Die Autorin

Dinah Marte Golch – Foto © Florian Froschmayer

DINAH MARTE GOLCH, geboren 1974, wurde 2011 als Drehbuchautorin mit dem Adolf-Grimme-Preis und dem Deutschen FernsehKrimi-Preis ausgezeichnet. Inzwischen sind mehr als fünfzig ihrer Drehbücher für Tatort und Serien wie Edel & Starck und Der Bulle von Tölz verfilmt worden, darunter auch das Krimi-Drama Dogs of Berlin (Netflix). 2021 entstand eine Mini-Serie für Amazon, die Dinah Marte Golch mitentwickelte und schrieb.
Die Autorin lebt in Berlin.

Das Buch

Toni Petzold verliert durch einen Unfall fast ihr Augenlicht. Die bodenständige und unabhängige Frau ist danach eine andere. Ihre kleine Firma für Entrümpelungen kommt ihr schäbig vor, ihren Freund Holger, einen Lehrer, findet sie langweilig, das Verhältnis zu ihren Eltern ist ihr zu eng und zu distanziert zugleich. Und will sie eigentlich Kinder? Als sie nach der Transplantation, durch die sie wieder sehen kann, von der Mutter der toten Spenderin eingeladen wird, sagt Toni spontan zu. Die Familie Mertens ist gut situiert und gebildet, in der Finanzwelt und in der Kunstszene zu Hause, der Umgang ist herzlich und offen. Plötzlich erkennt sich Toni nicht wieder – ist sie in Wahrheit eine ganz andere?

Grimme-Preisträgerin Dinah Marte Golch erzählt mit großem Einfühlungsvermögen von Müttern und Töchtern, von zu viel Nähe und unüberbrückbarer Distanz. Die andere Tochter ist der Roman einer Befreiung.

Dinah Marte Golch

Die andere Tochter

Roman

Ullstein

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www.ullstein.de

List ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH  
ISBN 978-3-8437-2489-0  
© 2021 by Dinah Marte Golch
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Umschlagmotiv: arcangel/ © Jayne Szekely
Autorenfoto: © Florian Froschmayer
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Oktober 2019

1

Ich bin nicht mehr Toni. Ich bin jetzt eine andere.

Ich stehe vor der Wohnungstür meiner Eltern. In den letzten Jahren habe ich die beiden fast jedes Wochenende besucht, manchmal sogar an meinen freien Mittwochnachmittagen, dabei hätte ich eigentlich zu Hause den Bürokram machen müssen. Wenn ich kam, stand mein lächelnder Vater im Türrahmen. Bei diesem Anblick ging mir immer das Herz auf. Und egal, ob meine kleine Selfmadefirma gerade nicht lief oder ob ich mal wieder mit Holger an den Rand unserer Liebe gekommen war, Papas Umarmung bewirkte jedes Mal, dass ich mich schlagartig besser fühlte.

Nun ist diese Tür im dritten Stockwerk des Schöneberger Altbaus geschlossen. Petzold steht auf dem Klingelschild. Niemand wird öffnen. Es ist keiner mehr da. Über dem Schloss klebt – zur Hälfte auf der Tür und zur anderen Hälfte auf dem dunkelbraun lasierten Holzrahmen – ein Polizeisiegel. Es ist blau und mit weißer Schrift steht dort: Der Polizeipräsident in Berlin – Wer dieses Siegel beschädigt, ablöst oder unkenntlich macht oder den dadurch bewirkten Verschluss unwirksam werden lässt, macht sich nach § 136 StGB strafbar.

Ich habe den Paragrafen recherchiert. Im Recherchieren bin ich gut geworden, seit im April in meinem Leben eine Bombe hochgegangen ist und alles verändert hat, was einmal mein Leben war. Verstrickungsbruch und Siegelbruch heißt der Straftatbestand. Er wird mit bis zu einem Jahr Gefängnis und mit einem Bußgeld bestraft.

Aber ich habe doch nur noch diese zweiundsiebzig Stunden Zeit! Was soll ich denn sonst tun?

Es ist lächerlich, dass die Kripobeamten mich gefragt haben, wo ich zur Tatzeit war, und auch, dass sie mich nicht in die Wohnung lassen. Verdunklungsgefahr, was für ein abstruser Gedanke. Ich bin die einzige Tochter meiner Eltern, überhaupt die einzig übrig gebliebene Petzold aus unserer Familie. Und wenn ich noch etwas für meine Mutter tun kann, dann finde ich es hier. Ich mache das hier für meine Eltern.

Natürlich habe ich auch recherchiert, wie man ein Siegel ablöst, ohne es zu beschädigen. Meine Hand in der Jacke ballt sich um den Ersatzschlüssel, den ich immer hatte, aber nie verwendet habe. Nun benutze ich den Schlüssel das erste Mal seit meinem Auszug.

Während ich die Tür öffne, denke ich an den Moment kurz vor meinem zwölften Geburtstag, als ich zu ihnen gezogen war. Willkommen stand auf der Fußmatte, die jetzt immer noch hier liegt. Roch die Wohnung damals auch schon so heimelig? Oder habe ich auf so was nicht geachtet, weil ich ein Kind war – ein trauriges Kind, das nicht mehr bei Oma leben durfte? Dieser mir inzwischen so vertraute Geruch hat etwas von meinem Vater, diese ganz besondere Mischung verschiedener Duftnoten, die für mich immer Wärme bedeuten, das Gefühl, aufgehoben zu sein, und das Wissen, dass alles gut wird. Ich bin fast vierzig, aber ich vermisse meinen Papa so sehr, dass es wehtut.

Wie soll nun jemals wieder etwas gut werden? Hier ist ein Mord passiert. Und ich bin schuld daran.

April 2019

2

Der Moment, kurz bevor sie das Haus oder die Wohnung eines Fremden betrat, hatte immer etwas Magisches.

Als sie angefangen hatte, war sie sich manchmal wie ein Voyeur vorgekommen. Aber nie erfasste sie nur das Sichtbare. Sie sah fast alles, nahezu das ganze Leben der Fremden.

Es dämmerte schon, als sie das kalte Treppenhaus emporstieg. Kein Laut war zu hören, bis auf die nassen Tritte ihrer Turnschuhe auf dem dreckigen Linoleum. Die Wohnungstür war nicht abgeschlossen, lediglich ins Schloss gezogen. Toni wunderte sich. Warum waren die Menschen nur so gutgläubig? In eine Altbauwohnung gelangte man mittels einer Kreditkarte binnen zwei Sekunden. A. Rami stand auf dem Klingelschild. Die Wohnungstür knarzte und kurz meinte Toni, Licht in einem der Zimmer gesehen zu haben. Aber dann war es doch nur das kalte Licht der Straßenlaterne, das an diesem Spätnachmittag in die Wohnung fiel.

