Eine der spannendsten Stimmen der russischen Gegenwartsliteratur.
Wladimir Medwedew erzählt die packende Geschichte eines Geschwisterpaares im zentralasiatischen Tadschikistan Anfang der 1990er Jahre. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetmacht gerät das Land in den Strudel von Bürgerkrieg und regionalen Machtkämpfen.
Der Vater von Sarina und Andrej, ein tadschikischer Arzt, wird ermordet. Auch seine russische Frau und seine Kinder werden bedroht und daraufhin von Onkel und Großvater in ihr Heimatdorf im Pamir geholt. Doch der Vater hatte dort noch eine zweite Frau, eine Tadschikin. Und die Auseinandersetzungen zwischen den Familien könnten nicht größer sein.
Ein atemberaubender, vielschichtiger Gesellschafts- und Familienroman – mit dem sich Wladimir Medwedew an die Spitze der russischen Gegenwartsliteratur geschrieben hat.
»Einer der wenigen Romane, bei dem alles das richtige Maß hat: die opulente Story, die farbenreiche Struktur, die originellen Charaktere, die gute Sprache, eine kluge Mischung von jüngster Vergangenheit und Fiktion!« Gorki.media
Über Wladimir Medwedew
Wladimir Medwedew wurde in Transbaikalien geboren und verbrachte den größten Teil seines Lebens in Tadschikistan, wo er als Monteur, Helfer einer Geologentruppe, Dorflehrer, Fotojournalist, Patentfachmann in einem Konstruktionsbüro, Sporttrainer und Redakteur in Literaturzeitschriften tätig war. Heute lebt er in Moskau. »Im Strom der Steine« ist sein erster Roman, der vielfach ausgezeichnet wurde und mit dem Medwedew zweifellos zu den spannendsten Stimmen der russischen Gegenwartsliteratur zu zählen ist.
Helmut Ettinger, Dolmetscher und Übersetzer für Russisch, Englisch und Chinesisch. Übersetzte Ilja Ilf und Jewgeni Petrow, Polina Daschkowa, Darja Donzowa, Sinaida Hippius, Gusel Jachina, Michail Gorbatschow, Henry Kissinger und viele andere ins Deutsche.
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Im Strom der Steine
Roman
Aus dem Russischen von Helmut Ettinger
Mit einem Nachwort von Arne C. Seifert
Inhaltsübersicht
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Nachbemerkung des Autors
Nachwort
Anmerkungen
Impressum
Für Ljudmila in Liebe
Tief stieß ich den Spaten in die Erde und hob einen großen Klumpen aus.
Ach du meine Fresse! Ein Schädel.
Von einem Menschen.
Ich ging in die Hocke und schaute mir das Ding an. Noch nie hatte ich eine Leiche gesehen. Aber das hier war keine Leiche. Nur Knochen. Ein Kürbis mit schiefen Zähnen und Löchern für die Augen … Und doch überkam mich Mitleid. Der ist bestimmt bei einem krummen Ding in die Klemme geraten, dachte ich bei mir. Haben ihn umgelegt, den Kopf abgeschnitten, auf diesem Hof verbuddelt.
»Was hockst du da?«, hörte ich von oben.
Ich hob den Kopf. Am Grubenrand sah ich Flipflops von Nike und ein paar nackte Zehen. Darüber eine gestreifte Pyjamahose und ein Kugelbauch. Noch weiter oben am Morgenhimmel eine feiste Visage: Chakberdyjew, der hier das Sagen hatte. Garantiert steckte er hinter der Sache. Schließlich war das sein Hof.
Dreckskerle wie ihn hasste ich. Er war nicht mein Chef, ich schuftete nur für ihn. Beim Hausbau. Doch er glotzte mich an, als sei ich sein Eigentum.
»Warum arbeitest du nicht?«
»Hab einen Schädel gefunden«, knurrte ich. »Was ist denn das hier – ein Friedhof?«
Er warf mir einen prüfenden Blick zu. Dann tönte er wichtig: »Wie heißt es doch? Unter dem Abdruck jedes Pferdehufs sind zweihundert Augen begraben.«
Na, so ein Schlauberger! Das Sprichwort kannte in Tadschikistan nun wirklich jeder. So viele Generationen sind vor uns über diese Erde gezogen, meinte er wohl, dass man überall hundert Mann finden kann, wenn man nur ein bisschen gräbt. Ein tolles Alibi!
Doch er fragte mit drohendem Unterton: »Verstanden?« Und zeigte mit dem Finger. »Her mit dem Ding!«
Befehlen ließ ich mir von dem schon gar nicht. Ich war doch nicht sein Köter, der mit einem Knochen in der Schnauze zu ihm aus der Grube springt. Ich stand auf und warf ihm den Schädel wie beim Basketball zu. Erstaunlich geschickt fing er ihn auf. Dann mit einem schiefen Blick: »Schachte gefälligst weiter …«
Beim Weggehen drehte er sich noch einmal um.
»Arbeite ordentlich. Schließlich bist du Murodows Sohn. Wirst deinem Vater doch keine Schande machen wollen.«
Und schlurfte in seinen Flipflops davon.
Ich schaute ihm nach, wie er über sein Anwesen tappte, den Schädel an die Hüfte gedrückt wie einen Ball. Du elender Basmatsche1, dachte ich bei mir. Zum Teufel mit dir! Ich spuckte aus, kletterte aus der Grube und ging in die Ecke des Hofs, wo Rawil und Karl die Verschalung für das Fundament zimmerten. Ich drückte den Bauch heraus und schlurfte in meinen Turnschuhen wie der Hausherr mit den Plastiklatschen auf sie zu.
»He, warum geht das hier so langsam?«, knurrte ich. »Wenn ihr weiter so müde hämmert, gibt’s eins auf die Rübe!«
Rawil schlug noch einmal auf einen Nagel, hob den roten Schopf und fragte: »Was hast du dem da eben zugeworfen?«
»Die Birne von deinem Vorgänger, dem, der das alte Haus gebaut hat.«
Ich berichtete ihnen von dem Schädel. Karl fragte interessiert: »Wie sieht er aus? Sind noch Fleisch und Haare dran?«
»Ganz glatt.«
Karl kannte sich mit allem aus.
»Dann hat er mindestens zwanzig Jahre lang in der Erde gelegen. Nicht weniger.«
Rawil warf ein: »Warum nicht gleich tausend?«
»Kann durchaus sein. Der Boden hier ist sehr trocken.«
Rawil zwinkerte mir zu.
»Wie wäre es mit einer Million? Andrej, du hast einen Urmenschen ausgegraben. Oder gar das Grab vom alten Adam gefunden.«
Karl tippte sich an die Schläfe.
»Du denkst wohl, weil Watan eine Kreisstadt ist, muss das Paradies hier gewesen sein?«
Rawil schnalzte mit der Zunge.
