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Lektorat: Hauke Burgarth, Pohlheim
Gestaltung und Satz: Magdalene Krumbeck, Wuppertal
Verwendete Schrift: Apollo MT Std, Akko Pro
Gesamtherstellung: PPP Pre Print Partner GmbH & Co. KG
ISBN 978-3-7615-6774-6 E-Book
www.neukirchener-verlage.de
Band 1: IST – »Interdisziplinäre Studien zur Transformation«
Herausgegeben von Sandra Bils, Thorsten Dietz, Tobias Faix, Tobias Künkler, Sabrina Müller, in Zusammenarbeit mit dem Studiengang Transformationsstudien für Öffentliche Theologie & Soziale Arbeit an der CVJM-Hochschule.
Transformation.
Einordnung eines schillernden Begriffs
Transformation – ein schillernder Begriff. Für die einen atmet er Verheißung und birgt Hoffnung, für die anderen klingt er nach Bedrohung und löst Ängste aus, für Dritte ist er eine Worthülse, die jede Menge leere Versprechungen enthält. Der Begriff scheint ebenso vieldeutig und komplex wie die Sache, die er zu benennen versucht. Aus unterschiedlichen theoretischen und disziplinären Perspektiven wird der Begriff Transformation auf vielfältige Phänomene angewendet oder dient als Zielperspektive für unterschiedliche Prozesse und Entwicklungen. In diesen Dschungel an Verwendungungsmöglichkeiten will dieser Band Schneisen der Orientierung und des tieferen Verständnisses schlagen, und das in erster Linie nicht aus einer akademischen Perspektive. Bei aller Polyvalenz, Unter- und Überbestimmtheit, ist das Konzept Transformation ein Schlüssel: nicht nur zum besseren Verständnis des Wandels von Gesellschaft und Kirche und der historisch-kulturellen Situation, in der wir leben, sondern auch zur aktiven Mitgestaltung von Transformation. Zum einen als Herausgeber dieses Bandes und zum anderen als Studiengangsleiter eines interdisziplinären Studiengangs »Transformationsstudien: Öffentliche Theologie und Soziale Arbeit« sind wir überzeugt davon, dass Transformation ein Schlüssel für eine Haltung sein kann, die dazu führt, dass Akteur:innen angesichts massiver Umbruchsprozesse und den damit einhergehenden Herausforderungen nicht passiv-defensiv verharren oder vor Angst versteinern, sondern Transformation aktiv gestalten. Dies bedeutet, weder einem blinden Aktionismus zu frönen, noch der Illusion zu verfallen, man könne Transformationen im engeren Sinne machen oder herstellen. Dass eine aktive Gestaltung auf Basis einer entsprechenden Grundhaltung und mithilfe passender Sehhilfen (Theorien), Orientierungen (Konzepte) und Werkzeuge (Methoden) Frucht trägt und soziale Innovationen hervorbringen kann, haben wir in den Transformationsstudien vielfach in den Praxisprojekten der Studierenden erleben dürfen. Um einen permanenten und konsequenten Theorie-Praxis-Dialog zu gewährleisten, führen alle Studierenden ein eigenes Praxisprojekt durch. Diese Praxisprojekte beeinflussen wiederum das theoretische Reflektieren und haben somit maßgeblichen Einfluss auch auf dieses Handbuch. Etliche dieser Projekte sind, neben vielen Erfolgen und angestoßenen Transformationsprozessen, an manchen Stellen gestolpert oder auch gescheitert. Ein beständiges Trial-and-Error und eine explorativ-suchende Grundhaltung gehören dazu, wenn man sich als Pionier:in in unbekanntes Terrain gibt.
Transformation als Gegenstand
Auch in den Transformationsstudien beziehen wir uns sowohl auf deskriptiv-beschreibende als auch auf normativ-wertende Konzeptionen von Transformation. Dies soll gleich noch genauer erläutert werden. Sucht man jedoch zunächst nach einer Art kleinstem gemeinsamem Nenner der unterschiedlichen Transformationsverständnisse, dann lässt sich vielleicht Folgendes formulieren: Transformation meint immer mehr als irgendeine Veränderung. Transformation ist immer tiefgehend (statt oberflächlich), paradigmatisch/umfassend (statt partiell), nachhaltig (statt situativ) und systemverändernd bzw. strukturell. Es geht um eine Trans-Formation, die Neu- oder Umformatierung einer bestehenden Formation.