Selten fand sie Geld unter einer Matratze oder Schmuck, der zwischen schmutziger Wäsche versteckt worden war. Doch mit ihrem über die Jahre trainierten Blick entdeckte sie all das andere, was sich mitzunehmen lohnte.

»Absolut gruselig«, meinten Tonis Freunde – die wenigen, die sie hatte – und hauptsächlich waren es Holgers Freunde.

Holger hatte Toni einmal begleitet und hinterher gesagt, dass er das nicht noch einmal bräuchte. Maximal noch, wenn er die Wohnung seiner eigenen Eltern ausräumen müsse, sollten sie eines Tages sterben.

Diese Wohnung hier gehörte jemandem, den sie nicht kannte, A. Rami. Eine wohlstrukturierte Aufgabe lag vor ihr, und das machte es einfach. Sie freute sich sogar auf die nächsten eineinhalb Stunden. Auf die fremde Wohnung. Darauf, in ein anderes Leben einzutauchen. Jemanden kennenzulernen, den sie nie kennenlernen würde.

Toni schaltete das Licht ein. Die Angehörigen hatten sie beauftragt, die Wohnung zu entrümpeln, weil sie den Mietvertrag kündigen wollten. Toni hatte bereits eine Vielzahl Wohnungen und Häuser Verstorbener ausgeräumt. Noch nie war es ihr unheimlich gewesen. Ihr erster Blick ging wie so oft in den Garderobenspiegel, dann band sie sich ihr aschblondes Haar zusammen, stellte ihre Flasche Wasser ab (in alten Häusern und Wohnungen lag oft meterhoch Staub und man musste viel trinken, um nicht ständig zu husten) und öffnete routiniert eine Kladde für die Bestandsaufnahme.

Toni sah sofort, dass die Verwandten von A. Rami die Habseligkeiten durchwühlt hatten. Sie hatten Schubladen aufgerissen, aber anscheinend nur wenig mitgenommen.

Nahezu bei jeder Entrümpelung wunderte sie sich, was Menschen aufhoben und womit sie die Mauern ihres Lebens bauten; so hoch, dass sie kaum noch darüber hinweg sehen konnten. Die Verstorbenen wären gekränkt, wüssten sie, wie wenig das alles den Hinterbliebenen bedeutete. Es sei denn, es war Geld oder Mobiliar, das zu Geld gemacht werden konnte. Dann gab es in den toten Wohnungen Lücken in der Einrichtung oder dunkel umrandete Flecken an der Wand.

Für gewöhnlich entsorgten die Erben Dinge, die ein schlechtes Licht auf ihre Toten warfen. Aber Toni hatte schon alles gefunden: Sammlungen pornografischer Zeitschriften, Bilder von Vorfahren in SS-Uniformen, Marihuana in beachtlichen Mengen, Briefe von heimlichen Geliebten, Protokolle über die Lärmbelästigung durch ungeliebte Nachbarn und Spendenbescheinigungen für rechts- oder linksradikale Gruppierungen und Parteien.

Das meiste von dem Zeug, was sie in den Häusern der Toten fand, ließ sie von ihren polnischen Hilfskräften auf einen Wertstoffhof fahren. Es interessierte sie nicht, was davon die Jungs einfach behielten.

Toni sah sich im Flur der Altbauwohnung um. Neben der Tür hing eine Schmiedearbeit in der Größe einer Zigarettenschachtel. Sie hatte keine Ahnung, was die arabischen Schriftzeichen auf dem kleinen Kunstwerk bedeuteten, aber es gefiel ihr.

In fast jedem Nachlass fand Toni etwas, das sie mit nach Hause nahm.

Auch das befremdete Holger.

Toni mochte es. Mit dem Ableben eines Menschen war auch jedes Leben aus den Besitztümern gewichen. Die Gegenstände hatten keine emotionale Bedeutung für Toni und so war es ihr egal, ob sie etwas bei Ikea, auf dem Flohmarkt oder in einem Nachlass fand.

In ihrem kleinen Haus am Rand von Spandau, in dem sie bis zu ihrem zwölften Lebensjahr bei ihrer Großmutter gewohnt und das diese ihr vor zehn Jahren vererbt hatte, passte nichts zueinander. Die Einrichtung ihrer Oma hatte Toni nach und nach durch Stücke ersetzt, die sie bei ihrer Arbeit gefunden hatte. Kein Stuhl passte zum anderen, keine Teller zueinander, kein Glas glich dem nächsten. Ihre Freunde fanden diesen Stil »sehr witzig und originell«. Wenn sie zu Besuch kamen, trugen sie meistens dicke Pullover, man wusste schließlich nie, ob die Heizung noch funktionierte. Manchmal war es so ungemütlich kalt wie in dieser Altbauwohnung.

Über den letzten Streit mit Holger hatte Toni ihre großen Plastiksäcke für den groben Unrat vergessen. Holger und sie hatten sich darüber in die Haare bekommen, dass Toni nie ein ganzes Wochenende bei ihm im Prenzlauer Berg blieb. Aber Toni hatte gewusst, dass das nicht das eigentliche Thema gewesen war. Unausgesprochen war es wieder darum gegangen, dass sie die Vorstellung nicht ertragen konnte, er zöge bei ihr ein. Außerdem stellte die Kinderfrage ihre Beziehung immer mehr auf den Prüfstand. Toni glaubte, dass sie inzwischen jede Variation dieses Gefechts durchgespielt hatten. Sie hatte kurz vor ihrem vierzigsten Geburtstag keine Torschlusspanik. Nur Angst, dass ein Kind etwas besiegeln würde, von dem sie nicht wusste, ob es funktionierte. Holger bedeutete ihr viel, sehr viel sogar, aber sie waren im letzten Jahr zunehmend in einen On-off-Status geraten, meistens ausgelöst durch dieses Thema. Es gab Tage, da gefiel ihr die Vorstellung, mit ihm und einem kleinen Mädchen in ihrem Haus zu leben. Doch es gab zu viele Tage, an denen sie spürte, dass an diesem Bild etwas ganz und gar nicht stimmte.

Sie sah sich in der kalten Wohnung nach Mülltüten um. In der Küche wurde sie nicht fündig. Also ging sie ins Badezimmer, das eher eine Nasszelle war. Eine Toilette mit abgebrochenem Deckel, der in der Ecke stand, eine kleine Dusche mit angeschimmeltem Plastikvorhang, ein dreckiges Waschbecken mit einem Spiegel darüber.