»Ach, Bruder, was hast du nur im Kopf? Scheinst überhaupt nicht zu checken, wo du lebst. Hier bei uns hat es alles gegeben. Das Paradies. Alexander von Mazedonien. Und den Genossen Saidakram Mirsoresojew vom Ministerrat, den hat’s auch gegeben. Du lebst im Mittelpunkt der Welt.«
Meinte der dieses elende Nest Watan? Eine Kreisstadt würde ich es nicht nennen. Nicht einmal zum Spaß. Bloß weg von hier, so schnell ich konnte. Nur wusste ich nicht, wohin. Nach Russland? Dafür reichte das Geld nicht. Und in Tadschikistan hatten wir schon das zweite Jahr Bürgerkrieg. Ringsum nichts als Geschäftemacher und Banditen.
»Hör mal«, fragte ich Rawil. »Was denkst du, warum hat er den Schädel fortgeschleppt?«
»Wer?«
»Na, der … Basmatsche …, Chakberdyjew.«
»Frag mich was Leichteres. Vielleicht will er ihn begraben. Das machen die hier gern. Dafür erlässt Allah ihnen Sünden.«
»Nee, hier geht es um mehr. Ich wette, der will einen Beweis vernichten. Ein Bandit ist er.«
»Ach was! Höchstens ein Schieber.«
»Für mich sind alle Schieber Banditen.«
Rawil schmunzelte.
»Was dir so einfällt, Andrej. Am besten, du suchst gleich noch die restlichen Knochen zusammen.«
»Du hast mir gar nichts zu sagen«, gab ich zurück.
Der kam sich auch schon vor wie ein großer Chef.
Wieder in der Grube, ging mir durch den Kopf: Der Schädel mag ja uralt sein, aber der Basmatsche ist trotzdem ein Ganove. Weshalb hatte er so hässlich gegrinst, als er von meinem Vater redete? Der wollte mir auch etwas sagen. Als ich gestern die Internationale entlangging, kam er mir entgegen. In weißem Hemd und akkurat gebügelter schwarzer Hose wie immer. Frisch rasiert. Die Schuhe so blank, als hätte er eben noch im Operationssaal gestanden. Und warf mir nebenbei hin: »Andrej, Söhnchen, lass diese Arbeit sein.«
»Warum? Ist doch ’ne gute Arbeit. An der frischen Luft. Fast wie Sport. Und Geld krieg ich auch noch dafür.«
»Es ist mir peinlich vor den Leuten. Die werden sagen: Um seine Kinder sorgt sich der Doktor überhaupt nicht. Und das bei meiner Stellung …«
So war das also! Ich brummte nur: »Meine Sache, für wen ich arbeite. Aber Sie …, Sie denken nicht an uns …, Ihnen geht es nur um Ihre Stellung!«
So grob war ich ihm noch nie gekommen. Aus Ärger war es mir herausgerutscht, für mich selber unerwartet. Er merkte überhaupt nicht, wie sehr es mich zu ihm zog. Als gäbe es mich gar nicht. Ab und zu warf er mir ein paar Worte hin wie dem Hund einen Knochen. Früher habe ich deswegen sogar nachts geheult. Aber wenn es ihn selbst betraf, dann hieß es mit einem Mal: »Andrej, Söhnchen …«
Ich wusste natürlich, es war nicht richtig, ihn so anzublaffen. Das war die Sache gar nicht wert. Irgendwie kümmerte er sich ja um uns. Um Mama, um mich und Sarina. Ohne ihn hätten wir in diesem Bürgerkrieg, der seit einem Jahr tobte, nicht überlebt. Zwar wurde in unserem Ort bisher nicht geschossen und auch niemand umgebracht, aber es gab nichts zu fressen. Mama bekam in der Bibliothek kein Gehalt mehr. Den Tadschiken fiel es leichter – jeder hatte einen Garten oder seine Sippe auf dem Dorf. Aber wir? Wären verhungert, hätte Vater uns nicht unterstützt. Dass Rawil mich in seine Brigade aufnahm, war noch nicht lange her …
Ich dachte, meinem Vater platzt der Kragen. Aber er meinte nur: »Wir haben schwere Zeiten, Andrej. Vergiss nicht, es ist Krieg. Man muss sehr vorsichtig sein. Vieles verstehst du noch nicht. Weißt du, für welche Art Leute du dort arbeitest? Die nutzen jeden Vorwand, um mir zu schaden.«
»Sie haben mich nicht einmal nach meinem Namen gefragt …«
Doch Vater hörte mir gar nicht zu.
»Für Erklärungen ist jetzt keine Zeit. Heute Abend …« Und weg war er.
Das sollte nun ein Gespräch zwischen Vater und Sohn gewesen sein. Ich wartete bis zum späten Abend und fühlte mich nur noch tiefer gekränkt. Es war wie immer. Selbst Mama wurde ärgerlich und fragte: »Hat er denn wirklich gesagt, dass er kommt?«
Sie hatte Piroggen mit Kartoffelfüllung gebacken. Sie ist überzeugt, dass er sie mag. Dabei weiß ich, dass er Kartoffeln nicht ausstehen kann. Mama schlug den Teller in ein frisches Handtuch ein, damit die Piroggen warm blieben. Aber sie sind trotzdem kalt geworden.
Beim Graben zerbrach ich mir den Kopf darüber, was mein Vater mir sagen wollte. Ganz bestimmt etwas über den Geschäftemacher. Er hatte doch nicht umsonst gefragt, ob ich weiß, für wen ich arbeite. Doch heute hatte ich einen Schädel ausgegraben. Mit meinen eigenen Händen. Das war ja wie in einem Krimi! Sollte Vater heute Abend wieder nicht kommen, dann musste ich zu ihm gehen und ihn fragen, was er mir sagen wollte. Obwohl er es gar nicht mochte, wenn man ohne Vorwarnung … Bei dem Gedanken stieg erneut Wut in mir auf.
Da hupte auf der Straße vor dem Haus einer wie wild und schrie: »Andrej! He, Andrej!«
Ich kletterte aus der Grube und lief zum Zaun. Was war denn nun schon wieder los? Da stand ein weißer Krankenwagen. Am Steuer ein dürrer braungebrannter Teufel mit Schnurrbart. Ali, der Kraftfahrer des Krankenhauses. Wir kennen uns. Er war es, der da rief: »Steig rasch ein, Andrej! Wir müssen los!«
Bei dem brannte es immer irgendwo. Der kannte nichts anderes als: Mach schon! Geht’s nicht schneller? Mir reichte das allmählich. Gestern hatte Vater keine Zeit für mich, und heute schickte er mir sogar einen Wagen. Söhnchen sollte alles stehen und liegen lassen und auf der Stelle bei ihm erscheinen. So schnell wie möglich!
»Hast du Feuer unterm Arsch oder was?«, fragte ich den Fahrer.
»Quatsch keine Opern, Bruder!«, rief Ali. »Wir haben keine Zeit!« Gar nicht schlecht, die Reaktion.
»Haben wir denn wenigstens noch ein bisschen Raum, du Einstein?«, gab ich zurück.
Humor hatte Ali keinen. So etwas kapierte er einfach nicht.