Ist Transformation im Wesentlichen der Gegenstand einer untersuchend-analytischen Perspektive, versucht man solche paradigmatisch-strukturellen Veränderungsprozesse zu verstehen oder erklären. Der Untersuchungsgegenstand Transformation kann sich dabei auf ganz unterschiedlichen Ebenen befinden. Erstens auf einer gesellschaftlichen Mikroebene, in der zunächst die Transformation einzelner Menschen in den Blick kommt, z. B. aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive als transformative Lern- oder Bildungsprozesse, aber auch auf psychologischer oder theologischer Ebene als Konversion oder Dekonversion. Auf einer Mesoebene analysiert man zweitens die Transformation von Institutionen oder Organisationen, z. B. aus einer systemischen, organisationstheoretischen Perspektive. Transformationen der Gesamtgesellschaft liegen drittens auf der Makroebene. So untersucht man aus soziologischer Perspektive, wie bestimmte gesellschaftliche Megatrends wie Digitalisierung nachhaltig alle gesellschaftlichen Teilbereiche verändern, oder man forscht aus politikwissenschaftlicher Perspektive, wie sich in den Staaten des ehemaligen Ostblocks der politische Systemwechsel vollzogen hat. Viertens gibt es auch noch Transformationsprozesse auf der Metaebene, hier betrachtet man Ideen und Prozesse, die Gesellschaft und Kultur zuerst konstitutieren, also zugleich formen und hervorbringen, z. B. aus philosophischer und/oder historischer Perspektive. Dabei geht es darum, wie es genau dazu kam, dass das moderne Selbst- und Weltbild entstanden ist.
Transformation als Ziel
Gute deskriptive Analysen sind notwendig, um zumindest ein Stück weit zu verstehen, wer wir heute sind, was dieses Heute ist und warum und welche Stürme der Veränderung uns umwehen. Zugleich reicht es unseres Erachtens nicht, bei einer solchen Analyse stehen zu bleiben. Wie angedeutet helfen dabei die Konzeptionen von Transformation, die mit dem Begriff eine Zielperspektive aufstellen, auf die hin sich orientiert werden sollte.
Zunächst gibt es da ganz faktisch die Notwendigkeit oder gar den Zwang zur Transformation von bestehenden Systemen, die in einer Transformationsgesellschaft überleben wollen. Nur ein Beispiel hierfür ist die Kirche (besser: die Kirchen), die sich überwiegend in Schrumpfungsprozessen befinden und beständig an gesellschaftlicher Relevanz, finanziellen und personellen Ressourcen und damit an Gestaltungskraft verliert. Ähnlich sieht es gesamtgesellschaftlich aus. Wir wissen immer deutlicher, dass die Menschheit längst mehrere planetare Grenzen überschritten hat und dabei hochkomplexe, irreversible Prozesse in Gang gesetzt hat, die gravierende negative Auswirkungen auf die Menschheit haben werden, besonders auf die zukünftigen Generationen und besonders die in Armut lebenden. Vor allem unter dem Eindruck der Klimakrise wächst gegenwärtig das gesellschaftliche Bewusstsein, dass es eine »Große Transformation« hin zu einer wirklich nachhaltigen Gesellschaft geben muss. Ob den wachsenden Einsichten und Worten auch entsprechende Taten folgen, ist gegenwärtig offen. Einen Zwang zur Transformation zu postulieren, mag harsch klingen, aber letztlich stehen wir hier vor der Wahl, wie sie Harald Welzer folgendermaßen auf den Punkt brachte: »Transformation by design oder desaster«.1 Entweder wir schaffen es, die nötigen Transformationen zu gestalten, oder wir werden durch Krisen und Katastrophen hierzu genötigt. Betrachtet man die wissenschaftlichen Prognosen des Klimawandels, dann werden die bereits gravierenden gesellschaftlichen Transformationen und Änderungen unserer Lebensweise, in die wir gegenwärtig durch die Covid-19-Pandemie gezwungen werden, im Rückblick dabei vielleicht vergleichsweise harmlos erscheinen.
Angesichts dieser Herausforderungen verlassen auch viele Wissenschaftler:innen aus Disziplinen, die traditionell eher analytisch-deskriptiv arbeiten, die bequem neutrale Zone des Elfenbeinturms. In den Sozialwissenschaften ist die Öffentliche Soziologie (public sociology), die Gesellschaft weder nur beschreiben noch bloß kritisieren will, sondern mittels Wissenschaft und deren Kommunikation sich aktiv in die Gestaltung dieser Gesellschaft einmischen will, ein Beispiel. Ein anderes ist der wissenschaftstheoretische Ansatz einer transformativen Wissenschaft, die sich dezidiert als ein Akteur in der Großen Transformation versteht und diesen Prozess mit den zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Mitteln mitgestalten möchte, ohne dabei wissenschaftliche Qualitäts- und Gütekriterien zu unterlaufen.