In dem Schränkchen, das vom Beckenrand bis zum Boden reichte, fand sie nur Toilettenpapier, Gummihandschuhe und WC-Reiniger.

Toni richtete sich auf und blickte in den Spiegel. Das grelle Licht der Deckenlampe machte sie blass und betonte die Narbe über der linken Augenbraue, die ihr selbst fast nie auffiel.

»Du gehst schnurstracks auf die vierzig zu«, sagte sie vorwurfsvoll zu der Frau, die sie da musterte. »Vielleicht solltest du deine Abneigung gegen Wellnessurlaube noch mal gründlich überdenken.«

Und dann entdeckte sie im Spiegel etwas hinter sich: eine Plastikkiste, die auf einer schmalen Waschmaschine stand. Flaschen und Putzmittel lugten daraus hervor. Und, wie es aussah, auch Mülltüten.

Toni grinste sich im Spiegel an. »Bingo.«

Ihr Handy vibrierte in ihrer Hosentasche. Kurz dachte sie, es könne Holger sein. Aber auch wenn sie das freuen würde, ihn zu hören, es änderte nichts an ihrem Dauerkonflikt. Es war ihr Vater. Toni nahm das Gespräch an und klemmte sich das Telefon zwischen Schulter und Wange, um nach der Plastikkiste greifen zu können.

»Hallo, Papa«, sagte sie überrascht.

»Kannst du nachher rumkommen und mir beim Reifenwechsel helfen?«

»Wann lasst ihr das endlich von einer Werkstatt machen?«, gab Toni seufzend zurück. Mit der Kiste in der Hand blickte sie umständlich auf ihre Armbanduhr. Bei ihren Eltern vorbeizufahren, würde sie heute mitten in den Feierabendverkehr bringen und einiges an Zeit kosten.

»Komm schon, du würdest mir damit wirklich eine Freude machen. Vorschlag: Deine Mutter kocht, du bleibst zum Essen. Bitte.«

»Na gut«, erwiderte Toni, und dann merkte sie, dass ihr das Handy von der Schulter zu rutschen drohte. Sie wollte die Kiste zurück auf die Waschmaschine hieven, als ihr ein stechender Schmerz ins Handgelenk fuhr. Sie schrie auf – und ließ die Kiste los. Flaschen fielen zu Boden und zersprangen. Toni machte einen Schritt zurück, rutschte jedoch aus. Sie fand nichts, wo sie sich abstützen oder festhalten konnte. Hart schlug sie mit der Stirn gegen die Waschmaschine und ging zu Boden.

Ein beißender Geruch stieg ihr in die Nase.

»Toni, was ist los?«, hörte sie die Stimme ihres Vaters aus dem Handy, das über die Kacheln am Boden bis zur Schwelle zum Flur geschlittert war.

Toni begann zu husten, sie versuchte sich aus einer Lache aus verschiedenen Flüssigkeiten und Glassplittern hochzudrücken. Tränen schossen ihr in die Augen.

Das Letzte, was sie sah, war das Totenkopfsymbol auf einer der kaputten Flaschen am Boden, und als es schwarz um sie herum wurde, wunderte sie sich noch, wer so ohrenbetäubend laut schrie.

3

Dunkelheit. Diffuse, pochende Kopfschmerzen.

Toni öffnete die Augen. Ein kleines bisschen Grau sickerte hinter ihre Lider und sofort zog sich der Stacheldraht fester um ihren Kopf.

Sie stöhnte leise, schloss die Augen und überlegte, auf welcher Party sie wohl versackt war. Eine Erinnerung. Etwas im Spiegel.

Dann feuerten die Synapsen ihrer Amygdala, ihr Herz begann wie wild zu schlagen und heißes Adrenalin flutete ihren Körper.

»Hilfe«, flüsterte sie, öffnete erneut die Augen und schloss sie sofort wieder. Das Grau schoss jetzt mit giftigen Pfeilen.

Jemand nahm ihre rechte Hand. Toni wusste sofort, wer es war. Die Hände hatten milchkaffeebraune Altersflecken, die sie nicht sehen konnte und zugleich genau vor sich sah. Die Fingerspitzen fühlten sich rau an. Toni klammerte sich an die Hand ihres Vaters, die nun wie ein Leuchtfeuer in der Dunkelheit war, ein Fixpunkt in den Schmerzwellen.

»Wir sind hier, Liebes. Du hattest einen Unfall.«

Toni nahm jetzt etwas auf ihrer Stirn wahr, eine sanfte, leicht ziehende Berührung. Sie war auch auf den Wangenknochen. Und auf den Lidern. Sie hob die freie Hand vorsichtig zu ihrem Kopf.

»Papa? Was ist passiert?«

Eine andere Hand nahm ihre Linke und hielt sie davon ab, den Stoff von ihren Augen zu ziehen. Sie war kräftiger als die Hand ihres Vaters und die Haut war weich. Die Hände eines Lehrers, der sich, wenn er nach dem Kochen seine beschichtete Pfanne spülte, Gummihandschuhe anzog.

»Schatz, du hast einen Verband.«

Das letzte Mal, als sie Holger gesehen hatte, war er wütend gewesen. Nun klang seine Stimme belegt und liebevoll.

»Du bist in der Augenklinik. Sie haben dir im Krankenwagen die Augen gespült. Du hast starke Schmerzmittel bekommen.«

Nun hörte sie ihre Mutter. Sie rief nach einem Arzt. Es klang nah, aber nicht danach, dass sie im selben Zimmer war.

»Hallo? Meine Tochter ist wach. Kommt mal jemand?«

Toni konnte sie sich genau vorstellen, wie sie mit resolutem Blick den Flur rauf und runter sah, um jeden damit zu töten, der nicht direkt Spalier stand. Ihre sechsundsiebzig Jahre hatten Brigitte Petzold hager werden lassen, aber nicht weniger beeindruckend.

Erinnerungsfetzen kämpften sich durch die Dunkelheit in Tonis Bewusstsein. Da war eine zigarettenschachtelgroße Schmiedearbeit mit arabischen Schriftzeichen gewesen. Etwas im Spiegel. Ein Totenkopfsymbol auf einer Flasche.

Toni entzog Holger die Hand und tastete ihre Stirn ab.

»Du hast eine Platzwunde«, sagte er und nahm erneut ihre Hand.