»Du sollst einsteigen, hab ich gesagt!«
»Und was kommt dann? Ein Vortrag über Zeit?«
»Sie haben deinen Vater umgebracht.«
Jetzt war ich es, der nicht kapierte. Er setzte noch einmal an: »Deinen Vater! Ermordet!«
Nun verstand ich, aber ich konnte es nicht glauben. Und als ich es glaubte, hatte die Zeit sich verflüchtigt. Der Raum wahrscheinlich auch. Während wir fuhren, legte sich ein trüber Schleier über die Frontscheibe des Wagens, hinter dem alles verschwamm – die Lehmmauern um die Häuser am Ortsrand, die hohen Pappeln an der Chaussee und die abgeernteten Baumwollfelder, die sich bis zum Fuß der Berge hinzogen. Ich kam mir vor wie blind und taub. Von fern, wie aus einer anderen Dimension drang Alis Stimme zu mir. »… Chefarzt hat befohlen … hinfahren … Leichnam holen … hab einen Umweg gemacht … dich mitzunehmen …«
An einem Feld mit Salzboden hielten wir. Eine Menschenmenge. Daneben ein schwarzer Wolga. Ich sprang aus dem Führerhaus. Die Leute wechselten Blicke und machten mir Platz. Da lag mein Vater auf dem Rücken. An seiner verdreckten Kleidung hingen Kletten, als hätte man ihn über den Boden geschleift. Ein Bluterguss bedeckte fast sein halbes Gesicht.
Ich nahm nichts wahr, weder die Hügel in der Nähe noch die Berge in der Ferne. Auch nicht die Menschen, die um mich herumstanden. Ich sah nur die tiefe Wunde an seinem Hals. Eine dünne Linie, die sich durch geschwollenes Fleisch zog. Ich hörte nichts. Nicht das Rauschen des Windes und nicht das Tuscheln der Leute. Erst nach einer Weile vernahm ich wie durch eine Wand die Worte: »Was soll’s, die Leiche muss abtransportiert werden.«
Zuerst begriff ich nicht, was das bedeutete. Die Erkenntnis, wie unumkehrbar das Geschehene war, hielt mich gepackt. Riss mich förmlich in Stücke. Doch jemand rief mich. Beim Namen. Ich schaute mich um. Da stand der Kreisstaatsanwalt. Ich versuchte zu verstehen, was er sagte.
»Wie traurig das ist, Andrej … Mein tiefempfundenes Beileid. Du musst jetzt stark sein …«
Ali nickte mir zu.
»Komm, laden wir ihn ein.«
Ali hatte die Hecktüren des Krankenwagens geöffnet, holte die zusammenklappbare Trage heraus und legte sie neben meinen Vater. Endlich kam ich zur Besinnung.
»Und die Ermittlungen?«
»Das wird kompliziert«, sagt der Staatsanwalt. »Es gibt keine Zeugen. Eine sehr schwierige Sache. Aber wir werden sie aufklären. Ermittlungen gibt es natürlich.«
Wie der log! Nichts davon würde es geben. Das stand ihm mit riesigen Lettern ins Gesicht geschrieben.
Ich schrie auf: »Warum sind hier alle Spuren zertrampelt? Da findet kein Hund mehr was!«
»Andrej«, sagte der Staatsanwalt milde, »in so einem Fall brauchen wir keinen Hund.«
Seine Augen blickten trübe. Er hat sich eine Eselshaut übers Gesicht gezogen, sagen die Tadschiken. Ich schaute mich um. Der Untersuchungsrichter – ihn kannte jeder im Ort – war nicht unter den Leuten.
»Wo ist der Untersuchungsrichter? Und der Fotograf?«
»Andrej«, ließ der Staatsanwalt jetzt hören, »du musst mir nicht sagen, wie ich meine Arbeit zu machen habe.«
»Warum fangen Sie dann nicht sofort mit den Ermittlungen an?«
»Die kommen ganz bestimmt. Wir werden die Angelegenheit untersuchen und aufklären. Auf jeden Fall.«
»Nichts werden Sie aufklären! Unter den Teppich kehren werden Sie alles!«
»Das sehe ich dir nach, Andrej. Du sagst schlimme Worte, aber ich verstehe, wie dir zumute ist. Für mich ist das auch bitter. Dein Vater war mein Freund. Ein sehr guter Freund …«
Doch ich kochte vor Wut, wusste kaum noch, was ich sagte.
»Sie wollen also keine Ermittlungen durchführen, ja? Soll ich das vielleicht selber machen?«
Jetzt fiel mir der Staatsanwalt auf Russisch ins Wort.
»Du bist ein kluger Junge. Mach jetzt keine Dummheiten. Du weißt genau, wie gefährlich die Lage ist. So etwas sagt man nicht. Das wird dir noch leidtun …«
»Sie drohen mir?«
»Wer bist du denn, dass ich dir drohen müsste?«
Jetzt geriet der Staatsanwalt in Rage, und es brach nur so aus ihm heraus: »Du willst mich lehren, wie ich zu ermitteln habe? Lerne erst mal, wie man mit Älteren spricht! Was weißt du denn? Wenn man dir den Bauch aufschlitzt, findet man nicht einmal den Buchstaben Alpha darin … Du bist wie dein Vater! Der hat wenigstens die Leute kuriert, deshalb wurde er geduldet. Aber du? Weshalb sollte man dich dulden?«
Mir war jetzt schon alles egal.
»Geduldet habt ihr meinen Vater? Wenn er euch nicht behandelt hätte, wärt ihr alle längst verreckt, ihr verfressene Bande! Ich finde selber heraus, wer ihn getötet hat! Und wenn ich hier nichts erreiche, dann gehe ich bis nach Duschanbe! Die schicken eine Untersuchungskommission. Ich werde euren Saustall ausmisten! Ich finde Leute, die …«
Ihm traten die Augen aus den Höhlen. Er starrte mich an, als wollte er mich fressen, aber er beherrschte sich. Er drehte mir den Rücken zu und befahl, ohne jemanden anzuschauen: »Schafft ihn weg.«
Keine Hand rührte sich.
Ich bebte immer noch vor Zorn, aber ich wollte nicht, dass Fremde meinen Vater anrührten. Also bückte ich mich und griff ihm unter die Achselhöhlen. Mein Blick suchte Ali … Der zögerte einen Augenblick, kam dann aber und fasste den Leichnam unwillig bei den Beinen. Wir versuchten ihn anzuheben. Er war sehr schwer und knickte in der Hüfte ein.
»Safarow, hilf ihnen«, sagte der Staatsanwalt.