In unserem interdisziplinären Studiengang der Transformationsstudien setzen wir nicht nur an den beschriebenen deskriptiven und normativen Perspektiven von Transformation an, sondern bringen zwei wissenschaftliche Disziplinen in einen Dialog, die beide, zumindest in manchen ihrer Theorietraditionen und Selbstverständnisse, auf Transformation zielen: zum einen die Sozialarbeitswissenschaft, zum anderen die Theologie.
Die Disziplin der Sozialarbeitswissenschaft dient der Profession der Sozialen Arbeit. Diese ist entstanden aus einer langen Geschichte der Hilfe von Menschen in Not und der Institutionalisierung dieser Hilfe. Historisch trat sie auf zu Beginn der modernen Gesellschaft als Ersatz für schwindende familiäre und verwandtschaftliche Sicherungs- und Erziehungsleistungen. Als eine solche soziale Feuerwehr wird sie auch heute noch oft missverstanden. Soziale Arbeit möchte jedoch nicht nur die Folgen sozialer Probleme vermindern, sondern vor allem präventiv arbeiten, und dies nicht nur auf der Ebene von Einzelnen oder Gruppen, sondern auch von ganzen Gemeinwesen und letztlich gesamtgesellschaftlich. Soziale Arbeit zielt auch darauf, gesellschaftliche Entwicklungen positiv zu beeinflussen und mitzugestalten, indem mit den Maßstäben sozialer Gerechtigkeit und der allgemeinen Menschenrechte Veränderungsbedarf angemahnt wird, an der Transformation von Strukturen und Systemen mitgearbeitet wird und indem Einzelne dazu befähigt und befreit werden, Akteur:innen zu werden, die an Gesellschaft teilhaben und Gesellschaft mitgestalten können.
Schließlich gibt es theologisch ein Verständnis von Mission als Transformation, verstanden als Aufruf zur Gestaltung der Welt im Licht des Evangeliums und als Partizipation an Gottes Heilshandeln auf allen Beziehungsebenen: der Beziehung des Menschen zu sich selbst, zu anderen Menschen, zur Schöpfung und zu Gott.
Sowohl theologisch als auch sozialarbeitswissenschaftlich kann aus einer solchen Perspektive die Große Transformation als Teil des Ziels von Mission einerseits und der Profession Sozialer Arbeit andererseits betrachtet werden. Die Missionen aller drei Bereiche unterscheiden wie überschneiden sich dabei: die theologisch formulierte Mission Gottes, das sozialarbeitswissenschaftlich formulierte Ziel der Gestaltung einer sozial gerechten und menschenrechtsorientierten Gesellschaft und das gesamtgesellschaftlich ausgerufene Ziel einer Großen Transformation hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft. Eine hohe Übereinstimmung gibt es jedenfalls in den Grundwerten: soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte, Solidarität, Achtung der Vielfalt, Freiheit, Gleichberechtigung als Werte der Profession Sozialer Arbeit; Gerechtigkeit, Liebe, Ebenbildlichkeit Gottes, Gleichwürdigkeit, Barmherzigkeit, Verantwortung zur Weltgestaltung und Freiheit als Werte einer Theologie der Transformation. Ähnlich gibt es eine Konvergenz in den Zielen und damit teils auch in den Praktiken: eine Veränderung des Menschen, seiner Lebenslage und der die Lebenslage bedingenden gesellschaftlichen Strukturen hier und eine Veränderung der Herzen und der Verhältnisse da.
Somit sind in einer systematischen Logik die unterschiedlichen Typen von Transformationsverständnissen skizziert, Transformation als Gegenstand und als Ziel, wie sie auf unterschiedlichen Ebenen untersucht und aus unterschiedlichen Perspektiven anvisiert wird.
