalt auf dem Boden verschüttete. Die Ratten interessierten sich dafür umso mehr. Sofort huschten aus sämtlichen Winkeln zehn, zwölf von ihnen herbei und stürzten sich auf die modrige Köstlichkeit.

Auch das störte Alma nicht mehr im Geringsten.

Sie hatte sich längst an ihre Zellengenossen gewöhnt.

Ratten waren ein lästiges Ungeziefer, keine Frage. Aber die wirkliche Plage in diesem Dorf waren die Einwohner selbst. Ein raffgieriger Haufen aus Betrügern und Scheinheiligen, die sich hinter ihren edlen Zobeln versteckten. Und die absolut keine Skrupel davor hatten, eine junge Frau bei lebendigem Leib zu verbrennen. Aus diesem Blickwinkel betrachtet konnte sich Alma beinahe glücklich schätzen, dass sie bei den Ratten im Verlies saß - und keine Minute länger in diesem verlogenen Dorf zubringen musste ...

Sie postierte sich unter dem Fenster und zog sich an den rostigen Gitterstäben so weit in die Höhe, wie es ihre ausgemergelten Arme erlaubten. Mit knapper Not schaffte es Alma, einen Blick nach draußen zu werfen. Viel gab es vor dem Fenster ohnehin nicht zu sehen. Der Alte Turm lag ein wenig abseits des Dorfes; in einem solch schattigen Eck am Waldrand, dass sich außer dem Mondlicht nichts und niemand hierherwagte. Und so konnte Alma lediglich ein paar Schatten in der Ferne erkennen, die sich im Feuerschein bewegten.

Das ganze Dorf versammelte sich gerade auf dem Marktplatz.

Und die Frauen und Männer schienen alles andere als erfreut über diesen Anlass zu sein.

Obwohl Alma kein einziges Wort von dem verstand, was auf dem Platz gesprochen (oder geschrien) wurde, konnte sie den Hass der Einwohner spüren. Ihre Gemüter loderten teilweise so heiß, wie es die Fackeln in ihren Händen taten, und alle paar Sekunden reckte einer von ihnen die Faust in den Himmel, um seine Wut zu unterstreichen. Alma konnte es ihnen nicht verdenken. Wenn sie nicht hier sitzen müsste, stünde sie selbst da vorne und würde ungeduldig auf die Hinrichtung warten. Denn Noel war die gute Seele des Dorfes gewesen. Geachtet von den Bürgern, beliebt bei den Händlern, umschwärmt von den Frauen. Und genau deshalb durfte Alma keine Barmherzigkeit erwarten. Diese Hinrichtung sollte nicht nur eine Strafe, sondern auch ein Vergeltungsakt werden. Dafür würde der Henker schon sorgen, der eigens aus Erfurt angereist war (und der sich damit auskannte, wie man eine Hinrichtung möglichst grausam gestaltete).

Alma hatte genug gesehen. Sie rutschte wieder auf den Boden herab und kauerte sich auf die Holzbank.

Dong! Dong!, sang die Kirchenglocke. Es war kurz vor Mitternacht.

Bald würden die Henkersknechte kommen und sie holen.

Bald bin ich tot!

Bei dem Gedanken schäumte die Panik in ihr beinahe über.

Alma lehnte sich gegen die Wand. Sie spürte die unbeugsame Kraft der Felsklötze, mit denen das Verlies gebaut worden war, und die jeglichem Widerstand trotzten. Es gab kein Entrinnen. Wenn ich nur meinen Kräuterbeutel hätte!, wünschte sie sich.

Seit ihrem zwölften Lebensjahr hatte Alma den Beutel an ihrem Gürtel getragen; teils, weil er ein Andenken an ihre Mutter gewesen war, teils aber auch, weil sich darin viele nützliche Dinge befunden hatten. Heilkräuter und Salben, zum Beispiel, sowie das eine oder andere Gift. Alma verabscheute den Gedanken, sich selbst das Leben zu nehmen. Aber dieser Tod wäre hundertmal angenehmer gewesen als jener, der ihr gleich bevorstand ...

Das Dumme war nur: Die Wachen hatten ihr den Beutel abgenommen. Zusammen mit ihrem Gürtel, den Schuhen und allen anderen Dingen, die Alma zum Selbstmord hätte missbrauchen können. Selbst ihre Würde war ihr nicht mehr geblieben. Alma fühlte sich nur noch schmutzig - innerlich wie äußerlich - und kam sich unter ihrem zerrissenen Kleid furchtbar nackt vor.

Womms!

Draußen, auf dem Korridor, fiel eine Gittertür zu. Schritte stampften über den Boden. Ketten rasselten. Eine dunkle Stimme murmelte etwas, das wie ein lauerndes Unheil durch das Kellergewölbe hallte.

Alma sah wachsam zur Tür. Sie konnte nicht genau beurteilen, ob diese Stimme ihr galt oder einem der anderen Gefangenen, die hier unten ihre Strafe verbüßen mussten.

Sie ahnte jedenfalls Böses.

Ihr Herz begann zu klopfen. Ihre Hände wurden feucht.

Sie hatte sich seit Tagen seelisch und moralisch auf diesen Moment vorbereitet und so viel Ruhe wie möglich in ihre Adern gepresst. Doch nun waren all ihre Bemühungen mit einem Schlag zunichte, und die Panik wirbelte immer stärker wie ein Vogelschwarm durch ihren Kopf. Gleich werden sie mich zum Marktplatz zerren, auf den Scheiterhaufen binden, mich anzünden. Und als wäre diese Gedankenkette nicht schon schlimm genug, überlegte Alma, ob die Wachen vielleicht noch ganz andere widerliche Dinge mit ihr anstellen würden. Schließlich waren viele davon einsame, ledige Männer ...

Verdammt, wenn ich bloß meinen Kräuterbeutel hätte!

Er würde ihr all diese Qualen ersparen.

Doch so war Alma ihrem Schicksal hilflos ausgeliefert.

Es sei denn ...

Sie kannte vielleicht doch eine Möglichkeit, wie sie ihr Leben zwar nicht retten, aber ihr Leiden zumindest ein bisschen erträglicher machen konnte: nämlich mit einem Schutzzauber. Ein Zauber, der jede Menge Schwarze Magie, eine gehörige Portion Blut und Schmerzen erforderte. Massenhaft Schmerzen. An und für sich nichts Neues für Alma. Denn in einem Punkt hatte der Inquisitor durchaus recht gehabt, als er sie angeklagt hatte: Alma war eine Hexe. Das hatte sie nie bestritten. Sie besaß übermenschliche Fähigkeiten, mit denen sie Kranke heilen oder dem Liebesglück eines Paares auf die Sprünge helfen konnte. Aber der Zauber, der ihr nun vorschwebte, würde alle Rituale übertreffen, die Alma je abgehalten hatte. Und er würde etwas heraufbeschwören, dessen Ausmaße sie nicht mal ansatzweise abschätzen konnte.