Sein Fahrer trat heran und packte meinen Vater beim Hosenbund. So hoben wir ihn hoch. Der Kopf fiel ihm nach hinten. Wir legten ihn auf die Trage. Ich sorgte dafür, dass sein Kopf dabei nicht aufschlug. Ali und ich nahmen die Trage auf und schoben sie in den Krankenwagen. Ich setzte mich daneben. Der Wagen fuhr ab. Ich umschlang meinen Vater, damit es ihn bei den Schlaglöchern nicht hin und her warf. Erst jetzt bemerkte ich die Blutergüsse und Abschürfungen an seinen Armen. Man hatte ihn festgehalten. Er war ein starker Mann. Einer allein hätte ihn nicht überwältigen können. Es mussten mehrere gewesen sein. Ich versuchte mir die schrecklichen Bilder gar nicht erst vorzustellen. Ich konnte sie nicht ertragen. Ich wollte sie verdrängen, aber sie kamen immer wieder.
Als das Schloss der Wagentür knackte, wusste ich nicht recht, wo ich war. Ali hatte den Schlag geöffnet.
»Los, tragen wir ihn rein, Bruder.«
Ich rieb mir die trockenen, tränenlosen Augen und packte die Griffe der Trage. Klappernd und mit quietschenden Kufen glitt sie nach draußen. Ein paar Weißkittel eilten herbei, nahmen die Trage und gingen mit ihr davon.
Ich sprang auf den Boden. Weit hinten im Hof des Krankenhauses erhob sich ein kleiner, weiß gekalkter Bau. Die Leichenhalle. Vor der Tür sah ich Menschen. Schweigend, bewegungslos. Wie Schatten. Auf der Trage schwebte mein Vater durch die weit geöffnete Tür.
Ich trat ein. Ein gesichtsloser Raum. Mein Vater lag auf einem hohen, schmalen, mit Wachstuch bedeckten Tisch. Auf der Seite gegenüber standen Ärzte. Sie tuschelten leise miteinander. Etwas weiter vorn: der Chefarzt. Die anderen hinter ihm. Wie bei der Morgenvisite.
Meinem Vater ins Gesicht schauen konnte ich nicht. An seinen schwarzen Schuhen klebt Schmutz. Ich nahm mein Taschentuch. Ich wollte, dass sie wieder glänzen.
Jetzt begann einer zu sprechen. Der Chefarzt.
»Ein großes Unglück … aber unser Kollektiv … wir müssen es in Würde … Genosse Scharipow kümmert sich darum …«
Ein Arzt im weißen Kittel flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Chefarzt nickte.
»Ja, Genossen, wir haben die Verwandten im Dorf benachrichtigt. Sie bitten sehr darum, keine Obduktion vorzunehmen. Die Staatsanwaltschaft hat keine Einwände.«
Da spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. Es war Mama. Ich hatte sie gar nicht eintreten sehen. Schwer stützte sie sich auf mich. Wie erstarrt blickte sie Vater an. Ich drückte sie fest an mich. Sie sollte spüren, dass ich da war. Dass ich neben ihr stand. Lebend.
Mama ließ einen tiefen Seufzer hören. Mit einer leichten Schulterbewegung machte sie sich frei. Nahm meine Hand und sagte zärtlich: »Danke, ich schaffe das schon.« Noch einmal seufzte sie. Dann trat sie an den Tisch heran und ließ ihren Blick über Vaters Gesicht gleiten. Zupfte ihm den Hemdkragen zurecht, der verrutscht und voller Schmutz war. Strich ihm mit der Hand zart über die Wange. Dann schaute sie zum Chefarzt auf.
»Ich nehme ihn mit. Geben Sie mir bitte einen Wagen.«
Der Chefarzt wunderte sich.
»Wohin wollen Sie ihn denn bringen?«
»Nach Hause.«
Der Arzt warf Mama einen misstrauischen Blick zu.
»Wieso nach Hause? Er muss begraben werden.«
Mama schien nichts zu hören.
»Und sagen Sie bitte dem Tischler Onkel Wassja Bescheid, er soll einen Sarg zimmern. Den bezahle ich.«
Endlich drang der Chefarzt zu ihr durch.
»Vera, jetzt kränken Sie uns aber. Wir bringen ihn unter die Erde. Sorgen Sie sich nicht. Das geschieht, wie es sich gehört. Ich lasse sofort ein Grab ausheben. Bis zum Abend ist noch viel Zeit …«
Mit ausdrucksloser Stimme sagte Mama: »Er muss eine Nacht in seinem Haus verbringen.«
Der Chefarzt schaute finster drein. Ich wusste, was er dachte. Das ist mein Krankenhaus. Mein Personal. Ich bin hier der Chef. Ich entscheide, wie hier gearbeitet und wie begraben wird. Woher soll eine russische Frau wissen, wie eine Beerdigung abzulaufen hat? Nach unserem Gesetz, nicht nach dem russischen oder sowjetischen …
Doch laut sagte er: »Teure Vera, wir müssen uns auch an unsere nationalen Traditionen halten.«
Mir war klar, was er damit meinte. Was werden die Leute im Ort sagen, wenn ich zulasse, dass er nicht nach unserem Gesetz bestattet wird? Hakimow hat überhaupt keine Autorität, werden sie sagen. Vielleicht weiß Hakimow gar nicht, was richtig ist? Hat ihm das keiner beigebracht?
Der Arzt, der ihm zuvor etwas ins Ohr geflüstert hatte, tat das jetzt wieder. Der Chefarzt überlegte einen Augenblick. Was hatte er eben erfahren? Was wussten die, das wir nicht wussten? Der Chefarzt fuhr fort: »Liebe Vera …« Er hielt einen Moment inne, nickte dann dem Einflüsterer zu und fuhr fort: »Akmol Hadschijewitsch hat recht. Sie haben so viele Jahre mit dem verstorbenen Umar zusammengelebt … An Ihrer Seite steht sein Sohn … Natürlich ist es in Ordnung, wenn Sie ihn begraben.«
Was sollte das nun heißen? Warum hatte er so leicht nachgegeben? Und was flüsterte der Kerl ihm jetzt schon wieder zu?
Der Chefarzt ordnete an:
»Ruft Onkel Wassja.«
Einer der Ärzte ging um den Tisch herum und drückte sich an uns vorbei. Es herrschte tiefes Schweigen. Plötzlich fragte Mama besorgt:
»Wo ist dein Hemd, Andrej?«
»Was für ein Hemd?«
»Wieso läufst du halbnackt herum?«
Als ich an mir herunterschaute, sah ich, dass ich kein Hemd anhatte.
»Ich weiß nicht …«
»Wo hast du dich ausgezogen? Was ist passiert? Wo warst du?«
»Ich habe geschachtet …«
Entsetzt schaute Mama mich an.
»Geschachtet? Was hast du ausgeschachtet?«
»Ein Fundament … Ich arbeite jetzt, Mama …«
Erleichtert atmete sie auf. Mit einer merkwürdigen, mir völlig unbekannten Bewegung fuhr sie sich mit der Hand über die Wange, als wollte sie etwas fortwischen.
»Gott sei Dank … Ich dachte schon … Ach, ich weiß nicht …« Und dann, unvermittelt: »Du musst dir etwas anziehen, Andrej.«
»Was denn?«
»Keine Widerrede! Zieh dir sofort etwas über!! Hast du gehört? Auf der Stelle!«
»Mama!!!«
Dann kam sie offenbar zu sich.