Was dieses Buch will und leisten kann
Uns ist das Wagnis eines Handbuchs Transformation und die notwendige Begrenztheit dieses Bandes bewusst, und wir sind sehr dankbar, dass sich so viele namhafte Autor:innen auf dieses Experiment eingelassen haben. Handbuch Transformation. Der Titel macht das Vorhaben deutlich. Wir wollen den Versuch unternehmen, den Begriff Transformation in seiner Vieldeutigkeit aufzunehmen und seine unterschiedlichen Facetten aufzuzeigen, ihn zu systematisieren und somit mehr Klarheit und Verständnis in dessen Gebrauch zu bekommen. Im Untertitel des Buches haben wir die doppelte Dynamik, die wir in der Einleitung beschrieben haben, versucht auszudrücken. Wir sind den gesellschaftlichen Transformationen nicht hilflos ausgeliefert, sondern wir können den Wandel auf unterschiedlichen Ebenen mitgestalten. Für diese Gestaltung braucht es aber Zielrichtungen und Grundwerte für Mensch und Natur. Viele unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen beschäftigen sich mit Transformation als Zielrichtung, fast immer arbeitet man hier interdisziplinär; diesen Perspektiven widmen wir den ersten Teil des Handbuchs. Im zweiten Teil folgt dann eine Reflexion über Transformation als Ziel aus vielfältigen theologischen Perspektiven. Im dritten Teil schließlich werden die Auswirkungen der großen gesellschaftlichen Transformationen unserer Gegenwart analysiert. Alle drei Teile und die jeweiligen Einzelbeiträge werden von uns zu Beginn inhaltlich eingeleitet. Uns ist bewusst, dass wir mit diesem Handbuch den Begriff der Transformation nicht vollständig ausleuchten können, wir sind aber überzeugt, dass das vorliegende Handbuch einen guten Über- und Einblick in den heterogenen Gebrauch dieses Begriffes gibt. Dass dies gelungen ist, ist vor allem das Verdienst der Autor:innen, die an diesem Handbuch mitgewirkt haben und denen wir sehr dankbar sind. Einige davon sind als Lehrende Teil des Masters Transformationsstudien: Öffentliche Theologie und Soziale Arbeit an der CVJM-Hochschule.
Dabei bildet dieses Handbuch den Auftakt einer längeren und größeren Auseinandersetzung, denn es ist der erste Band der IST – »Interdisziplinäre Studien zur Transformation«, die sich in den nächsten Jahren den großen Themen unserer Zeit aus explizit transformatorischer Sicht zuwenden will. Parallel zu diesem Band erscheint schon Band 2: »Eine Transformatorische Ethik. Wege zum Leben« und es werden weitere Bände folgen. Wir freuen uns, dass wir dazu ein tolles Herausgeber:innenteam haben.
Wir sind sehr dankbar, dass wir im Neukirchener Verlag einen engagierten Partner für diese für uns wichtige Reihe gewonnen haben, und danken besonders Herrn Siepermann und Frau Atkinson für das große Vertrauen, eine so lange Wegstrecke mit uns zu gehen.
Sodann möchten wir vielen Menschen danken, die uns in der Entstehung dieses Bandes begleitet haben, besonders unserer Hilfskraft Ronja Dietrich, aber auch der CVJM-Hochschule und unserem tollen Kolleg:innenteam, mit dem wir im Master unterwegs sein dürfen.
Herbst 2020, Tobias Faix und Tobias Künkler
1 Sommer, Bernd; Welzer, Harald (2014): Transformationsdesign. Wege in eine zukunftsfähige Moderne. Oekom Verlag, S. 12.
Teil 1
Transformation als Ziel. Interdisziplinäre Perspektiven
Einführung
Tobias Künkler und Tobias Faix
Eines der wesentlichen Unterscheidungsmerkmale von Tieren und Menschen ist die massive Anpassungsfähigkeit von Menschen und ihre grundlegende Offenheit für Lernprozesse und ganz unterschiedliche kulturelle Umwelten. So kommt es, dass Menschen in Bottrop, der Savanne und am Südpol leben, Pinguine aber nur am Südpol. Letztere sind angewiesen auf eine spezifische Umwelt; Menschen können sich an unterschiedliche Umwelten anpassen, indem sie ihre eigene Kultur erschaffen. Die erste Große Transformation in diesem Prozess war die neolithische Revolution vor rund 10.000 Jahren in der Jungsteinzeit. Menschen begannen, mittels Ackerbau und Viehzucht sesshaft zu werden. Erst die historisch noch recht junge Industrialisierung kann als zweite Große Transformation betrachtet werden. »Befeuert durch die Erschließung und Nutzung über Jahrmillionen in der Erdkruste aufgebauter fossiler Energieträger, entfaltete die Menschheit ab Beginn des 19. Jahrhunderts eine nie dagewesene Produktivität. Sie ermöglichte eine gewaltige Explosion der Weltbevölkerung und einen Wohlstand für mehrere Milliarden Menschen auf dem Planeten Erde, der in vorangegangenen Menschheitsepochen nur kleinen Eliten überhaupt möglich war.«1
Der Preis für diese Erfolgsgeschichte ist die Überschreitung oder drohende Überschreitung planetarer Grenzen. Aus diesem Grund verkündete 2016 eine internationale Gruppe von Wissenschaftler:innen, dass wir im Erdzeitalter des Anthropozän leben. Seit Beginn der zweiten Großen Transformation sind die Eingriffe der Menschheit in biologische, geologische und atmosphärische Prozesse so massiv, dass deren Folgen den gesamten Globus für den Zeitraum eines ganzen Erdzeitalters (100.000–300.000 Jahre) prägen werden.