»Was ist mit meinen Augen?«

Erst antwortete niemand und das machte ihr Angst. Dann hörte sie Holger an ihrer linken Seite und sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er nur die halbe Wahrheit sagte. »Du hast was in die Augen bekommen. Sie haben dir Tropfen dagegen gegeben. Das muss jetzt erst mal verheilen.« Und fast erleichtert fügte er hinzu: »Ah, da kommt der Oberarzt.«

Eine fremde Männerstimme stellte sich vor und Toni vergaß sofort wieder den Namen. Die Stimme klang routiniert und professionell. Vor ihrem inneren Auge sah sie einen älteren Mann mit grauem und etwas lichter werdendem Haar, weißem Kittel und weißen Birkenstock-Schlappen. Die Gestalt, die dieser Mann in ihrem Kopf annahm, hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Dr. Brinkmann aus der »Schwarzwaldklinik«. Offenbar vermischte sich eine der wenigen Kindheitserinnerungen, die sie hatte, mit ihrem benebelten Jetzt. Wenn sie als Kind nicht hatte schlafen können, war sie zum Wohnzimmer geschlichen, wo ihre Oma in der Welt ihrer Lieblingsserie versunken war. Toni hatte vor dem Türspalt gesessen, den Brinkmanns beim Leben zugeschaut und geglaubt zu erfahren, wie es in richtigen Familien so zuging.

»Sie sind mit einer Mischung aus Lauge und Säure in Berührung gekommen«, sagte Dr. Brinkmann. »Ihre Hornhaut wurde stark verätzt. Durch die Verseifung wurde auch die Bindehaut angegriffen. Ihr Körper versucht mit einer Entzündungsreaktion gegenzusteuern. Wir unterstützen die Heilung medikamentös. Ob bleibende Schäden an der Horn- und Bindehaut entstanden sind und ob eventuell auch die Iris in Mitleidenschaft gezogen wurde, können wir erst sagen, wenn die Augen anfangen zu heilen.«

»Was soll das heißen?«, keifte ihre Mutter. »Iris angegriffen? Das heißt, dass sie blind werden kann?«

»Wie gesagt. Wir müssen abwarten, wie die Heilung verläuft.«

Toni hörte Holger schwer atmen, hörte ihren Vater leise weinen, ihre Mutter toben, um dem Arzt eine konkretere Aussage zu den Heilungschancen abzuringen. Sie selbst wusste nicht, ob sie begriff, was der Arzt gesagt hatte, sie spürte nur, dass etwas sie tief in die Matratze drückte, tiefer in die Dunkelheit.

Oktober 2019

4

Ich stehe im Wohnungsflur meiner Eltern, die Hand noch auf der Klinke der geschlossenen Tür. Vor Kurzem lag hier noch die Hand meines Vaters. Und die meiner Mutter.

Langsam nehme ich den besonderen Geruch ihrer Räume nicht mehr wahr, wie es passiert, wenn man zu oft an einem Parfüm schnuppert und es dann nicht mehr riechen kann. Es ist still. Aber je länger ich hier stehe und mich frage, ob ich das hier schaffe, umso mehr Geräusche nehme ich in der vermeintlichen Stille wahr. Eine Heizung brummt. Im Haus geht eine Tür. Draußen startet ein Auto. Irgendwo ruft jemand nach einem Kind. Und in all diesen Geräuschen fehlen schmerzhaft die meiner Eltern. Sein etwas schlurfender Gang auf den Dielen, ihre Stricknadeln, die leise in den Maschen wispern; sein Husten, wenn er zu viel geraucht hat, ihr Seufzen darüber, weil er das nicht ändern will; das Ploppen seiner Bierflasche, das leise Klirren ihrer Teetasse auf dem Unterteller.

Ich sehe vor mich auf den Boden. Da stehen die Hausschuhe der beiden. Fein säuberlich nebeneinander. Im Regal die geputzten Schuhe. Fürs Schuhputzen war Papa zuständig. Er hat es geliebt und ich sehe seine Hände mit den milchbraunen Altersflecken vor mir, wie sie mit der Bürste über das Leder polieren, und dann sehe ich ihn, wie er zu mir hochguckt, mir zuzwinkert und auf meine Füße deutet. Ich hasse Schuheputzen. Er hat das immer für mich getan.

Über dem Regal im Flur hängt ein Bild der beiden. Sie stehen auf einer Klippe am Meer. Das Foto ist ein paar Jahre alt und ein anderer Tourist hat es auf ihrer letzten Reise von ihnen gemacht. Papa ist braun gebrannt. Mama hat einen großen Strohhut auf, einen scheußlichen, wie ich finde, und eine alte Sonnenbrille. Er sieht glücklich aus. Sie – das weiß ich nicht, ich kann es nicht erkennen.

Ich streiche mit den Fingern über das Bild, allerdings nur auf seiner Seite, nicht auf ihrer. Mit meiner Mutter habe ich nie gekuschelt. Brigitte Petzold hat Körperkontakt nicht gemocht und nun käme es mir falsch vor, diese Grenze zu überschreiten, so irrational das auch sein mag. Zwischen uns war oft eine unsichtbare Wand, so wie jetzt die Glasscheibe über dem Foto.

»Ich muss das jetzt tun«, flüstere ich. »Ich muss jetzt professionell sein, sonst bekomme ich das nicht hin, versteht ihr?«

Ich habe keine Kladde dabei wie sonst, wenn ich eine Wohnung oder ein Haus zum ersten Mal sichte. Hier und heute muss ich nur eine Sache finden. Ich glaube, noch nie in meinem Leben war etwas so wichtig wie dieses Stück Papier. Eine Patientenverfügung oder ein Organspendeausweis.

Die Zeit für eine Entscheidung drängt, da waren die Ärzte im Krankenhaus klar. Aber ich kann das einfach nicht alleine entscheiden. Zum einen, weil ich nicht weiß, was meine Mutter gewollt hätte, und zu Papa lassen sie mich noch nicht, mit ihm kann ich noch nicht darüber reden. Und zum anderen bin ich unfähig, das zu entscheiden, weil ich inzwischen genau weiß, was bei einer Organ- und Gewebespende passieren und wie sehr es das Leben eines Menschen aus den Angeln heben kann.

Die Transplantation hat mir ein neues Leben geschenkt. Ein aufregendes, berauschendes. Sie hat mich zum glücklichsten Menschen auf diesem Planeten gemacht.

Und sie hat mir unendlich viel genommen, denke ich, als ich noch mal auf das Foto meiner Eltern sehe. Ich vermisse meinen Vater, den ich immer geliebt habe, auch wenn er betrunken war. Und ich vermisse meine Mutter, die ich nie lieben durfte.