Die Wachen auf dem Korridor stimmten ein dreckiges Gelächter an. Wahrscheinlich kamen einige von ihnen aus dem Wirtshaus; waren betrunken und rallig.

Ein Grund mehr, das Ritual durchzuführen.

Alma musste sich nur beeilen ...

Durch den Korridor trampelten nämlich neue Schritte herab, woraufhin das Gelächter der Wachen abrupt verstummte. »Ihr nichtsnutziges Gesindel!«, böllerte eine Stimme durch den Alten Turm, scharf wie ein Schwerthieb. »Habt ihr nichts Besseres zu tun, als euch zu besaufen?« Etwas klatschte, das sich wie eine Ohrfeige anhörte, gefolgt von einem lauten Klirren, als hätte jemand einen Bierkrug fallen lassen.

Alma achtete nicht weiter darauf.

Sie glitt von der Holzbank zu Boden. Das Stroh pikste in ihre Schenkel, und in der Dunkelheit griff sie aus Versehen in etwas Weiches, Matschiges. Alma hoffte, dass es nur ihre verschüttete Henkersmahlzeit war. Aber der Gestank ließ eher etwas anderes vermuten. Sie wischte sich die Hand grob an ihrem Kleid ab, dann schloss sie die Augen und versuchte sich an die Beschwörungsformel zu erinnern. Für einen schrecklichen Moment befürchtete Alma, dass sie die rettenden Worte vergessen haben könnte. Aber dann fielen ihr die Strophen nach und nach wieder ein.

»Mebeth ur slim. Mebeth ur harg.«

Es waren die Worte einer uralten Sprache, die schon seit Jahrhunderten nicht mehr gesprochen wurde, aber die nichts von ihrer dunklen Betonung verloren hatte. Geschweige denn von der teuflischen Macht, die sie hervorrufen konnte.

»Mebeth ur feig. Mebeth ur surg.«

Das Praktische an diesem Schutzzauber war, dass Alma für ihn keine Zutaten benötigte. Nur eben viel Blut sowie Schmerzen. Und von beidem besaß sie reichlich.

»Mebeth ur klav. Mebeth ur ress. Lass nicht zu, dass mich die Flammen verzehren«, flehte Alma mit inbrünstiger Kraft (aber so leise, dass die Wachen nichts davon mitbekamen). Danach steckte sie sich den Zeigefinger ihrer linken Hand in den Mund - und biss zu! Ihre Schneidezähne drückten unangenehm in die Haut und quetschten das dünne Fleisch auf den Knochen.

Weiter!, forderte Alma. Unerbittlich presste sie die Kiefer noch enger zusammen. Aus dem Druck wurde ein unangenehmes Brennen, dann ein Pochen und schließlich waren sie da: die Schmerzen.

Weiter! Wir brauchen mehr davon. Wir brauchen BLUT.

Alma spürte, wie ihre Zähne durch die Haut drangen. Der eiserne Geschmack von Blut breitete sich in ihrem Mund aus. Dann trafen die Zähne auf den Fingerknochen. Alma zuckte vor Ekel und Schmerz gleichermaßen zusammen. Ihr Magen rumorte noch mehr, und ihre Sinne begannen zu taumeln.

Weiter!

Alma konnte nicht genau sagen, ob es ihre eigene Stimme war, die sie da gerade hörte, oder die der Schwarzen Magie. Doch sie gehorchte ihr bedingungslos, auch wenn sie natürlich wusste, dass sie sterben würde - so oder so. Aber wenn der Zauber tatsächlich wirkte und sie vor den Flammen beschützte, musste der Henker sie enthaupten. Und dieser Tod wäre um ein Vielfaches sanfter.

Dann mach weiter!

Alma sammelte ihre ganze Kraft und biss ruckartig zu. Etwas knackte in ihrem Mund. Alma hoffte, dass es der Fingerknochen war, aber es konnte auch ein Zahn oder gar ihr Kiefer gewesen sein. Gleichzeitig brach eine Flut aus irrsinnigen Schmerzen über sie herein und spülte ihr Bewusstsein an den Rand eines schwarzen Abgrunds. Alma würgte, keuchte, stöhnte. Sie konnte nur mit viel Mühe einen Schrei unterdrücken, während sie benommen zur Seite kippte und auf den Boden flog.

Weiter!, verlangte die drakonische Stimme. Alma war sich jetzt ganz sicher, dass sie von der Schwarzen Magie kam. Du darfst nicht schwach werden. Du hast es fast geschafft.

Alma wälzte sich herum. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie röchelnd auf dem Boden lag und darauf wartete, dass ihre Schmerzen und die Übelkeit abflauten. Aber als sich der benommene Schleier irgendwann vor ihren Augen lichtete, stand ihr Mund voller Blut und ihr Körper fühlte sich taub an, als hätte sich der Tod bereits darin eingenistet.

Zitternd setzte sich Alma auf und betrachtete ihre linke Hand. Sie hatte den Zeigefinger unterhalb des zweiten Gelenks abgebissen, sodass bei jedem Pulsschlag öliges Blut aus der Wunde schoss. Bei dem Anblick jagten neue Schmerzen und noch mehr Übelkeit ihren Hals herauf. Und gleichzeitig bemerkte Alma auch, dass etwas in ihrem Mund lag, das dort nicht hingehörte. Sie beugte sich vor - und spuckte ihren Finger aus. Er flog wie ein Kirschkern durch das Verlies und landete im Stroh. Sofort sprang eine Ratte herbei, schnappte sich den Leckerbissen und verschwand mit ihm in einer Mauerspalte.

Alma starrte ihm wehmütig hinterher.

Natürlich war der Finger nur ein kleines Opfer angesichts dessen, was der Zauber gleich bewirken würde. Aber er war nun mal auch für alle Zeiten verloren.

Weiter!, herrschte die finstere Stimme in ihrem Kopf. Trödel nicht herum!

Draußen bewegten sich die Wachen nun zielsicher den Korridor herab. Ihre Stiefel knarzten auf dem Boden, und mindestens zwei Männer schienen mit Schwertern bewaffnet zu sein, denn die Klingen schabten hörbar über die Wände. Noch höchstens eine halbe Minute, dann hatten sie Almas Zelle erreicht.