Mit dem Zeitalter der Menschen ist eine Weltrisikogesellschaft entstanden. Menschen beherrschen und kontrollieren die Natur einerseits immer stärker, andererseits verlieren sie immer mehr die Kontrolle, da fortlaufend nichtintendierte Nebenfolgen mit gravierenden Konsequenzen produziert werden. In einem Artikel der Wochenzeitung »Die Zeit« stand 2018, also lange vor der Covid-19-Pandemie, folgende Aussage: »Noch in den Siebzigerjahren galt: Verheerende Infektionskrankheiten würden bald besiegt sein. […] Doch der Optimismus verpuffte. Heute, 40 Jahre später, ist nichts mehr von ihm geblieben. Im Gegenteil: Forscherinnen und Forscher warnen vor einem Zeitalter der Epidemien, vor großen Seuchen, an deren Folgen Tausende Menschen sterben könnten.«2 Woher kamen diese Warnungen? Zum einen lagen Daten vor, die zeigten, dass Infektionskrankheiten an Häufigkeit und Dynamik ihrer globalen Verbreitung zunahmen. Nur die Spitze dieses Eisberges ist, dass die WHO 2009, 2014 und 2016 wegen Schweinegrippe, Ebola und Zika den internationalen Gesundheitsnotstand ausrief. Zum anderen ergeben sich aus den Daten immer mehr Hinweise, dass das Zeitalter der Menschen auch das Zeitalter der Epidemien werden könnte. Deutlich wird das beispielsweise an den Ergebnissen einer aktuellen Studie, die zeigt, dass seit 1990 60 bis 70 Prozent aller neuartigen Krankheiten bei Menschen durch eine Übertragung durch Wildtiere erfolgte. Im gleichen Zeitraum vernichteten Menschen Regenwald in der Größe von ungefähr siebenmal der Fläche von Großbritannien.3 Die Covid-19-Pandemie ist natürlich nicht unmittelbar und direkt vom Menschen gemacht, jedoch ist sie auch nicht bloßes Schicksal. Wie es der obige schon zitierte Artikel auf den Punkt bringt: »Weil die Massentierhaltung zunimmt, der Planet sich aufheizt, Menschen in Städte drängen und rasch um die Welt reisen können – alles charakteristisch für das Menschenzeitalter –, haben es gefährliche Krankheitserreger heute so leicht wie nie, für eine Katastrophe zu sorgen.« Bei all dem ist zu bedenken, dass die Covid-19-Pandemie mit einem anderen Erreger noch viel dramatischer hätte ausfallen können. Während die Sterblichkeitsrate, die sogenannte Letalität, bei Covid-19 nach bisherigen Berechnungen unter 1 Prozent liegt, lag die Letalität des MERS-Virus, das 2012 in Saudi-Arabien und 2015 in Südkorea ausbrach und das glücklicherweise frühzeitig eingedämmt werden konnte, bei 30 Prozent. Bis heute gibt es trotz intensiver Forschungen keinen wirksamen Impfstoff gegen MERS.
Dies alles sind erste, noch relativ harmlose, Folgen der Weltrisikogesellschaft, die die planetaren Grenzen nicht einhält. Der berühmte Bericht »Grenzen des Wachstums«, den der Club of Rome 1972 veröffentlichte, vermittelte erstmals ein Bewusstsein, dass die Erde und ihre natürlichen Rohstoffe begrenzt sind und auch Wachstum daher begrenzt sein muss.4 Mittlerweile ist deutlich geworden, dass nicht die Knappheit der Rohstoffe das zentrale Problem ist. Wissenschaftler:innen gehen von neun planetaren Grenzen aus, von denen wir drei bereits überschritten haben (der Verlust an Biodiversität, die globalen Nitrateinträge in Ökosysteme und am bekanntesten das Klimasystem durch den Treibhauseffekt). Betrachten wir nur die bekannteste planetare Grenze des Klimasystems. Aus dieser Perspektive heraus hat die Menschheit mehr Rohstoffe zur Verfügung, als gut für sie ist. Man schätzt, dass in allen vorhandenen fossilen Rohstoffreserven, also Öl, Kohle und Gas, noch ca. 10.000 Gigatonnen gebundener Kohlenstoff enthalten sind. Um die durch die Überschreitung der Grenze schon in Gang gesetzte globale Erwärmung nicht um mehr als 2 Grad zu überschreiten, dürfen nur noch 800 Gigatonnen des gebundenen Kohlenstoffs als CO2 in die Atmosphäre gelangen. Dort existiert aktuell 1/3 mehr Kohlenstoff als in den letzten 800.000 Jahren zuvor, erst in den letzten drei Jahrzehnten ist mehr als die Hälfte davon hinzugekommen. Das ist ungefähr der Zeitraum, seit der die Menschheit dieses Problem erkannt hat.