Mein schlechtes Gewissen erdrückt mich. Aber vielleicht ist es das Letzte, was ich noch für sie tun kann.

Mai 2019

5

Toni lag in dem fahrbaren Krankenbett. Die Augenbinde war entfernt worden und sie sah nichts außer nebulösem Schwarz-Weiß um sich herum. In der letzten Woche hatte sie versucht, sich daran zu gewöhnen, den Raum über die anderen Sinne wahrzunehmen. Zu hören, wo sich ihre Besucher im Zimmer aufhielten. Sich die Schritte zu merken, die sie tun musste, wenn sie von einer Schwester zu der kleinen Toilette geführt wurde.

Sie hatte versucht, die Panik nicht zu groß werden zu lassen, wenn sie in dem Gefängnis aus Grautönen die Orientierung verlor; wenn der Gedanke, dass sie vielleicht nie wieder mehr als jetzt sehen würde, sie in einen Strudel sog; wenn sie auf dem Weg zum Bad das sichere Gefühl hatte, gleich gegen eine Wand zu rennen, auch wenn ihre Hände, die sie schützend vor sich hielt, nichts tasteten. Die Dunkelheit wanderte jeden Tag ein bisschen tiefer von ihren Augen in ihre Seele.

»Die Keratoplastik ist die häufigste Organtransplantation weltweit«, hatte Dr. Brinkmann erläutert. »Und sie ist sehr erfolgreich. Sie haben also gute Chancen, wieder sehen zu können oder zumindest einen Großteil Ihres Sehvermögens zurückzugewinnen. Sie werden nach der Operation regelmäßig Immunsuppressiva nehmen müssen, um eine Abstoßung zu verhindern. Bei Ihnen müssen wir die kompletten Hornhäute der Augen entnehmen. Wir ersetzen sie dann durch die Cornea eines passenden Spenders und vernähen sie. Die Fäden können wir erst zwölf bis achtzehn Monate später ziehen, da diese Wunden nur sehr langsam heilen. Sie werden oft und sehr regelmäßig zu Nachsorgeuntersuchungen gehen müssen, damit mögliche Entzündungen oder eventuelle Abstoßungsreaktionen frühzeitig erkannt werden.«

Nach nur zehn Tagen hatten sie einen geeigneten Spender gefunden.

Toni spürte, wie sich das Krankenbett in Bewegung setzte und nach kurzer Zeit die Richtung änderte. Die Liege rumpelte und das Geräusch der Räder veränderte sich, es drang jetzt näher an ihr Ohr. Dann ein Ping-Geräusch. Sie waren im Aufzug und fuhren hinab zum Operationstrakt.

In den letzten beiden Wochen war Holger jeden Tag an ihrem Krankenbett gewesen, hatte ihr aus der Zeitung vorgelesen, versucht sie abzulenken und hatte sie lange im Arm gehalten, nachdem die Ärzte ihr die Augenbinde abgenommen hatten und Toni nur noch nebulöse Schatten hatte sehen können. Je mehr er ihr helfen wollte, umso mehr fühlte sie sich mit ihrer Hilflosigkeit konfrontiert, in die sie gestoßen worden war. Und sie begann sich zu fragen, ob er es wagen würde, sie zu verlassen, sollte sie blind bleiben. Sie wusste nicht, welche Antwort auf diese Frage sie lieber bekommen würde.

Ihr Vater und ihre Mutter waren anfangs alle zwei Tage gekommen, im stetigen Wechsel, mal sie, mal er. Am Schluss hatte es Tage gegeben, da war keiner von beiden aufgetaucht. Toni war fast dankbar über diese Tage, an denen sie nicht neben ihrem Bett saßen, sich den Anschein von Zuversicht zu geben versuchten und dabei eine Schwere verbreiteten, die Toni tief in die Matratze hinunterzog.

Wenn sie alleine war, dachte sie an ihr Haus. Wenn sie schlief, träumte sie konfuses, unzusammenhängendes Wirr-
warr.

Bei dem erneuten Pling-Geräusch schreckte Toni hoch. Aufzugtüren, die zurückglitten, und wieder setzte sich das Krankenbett in Bewegung. In ein paar Stunden würde Toni wach werden und dann würde sich herausstellen, ob sie die Dunkelheit jemals wieder verlassen durfte.

Die Krankenschwester sprach mit ihr. Wahrscheinlich war es ihre Aufgabe, um sie abzulenken, und Toni rührte es. Doch sie antwortete unaufmerksam.

»Wir geben Ihnen jetzt das Narkosemittel«, sagte der Chirurg wenig später. Vielleicht war es aber auch der Anästhesist. »Zählen Sie von hundert rückwärts.«

»Hundert, neunundneunzig …«, sagte sie und merkte, dass sich ihre Zunge schon wie ein nasser Waschlappen bewegte. Sie versuchte sich von der Liege hochzukämpfen und spürte sanften Händedruck auf den Schultern.

»Wehren Sie sich nicht gegen die Narkose. Lassen Sie sich fallen. Alles ist gut. Sie schlafen ein bisschen und wir sehen uns im Aufwachraum.«

Und dann trug die Narkose sie auf sanften Wellen in eine andere Welt davon.

6

Die ersten Tage nach der Operation waren im Dunst von Schmerzmitteln vorbeigegangen. Dann war es hell in ihrer Welt geworden. Schon am Tag nach der Operation, noch völlig verschlafen von der Narkose, hatte sie unter der Augenbinde hervorlugen dürfen und sich seitdem über jeden Lichtstrahl gefreut, der sich an ihrer neuen Cornea brach, das komplizierte Kamerasystem der Augen passierte und von hundertzwanzig Millionen Sinneszellen der Netzhaut zu ihrem Gehirn geschickt wurde – um dort endlich wieder zu einem Bild zu werden. Einer Abfolge von unzähligen Bildern.

Toni hatte bis dato nicht geahnt, wie schön der Reigen von Staub sein konnte, der durch einen Lichtstrahl tanzte. Ihr war nie aufgefallen, wie sehr ein Regentropfen schillerte, der an einer Scheibe hinunterlief. Sie bemerkte zum ersten Mal, wie friedlich Holger im Schlaf aussah, als er auf dem Besuchersessel eingenickt war. Das alles rührte sie zutiefst.

Nur der Spiegel in dem kleinen Bad des Krankenzimmers hatte ihr ein bisschen Angst gemacht. Zuerst hatte eine Fratze mit blutunterlaufenen Augen zurückgestarrt, die direkt aus einem Albtraum angereist war und noch kein Rückfahrtticket gelöst hatte. Aber dann, in der zweiten Woche, hatte sie noch etwas anderes gesehen.