»Ach ja, natürlich …«
Onkel Wassja trat ein. Bekreuzigte sich. Ich schaute zu, wie er den Zollstock auseinanderklappte, und fragte mich, warum er den Tisch vermaß und nicht Vater. Weshalb er so großzügig Maß nahm.
»Warum schreibst du nichts auf?«, fragte der Chefarzt streng.
»Noch habe ich einen Kopf auf den Schultern. Zum Abend ist er fertig«, brummte Onkel Wassja und ging.
Pfleger trugen Vater in den Krankenwagen zurück. Ali ließ den Motor an, Mama stieg neben ihm ein, ich setzte mich wieder zu der Trage mit Vater. So brachten wir ihn zu unserem Haus.
Dort angekommen, befahl Mama mir, den Tisch im großen Zimmer auszuziehen, an dem wir immer gegessen haben, wenn Vater zu uns kam. Ali half uns, ihn ins Haus zu tragen und auf den Tisch zu legen. Mama sagte, ich solle mehrere Eimer Wasser heiß machen. Sarina kam aus der Schule gelaufen und fiel Mama um den Hals. Beide heulten laut los.
Mama schickte Sarina und mich aus dem Zimmer. Allein ging sie daran, Vater zu waschen. Ich wollte ihr helfen, aber sie wies mich schroff zurück. Ich durfte nur die vollen Eimer vor die geschlossene Zimmertür stellen und die Schüssel ausleeren, die sie herausstellte.
Unerwartet tauchte Rawil auf.
»Komm mal raus.«
Wir traten auf die Vortreppe hinaus. Im Flüsterton legte er los:
»Was hast du getan? Dich wie ein Kamikaze aufgeführt, du Hornochse, als wärst du Gastello.2 Das Maul hättest du halten sollen. Dich verstecken wie Lenin im Mausoleum. Unter der Hand erst mal rauskriegen, was los ist. Mutter und Schwester fortbringen. In aller Stille umlegen, die das getan haben. Und dann selber verschwinden. So wie sie deinen Erzeuger fertiggemacht haben. Der Krieg deckt alles zu.«
»Wer war das?! Du weißt es!«
»Einen Dreck weiß ich.«
»Doch, du weißt es!«
»Für wen hältst du mich? Wer bin ich denn? Getuschelt wird. Aber nichts Konkretes. Lebst du denn erst seit gestern in Watan? Die Leute drucksen herum. Keiner traut sich, etwas laut zu sagen. Geraunt wird alles Mögliche.«
»Wer? Chakberdyjew, dieser Gauner?«
»Hör mal, auf deinen Alten haben viele einen Rochus gehabt …«
»Aber warum? Was hat er ihnen getan?«
»Andrej, ihr müsst von hier fort. Für euch gibt es kein Leben mehr in Watan.«
»Ich rühre mich nicht vom Fleck, bis ich nicht alles aufgeklärt habe.«
»Die machen dich kalt, du Blödmann. Meinst du, es geht hier nur um dich? Euch alle drei legen sie um, und kein Hahn kräht nach euch.«
»Wo sollen wir denn hin, Rawil? Ich habe keine Ahnung! Und Geld haben wir auch keins.«
Er hieb mit der Faust auf das Treppengeländer.
»Ein schöner Schlamassel.« Dann fuhr er sich mit den Handflächen übers Gesicht. »Ich bitte Chakberdyjew um einen Vorschuss. Du bleibst weg. Hockst zu Hause wie ein Mäuschen. Begrabt euren Vater und verschwindet, so dass keiner etwas merkt.«
»Von der Arbeit habe ich meiner Mutter gar nichts gesagt. Sie weiß nichts davon.«
»Um dich Esel ist’s nicht schade. Deine Mutter und deine Schwester tun mir leid. Hast dein Maul aufgerissen, verdammt noch mal! Auf dicke Hose gemacht. Vor aller Welt herumposaunt, dass du dich in Duschanbe beschweren willst. Vielleicht noch in Moskau oder in Paris, was? Das verzeihen sie dir nicht. Bei uns sind Leute schon für weniger umgelegt worden.«
Wieder »sie«. Der gerissene Tatare wusste doch was!
»Ich bitte dich wie einen Bruder, Rawil. Sag mir, wer das getan hat.«
»Damit du weiter den Helden spielen kannst? An deine Mutter solltest du denken … Halt dich tapfer, Andrej … Wenn was ist, melde dich, ich bin sofort da … Aber jetzt muss ich los, entschuldige. Morgen früh bin ich wieder hier. Versprochen. Karl und ich verlangen von dem Blutsauger, dass er uns frei gibt. Wenn er sich stur stellt, dann gehen wir einfach.«
Er umarmte mich, unsere Stirnen berührten sich, und weg war er. Ich war ihm nicht böse. Ich wusste, hätte er gekonnt, wäre er geblieben.
Schließlich legte Mama einen Haufen nasser Tücher vor die Tür und stellte die Eimer dazu. Als sie uns ins Zimmer rief, lag unser Vater mit über der Brust zusammengelegten Armen auf dem Tisch. Er trug seinen Terylenanzug, der sonst nur bei uns im Schrank hing. Der Hemdkragen war hochgeschlagen und mit Nadeln geschlossen, damit man den Schnitt am Hals nicht sah. Vater lag auf unserer besten Tischdecke, der für Festtage. Wie Mama das alles allein fertiggebracht hatte, konnte ich mir gar nicht vorstellen.
Sie nahm neben Vaters Kopf Platz und ließ die Stirn auf die Tischplatte sinken.
»Ihr habt sicher Hunger, Kinder. Mach etwas für euch, Sarina«, sagte sie, ohne den Kopf zu heben.
»Wir wollen nichts essen, Mama.« Sarina trat zu Mama und umarmte sie fest.
»Stelle Stühle für dich und Sarina hin, Andrej. Und hole Kerzen aus der Küche.«
Ich rückte für uns zwei Stühle zurecht. Sarina setzte sich, ohne Mama aus den Armen zu lassen.
Die Haustür stand weit offen. Frauen aus der Nachbarschaft schauten herein. Als ich auf die Vortreppe trat, sah ich, wie ein paar unbekannte Kerle unser Haus umschlichen. Einer wagte sich bis in den Korridor vor und schaute ins Zimmer herein.
»Was willst du?«, fragte ich grob.
Er warf mir einen grimmigen Blick zu, verzog sich aber wieder.
Bald darauf brachte Onkel Wassja einen riesigen Sarg, der mit schwarzem Satin ausgeschlagen war. Ali und er schleppten erst das Unterteil und dann den Deckel herein. Auf diesem hatte er aus weißem Stoff ein Kreuz befestigt. In sachlichem Ton fragte Mama:
»Was soll das Kreuz?«
»Na, Sie wollen ihn doch … also … nach unserer Sitte beerdigen …«
Mama schaute ihn merkwürdig an und sagte scharf: »Nein, nicht nach unserer Sitte.«
Damit brachte sie Onkel Wassja offenbar in Verlegenheit.