Fahrig knöpfte die junge Hexe ihr Kleid auf. Die Haut darunter war blass geworden, die vielen Peitschenhiebe hatten rote Striemen in ihr Fleisch gefressen und ihr Körper war so abgemagert, dass die Brüste schlaff herunterhingen. Alma war nie eine Augenweide gewesen, aber mit ihrer zierlichen Figur und den roten Haaren hatte sie den Männern reihenweise den Kopf verdreht. Im Moment kam sie sich allerdings bloß noch wie eine Vogelscheuche vor.

Weiter!

Die Wachen hatten ihre Zelle fast erreicht. Einer von ihnen ließ den Schlüssel in seiner Hand klimpern.

Alma setzte den Fingerstumpf an ihre Brust. Die Wunde feuerte eine Schmerzsalve durch ihren Leib, als hätte sie den Finger in Salz getunkt. Doch sie zerbiss die Qualen, so gut es ging, und malte mit dem blutenden Stumpf ein paar Zeichen auf ihre Haut: Linien und Kreise, Winkel und Dreiecke. Es waren Runen aus längst vergangenen Tagen, die den Schutzzauber auf ihren Körper bannten. »Mebeth gur sel«, murmelte Alma nebenbei. »Urban et ha sam

Die Runen auf ihrer Haut zischten, als würden sie kochen und dabei etwas ungeheuer Böses zum Leben erwecken.

Im selben Moment blieben die Wachen vor Almas Zelle stehen. Der Schlüssel rasselte im Schloss, dann sprang die Tür auf und glitt quietschend nach innen.

Alma wirbelte herum. Vor lauter Schreck vergaß sie, ihr Kleid zuzuknöpfen, aber sie schob wenigstens ihre verstümmelte Hand unter den Ärmel, damit niemand ihre Verletzung auf Anhieb bemerkte.

Im Korridor standen vier Männer. Drei davon waren Soldaten niederen Ranges, die Kettenhemden trugen und deren Gesichter mit verfilzten Bärten maskiert waren. Alma hatte diese Männer noch nie gesehen, aber sie beschloss spontan, keinen davon zu mögen. Den vierten Mann dagegen kannte sie leider viel zu gut, denn er hatte sie mehrmals gefoltert. Es war Waldemar, der Henker.

Der Mann schien zum Morden so geschaffen zu sein, wie ein Falke zum Fliegen.

Wer ihm ins Gesicht blickte, der wusste auch wieso. Seine Augen waren dunkel wie Gräber und bar von jeglichem Mitgefühl, und in seinen muskulösen Armen schwelte eine Kraft, mit der er einen Menschen locker in zwei Hälften reißen konnte.

Waldemar spähte angestrengt durch die Zelle. Es fiel ihm sichtlich schwer, etwas zu erkennen. Einer seiner Begleiter hielt zwar eine Fackel in der Hand, aber Waldemar war so breitschultrig, dass er das meiste Licht abschirmte. Trotzdem dauerte es nur einen Herzschlag, bis er Alma entdeckt hatte. Ein wölfisches Lächeln spaltete seinen Mund. »Guten Abend, Püppchen«, grüßte er sie mit einer Stimme, bei der selbst die Ratten vor Angst davonhuschten. »Bist du bereit für den Tod?«

Alma versuchte, so abgebrüht wie möglich zu wirken. »Natürlich bin ich das«, antwortete sie kühl. »Aber bist du in deinem Alter überhaupt noch in der Lage, mich umzubringen?«

Waldemar schnitt ein Gesicht, als hätte sie ihn geohrfeigt.

Die Wachen hinter ihm begannen zu kichern, aber sie verstummten sofort wieder, nachdem Waldemar ihnen einen wüsten Blick zugeworfen hatte. »Keine Sorge, Hexe«, sagte er, nur schwer beherrscht. »Ich werde dich schon in die Hölle schicken, verlass dich drauf.« Er legte den Kopf schräg und musterte Almas nackte Füße. Danach wanderte sein lüsterner Blick zu ihrem Dekolleté (das Alma schnellstmöglich zuknöpfte) und blieb schließlich an ihrem Gesicht hängen. »Auch wenn ich mit einem Mädchen wie dir lieber etwas anderes tun würde, als es hinzurichten.«

»Vergiss es«, erwiderte Alma. »Du bekommst sowieso keinen mehr hoch.«

Wieder kicherten die Wachen, aber diesmal konnte Waldemar sie nicht mehr so leicht zum Schweigen bringen. Sein Gesicht färbte sich rot. Ob nun aus Scham oder Zorn blieb sein Geheimnis. »Soll ich dir etwa beweisen, dass ich noch ein vollwertiger Mann bin?«, zischte er.

»Lass es lieber. Wir wollen doch nicht, dass du dich vor deinen Männern blamierst«, spottete Alma.

Das wölfische Lächeln kehrte in Waldemars Gesicht zurück. »Nun gut«, sagte er. »Diese Herausforderung nehme ich an.« Er griff in seinen Schritt und knöpfte den Hosenladen auf.

Das Kichern der Wachen brach ab. »Waldemar, was tust du?«, fragte einer von ihnen bestürzt. »Das ist eine Hexe!«

»Ich weiß.«

»Du darfst sie nicht schänden!«, machte der Mann weiter.

»Ja, richtig«, pflichtete ihm ein anderer bei. »Das wäre eine Teufelssünde.«

Waldemar ließ sich von keinem dieser Argumente beeindrucken. »Diese Metze hat mich beleidigt«, grollte er. »Ich werde ihr zeigen, dass ich eine Frau nicht nur mit meinen Folterwerkzeugen zum Schreien bringen kann.«

»Aber der Inquisitor wartet bereits auf uns«, fuhr einer der Männer beklommen fort. »Und du weißt, wie ungeduldig er ist.«

Alma konnte es kaum glauben, aber für einen Sekundenbruchteil schien Waldemar tatsächlich so etwas wie Angst zu empfinden. Doch dann schüttelte er auch diesen Einwurf energisch von sich ab und betrat das Verlies. »Es dauert nicht lange«, meinte er. »Und nun schließt die Tür und passt auf, dass uns niemand stört!«

Die Wachen sahen alles andere als glücklich aus. Am Ende fügten sie sich jedoch dem Befehl. Einer von ihnen zog die Tür so heftig zu, dass der Windstoß das Stroh vom Boden aufwirbelte. Waldemar wartete noch so lange, bis sich die Schritte der Wachen ein paar Meter entfernt hatten. Dann wandte er sich zu Alma um. Im Mondlicht war sein Gesicht nur ein Meer aus düsteren Schatten, aber gerade das verlieh ihm einen barbarischen Glanz. »Wenn ich mit dir fertig bin, wird dir der Tod wie eine Erlösung vorkommen«, prophezeite er ihr.

