Das Buch
In seinem gefeierten Buch Die kürzeste Geschichte Deutschlands erzählt James Hawes auf knappen 330 Seiten die Geschichte unserer Nation und verfolgt die Wurzeln der heutigen Debatten zwischen Ost und West bis zu den römischen Besatzern zurück. In der Kürzesten Geschichte Englands verfolgt er nun den gleichen Ansatz für sein Heimatland: Auf einem atemberaubenden Parforceritt von Caesar zum Brexit über Eroberung, Empire und Weltkrieg entdeckt James Hawes ein England, das sich von unseren Klischees und Vorurteilen gewaltig unterscheidet: Die stabile Inselfestung, hartnäckig unabhängig, der Begründer von Parlamenten und weltumspannenden Imperien, ist durch eine uralte Verwerfung zerrissen, die sogar den Römern vorausging. In den letzten 1000 Jahren beherbergte die Insel ein Klassensystem wie nirgendwo sonst auf der Erde. Es gab noch nie eine bessere Zeit, um zu verstehen, warum dieses Land so ist, wie es ist. Und es gibt niemanden, der uns England besser erklären kann als James Hawes.
Der Autor
JAMES HAWES, geboren 1960 in der englischen Grafschaft Wiltshire, ist passionierter Schriftsteller und Universitätsdozent für kreatives Schreiben in Oxford. Der promovierte Germanist verfasste zahlreiche Romane und Drehbücher, auf Deutsch liegen von ihm vor Ein weißer Mercedes mit Heckflossen und Ranziges Aluminium. Bei Propyläen erschien der Bestseller Die kürzeste Geschichte Deutschlands.
JAMES HAWES
DIE
kürzeste
GESCHICHTE
ENGLANDS
Aus dem Englischen
von Stephan Pauli
Ullstein
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ISBN 978-3-8437-2496-8
Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel
The Shortest History of England
bei Old Street Publishing LtD, London.
Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage Juni 2021
© für die deutsche Ausgabe:
Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021
© der englischen Originalausgabe: 2020 by James Hawes
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic, München
Karten: Peter Palm, Berlin
E-Book: LVD GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Meiner Mutter, Janet Hawes geborene Fry, die in Cricklewood den deutschen V1-Raketen aus dem Weg zu gehen wusste.
Die Engländer haben das Gefühl von sich als einer alten gemeinsamen Kultur verloren … In englischen Schulen wird Geschichte auf eine seltsam episodische Weise gelehrt – Römer, Tudors, Zweiter Weltkrieg … Die Engländer kennen ihr Land nicht einmal in geografischer Hinsicht. Im Süden interessieren sich die wenigsten dafür, was im Norden geschieht, und die meisten Nordengländer hätten so ihre Schwierigkeiten, auf einer Landkarte Guildford zu finden.
Louis de Bernières
Financial Times (29. Januar 2020)
VORWORT
Auf ihrem Schulweg im Londoner Stadtbezirk Cricklewood hörte meine Mutter 1944, wie über ihr das Triebwerk einer V1-Rakete aussetzte. Sie warf sich flach auf den Bürgersteig. Irgendeine Fehlreaktion im Nazi-Gyroskop entschied, dass zwar um sie herum Glas und Trümmer herabregneten, sie aber überlebte, um diese Geschichte erzählen zu können.
Meine Söhne haben sie von ihr gehört. Mit etwas Glück wird einer von ihnen im Jahr 2094 seinen Enkeln erzählen können, er wisse, wie es sich anfühlt, im London des Jahres 1944 einer V1 zu entkommen, weil seine Ururgroßmutter es ihm erzählt habe.
Eineinhalb Jahrhunderte im Spiegel einer Familiengeschichte. Versuchen Sie es einmal mit ihrer eigenen. Sieben lange Generationenfolgen wie diese – ein kurzer Abschnitt auf der Strecke in die Ewigkeit, auf der Alt und Jung sich an den Händen halten –, und schon befinden wir uns mitten in der Schlacht von Hastings.
Ob wir sie hören wollen oder nicht, unsere Vergangenheit flüstert uns beständig etwas zu und macht uns zu denen, die wir sind. Und angesichts des Zustands, in dem England sich heute befindet, sollten wir durchaus etwas mehr über uns wissen. Wo also anfangen? Nun, wir wissen fast auf die Stunde genau, wann England der Archäologie entkam und in die Geschichte eintrat.