»Auch wieder wahr. Schließlich ist der Verstorbene nicht getauft. Daran hätte ich denken sollen … Und was machen wir jetzt? Das Kreuz abnehmen? Oder lassen? Wenn er nicht unseres Glaubens ist, so kann er doch …«
»Das ist jetzt auch schon egal«, ließ Mama fallen. »Lassen Sie es, wie es ist, wenn Sie wollen.«
Onkel Wassja freute sich.
»So ist es doch besser. Da hat er es dort leichter. Vielleicht heißen sie ihn mit dem Kreuz sogar willkommen. Und Sie werden ihn einst wiedersehen …«
»Nein«, erklärte Mama. »Jetzt bestimmt nie mehr.«
Wir stellten den Sarg auf zwei Hocker, legten Vater hinein und hoben den Sarg auf den Tisch. Die beiden Männer gingen. Es wurde dunkel. Ich schloss die Haustür und schob den Riegel vor. Ich wollte Licht machen, aber Mama war dagegen. Nur im Korridor ließ sie eine Lampe brennen. Das große Zimmer erleuchteten vier Kerzen auf dem Tisch, zwei auf jeder Seite des Sarges. In der Dunkelheit wirkten ihre Flammen sehr hell. Wir setzten uns wieder an den Tisch. Plötzlich verlosch der helle Lichtstreifen unter der Tür zum Korridor.
»Schon wieder eine Stromsperre.« Mama löschte zwei der Kerzen. »Bis zum Morgen reichen sie sowieso nicht …«
Ich trat zu einem der fest verschlossenen Fenster. Mama meinte, der Leichnam dürfe keinen Luftzug bekommen, sonst färbe sich das Gesicht dunkel. Die Fenster der Nachbarn leuchteten hell. Es war also gar keine Stromsperre. Irgendein Dreckskerl hatte unsere Leitung gekappt … Plötzlich klebten drei plattgedrückte Visagen von draußen an den Fensterscheiben. Das mussten die Gestalten sein, die ich schon bei Tag gesehen hatte. Die Gesichter waren nicht zu erkennen. Ohnehin hatte ich nur den richtig wahrgenommen, der seinen Kopf durch die Zimmertür gesteckt hatte. Ich zog die Vorhänge zu. Draußen redeten sie noch eine Weile. Dann wurde es still. Ob sie weg waren?
Unbemerkt holte ich die Axt aus der Küche und lehnte sie an ein Bein meines Stuhls.
Da fing Mama an zu singen, zuerst leise und unentschlossen:
Die strahlende Sonne ist untergegangen.
Die leuchtenden Sterne verlöschen.
Ich geleite deine Seele
Auf den weiten Weg über den dunklen Fluss.
Dann lauter, sicherer und wie entrückt:
Sie soll entlang des Ufers gehen,
Den Fluss auf Steinen überqueren,
Durch klare Wasser schwimmen
An die ersehnten Gestade.
Sie verabschiedete sich von ihm. Ich wusste nicht, wie ich mich verabschieden sollte. Ich wollte einfach nicht glauben, dass ich ihn nicht wiedersehen werde. Den Sarg senkte man ins Grab, aber irgendwann, nicht heute und nicht morgen, würde ich ihn sehen, wie er im gebügelten Hemd und blankgeputzten Schuhen auf der Straße daherkam, als hätte er eben erst den Operationssaal verlassen. Und vielleicht gelang es uns dann, miteinander zu reden. Und ich könnte ihm alles sagen …
Dort wirst du irdisches Leid vergessen
Und auch uns, die hier zurückbleiben …
Mama seufzte: »Ach, das sind doch Dummheiten …«
Schweigend saßen wir da. Ich lauschte angespannt, aber draußen war es ruhig.
»Schlaft ein bisschen«, sagte Mama schließlich. »Morgen wird ein schwerer Tag.«
»Wir wollen nicht schlafen, Mama«, antwortete Sarina. »Ich wache mit dir.«
»Geh nur, geh … Hast dich genug gequält. Außerdem … möchte ich eine Weile mit ihm allein sein. Schlaf ein Stündchen.«
Schweigend willigte Sarina ein, wir zündeten eine Kerze an und gingen in die Küche.
»Hier hat Papa gern gesessen«, sagte Sarina. »Wenn er kam, hat Mama immer im großen Zimmer den Tisch gedeckt. Dabei hat es ihm hier besser gefallen …«
»Woher weißt du das?«
»Er hat es mir gesagt.«
»Na klar! Du warst ja sein Liebling. ›Sarinotschka, mein Töchterchen!‹ Mit dir hat er geredet.«
»Schämst du dich nicht? Er hat dich geliebt. Ihn haben auch alle geliebt …«
Und ob! Alle waren hin und weg von ihm! Das hatte ich erlebt, wenn Mama mit uns ins Krankenhaus ging, wenn uns etwas fehlte. »Ach, Umar Mirbobojewitsch!« – »Natürlich, Umar Mirbobojewitsch!« Sogar für mich fiel etwas davon ab. »Das ist doch Andrjuscha, Umar Mirbobojewitschs Söhnchen! So ein niedliches Kerlchen, ganz der Papa!« Unsere Mama war Luft für sie. Als wäre sie gar nicht da. Er hat ja auch getrennt von uns gelebt. Er hatte seine eigene Wohnung in einem Zwei-Etagen-Haus. Zwischen beiden Behausungen pendelte er hin und her. Wenn er nicht bei uns übernachtete, erklärte uns Mama: »Eine dringende Operation. Nachtdienst.« Als ich größer wurde, begriff ich, was für Nachtdienste das waren. Manchmal musste er ja wirklich nachts arbeiten. Warum er uns nicht verlassen hat, weiß ich nicht. Er war auf seine Weise treu. Irgendwie brachte er es fertig, den soliden Mann und den leichtlebigen Kerl miteinander zu verbinden. Eine zweite russische Frau wie unsere Mama hätte er in Watan allerdings auch nicht gefunden.
Zu Sarina sagte ich: »Ja, sie haben ihn so sehr geliebt, dass sie ihn schließlich umgebracht haben.«
»Er war geachtet und wurde geliebt. Ehrlich und aufrichtig … Aber du scheinst ihn zu verurteilen.«
»Wir wissen doch gar nichts über ihn.«
»Du vielleicht nicht. Ich weiß alles.«
»Na, dann sag mal, warum sie ihn ermordet haben. Weißt du denn, wer seine Freunde waren? Fette Schweine, Staatsanwälte, Krämerseelen … Was er mit denen zu tun hatte? Erzähl schon! Du weißt doch alles! Oder hat er sich etwa mit der Frau eines anderen …?«
»Du gemeiner Kerl!«, schrie Sarina auf. »Wag es nicht, von Papa schlecht zu reden!«
Sie sprang auf, lief aus der Küche und schloss sich in ihrem Zimmer ein. Ich ging zu meinem Vater zurück und versank erneut in der Dunkelheit, in der die Zeit stillzustehen schien.