»Bist du im Bett etwa so langweilig?«

Das war zu viel. Waldemars Wut explodierte förmlich. Er packte Alma blitzschnell an der Schulter, zog sie vom Boden hoch und hebelte sie mit derselben Drehung auf die Holzbank. Alma hatte das Gefühl von einem Pferd getreten worden zu sein. Ihr Kopf knallte gegen die Wand. Die Dunkelheit in der Zelle wich einer ohnmächtigen Schwärze, die Alma so sehr betäubte, dass sie eine ganze Weile tatsächlich nichts anderes als eine wehrlose Puppe war. Waldemars Puppe. Als sie wieder zu sich kam, hatte sich der Henker bereits mit seinem vollen Gewicht auf sie gelegt und schleckte ihr wollüstig übers Gesicht. Seine Zunge war so groß wie die einer Kuh und sein Atem stank, als hätte Waldemar einen Schluck aus dem Kloeimer genommen.

Alma wollte schreien, aber in ihren Lungen befand sich kaum noch genügend Luft, um auch nur ein Röcheln auszustoßen. Gleichzeitig versuchte sie, Waldemar von sich herunterzuschieben, doch er war viel zu schwer für ihre müden Knochen. Und außerdem heulte ihre verstümmelte Hand mit einem heftigen Schmerz auf, sodass Alma wimmernd zusammenbrach.

Sehr zur Freude von Waldemar. »Jetzt spuckst du keine so großen Töne, was?«, höhnte er. »Aber warte nur, bis ich mit dir fertig bin. Dann brauchst du vielleicht gar keinen Scheiterhaufen mehr. Dann wirst du vor Leidenschaft verglühen ...« Er drückte ihr seine schleimigen Lippen auf den Mund und machte sich wieder an seinem Hosenladen zu schaffen. Alma musste erschrocken feststellen, dass Waldemar trotz seines gediegenen Alters tatsächlich noch genügend Manneskraft besaß. Denn sein Penis stand tadellos und zuckte erregt.

Doch Alma würde ihm nicht gestatten, in sie einzudringen.

Schließlich war sie nicht grundlos eine Hexe ...

Sie zwang sich, noch einen kurzen Moment stillzuhalten, obwohl der Ekel bereits wie ein zweites Herz in ihrem Magen pochte. Waldemar schob unterdessen ihr Kleid bis zu den Hüften hinauf und rutschte zwischen ihre Beine.

Jetzt!, brüllte die Panik in Almas Kopf. JETZT!

Sie winkelte ihre rechte Hand nach oben.

Waldemar fing sie ab und drückte sie gewaltsam auf die Holzbank nieder. Er merkte viel zu spät, dass es nur ein Ablenkungsmanöver war.

Denn während sich Waldemar mit ihrer rechten Hand beschäftigte, glitt Almas linke zu seinem Penis hinab. Ganz kurz gab sich Waldemar der Hoffnung hin, dass ihm Alma dabei helfen wollte, ihn einzuführen. Aber dann änderte sich sein freudiger Blick schlagartig. Er wurde zuerst fragend, dann irritiert und schließlich völlig entsetzt.

»Mebeth safir tach!«, flüsterte Alma und strich dabei mit ihrem Fingerstumpf über den Penis. Die Wunde zog eine blutende Linie über Waldemars bestes Stück. Und mit ihm verteilte sie auch einen verheerenden Fluch ...

Ein neues Zischen erfüllte das Verlies, begleitet von dem Gestank nach verschmortem Fleisch. Waldemar kreischte. Er kippte von Alma herunter, plumpste zu Boden und wälzte sich stöhnend durchs Stroh. Aus seinem Schoß stiegen grauweiße Rauchschwaden empor. Waldemar versuchte, die Hitze und die Schmerzen zu ersticken, indem er beide Hände in sein Gemächt krallte. Aber er riss sie in derselben Sekunde schon wieder zurück, als hätte er ein glühendes Stück Kohle berührt (was er im Endeffekt ja auch tat).

»Du ... Hexe!«, jammerte er. »Was ... hast du ... gemacht?«

Alma richtete sich auf und schob ihr Kleid züchtig bis zu den Waden hinab. »Nichts«, beteuerte sie unschuldig. »Ich habe nur dafür gesorgt, dass du keiner Frau mehr etwas antun kannst. Nie wieder.« Sie lächelte so breit, dass ihre Zähne im Mondlicht funkelten. »Und ich habe dafür gesorgt, dass du mir bald ins Grab folgst.«

Waldemar grunzte. »Das wirst du ... bereuen. Ich werde dir ... jeden Knochen brechen ...« Er warf sich herum und streckte die Pranken nach ihr aus, um seine Drohung wahrzumachen. Doch inzwischen hatte sich das teuflische Feuer so tief in seinen Schoß gebrannt, dass ihm die Tränen den Blick verwässerten und er Alma meterweit verfehlte.

Alma überlegte, ob sie ihm einen Nachschlag verpassen sollte. Schließlich kannte sie ein Dutzend weitere Flüche, mit denen sie Waldemar ein bisschen Respekt einflößen konnte. Doch gerade, als sie sich zu ihm beugte, flog die Zellentür auf und die drei Wachmänner stolperten über die Schwelle. Der erste von ihnen schwenkte die Fackel wie eine Keule durch die Luft und hätte beinahe seine eigenen Haare in Brand gesetzt. Die beiden anderen gingen etwas vorsichtiger zu Werke und zückten jeweils ihre Schwerter.

»Waldemar!«, rief der Fackelträger. »Was ist passiert?«

»Diese ... Hexe ... hat mich ... verstümmelt ...«, heulte der Henker.

Der Wachmann schwenkte die Fackel in seine Richtung. Aus Waldemars Schoß kringelten sich noch immer dichte Rauchwolken empor, sodass der Mann anfangs kaum etwas erkennen konnte. Aber dann kam allmählich eine Wunde zum Vorschein, die ihm das blanke Entsetzen ins Gesicht trieb. »Heilige Maria!«

Waldemars Schoß war komplett verätzt, als hätte man ihm Säure über die Haut geschüttet. Seine Hoden hatten sich zu schwarzen Blasen zusammengezogen. Und von seinem Penis war nur noch ein verkohlter, schrumpeliger Fetzen übrig geblieben.

»Heilige Maria!«, flüsterte der Fackelträger zum zweiten Mal, nur dass es jetzt nicht mehr entsetzt, sondern ängstlich klang. Er sah zu Alma herum, die seelenruhig auf der Holzbank saß und ihn wie eine Katze belauerte. »Du ... du hast ihn kastriert?!«

»Wenn du mich nicht sofort freilässt, werde ich dir noch viel Schlimmeres antun«, sagte Alma und hob warnend ihre linke Hand.