Bei der Frage nach den Folgen des Klimawandels liegt der Fokus oft nur auf dem Anstieg des Meeresspiegels. Unterschätzt werden exponentielle Dynamiken, wechselseitige Aufschaukelungsprozesse (auch Teufelskreise genannt) und langfristige Folgen. Ob sich die Erde um 2, 3 oder 4 Grad erwärmen wird, klingt zunächst vielleicht nicht nach gravierenden Unterschieden, hat nach den wissenschaftlichen Prognosen aber massiv unterschiedliche Auswirkungen. Nehmen wir nur das Beispiel der Hitze. Seit 1980 hat die Anzahl der gefährlichen Hitzewellen global um das 50-Fache zugenommen, Tendenz steigend. Die fünf wärmsten Sommer seit dem 15. Jahrhundert in Europa wurden alle nach dem Jahr 2002 gemessen. Kommt es zum gegenwärtigen Best-Case-Szenario einer 2-Grad-Erwärmung, werden »nur« die Großstädte um den Äquator unbewohnbar, »nur« 400 Millionen Menschen leiden unter Wassermangel, und in unseren nördlichen Breitegraden würden die Sommermonate »nur« Tausende von Menschen das Leben kosten, ähnlich wie in gegenwärtigen Extremsommern. Bei einer 3-Grad-Erwärmung wäre der Kipppunkt für das komplette Schmelzen der Pole erreicht. Mehr als 100 Städte auf der ganzen Welt würden unter Wasser stehen, Südeuropa würde dauerhaft verdorren, die durchschnittliche Trockenzeit in Nordafrika würde fünf Jahre andauern und in den USA würde sechsmal so viel Fläche durch Waldbrände zerstört. Bei einer 4-Grad-Erwärmung, auf die wir bis Ende des Jahrhunderts mit dem aktuellen Trend zusteuern, würden große Teile der Erde (z. B. ganz Asien südlich von Sibirien) durch Hitze, Verwüstungen und Überschwemmungen quasi unbewohnbar gemacht. Selbstverständlich beruht all das auf wissenschaftlichen Prognosen, die immer auch einen Fehlerspielraum haben. Seit Beginn der Klimafolgenforschung hat sich jedoch gezeigt, dass die Folgen meist eher unterschätzt wurden und die Folgen heute schon spürbarer sind als in den Szenarien gedacht. Wesentlich sind dafür wohl die exponentiellen Dynamiken und Aufschaukelungsprozesse verantwortlich. Nur ein Beispiel: Je stärker das Eis an den Polen schmilzt, desto weniger Sonnenlicht kann reflektiert und absorbiert werden, desto schneller erwärmt sich die Erde, desto weniger können die Meere CO2 aus der Luft aufnehmen, desto schneller erwärmt sich die Erde, desto schneller taut der Permafrostboden in der Arktis auf, der allein ca. 18.000 Tonnen Kohlenstoff bindet. Dies ist mehr als doppelt so viel, wie sich momentan in der gesamten Erdatmosphäre befindet.
Neben der Hitze sind aber auch Hunger, Ertrinken, Flächenbrände, Süßwassermangel, sterbende Meere, verpestete Luft, Seuchen, zusammenbrechende Wirtschaftssysteme, Klimaflüchtlinge und Klimakonflikte weitere Auswirkungen des Klimawandels. Mit anderen Worten: »Die desaströsen Auswirkungen, die wir heute überall um uns herum erleben, sind immer noch besser als das Best-Case-Szenario.«5 Genau deswegen leben wir in einem Kairos, der eine dritte Große Transformation nötig macht. »Und wenn unser Planet innerhalb der Lebensspanne einer Generation bis an den Rand einer Klimakatastrophe gebracht wurde, bedeutet das, dass die Verantwortung dafür, das abzuwenden, ebenfalls einer einzigen Generation zufällt. Wir wissen auch, wem – uns.«6 Genau aus diesem Grund ist Transformation unvermeidlich, sie wird entweder aktiv gestaltet hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft, oder wir werden durch Desaster und Katastrophen zur Transformation gezwungen.