Im Morgengrauen des 27. August 55 v. Chr. – vor etwa fünfzehn langen Generationenfolgen – tauchte aus der Nacht bei Ebbsfleet in Kent eine Flotte auf, die niemand anderer als Julius Caesar anführte.
Erster Teil
Von Caesar bis
zum Eroberer
55 v. Chr. – 1087 n. Chr.
ENGLAND VOR DEN ENGLÄNDERN
Im Jahr 55 v. Chr. hatte man in Rom erst wenig von diesem geheimnisvollen Land jenseits von Europa gehört, das Menschen bewohnten, die die Griechen Pretaniki oder Bretaniki nannten. Es war vor allem als Quelle für Zinn, jenes lebenswichtige Metall, mit dem man aus Kupfer Messing oder Bronze gewinnen konnte, bekannt. Die phönizischen Kaufleute, die diesen lukrativen Handel dominierten, behielten ihre Geschäftsgeheimnisse jedoch für sich. Als Caesar nun aus dem soeben eroberten Gallien dort landete, wusste er zwar, dass die Briten mit den Galliern Handel trieben, dass dort Zinn gefunden werden konnte und der nächstgelegene Teil der Insel Kantion genannt wurde, doch das war es dann auch schon.
Obwohl Caesar von überallher Handelsleute zu sich rief, konnte er weder von ihnen erfahren, wie groß die Insel sei, noch, welche Völker sie bewohnten, noch, wie groß die Bevölkerungsdichte sei. Ebenso wenig erhielt er Auskunft über ihre Art, Krieg zu führen, oder über das Recht, nach dem sie lebten.
Julius Caesar, Der Gallische Krieg
Caesars Flotte überquerte den Ärmelkanal in einer einzigen Nacht, konnte dann jedoch keinen passenden Ankerplatz finden; seinem Landungsversuch bei Ebbsfleet wurde ein derart grimmiger Empfang bereitet, dass er nicht über den Strand hinauskam. Er versuchte es im folgenden Jahr erneut. Diesmal schaffte er es bis ins Tal der Themse, was ihm genügte, um zu verstehen, dass die Britannici alles andere als ein vereintes Volk waren.
Der Südosten ist bereits 54 v. Chr. anders: kanalübergreifende belgische Kultur zur Zeit Caesars.
Im Landesinneren gab es eine alteingesessene Bevölkerung, während die Region an der Küste (gemeint ist die Südostküste) erst kürzlich von plündernden Stämmen aus Belgien besiedelt worden war. Tatsächlich hatte vor Kurzem erst ein belgischer Stammesführer eine Art Oberherrschaft über Britannien für sich beansprucht. Heutige Archäologen stimmen darin überein, dass es im Südosten zu dieser Zeit bereits die charakteristische Aylesford-Swarling- und die atrebatische Kultur gab, die beide mit der der belgischen Gallier eng verwandt waren.
Geologie, Geografie und Klima verbünden sich immerfort zugunsten des Südostens.
Caesar und seine Armee blieben nicht lange, doch die Elite Britanniens war gehörig beeindruckt. Etwa 30 Jahre später beschrieb der griechische Autor Strabo Britannien als quasirömischen Besitz, dessen Stammesführer ihre Opfer im Kapitol darboten. Im Jahr 43 n. Chr. entschied Kaiser Claudius, das Land sei nun endlich so weit, dass sich eine konsequente Besetzung samt Besteuerung lohne.
Claudius interessierte sich tatsächlich nur für jene Stämme, die so fortschrittlich waren, dass sie Münzen prägten und gebrauchten. Die Grenze ihrer Gebiete ist kein Zufall. Sie entspricht dem von Dorset an der Südküste bis zu den Cleveland Hills in Yorkshire verlaufenden Juragürtel, wo junger Sandstein, Lehm und Kalk auf ältere Tonsteine und magmatisches Gestein treffen.
Am Ende des 1. Jahrhunderts hatte sich der Südosten in eine friedliche und wohlhabende Kolonie verwandelt. Seine Bewohner, schrieb der Historiker Tacitus, waren offensichtlich mit den Galliern verwandt. Jenseits dieses Gebiets, im Norden, waren die Menschen eindeutig germanischen Ursprungs, während jene im Westen eher den Iberern glichen. Nun fiel den Römern ein – wie später fast allen Herrschern über den Südosten –, dass sie, nachdem sie bereits den reichsten Teil der Insel kontrollierten, ja auch über diese anderen Völker herrschen könnten.