Der Wachmann hatte zuerst keine Ahnung, was sie ihm zeigen wollte. Aber dann bemerkte er das Blut. Bemerkte, dass einer der Finger fehlte. Und dass Alma offensichtlich noch viel gefährlicher (und verrückter) war, als im Dorf behauptet wurde. Ehrfürchtig wich der Mann vor ihr zurück und griff an seinen Gürtel. Dort hing ein eiserner Ring mit fünf Schlüsseln. Einer davon würde Alma endlich von ihren Ketten erlösen und ihr den Weg in die Freiheit ebnen.

»Hört nicht ... auf diese Metze!«, krächzte Waldemar. Er versuchte, sich auf die Beine zu stemmen, aber sie klappten immer wieder unter ihm weg. »Sie will euch ... bloß einschüchtern.«

»Irrtum. Ich will euch nicht einschüchtern«, erwiderte Alma. »Ich will euch warnen. Und nun gebt mir den Schlüssel! Sofort!« Sie streckte fordernd die Hand aus.

Der Wachmann zog wie in Trance den Eisenring von seinem Gürtel.

Aber die Schlüssel wechselten nie den Besitzer.

Denn Waldemar wagte einen neuen Anlauf und kam schwerfällig auf die Beine. Er musste sich mit einer Hand an der Mauer abstützen und konnte nur gebückt stehen, aber in seiner Haltung lag bereits wieder eine ungestüme Kraft. Das musste auch Alma erkennen. Noch bevor sie ihre Arme heben konnte, hatte ihr Waldemar bereits einen Fausthieb ins Gesicht verpasst. Almas Schädel knackte wie eine Nussschale, während sie gegen die Wand flog und danach auf die Holzbank rutschte.

Waldemar wirkte trotz seiner Verletzung äußerst zufrieden. »Damit hast du nicht gerechnet, was?«, feixte er. »Du kannst mir ... vielleicht meine Manneskraft rauben ... aber ich habe immer noch genug Dampf in den Fäusten, um dich ... zu zerquetschen.« Er wurde sogleich eines Besseren belehrt, als ihn ein neuer, heftiger Stich in seinem Schritt auf die Knie zwang.

»Waldemar!« Der Fackelträger wollte ihm helfen, doch Waldemar schüttelte ihn ab.

»Mir geht es gut«, beteuerte er.

»Wir müssen dich umgehend zu einem Arzt bringen!«

Ein sarkastisches Lächeln umwölkte Waldemars Lippen. »Ihr solltet eher einen Priester holen ... damit er mir die Letzte Ölung geben kann.«

Der Fackelträger erwiderte nichts darauf, sondern schnitt nur eine unglückliche Grimasse. Dies war nun wirklich nicht der richtige Zeitpunkt für makabere Scherze!

Doch Waldemar ließ sich nicht beirren. »Was steht ihr hier ... so nutzlos herum? Seht zu ... dass ihr diese Metze zum Marktplatz ... bringt!«, wies er seine Männer an.

Diese machten sich sofort ans Werk. Sie lösten Almas Ketten und fesselten ihre Hände mit einem Strick auf den Rücken. Alma war von dem Fausthieb noch so betäubt, dass sie sich kaum dagegen wehren konnte. Und als sie kurz darauf von der Holzbank gezerrt wurde, spendierte ihr einer der Männer noch einen Leberhaken, der sie endgültig außer Gefecht setzte.

Danach wurde sie an Händen und Füßen (und manchmal auch an den Haaren) aus dem Verlies geschleppt. Waldemar hinkte ihnen stöhnend aber entschlossen hinterher. Sein Gesicht verlor zusehends die Farbe, und der kalte Schweiß auf seiner Stirn verlieh ihm den wächsernen Glanz eines Toten. Es war offensichtlich, dass er den nächsten Morgen nicht mehr erleben würde. Aber er wollte sich Almas Hinrichtung nicht entgehen lassen und so lange durchhalten, bis sie verbrannt war. Bis sie sich vor Schmerzen ihre Seele aus dem Leib gebrüllt hatte ...

Die Männer wuchteten derweil ihre zappelnde Beute aus dem Alten Turm. Sobald Alma an der frischen Luft war, ließ ihre Benommenheit so weit nach, dass sie sich aufrichten und von selbst weitertaumeln konnte.

Ihrem Tod entgegen.

Das Dorf lag in tiefste Dunkelheit gehüllt, aber über dem Marktplatz spannte sich ein Baldachin aus rotgelbem Licht. Schon von Weitem konnte Alma die Fackeln sehen, die vor der Kirche aufgestellt worden waren. Dazwischen tummelten sich die Einwohner. Es gab Bauern und Handwerker, Kaufleute und jede Menge Kinder - rund sechshundert Personen -, die sich dicht an dicht wie die Kornähren drängten. Ihre Körper waren teilweise von Schwären und eitrigen Beulen übersät oder mit blutgetränkten Leinbändern umwickelt. Und aus jedem Gesicht bellte Alma ein hasserfüllter Ausdruck entgegen. Dabei hatte sie keinem dieser Menschen jemals ein Leid zugefügt. Im Gegenteil. Die meisten wären längst der Pest zum Opfer gefallen, die seit fast einem Jahr in dieser Region grassierte, wenn Alma ihnen nicht geholfen hätte. Aber Dankbarkeit war ein sehr vergängliches Gut. Und nun schien sich niemand mehr daran zu erinnern, dass Alma dieses Dorf mit ihren Zauberkräften lange Zeit behütet hatte.

Als die Einwohner sie bemerkten, zogen die Mütter ihre Kinder zu sich heran, während sich die Männer vor ihren Familien postierten. Alma gab sich große Mühe, die Feindseligkeit an sich abprallen zu lassen. Mehr noch: Sie schaffte es sogar, dem einen oder anderen Bauer einen solch finsteren Blick zuzuwerfen, dass dieser vor ihr zurückschrak. Auch wenn das nur eine kleine Genugtuung dafür war, was ihr diese Menschen angetan hatten.

Alma und ihre Bewacher blieben kurz vor den Einwohnern stehen, als würden sich zwei verfeindete Armeen auf einem Schlachtfeld treffen. Eine angespannte Stille senkte sich über den Marktplatz herab. Nur ein leises Flüstern geisterte manchmal durch die Menge.

Dann brach der Tumult los.

»Tötet die Hexe!«, forderte plötzlich eine Frau - womit sie einen Chor aus wüsten Beschimpfungen in Gang setzte.