Plötzlich hatte jemand aus diesen Augen im Spiegel zurückgeblickt. Es war, als würde aus dem Nichts heraus eine Person in ihrem Vorgarten stehen und ihr mitten in die Seele schauen. Erschrocken hatte sie das Badezimmer verlassen. Als sie wieder im Krankenbett lag, etwas verstört von der Begegnung mit sich selbst, glaubte sie, sich alles nur eingebildet zu haben.

Beim nächsten Mal, als sie einen Blick in den Spiegel gewagt hatte, war ihr aufgefallen, wie fein ihre Iris gemalt war. Je länger sie sich in die Augen geblickt hatte, umso mehr schien sich ihr Gesicht zu verändern und doch sah sie immer nur sich selbst. Sie konnte sich nicht von dem Bild lösen. Und wieder hatte plötzlich jemand zurückgeschaut. Jemand, der nicht sie war.

Toni schrieb dieses Phänomen den Immunsuppressiva zu, die sie nun täglich zweimal nehmen musste, damit die neuen Hornhäute nicht von ihrem eigenen Immunsystem als Fremdkörper abgestoßen wurden. Die Ärzte hatten ihr gesagt, dass es zu Nebenwirkungen kommen könne. Und so erzählte sie auch Holger nichts von der Sache.

Er kam jetzt fast täglich nach seinem Job als Deutschlehrer für geflüchtete Kinder zu ihr ins Krankenhaus und bemühte sich, ihr möglichst unbekümmert von dem Leben da draußen zu erzählen. Die Arbeit schlauchte ihn und es war alles andere als sein Traumjob. Doch mit dem Rückgang der Printmedien hatte er seine Stelle als Zeitungsredakteur verloren.

»Es ist nur vorübergehend«, hatte er 2015 gesagt, als die Zahl der Geflüchteten in Deutschland rapide angestiegen war und man plötzlich viele Quereinsteiger für Sprachkurse benötigte. Aus vorübergehend waren inzwischen vier Jahre geworden. Holger trauerte seinem alten Job noch hinterher, aber er jammerte nicht mehr darüber. Er las weiter Zeitung, und zwar die gedruckte und nicht die digitale Form, und fraß jedes Buch zu politischen Themen. Tonis Eltern mochten es als Lehrer, dass er ebenfalls unterrichtete, Brigitte allerdings hätte ihn lieber an einer richtigen Schule gesehen, wie sie es ausdrückte.


Zwei Wochen nach der Operation parkte Holger seinen Wagen mit knirschenden Reifen auf dem unbefestigten Gehweg vor Tonis Haus. Er trug ihre Reisetasche durch den Vorgarten und schloss die Tür auf. Er ließ sie nichts selber tun. Toni nahm es gleichmütig und manchmal auch dankbar hin. Ihre Kräfte, sich gegen jegliche Bemutterung aufzulehnen, waren aufgebraucht. Sie blieb in ihrem Vorgarten stehen. Wie verrückt hatte sie sich darauf gefreut, das sprießende Grün zu sehen, das Unkraut, das sie unbedingt beseitigen musste, die Haustüre zu ihrer eigenen kleinen Welt. Doch als sie an dem Vintage-Briefkasten vorbeiging und an der Parkbank (die sie beide bei einer Entrümpelung gefunden hatte), rührte sich nichts in ihr.

Sie betrat das windschiefe Haus, das sie schon als Kind bewohnt hatte, scheuerte sich an der Fußmatte das nasse Frühjahr von den Schuhen und ging ins Wohnzimmer.

Es war ein Gefühl, als würde sie das Haus eines Verstorbenen betreten. Ihr Blick glitt über die Möbel und die Bilder, scannte alles, als würde sie gleich die Kladde für die Bestandsaufnahme öffnen, und sie merkte, dass etwas in ihrem Haus fehlte: das Gefühl, zu Hause zu sein. Toni war ganz irritiert davon. Wahrscheinlich war die Erschöpfung der letzten vier Wochen schuld an diesem Zustand. Hätte sie sich erst erholt, würde ihre kleine Welt auch wieder heimelig sein.

Holger räumte ihre Tasche aus, setzte Teewasser auf und legte Toni die Immunsuppressiva, die Augentropfen und die Augensalbe auf den Esstisch.

»Ich fahre gleich einkaufen«, rief er ihr aus der Küche zu.

»Okay, danke. Ich werde mich etwas ausruhen.«

Sie setzte sich aufs Sofa und dachte an das letzte Gespräch mit dem Oberarzt, der – welche Überraschung – ganz anders ausgesehen hatte als der Dr. Brinkmann in ihrer blinden Vorstellung: Er war rothaarig, klein und trug Turnschuhe.

»Sie können eine psychologische Betreuung in Anspruch nehmen.«

»Wieso sollte ich das?«

»Wir empfehlen es allen Organempfängern. In Ihrem Fall handelt es sich zwar nur um eine Gewebespende, aber was immer gleich ist: Empfänger leben unter einer großen Anspannung, mit der Angst, dass das Organ trotz der Medikamente abgestoßen wird. Das kann zu einem hohen Stresslevel führen. Und viele Patienten leiden unter Schuldgefühlen, weil sie durch die Spende weiterleben dürfen, während ein anderer gestorben ist.«

Sie hatte ihn angesehen und versucht, sein echtes Aussehen mit der Stimme zu verbinden, die ihr inzwischen so vertraut war.

»Nun, es ist ja nicht so, dass ich ein Herz bekommen hätte.«

»Ich biete es Ihnen nur an.«

Gerade als es eigentlich nichts mehr zu sagen gab und Dr. Brinkmann schon aufstand, um sie höflich und deutlich auf seine knapp bemessene Zeit hinzuweisen, gab sie sich einen Ruck. »Von wem kam die Cornea, die Sie mir implantiert haben?«

Dr. Brinkmann ging um den Schreibtisch herum, ohne den Blick von ihr zu nehmen. »Das wissen wir nicht. Die Zuteilung erfolgt über die Corneabank. Es herrscht absolute Anonymität. Und auch Sie werden es nie erfahren.«

Er öffnete die Tür zum Flur.