Sie scheiterten. Die Menschen im heutigen Schottland wehrten sich so erfolgreich, dass die Römer sich hinter Verteidigungswälle zurückziehen mussten, die bis heute sichtbar sind. Das Gebiet des heutigen Wales und der Norden Englands wurden nur mit Gewalt beherrscht und besteuert. Die römische Zivilisation in Britannia beschränkte sich im Grunde genommen auf das heutige Südostengland. Die anderen tatsächlich romanisierten Gebiete lagen entlang der großen Straßen, die in die nördliche Bastion York führten und die wichtigen Legionslager bei Caerleon und Chester verbanden (der Verlauf dieser Straße entspricht im Wesentlichen immer noch der Westgrenze Englands zu Wales). Die Römer haben den Südosten Britannias also nicht nur bereits unterschiedlich vom Rest der Insel vorgefunden, sie haben ihn noch weitaus unterschiedlicher gemacht.
Die latinisierten Briten lebten vor allem in den fruchtbaren Ebenen des Südostens, in einem friedlichen und gesitteten Land, in dem der Anblick einer marschierenden Kohorte eine Seltenheit war, römische Städte und Villen zahlreich waren und die römische Zivilisation eine große Anziehungskraft ausübte.
George Macaulay Trevelyan
Der Kanal schnitt Britannia nicht vom Rest des Römischen Reichs ab, er war vielmehr die entscheidende Verbindung. Britannien lag in Sichtweite Galliens (Tacitus), war vom gegenüberliegenden Land nur durch eine schmale Stelle der hin- und herwogenden See getrennt (Ammianus), die in etwa acht Stunden (Strabo) überquert werden konnte. Als im Jahr 359 im Rheinland eine Hungersnot ausbrach, versuchte der künftige Kaiser Julian gar nicht erst, aus dem benachbarten Gallien Getreide einzuführen. Stattdessen ließ er 800 Schiffe bauen und schickte sie nach Britannia – und weil dieses um der Kürze der Fahrt willen öfter geschah, so war der Vorrat … nicht nur hinreichend (Zosimus).
Gegen Ende des 3. Jahrhunderts wurde dieser Seeweg von einem Volk bedroht, dessen Nachfahren sich eines Tages Engländer nennen sollten.
AUFTRITT DER SACHSEN
Münze von Carausius.
Im Jahr 286, schreibt Eutropius, machten Franci et Saxones den Ärmelkanal unsicher. Dies ist die erste schriftliche Erwähnung der Sachsen. Rom beauftragte den erfolgsverwöhnten General Marcus Aurelius Carausius, sich um diese zu kümmern. Doch Carausius erklärte sich kurz darauf zum Kaiser und errichtete mithilfe ebenjener Franken und Sachsen, die er eigentlich unterwerfen sollte, ein kurzlebiges, den Kanal umspannendes Reich. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die römischen Wehranlagen, die bis heute entlang der englischen Südostküste stehen, aus dieser Zeit stammen.
Im Jahr 367 waren die Sachsen mit den Pikten, Skoten und Franken Teil der großen barbarischen Verschwörung, die das gesamte römische Britannien zu zerstören drohte. Die kaiserliche Herrschaft wurde für kurze Zeit wiederhergestellt, doch verließen die römischen Armeen 383/84 Britannia, um germanische Stämme an der Rheingrenze des Römischen Reichs zu bekämpfen. Der letzte große General Roms, Stilicho, brachte die Legionen 399 wieder zurück auf die Insel und sorgte somit für eine gewisse Ordnung.
Urkundliche Belege aus dieser Zeit sind sehr dürftig, doch besitzen wir ein faszinierendes Schriftstück: die Notitia Dignitatum, eine Liste der militärischen und zivilen Dienststellen des Imperiums. Eine dieser Dienststellen ist die befestigte Küste des südöstlichen Britanniens unter Kontrolle des Comes Litoris Saxonici – des Grafen der sächsischen Küste. Dies ist die einzige Erwähnung einer sächsischen Küste. Niemand weiß genau, was damit gemeint war, da die Notitia nur in Form viel späterer Kopien und in degeneriertem Latein existiert. Da jedoch alle anderen Dienststellen in der Notitia nach der dort ansässigen Bevölkerung und nicht nach möglichen Feinden benannt sind, ist anzunehmen, dass die Kanalküste tatsächlich bereits um 400 von sächsischen Hilfstruppen, die Rom dienten, und ihren Familien besiedelt wurde. Archäologische Funde stützen diese Vermutung.