»Hängt sie auf!«

»Foltert sie!«

»Schneidet ihr die Zunge ab!«

»Verbrennt sie!«

»Stecht ihr die Augen aus!«, grölten die Menschen. Ihr Hass schien sie binnen eines Augenblicks in ein riesiges Wolfsrudel zu verwandeln. Alma wurde von allen Seiten angeschrien und bespuckt, während die Wachmänner eine Bresche durch die Menge schlugen und sie ins Zentrum des Marktplatzes bugsierten. Einige Dorfbewohner warfen sogar mit fauligem Obst, kleinen Steinen oder Kuhmist nach ihr (wobei sie jedoch nicht nur Alma, sondern auch ihre Mitmenschen oder gar die Wachmänner trafen).

Schließlich waren sie am Ziel.

Auf dem Marktplatz, neben dem Brunnen, war ein Scheiterhaufen errichtet worden. Ein mannshoher Berg aus Holz, Reisig und Stroh. Aus seinem Gipfel ragte ein Holzbalken wie ein Schiffsmast hervor. Über eine schmale Leiter konnte man bis zu ihm nach oben klettern. Vor dem Scheiterhaufen hatten sich zwei Dutzend Soldaten von König Friedrich IV. in Stellung gebracht und hielten die Dorfbewohner mit ihren Schwertern auf Distanz. Daneben standen der Bürgermeister Matthias sowie der tattrige Dorfpriester Simon. Aber keiner dieser Herren wirkte auch nur annähernd so blasiert wie Balthasar, der Inquisitor. Er war ein Fanatiker durch und durch, der die Interessen der Kirche mit so viel Blut verteidigte, dass er eigentlich selbst auf einen Scheiterhaufen gehört hätte. Seine Augen funkelten süffisant, als er Alma entdeckte. Mehr war von seinem Gesicht sowieso nicht zu erkennen, denn Balthasar hatte sich zum Schutz vor der Pest einen dicken, goldverbrämten Schal um seinen Mund und die Nase gewickelt.

Die Wachmänner gaben Alma einen Schubs, sodass sie einen unfreiwilligen Kniefall vor dem Inquisitor machte. »Auf den Boden mit dir!«, schrie der Fackelträger. »Verbeuge dich vor dem Abgesandten des Herrn, damit er dir die Beichte abnehmen kann!«

»Aber, aber«, tadelte ihn Balthasar. »Sei freundlich zu diesem armen Weib! Sie hat ihren Glauben verloren und wird in der Hölle unvorstellbare Qualen erleiden müssen.«

Der Fackelträger machte eine unterwürfige Verbeugung und zog sich zurück. »Wie Ihr wünscht, mein Herr.«

Balthasar nickte. Für einen Außenstehenden mochte es nur eine gütige Geste sein. Aber Alma kannte den Inquisitor inzwischen gut genug, um zu wissen, dass dieses Nicken ein Zeichen tiefster Verachtung war. »Und nun zu dir, Alma. Es ist soweit«, sagte er feierlich. »Heute wird deine Seele endlich im heiligen Feuer gereinigt. Möchtest du vielleicht noch deine Sünden beichten, bevor wir das Urteil vollstrecken?«

Alma würdigte ihn keines Blickes (wohl wissend, dass sie Balthasar damit besonders reizte). Stattdessen blies sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und schielte zu Simon und Matthias. Dem Dorfpriester war die Situation sichtlich unangenehm. Er wollte vom ersten Tag an mit dem Hexenprozess nichts zu tun haben. Doch er war eben nur ein gewöhnlicher Priester - und damit praktisch der Fußabtreter von Balthasar -, sodass er sich die grausame Prozedur zwangsläufig aus der ersten Reihe mit ansehen musste. Der Bürgermeister Matthias fieberte der Hinrichtung jedoch ungeduldig entgegen. Sein Gesicht war die Quelle allen Hasses, der in diesem Dorf schwelte. Und seine Fäuste ließen erahnen, dass er die Hexe am liebsten eigenhändig zerfleischt hätte. Immerhin war sie die Mörderin seines einzigen Sohnes ...

Balthasar beendete das stille Gefecht zwischen der Hexe und dem Bürgermeister, indem er Almas Kinn packte und ihren Kopf mit roher Gewalt wieder zu sich lenkte. »Was ist nun? Möchtest du die Beichte ablegen oder nicht?«

Alma schüttelte seine Hand von sich ab und stand wankend auf. »Es gibt nichts zu beichten, Ihr aufgeblasener Pfau!«

Die Wachmänner hinter ihr hoben die Fäuste, um sie für diese Beleidigung zu bestrafen. Doch Balthasar hielt sie mit einem Handzeichen zurück. »Ich denke schon, dass du uns etwas zu beichten hast. Und ich würde dir raten, davon Gebrauch zu machen. Vielleicht zeigt sich Gott dann gnädig mit dir?«

»Wenn das so ist, solltet Ihr als Erster die Beichte ablegen«, sagte Alma schnippisch.

Die Augen des Inquisitors zuckten. Er wusste natürlich, wie Alma das meinte, und er war so klug, sich nicht weiter darauf einzulassen. »Nun gut, wie du willst.« Er nickte Simon auffordernd zu. »Wärst du so freundlich, die Anklageschrift zu verlesen?«

Der Dorfpriester schluckte nervös, als sich die zornigen Blicke aller Einwohner auf ihn richteten. Aber er wollte den Inquisitor nicht warten lassen. Hastig zog er eine Pergamentrolle aus seiner Kutte, öffnete sie und begann lautstark (und mit vorwurfsvollem Ton) zu verkünden: »Dem Weib Alma werden folgende Punkte zur Last gelegt: Sie hat sich der Schwarzen Magie bedient und vergiftete mit ihren Zaubertränken mehr als zweihundert Dorfbewohner. Außerdem verführte sie den Sohn des Bürgermeisters und zwang ihn dreiundzwanzig Mal zur Unzucht, ehe sie ihn kaltblütig erstach.« Simon sah von dem Pergament auf und wartete wie ein dressierter Hund auf seine Belobigung.