»Ich meine nur, weil Sie das mit den Schuldgefühlen erwähnt haben«, beeilte sich Toni zu sagen. »Ich habe einmal ein Video gesehen, da hat ein Mann mehrere Menschen getroffen, die ein Organ von seiner toten Tochter bekommen haben.«

»Das ist Amerika.« Dr. Brinkmann machte eine wegwerfende Handbewegung. »Hier geht das nicht. Keinerlei Kontakt zwischen Spenderfamilien und Organ- und Gewebeempfängern. Und mit gutem Grund. Wenn Sie das Bedürfnis haben, können Sie vielleicht der Spenderfamilie einen Brief schreiben. Bei Organen prüft das Deutsche Organspendezentrum den Brief und fragt bei Angehörigen, ob sie ihn erhalten wollen – sorgfältig anonymisiert. Manchen Menschen hilft es, sich bei der Spenderfamilie zu bedanken. Es ist aber keine Pflicht. Bei Gewebespenden herrscht eine gewisse Grauzone, da dieser Paragraf im Transplantationsgesetz schlichtweg vergessen wurde. Ich kenne aber Patienten, deren Briefe wurden weitergeleitet. Sie müssten sich an die Corneabank wenden.«

Holger brachte Toni eine große Tasse Tee ans Sofa und sie schrak aus ihren Gedanken hoch. Er gab ihr einen Kuss auf den Kopf und als sich die Haustür hinter ihm geschlossen hatte, sprang sie auf und griff nach ihrem Telefon. Sie erreichte den Leiter der Corneabank. Er versprach ihr, zu sehen, was er für sie tun könne.

Toni durchwühlte den alten Sekretär in der Ecke ihres Wohnzimmers, den sie erst vor Kurzem restauriert hatte. In dem gleichen Haushalt, in dem sie dieses Möbelstück gefunden hatte, war ihr eine Pappschachtel mit altem, schwerem Briefpapier in die Hände gefallen. Sie war sich sicher, es in einer der Schubladen verstaut zu haben.

Kurz darauf saß sie auf einem der nicht zusammenpassenden Stühle am Esstisch und schrieb:

Liebe und sehr geehrte Spenderfamilie,
zunächst möchte ich Ihnen mein tiefes Beileid zum Verlust Ihres Familienmitglieds aussprechen. Ich werde nicht im Mindesten nachvollziehen können, was das für Sie heißt.
Nach einem Unfall bin ich blind geworden und durch eine Gewebetransplantation ist das Wunder geschehen. Ich kann wieder sehen. Es wäre nicht möglich gewesen ohne die Cornea dieses einen Menschen, den Sie verloren haben. Darüber bin ich traurig, aber ich möchte Ihnen danken dafür, dass ich wieder sehen kann.
Seit der Operation sehe ich vieles in meinem Leben, was mir vorher nicht aufgefallen ist. Ich schlafe sehr viel weniger als vorher, weil ich nicht aufhören kann, zu sehen und dankbar dafür zu sein. Ich restauriere gerne alte Möbel und es wäre nicht möglich ohne mein Augenlicht. Nun habe ich sogar überlegt, meine alte Kamera herauszuholen und wieder zu fotografieren oder gar anzufangen zu malen. Es ist, als hätte ich erst jetzt begriffen, was es heißt zu sehen.
Ich wünsche Ihnen viel Kraft und Beistand und seien Sie versichert, dass ich sehr gut auf dieses Geschenk aufpassen werde.
Herzlich und unbekannterweise in tiefer Verbundenheit,
Antonia Petzold

Das mit dem Möbelrestaurieren stimmte natürlich nur ein bisschen. Es war nicht mehr als ein Hobby, für das Toni meistens zu wenig Zeit hatte. Aber es wäre eine schlechte Idee, der Familie zu schreiben, sie würde Häuser von Toten entrümpeln, wo sie gerade jemanden verloren hatten.

Sehr zufrieden war sie nicht mit dem Brief. Sie hatte auch nicht lange dafür gebraucht. Trotzdem fühlte sie sich nach den wenigen Zeilen so erschöpft, als hätte sie den ganzen Tag gearbeitet.

Sie adressierte und frankierte den Umschlag, dann klebte sie ihn zu, bevor sie anfangen würde, den Brief in Zweifel zu ziehen und ihn am Schluss wegzuwerfen. Sie legte ihn in die Küche und ging nach oben in das kleine Schlafzimmer unter der Schräge. Dann fiel sie in einen tiefen Schlaf.

In dieser Nacht träumte sie das erste Mal von dem Mädchen.

7

Toni war noch halb in der Traumwelt gefangen, als Tagesgeräusche sich einen Weg in ihr Bewusstsein suchten. Geschirr klapperte, ein Radio dudelte, es wurde geredet und gelacht. Mit der trägen Schwere, die der Traum hinterlassen hatte, schlurfte sie ins Bad, klatschte sich kaltes Wasser ins Gesicht und während sie Zähne putzte, blickte sie ihr Spiegelbild an. Die Hämatome um die Augen gingen zurück, das Weiß in ihren Augen verlor das Rot, das die Operation hinterlassen hatte und sie aussehen ließ wie eine Untote. Die Platzwunde, die ihr die Waschmaschine der Altbauwohnung auf die Stirn gestanzt hatte, verheilte auch.

Toni stieg ins Erdgeschoss hinab und mit jeder Stufe fiel ein Teil des Schlafkaters von ihr ab.

Draußen glänzte die erste Maisonne im Tau. Toni musste blinzeln. Sonne vertrug sie immer noch nicht gut. Immerhin waren die beiden Sonnenbrillen jetzt mal zu etwas zu gebrauchen, die sie vor drei Jahren bei einer Entrümpelung gefunden hatte. Die Brillen waren so alt, dass sie inzwischen wieder modern waren.

Holger saß mit ihren Eltern am Küchentisch. Es roch nach Kaffee und Croissants.

»Na, Murmeltier? Du hast vierzehn Stunden geschlafen.«

Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie. Ihr Vater umarmte sie und ihre Mutter zwang sich zu der Lüge, dass Toni schon sehr viel besser aussähe.

Toni war überrascht und freute sich über die gute Laune, die die drei zu verbreiten versuchten. So eine Stimmung hatte es nicht mal an Weihnachten gegeben.

Während sie frühstückten, sprachen sie über Tonis Arbeit und wie sie die Zeit überbrücken würde, bis sie wieder einsatzfähig war. Ihr Vater bot ihr an, im Garten zu helfen, und ihre Mutter erklärte sich bereit, zu putzen und zu bügeln, falls Toni Hilfe brauchte. Es war ungewöhnlich für die beiden. Sehr ungewöhnlich. Ihre Mutter war trotz ihres Alters noch überaus rüstig, fitter als ihr Vater, der zwei Jahre jünger war und den seine Vorliebe für Bier und Eckkneipen gezeichnet hatte.