Die Kerzen brannten herunter. Als ich gerade zwei neue angezündet hatte, hörte ich, dass sich ein Fahrzeug unserem Haus näherte. Ein Lastwagen. Er hielt. Autotüren fielen zu. Dann wurde an die Haustür geklopft. Jetzt waren sie da!
Mama hob den Kopf, sagte müde und zerstreut:
»Geh aufmachen, Andrej.«
»Warte einen Moment, Mama. Ich muss dir sagen …«
»Nicht jetzt … Schau nach, wer es ist.«
»Bitte nicht, Mama! Verstehst du, heute, als … Als ich dort hingefahren bin …«
»Hör auf, Andrej. Du hörst doch, es ist jemand gekommen …«
Wieder wurde geklopft. Jetzt verlor Mama die Geduld.
»Ich gehe selber aufmachen.« Sie erhob sich und ging mit der Kerze ein paar Schritte, wobei sie mit der freien Hand die Flamme schützte, damit sie nicht erlosch.
»Mach nicht auf, Mama!«
Ich packte die Axt, lief in den Korridor und stellte mich ihr in den Weg.
»Die kommen … um uns zu holen …«
»Was heißt, zu holen … Um uns zu besuchen.«
Das Klopfen wurde immer lauter und hartnäckiger.
Jetzt schrie ich: »Die wollen uns umbringen!«
»Ich verstehe dich, Andrej … Das war alles ein bisschen viel für dich. Für uns alle … Das kann einem schon Angst machen …«
»Hör mir doch mal zu, Mama!«
Im Moment klopften sie noch. Gleich würden sie die Tür aufbrechen.
»Lass mich durch, Andrej!«, sagte Mama jetzt in strengem Ton. »Draußen wartet jemand.«
Ich rief: »Weißt du denn, wer da wartet?!«
»Die Miliz … oder ein Telegramm …«
Sie hob die Hand, um mich beiseitezuschieben. Ich rührte mich nicht vom Fleck.
»Du meine Güte, Andrej! Was ist nur in dich gefahren?«
Dann kam es scharf und abgehackt aus ihrem Mund: »Lass mich so-fort vor-bei! Oder wollen wir uns prügeln?«
Da wurde mir klar, dass sie nicht daran dachte, nachzugeben und auf mich zu hören.
»Marsch, aus dem Weg!«
Wie ich dieses Wort hasste! Marsch, ins Bett. Marsch, Hände waschen. Marsch, Hausaufgaben machen. Mein ganzes Leben lang hieß es immerfort: Marsch, Marsch, Marsch … War ich vielleicht ein Soldat? Eine Marionette, bei der man nur an den Strippen zu ziehen brauchte? Und ich tat, was man wollte? Jetzt war mir schon alles egal. Marsch, ja?! Zu Befehl! Wird ausgeführt! Ich diene der Sowjetunion! Gegen die Feinde, für meine Mama … Ich vollzog eine exakte Kehrtwendung um 180 Grad.
»Andrej, mach nicht auf!«, rief Sarina.
Jetzt war sowieso nichts mehr zu ändern. Verstecken hatte keinen Zweck. Sie zündeten das Haus an. Oder schlugen die Tür ein. Die Fenster. Dann konnte es auch gleich sein. Aug in Auge. Ich stellte mich vor Mama. Ich wollte tun, was ich konnte …
Ich schritt zur Tür. In der rechten Hand die Axt. Mit der linken zog ich den Riegel zurück …
»Was tust du da?«, schrie Sarina.
… und öffnete die Tür. Auf der Schwelle stand mein Vater.
Ich fühlte mich wie von einem Stromschlag getroffen. In meinem Kopf brummte und knisterte es, als habe man einen mächtigen Transformator eingeschaltet. Die Axt glitt mir aus der Hand und schlug mit einem dumpfen Geräusch weit weg von mir in der Unterwelt auf. Es zog mich zu meinem Vater hin, ich wollte ihn umarmen (was ich seit vielen Jahren, seit ich groß war, nicht mehr getan hatte), aber ein bleiernes Gewicht lähmte mich. Ich war zu keiner Bewegung fähig. Stand da und schaute ihn nur an. Ich wusste, er kehrt zurück! Der Leichnam, der in dem dunklen Zimmer hinter mir zwischen den Kerzen auf dem Tisch lag, war nicht mein Vater. Irgendein Fremder, ein Unbekannter. Er selber stand hier auf der Vortreppe. Er lebte. Von Anfang an war ich überzeugt gewesen, dass es so kommen würde. So schnell hatte ich es allerdings nicht erwartet.
Die Scheinwerfer des Lkws, der vor unserem Haus stand, leuchteten meinen Vater von hinten an. Er hatte einen leichten Seidenkaftan an, wie er ihn gern zu Hause trug. Der glänzende Stoff reflektierte das Licht, so dass er wirkte wie von einem Heiligenschein umgeben. Sein Gesicht lag im Dunkeln. Aber ich erriet die vertrauen Züge … Nur eines war fremd und beängstigend: der Schnurrbart. Woher hatte Vater einen Bart? Wann war der ihm gewachsen? In einem Winkel meines Hirns tauchte ein Gedanke auf, den ein anderer zu denken schien: Bei Toten wachsen die Haare weiter. Aber an einem einzigen Tag?
Ich sagte: »Papa …«
Wie lange hatte ich ihn nicht mehr so genannt. Jetzt war es mir wie von selbst herausgerutscht. Tonlos. Vater trat auf mich zu und umarmte mich. Da schrie ich auf. Mein Vater duftete immer nach Eau de Toilette mit einem feinen Hauch von Medizin. Der Mann, der mich kräftig an sich drückte, roch ganz anders. Nach Rauch, nach Milch, nach trockenem Dung, nach Gebirgskräutern, Benzin und Staub.
Ich riss mich von ihm los und hörte, wie Mama unsicher stammelte: »Dschorub?«
Hinter mir wurde die Kerze hochgehoben, und ihr Schein fiel auf das Gesicht des Mannes, der mich soeben umarmt hatte. Er sagte:
»Vera, liebe Vera …«
»Ach, Dschorub«, antwortete Mama. »Er ist nicht mehr.«
Jetzt erst begriff ich, wer das war. Vaters jüngerer Bruder. Ich hatte ihn eine Ewigkeit nicht gesehen. Es musste tausend Jahre her sein, dass er zum letzten Mal in Watan gewesen war. Er sah gar nicht aus wie mein Vater. Doch, natürlich sah er ihm ähnlich. Sehr sogar. Man konnte sofort erkennen, dass sie Brüder waren. Ach, jetzt wusste ich gar nichts mehr …
Er ließ mich los, ich ging zur Seite, und er trat ins Haus. Auf der Vortreppe stand noch ein alter Mann. Vertrocknet, nicht groß, mit weißem Bart und einer Menge Medaillen an der Brust. Das musste Großvater sein. An ihn konnte ich mich kaum noch erinnern.