Balthasar wandte sich jedoch nur gleichgültig von ihm ab. »Da hörst du es, Alma. Es gibt also sehr wohl etwas zu beichten.«

»Eure Anklage ist erstunken und erlogen. Und das wisst Ihr, Balthasar.« Alma schleuderte einen Blick in die umstehende Menge. »Ihr alle wisst das! Ihr seid nur zu feige, es zuzugeben.«

Wieder hoben die Wachmänner ihre Fäuste, und wieder hielt Balthasar sie mit einem Handzeichen davon ab, die Hexe zum Schweigen zu bringen. »Lasst sie nur reden«, forderte er, »und hört gut zu, wie der Teufel seine schrecklichen Taten verharmlosen will!«

Alma ließ sich davon nicht verunsichern. Dies war die allerletzte Gelegenheit, ihre Unschuld zu beweisen und um ihr Leben zu kämpfen - und sie sollte verdammt sein, wenn sie diese Chance nicht nutzen würde! Entschlossen drehte sie sich zu den Einwohnern um. »Es war von Anfang an nie ein Geheimnis, dass ich eine Hexe bin«, rief sie. »Genau deswegen habt ihr mich ja in euer Dorf geholt: Damit ich euch helfe, die Pest zu besiegen. Ihr wärt alle schon längst krepiert, wenn ich euch nicht regelmäßig mit meinen Zaubertränken versorgt hätte. Und das«, Alma nickte auf den Scheiterhaufen, »ist nun euer Dank für meine Hilfe? Ihr solltet euch schämen!«

Die Dorfbewohner sahen betreten zu Boden. Damit gestanden sie natürlich indirekt, dass Alma recht hatte. Aber keiner fühlte sich mutig genug, das vor den Augen des Inquisitors zuzugeben.

Schnaubend wandte sich Alma an den Bürgermeister. »Und ja, es stimmt: Ich habe mit Eurem Sohn Unzucht getrieben. Aber nicht nur dreiundzwanzig Mal. Ich habe über hundert Nächte mit Noel verbracht.« Ihr Blick kehrte zu Balthasar zurück. »Das könnt ihr Pfaffen allerdings nicht verstehen. Ihr liebt nur eure Macht, sonst nichts.«

Balthasar hörte ihr geduldig zu. Erst als Alma fertig war, ergriff er wieder das Wort und versuchte, ihre Wutrede zu seinen Gunsten auszuschlachten. »Wenn du dieses Dorf wirklich von der Pest befreien wolltest, Hexe, wie kommt es dann, dass die Bewohner trotzdem noch krank sind?«

»Sie wären alle längst gesund, wenn Ihr mich nicht daran gehindert hättet, sie zu pflegen.«

»Und was ist mit meinem Sohn?«, mischte sich Matthias aufgebracht ein. »Du hast ihn ermordet!«

»Ich habe ihn geliebt«, verbesserte Alma. »Warum sollte ich ihn da ermorden?«

»Nun, wir können natürlich nicht wissen, welche dämonischen Gedanken dich zu dieser Tat getrieben haben, Hexe«, meinte Balthasar. »Aber Noel wurde mit deinem Dolch erstochen - und das ist Beweis genug, dich des Mordes zu bezichtigen.«

»Da hört ihr es!«, schrie eine Frau aus der Menge. »Alma ist schuldig! Lasst uns diese Hexe endlich verbrennen!« Ein lautstarkes »Ja!« brandete ihr aus der Menge entgegen. Die Dorfbewohner hoben wieder reihum die Fäuste und schrien durcheinander. Einige Männer versuchten sogar, diese zähe Hinrichtung zu beschleunigen, indem sie sich auf Alma stürzen wollten. Die Soldaten hatten alle Hände voll damit zu tun, den rasenden Mob zu bändigen. Matthias und Simon wichen furchtsam zurück, und selbst Alma wurde ein wenig mulmig. Denn plötzlich schienen die Soldaten sie nicht mehr zu bewachen, sondern zu beschützen.

»Ich bin unschuldig!«, brüllte Alma. »Wann begreift ihr es endlich, dass ich nur der Sündenbock bin, der für jemand anderen den Kopf hinhalten soll?«

»Du bist nicht unschuldig.«

Eine tiefe Stimme schnitt wie ein Sägeblatt durch den Lärm.

Fragend wandten sich die Einwohner um - und wichen vor einem Mann zurück, der auf allen vieren zum Marktplatz kroch. Es war Waldemar. Sein Gesicht war so bleich geworden, dass es wie eine Laterne leuchtete, und sein Atem kam nur noch mit einem gequälten Pfeifen aus seinen Lungen. Trotzdem wies er jeden ab, der ihm zur Hilfe eilte. Sein purer Hass trieb ihn Stück für Stück voran, bis er Alma und Balthasar erreicht hatte. »Ihr dürft diesem Weib nicht glauben. Sie ist wahrhaftig die Brut des Teufels. Seht nur, was sie mir angetan hat!« Waldemar wuchtete sich mühsam auf die Beine und präsentierte seine Verletzung den umliegenden Blicken.

Die Dorfbewohner schnappten entsetzt nach Luft.

Selbst Balthasar verlor merklich die Fassung, als er einen Blick auf das verstümmelte Gemächt des Henkers warf. Zum ersten Mal blitzte etwas in seinen Augen auf, das zwar nicht unbedingt Angst, aber sehr wohl eine große Besorgnis widerspiegelte.

»Du wolltest mich schänden«, rechtfertigte sich Alma. »So wie viele andere Mädchen und Frauen in diesem Dorf auch. Ich habe also nur verhindert, dass du noch mehr Leid über sie bringen kannst.«

Plötzlich geschah etwas, das sich Alma nie hätte erträumen lassen: Die Wut der Dorfbewohner - insbesondere die der Frauen - richtete sich nun voll und ganz auf Waldemar. Doch dieser wusste sich durchaus zu wehren. »Was hätte ich denn tun sollen?«, jammerte er. »Die Hexe hat mir den Verstand geraubt! Sie besitzt den Schwarzen Blick! Ihr müsst Euch vor ihr in Acht nehmen, Balthasar!«

»Das werde ich«, speiste ihn der Inquisitor ab.

»Nein, Herr!«, geiferte Waldemar. »Das ist noch nicht alles! Seht nur, was diese Hexe getan hat!« Er löste Almas Handfesseln, packte ihren linken Arm und riss ihn so ungestüm in die Luft, dass ihre Gelenke knackten. »Sie hat sich den eigenen Finger abgebissen, um ein Ritual zu vollziehen.«

In Balthasars Gesicht regte sich etwas, das Alma nicht gefiel. Es war kein weiterer Ausdruck von Hohn oder Verachtung, sondern ein misstrauischer Funke. Er musterte eine geraume Weile den Fingerstummel an Almas Hand. Die Wunde hatte aufgehört zu bluten (wenn auch nicht zu schmerzen). Und dort, wo sich einst der Zeigefinger befunden hatte, klebte jetzt ein dicker Pfropfen. Langsam folgte Balthasars Blick wie ein Jagdhund den vielen Blutspuren, die sich über Almas Arm verteilten, bis hinunter zu ihrer Brust.