Mit der Großen Transformation ist die zentrale Zielperspektive von Transformation, wie sie gegenwärtig gesellschaftlich debattiert wird, umschrieben. Wie in der Einleitung angedeutet, gibt es aus anderen Perspektiven auch weitere Verständnisse von Transformation als einem Ziel gesellschaftlicher Entwicklung, zumeist umfassen diese aber auch das, was unter der Großen Transformation verstanden wird. Um Transformation als Ziel aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven geht es in diesem Teil des Buches. Einzelne Beiträge beziehen sich zwar stellenweise auch auf theologische Inhalte, grosso modo sind sie aber aus human- oder sozialwissenschaftlicher Perspektive verfasst, die nicht theologisch ist. Die dezidiert theologischen Beiträge zu Transformation als Ziel sind im zweiten Teil des Buches versammelt.
Dieser Abschnitt des Buches beginnt mit dem Aufsatz von Jürgen Harder mit dem Titel »Transformation und ökologisches Handeln«. Wie der Titel deutlich macht, geht es auch Harder um eine Große Transformation. Hierzu betrachtet er das Konzept der Nachhaltigkeit sowie den Begriff der Ökologie genauer und macht am Beispiel von Kipppunkten im ökologischen System die Notwendigkeit einer weltweiten Transformation deutlich. Auch zeigt er, dass und wie der Begriff der Transformation auch eine theologisch-spirituelle Dimension hat und welche Folgen sich daraus für ökologisches Handeln ergeben.
In seinem Beitrag »Die Rolle der Zivilgesellschaft im 21. Jahrhundert. Taktgeber der Großen Transformation« versteht Uwe Schneidewind die Große Transformation als ein im Kern kulturell-moralisches Projekt bzw. eine kulturell-moralische Revolution. Eine besondere Rolle in diesem Prozess kommen aus seiner Sicht zivilgesellschaftlichen Akteur:innengruppen zu, also Umweltverbänden, Kirchen, Gewerkschaften, Entwicklungs- und Menschenrechtsorganisationen sowie weiteren sozialen Bewegungen von unten. Zivilgesellschaftliche Akteur:innen, so Schneidewind, sind Mahner:innen, Mittler:innen und Motor für die Entwicklung einer nachhaltigen Gesellschaft. Sie bringen die Große Transformation nicht nur faktisch voran, sondern begründen mit ihrem Engagement allererst die moralische Grundlage dieses zivilisatorischen Wandels.
Einen Beitrag zur Großen Transformation können auch soziale Innovationen liefern. In ihrem Artikel »Soziale Innovationen und Transformation. Zur Relevanz zweier sozialwissenschaftlicher Konzepte für soziales, kirchliches und diakonisches Handeln« liefern Germo Zimmermann und Annett Adler eine Verhältnisbestimmung. Wie verhalten sich die Transformation und soziale Innovation zueinander? Sie argumentieren dabei aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive und konkretisieren ihre Erkenntnisse, indem sie Konsequenzen für die Gestaltung sozialer Innovationen im kirchlich-diakonischen und sozialen Kontext ziehen. Dies geschieht, indem sie neun Elemente sozialer Innovation vorstellen und am Beispiel der Plattform »Wheelmap« durchspielen. So liefern sie einen Orientierungsrahmen, der die Relevanz sozialer Innovationen für Kirche und Diakonie im 21. Jahrhundert aufzeigt.
»Transformation und Soziale Arbeit am Beispiel der Tradition der Gemeinwesenarbeit« lautet der Beitrag von Tobias Künkler, der ein zentrales Überschneidungsfeld von Sozialer Arbeit als Profession und der Mission der Kirche nachzeichnet. Indem er der Tradition der Gemeinwesenarbeit entlang von Geschichte, Merkmalen und Prinzipien nachgeht und auch einen Blick auf kirchliche Gemeinwesenarbeit und Gemeinwesendiakonie richtet, zeigt er auf, dass Transformation ein zentraler Zielaspekt Sozialer Arbeit ist, auch wenn dieser immer wieder in Gefahr steht, aus dem Blick zu geraten. Insbesondere wo es der Sozialen Arbeit gelingt, den kritisch-emanzipatorisch-politischen Gehalt der Gemeinwesenarbeit auch in neueren Ansätzen wiederzugewinnen, kann Soziale Arbeit eine transformative Soziale Arbeit sein.