Ihre Mutter hantierte mit dem alten Gasherd und dem verbeulten Teekessel herum. Aber sie verkniff sich Kommentare über die bunt zusammengewürfelte Küchenausstattung. Tonis Mutter mochte eigentlich gar nichts in diesem Haus. Nicht mal das Haus selber. Toni hatte lange gedacht, es läge daran, dass ihre Großmutter das Haus explizit ihrer einzigen Enkelin vererbt hatte und nicht ihrem Sohn Peter und somit auch ihr nicht als Ehefrau. Aber Brigitte hatte Toni deswegen nie Ärger gemacht. Nicht ein böses Wort war gefallen.

Während Brigitte Tee aufgoss, murmelte sie über die Schulter in Richtung Toni: »Nach dieser Sache wirst du hoffentlich endlich diese schreckliche Arbeit aufgeben. Das ist ja nichts. Immer mit diesen Toten.«

Toni hörte das nicht zum ersten Mal, und dass sie enttäuscht war, weil ihre Mutter so wenig Anerkennung zeigte für das, was sie tat, hatte sich auch schon wiederholt.

»Ich habe mit Möbeln zu tun, nicht mit Toten«, erwiderte sie spitzer, als sie gewollt hatte. Inzwischen vermutete sie, dass Brigitte das Thema umso verhasster war, je älter sie wurde. Führte ihr die Arbeit der Tochter die eigene Vergänglichkeit vor Augen? Das Zukunftsbild, dass Toni eines Tages die Wohnung in Schöneberg ausräumen musste, in der sich vierzig Jahre Leben bis unter die Decken stapelte?

»Darüber reden wir jetzt gar nicht«, sprang Herr Petzold seiner Tochter bei. »Wenn Toni so weit ist, dass sie wieder arbeiten will, wird sie sich das in Ruhe überlegen.«

Als ihre Mutter vom Gasherd zurück zum Tisch ging, passierte etwas Ungewöhnliches: Brigitte widersprach nicht. Stattdessen lächelte sie einsichtig. Und dann nahm Toni etwas zwischen ihren Eltern wahr, was sie zutiefst berührte. Brigitte legte beschwichtigend kurz eine Hand auf die Schulter ihres Mannes. Toni wusste nicht, wann sie zum letzten Mal eine Berührung zwischen ihren Eltern gesehen hatte. Während ihre Mutter dort stand, blickte ihr Vater zu ihr hoch. Sie sahen sich an und etwas schien heller in ihren Gesichtern zu werden. Sie schienen sich mit den Augen anzulächeln. Toni erinnerte es an die wenigen Hochzeitsfotos der beiden. Es gab überhaupt kaum Fotos aus ihrer Familie und nahezu keine, auf denen gelächelt wurde.

Vielleicht, dachte Toni beim Anblick ihrer Eltern, hat der Schrecken der letzten Wochen auch bei ihnen etwas ausgelöst. Vielleicht Dankbarkeit, dass nichts Schlimmeres passiert war, und eine neue Wertschätzung dafür, dass sie sich nach vierzig Jahren Ehe immer noch hatten.

Als die beiden Tonis starrenden Blick bemerkten, zog ihre Mutter die Hand zurück und setzte sich. Ihr Vater wischte sich verlegen Brösel aus dem Mundwinkel.

Toni nahm sich noch ein Croissant, nicht, weil sie Hunger hatte, sondern um so zu tun, als ob dieser Moment nicht stattgefunden hätte. Sie fragte sich, warum solche Momente bei ihnen nicht zum Alltag gehört hatten. Ob sie selbst eines Tages auch so mit einem Mann leben würde? Vielleicht mit Holger?

Sie betrachtete ihn. Ihr Stand vor dem Unfall war der Off-Status gewesen, aber dies hatte in den letzten Wochen keine Rolle gespielt. Er war bei ihr gewesen, nahezu jeden Tag, und das mit einer Selbstverständlichkeit, die Toni fast beschämte. Holger verhielt sich, als hätte es das letzte Gefecht nie gegeben. Er öffnete die Doppeltür zum Garten, deren Holzrahmen Toni unbedingt abschleifen und streichen musste, und warf für die Vögel die abgeblätterten Reste der Croissants auf die schmale Holzterrasse, die das Frühlingswetter mit einer schmierigen Schicht aus Dreck und jungem Moos überzogen hatte. Dann schloss er die Tür und lächelte Toni an.

»Wir werden im Garten eine Menge zu tun haben«, sagte er und deutete hinaus. »Wenn die Ärzte dir das Okay geben. Vielleicht sollten wir sicherheitshalber einen Gärtner suchen. Wir sollten jedes Infektionsrisiko vermeiden.«

Toni hätte sich gerne über seine Worte gefreut. Aber das Wir in ihrem Herzen war kaum wahrnehmbar. Es war – genauso wie das Gefühl, zu Hause zu sein – an den Rand ihrer Gefühlsskala gerutscht. Vielleicht auch eine Nebenwirkung der Medikamente, dachte Toni. Beim nächsten Augencheck in der Cornea-Sprechstunde würde sie das Thema ansprechen.

Als ihre Eltern gingen, klopfte ihr Brigitte ungelenk auf den Rücken. »Bleib wacker«, sagte sie, ohne Toni anzusehen.

Ihr Vater umarmte sie. »Wir haben dich lieb«, flüsterte er und fügte mit Blick auf Brigitte hinzu: »Und sie will doch auch, dass es dir gut geht und du nach vorne schaust.«

Kaum waren sie alleine, trat Holger hinter Toni und legte seine Arme um ihre Schultern. Er küsste sie in den Nacken. Toni wusste, was das hieß. Sie waren, ohne darüber zu sprechen, wieder in den On-Modus geraten.

Sie liebten sich in Tonis Bett – mit der Gewohnheit eines Paares, das sich gegenseitig nicht mehr überraschte. Toni täuschte Leidenschaft vor, um seine gute Laune nicht zu zerstören. Sie kam nie, wenn er in sie eindrang, aber er wusste, wie er sie zu berühren hatte, damit auch sie zum Höhepunkt kam. Er war kurz und farblos. Aber, dachte Toni, als sie in die Dusche stieg, es gab diesem Tag ein Gefühl der Normalität. Als hätte es ihre ständigen Streitigkeiten nicht gegeben, ob sie das Haus aufgab oder Holgers Namen mit auf ihr Klingelschild setzte. Als wäre sie nicht enttäuscht über Brigitte. Als hätte es nie eine Operation gegeben, keine Wohnung in Wilmersdorf. Und keine Angst, blind zu werden und dass der eigene Körper die neue Hornhaut wieder abstoßen könnte.