Almas Magen grummelte. Der Schutzzauber!, dachte sie. Lieber Gott, er darf den Schutzzauber nicht entdecken! Sie wandte sich instinktiv ab, doch damit weckte sie Balthasars Misstrauen nur noch mehr.

Der Inquisitor trat auf sie zu, packte ihr Kleid - und riss es auseinander. Ratsch! Der dünne Stoff gab so leicht nach, als bestünde er aus Papier, und entblößte Almas Körper bis zum Bauchnabel. Sofort leckten die Blicke der Dorfbewohner über ihre nackte Haut, ihre Brüste, die Striemen ... und schließlich auch über die blutigen Schriftzeichen auf ihrem Oberkörper.

»Allmächtiger!«, rief Balthasar. »Ein Teufelsmal.«

»Ein Teufelsmal!«, plapperten die Dorfbewohner wie ein Echo nach. Einige Frauen und Männer bekreuzigten sich oder schickten ein Stoßgebet in den Himmel.

Alma riss ihre Hand von Waldemar los und wollte sich das Kleid wieder über die Schultern ziehen. Doch Balthasar hielt sie davon ab und drückte ihre Finger so fest zusammen, dass die Wunde an dem Stumpf aufplatzte. Er sah Alma dabei tief in die Augen und schien es zu genießen, wie der Schmerz durch ihren Blick flackerte. »Du hast wohl gedacht, du könntest dem Flammentod entgehen, was?«, zischelte er. »Aber mach dir keine falschen Hoffnungen. Ich habe schon so viele Hexen hingerichtet, dass ich weiß, wie man eure heidnischen Zauber beenden kann. Und dafür benötige ich nicht einmal Magie.« Er zeigte auf einen der Wachmänner. »Hol mir einen Eimer Wasser aus dem Brunnen!«

Der Mann stürmte so schnell davon, dass er beinahe seinen eigenen Schatten überholt hätte, und kam nur einen Augenblick später mit einem randvollen Eimer zurück. Balthasar riss unterdessen einen Streifen von Almas Kleid ab, tunkte den improvisierten Lappen ins Wasser und wischte die blutigen Zeichen von ihrer Brust. Natürlich hätte er diese Arbeit auch einem seiner Männer übertragen können, doch Balthasar hatte eine perverse Freude daran, Alma so unsittlich zu berühren. Aber damit nicht genug: Als er fertig war, zog er ihr Kleid vollends bis zu den Füßen hinab und suchte nach weiteren Runen an ihrem Körper.

Alma fühlte sich dabei nicht nur nackt, sondern auch erniedrigt. Denn die Dorfbewohner begafften sie von allen Seiten, und fast jeder Blick nahm währenddessen sehr lüsterne Züge an. Hexe hin oder her ... sie war eben auch eine blutjunge Frau, die so manchem Bauern erotische Bilder in den Kopf pflanzte.

Balthasar ließ sich sehr viel Zeit damit, sie bloßzustellen.

Irgendwann beendete er seine Untersuchung und ließ den Lappen achtlos fallen. »Dein Körper wäre jetzt sauber genug für das Jenseits«, fand er. »Aber wie steht es mit deiner Seele? Möchtest du sie nicht auch reinigen? Deshalb frage ich dich nun zum letzten Mal, Hexe: Willst du die Beichte ablegen und Gott um die Vergebung deiner Sünden bitten?« Er streckte Alma seine rechte Hand entgegen. An jedem seiner Finger hingen goldene und silberne Ringe, die vermutlich kostbarer waren als alle Häuser in diesem Dorf zusammen. »Küss den Siegelring - und ich werde dich töten lassen, bevor du auf dem Scheiterhaufen landest.«

Alma ließ sich dieses verlockende Angebot tatsächlich durch den Kopf gehen. Schließlich war es genau das, was sie von Anfang an erreichen wollte: nämlich einen sanften Tod.

Demütig beugte sie sich nach vorne und spitzte die Lippen.

Unter Balthasars Schal zeichnete sich ein gewinnendes Lächeln ab.

Doch Alma hatte anderes im Sinn: Kurz bevor ihre Lippen den Siegelring berührten, hob sie den Kopf - und spuckte Balthasar ins Gesicht! Obwohl der Schal das meiste davon abfing, verfehlte sie nicht ihr Ziel. Balthasar wankte nach hinten und rieb sich panisch die Spucke aus den Augen, bevor sie ihn noch mit der Pest infizieren konnte. Gleichzeitig stürzten die Wachmänner mit ringenden Fäusten auf Alma zu. Diesmal hielt Balthasar sie nicht zurück, und so donnerten drei, vier Faustschläge in Almas Nieren und brachten sie zu Fall. Auf so etwas hatten die Dorfbewohner nur gewartet, denn sie jubelten erleichtert los und feuerten die Wachmänner dazu an, der Hexe den Schädel einzuschlagen.

Balthasar ließ es nicht dazu kommen. Er hob gebieterisch die Hand. »Das reicht!«, sagte er.

Die Wachmänner ließen gehorsam von Alma ab, blieben aber in Bereitschaft. Dabei stellte Alma nun wirklich keine Gefahr mehr dar. Sie hatte sich auf dem Boden zu einer Kugel zusammengerollt und keuchte schwach vor sich hin.

»Ich nehme an, du möchtest keine Beichte ablegen«, mutmaßte Balthasar. Er schien das nicht im Mindesten zu bedauern. »Nun gut, dann werden wir dich jetzt dem Feuer überantworten.« Er nickte den Wachen zu.

Die Dorfbewohner grölten von Neuem los, als die Männer jeweils einen Arm oder ein Bein von Alma packten und sie zum Scheiterhaufen zerrten. Alma war so betäubt, dass sie gar nicht wusste, was mit ihr geschah. Ihre Nieren pochten, als würden die Männer sie noch immer mit den Fäusten malträtieren, und die Welt vor ihren Augen war zu einem Durcheinander aus schummrigen Flecken und verzerrten Geräuschen zerflossen.

Die Männer schleppten sie rücksichtslos die Leiter hinauf. Almas Kinn prallte so oft gegen die Sprossen, dass sich der vertraute Geschmack von Blut in ihrem Mund ausbreitete, und einmal verhakte sich ihr Arm zwischen den Holmen. Er wäre gebrochen, wenn ihn Alma nicht nach links gewinkelt hätte. Dann hatten sie es geschafft. Mit einem Spagat traten die Männer von der Leiter herunter und setzten auf den Scheiterhaufen über. Ihre Beine sanken bis zu den Knien in das trockene Reisig, ehe sie genug Halt fanden. Anschließend wuchteten sie Alma zu dem Holzbalken, der in der Mitte aufgetürmt war.