Auf eine Untersuchung des Transformationsbegriffs des brasilianischen Pädagogen und Aktivisten Paulo Freire zielt der Beitrag »Das transformative Moment der Praxis: Paulo Freires Wegweiser für Radikale« von Ulli Vilsmaier und Danilo Streck. Da Freires Transformationsverständnis zentral von der situativen und kontextuellen Verortung des Menschen ausgeht, erarbeiten sie dieses auch an der Spezifik der Praxis, des Werkes und Wirkens von Paulo Freire, das in einem konkreten historischen und kulturellen Kontext stattfand. Genau damit aber legen sie das auch noch für heutige Praxis gültige Potenzial des Transformationsbegriffs nach Paulo Freire frei, das für alle die von großer Relevanz ist, die diese aktiv gestalten wollen. Sichtbar wird somit ein Verständnis von Transformation, das den Menschen als ein transzendierendes Wesen versteht, das auf Befreiung, Freiheit und Hoffnung hin angelegt ist.
Wer Transformation anvisiert, muss mit Konflikten rechnen. Marcus Weiand sieht in seinem Beitrag »Konflikttransformation« darin aber nicht nur eine Problematik. Das Konzept der Konflikttransformation, das er vorstellt, sieht selbst in festgefahrenen Konflikten ein Transformationspotenzial. Damit ist weder ein einfacher Weg noch ein magisches Rezept beschrieben. Vielmehr stellt Weiand zentrale »Wendepunkte« für den Weg der Konflikttransformation dar und erarbeitet, inwiefern Konflikttransformation sowohl auf die Veränderung persönlicher Haltungen und eigener Werte als auch der Situation, in der der Konflikt stattfindet, zielt.
Nach Raban Daniel Fuhrmann sollten wir »Transformation gestalten durch Demokratieentwicklung«. Dazu trägt er mit einer prozeduralen Perspektive bei, die den Fokus auf das Wie, die Prozeduren und Vorgehensweisen, legt, mit denen man diesen Prozess in Gang setzen kann. Auch eine sozial-ökologische Transformation ist für den Autor letztlich keine Frage des Willens, sondern des Könnens. Wie wir besser Demokratie können, ist von einer modernen Demokratiepolitik zu lernen. Am Beispiel des Auftrages einer aktuellen Enquete-Kommission des Landtags von Nordrhein-Westfalen beschreibt Fuhrmann die Implikationen zweier zentraler Arbeitsfelder einer solchen modernen Demokratiepolitik, die Demokratie als lernendes System begreift.
Ein in vielen Institutionen, besonders in Kirchgemeinden, vielfach propagierter Anspruch ist: »Bei uns ist jeder willkommen!«. Bei näherem Hinsehen gibt es jedoch häufig eine Kluft zwischen Wort und Tat. Hiermit sind wir bei der Frage der Inklusion, der Marcel Redling in seinem Aufsatz »Transformation und Inklusion. Inklusive Kirchen als gesellschaftlich-transformatorische Kraft« nachgeht. Redling zeigt am Beispiel der Kirche, wie sich Institutionen verändern müssen, wenn sie wirklich inklusiv werden wollen. Deutlich wird dabei, welche Bedingungen und Voraussetzungen für einen solchen transformativen Prozess vorliegen müssen. Wo eine solche Transformation gelingt und Menschen mit Behinderungen selbstverständlicher Teil der kirchlichen Gemeinschaft sind, kann Kirche stimmig gesellschaftsgestaltende Kraft sein und ihrerseits transformativ in ihren Kontext wirken.
1 Schneidewind, Uwe; Wuppertal Institut (2018): Die Große Transformation. Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels. Fischer-Verlag, S. 133.
2 Simmank, Jakob (2018): »Willkommen im Zeitalter der Epidemien«, in: Zeit online, 6.09.2018. Abgerufen von https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2018-08/krankheitserreger-epidemien-kongo-ebola-anfaelligkeit-anthropozaen-ausbruch. Abgerufen am 17.10.2020.. Abgerufen am 17.10.2020.
3 Carrington, Damian (2020): „Pandemics result from destruction of nature, say UN and WHO«, in: The Guardian, 17.06.2020. Abgerufen von https://www.theguardian.com/world/2020/jun/17/pandemics-destruction-nature-un-who-legislation-trade-green-recovery?fbclid=IwAR3TYorufle6lYILo8IDlcV3EWJnt52jzHLgB4_RsTDFvSlwgR6DRM5hc_4. Abgerufen am 17.10.2020. . Abgerufen am 17.10.2020.
4 Meadows, Dennis; Club of Rome (Hrsg.) (1972): Die Grenzen des Wachstums: Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. Deutsche Verlagsanstalt.
5 Wallace-Wells (2019): Die unbewohnbare Erde. Leben nach der Erderwärmung. Ludwig Erhard Verlag, S. 31.
6 Ebd., S. 15.