Als Großvater und Dschorub im Zimmer standen, fielen sie sich in die Arme und heulten laut los wie Kinder. Sie schluchzten, wischten sich die Tränen ab und stützten sich gegenseitig. Dschorub breitete die Arme aus und zog mich wieder an sich. Das wollte ich nicht. Es war mir irgendwie peinlich, nachdem ich ihn für meinen Vater gehalten hatte. Aber ich ließ es geschehen. Ich wartete ab, bis er die Arme senkte. Da löste sich plötzlich etwas in mir. Den ganzen Tag lang hatte ich nicht weinen können. Doch jetzt, in ihrem Kreis, strömten meine Tränen leicht und wie befreit. Ich umarmte Großvater und schmiegte mich an ihn. Ich hörte ihn flüstern. Es war, als rede er mit sich selbst. Oder mit Vater.
»Mein armer, armer Sohn. Mein leidvoller Sohn. So schön hat dein Leben angefangen. Du bist ein gelehrter Mann geworden. Hast Menschen geheilt. Sie haben dich dafür geachtet. Und musstest so unglücklich sterben …« Uns, die wir um ihn herumstanden, hatte er offenbar ganz vergessen. »Wenn sie dich schon töten wollten, warum haben sie nicht zugestoßen mit dem Messer?«
Ein hochgewachsener schlanker Bursche trat ein, ein wahrer Bergadler. Der Fahrer, der sie hergebracht hatte.
»Bruder Dschorub, wir müssen fahren. Der Weg ist weit.«
Der Großvater trocknete seine Tränen und sagte auf Russisch: »Tochter, wir müssen ihn für die Reise rüsten.«
»Das habe ich getan«, antwortete Mama. »Ich habe ihn gewaschen und in seine besten Sachen gekleidet. Und hier ist der Sarg …«
»Ich danke dir, Tochter«, sagte Großvater. »Aber einen Sarg brauchen wir nicht. Wozu? Er wird in ein Tuch gehüllt.«
»Fass mit an, Scher«, sagte Dschorub zu dem Fahrer.
Schweigend öffnete Mama den Kleiderschrank und nahm einen Stapel frischer Bettwäsche heraus. Sie griff nach dem obersten gestärkten Laken und faltete es auseinander.
»Wie soll das ohne Sarg gehen?«, fragte sie unerwartet. »Wollt ihr ihn auf die schmutzige Ladefläche legen?«
Sie drückte das Laken Dschorub in die Hand und griff entschlossen nach dem großen Wandteppich, den Vater vor zehn Jahren zum Einzug angeschleppt hatte, als es ihm gelungen war, für uns ein Typenhäuschen des Staatsgutes am Ortsrand zu ergattern. Der Teppich hing fest und bewegte sich nicht. Mit all ihrer Kraft riss sie daran. Krachend fiel er schließlich von der Wand, Vasen und Nippes wurden von der Kommode gefegt.
»Legt den Wagenboden damit aus.«
Scher, der Bergadler, kam angeflogen, ging in die Hocke und half Mama, den Teppich zusammenzurollen. Er schwang ihn sich auf die Schulter und ging damit hinaus. Als er zurückkehrte, hatten wir alle gemeinsam, auch Mama und Sarina, den Sarg angekippt, Vater herausgehoben, auf das ausgebreitete Laken gelegt und von Kopf bis Fuß darin eingehüllt.
Nie hätte ich gedacht, dass der Transport eines Leichnams eine so schwere Arbeit ist. Man kann sie mit einem Umzug vergleichen. Auch sie muss ordentlich erledigt werden. Einer muss anweisen, von wem und wohin der Verstorbene getragen und wie er abgelegt werden soll.
Mama und Sarina bückten sich, um beim Tragen des langen, weißen Bündels zuzufassen.
»Die Frauen bitte nicht«, ließ Großvater schüchtern hören. »Das ist nur Männern gestattet.«
Zu viert hoben wir ihn an. Auch Großvater, so alt er war, half mit.
»Ihr tragt ihn nicht richtig!«, rief Mama. »Mit den Füßen voran!«
Ich blieb stehen, doch Großvater erklärte: »Wenn der Mensch geboren wird, kommt er mit dem Kopf zuerst aus dem Mutterleib. Wenn er stirbt, muss er genauso gehen – mit dem Kopf zuerst.«
Wir trugen Vater durch die Haustür dem blendenden Licht der Scheinwerfer entgegen. Mama und Sarina folgten uns. Wir legten Vater auf den Teppich, den man auf der Ladefläche des Fahrzeugs ausgebreitet hatte. Eine Weile standen wir alle vor der heruntergelassenen Heckklappe und schauten auf den weißen Kokon, der sich von der Dunkelheit abhob. Ich half Scher, die Klappe zu schließen. Das war’s. Vater verließ mich. Für immer.
Bis vor wenigen Minuten war ein Gewusel im Haus gewesen, als stünde der Umzug in eine neue Wohnung bevor. Jeder hatte zu tun gehabt. Dann war alles getan, und plötzlich zog Stille ein. Großvater und Dschorub würden davonfahren und wir auf der dunklen Straße in dem leeren, dunklen Haus allein zurückbleiben. Als die Verwandten ankamen, hatte ich das Gefühl, wir seien in Sicherheit. Jetzt aber war es damit schlagartig vorbei. Im Rücken spürte ich bereits die Blicke unserer Feinde, die uns aus der Finsternis belauerten. Sie würden sich auf uns stürzen, sobald der Wagen fort war. Wir würden nicht einmal die Zeit haben, ins Haus zu laufen. Mama würde nicht rennen, so ahnungslos, wie sie schien …
»Also, Dschorub, fahrt mit Gott«, sagte sie. »Wahrscheinlich ist es richtig, dass ihr ihn mitnehmt. Ist wohl besser so …«
Er drückte ihr die Hand.
»Ach Vera …«
Da fiel Scher ihm ins Wort.
»Bruder Dschorub, sehen Sie die Kerle, die dort herumstehen? Während ihr im Haus wart, sind sie zum Wagen gekommen. Einer ist sogar aufs Trittbrett gestiegen. ›Was ist los, Bruder? Woher seid ihr?‹, hat er gefragt. Ich habe es ihm gesagt. ›Gegen euch vom Dorf haben wir nichts. Nehmt euren Mann und fahrt ab, so schnell ihr könnt. Das hier regeln wir schon selber.‹ Ich wusste ja nicht, dass der verstorbene Umar ermordet worden ist. Daher habe ich gefragt: ›Was wollt ihr denn regeln? Ein Mensch ist gestorben. Das war Gottes Wille.‹ Darauf er: ›Na, mit diesen Russen abrechnen.‹ Was machen wir jetzt, Bruder Dschorub? Die sind viele.«
Dschorub schaute sich um.
»Lass uns ins Haus gehen, Vera.« Und zu dem Fahrer: »Setz dich ins Führerhaus, Scher. Ruf, wenn was ist.«
Der Bergadler öffnete den Schlag, griff unter den Fahrersitz und zog die Starterkurbel hervor.
»Ich bleib lieber draußen stehen. Damit sie nicht noch hinaufklettern …«