Diese frühe Präsenz mag erklären, warum die anderen Stämme Britanniens alle Engländer Sachsen (Sassenach, Saesneg) nannten – und immer noch nennen –, obwohl auf die Sachsen schon bald weitere Stämme folgten. Doch wie sonst sollte man sie nennen? Die Bezeichnung Angelsachsen wurde erst gut 450 Jahre später (unter Alfred dem Großen) geprägt, und erst im frühen 10. Jahrhundert fing man an, von Englalonde zu sprechen. Die Stämme, die sich eines Tages Engländer nennen werden, wäre wohl eine zutreffendere Bezeichnung, der Ausdruck ist aber eher sperrig. Deshalb werden wir einfach die Engländer als Abkürzung für alle germanischen Siedler verwenden, auch wenn es unhistorisch ist. Auf jeden Fall kommt es vor allem darauf an, warum sie gekommen sind.
Die erste bekannte dreidimensionale Figur Englands aus Spong in East Anglia. Archäologen zweifeln nicht daran, dass sie germanischen Ursprungs ist; sie stammt von einem Friedhof, dessen »früheste Begräbnisse auf die Jahre 400–420 zurückgehen«.
EINMARSCH ODER EINLADUNG?
Die römischen Legionen verließen Britannien im Jahr 407 endgültig, um in andauernden Bürgerkriegen zu kämpfen. Die Südbriten wurden zwar immer noch besteuert, aber nicht länger beschützt, und fühlten sich deshalb genötigt, von dem Römischen Reiche abzufallen, nach ihrer Weise zu leben und den Gesetzen Roms nicht mehr zu gehorchen (Zosimus). Unsere einzige echte Quelle für das, was als Nächstes geschah, ist Der Untergang Britanniens des römisch-britischen Mönchs Gildas (um 540 verfasst). Er beschreibt auf Latein, wie sein Volk den plötzlichen Bruch mit dem Imperium bedauert und Rom etwa um 450 in dem berühmten Stöhnen der Briten ein letztes Mal um Hilfe bittet:
Die Barbaren treiben uns ins Meer, das Meer treibt uns in die Hände der Barbaren, zwischen diesen beiden Übeln werden wir entweder niedergemetzelt, oder wir ertrinken.
Doch diese Barbaren waren keine Sachsen. Gildas erwähnt in diesen Jahren überhaupt keine germanischen Stämme. Die Todfeinde der britischen Zivilisation waren zwei fremde Nationen, die Skoten aus dem Nordwesten [d. i. Irland] und die Pikten aus dem Norden, die in Fellbooten ankamen.
443: In diesem Jahr wandten sich die Briten an Rom und baten um Unterstützung gegen die Pikten, doch erhielten sie keine, da Rom gegen Attila, den König der Hunnen, kämpfte, und so wandten sie sich an die Engländer und die noblen Verwandten der Engländer.
Angelsächsische Chronik* [Hervorhebung durch den Autor]
* Die Angelsächsische Chronik, im Folgenden einfach die Chronik, besteht genau genommen aus verschiedenen Chroniken, die (wie die meisten Wissenschaftler bestätigen) während der Herrschaft Alfreds des Großen als der Versuch begonnen wurden, alle existierende Geschichte zusammenzubringen. Es ist unmöglich herauszufinden, wie genau sie in Bezug auf Ereignisse ist, die 400 Jahre früher stattgefunden haben, doch wir haben keine anderen Quellen.
Die Engländer sind also nicht einmarschiert. Sie wurden aus Europa eingeladen, die römisch-britische Zivilisation vor einheimischen Barbaren zu schützen. Im Gegenzug bot man ihnen Land in der reichsten Region der Insel.
König Vortigern versprach ihnen Land im Südosten dieses Landes, sollten sie gegen die Pikten kämpfen. Dann kämpften sie gegen die Pikten und siegten, wohin sie auch kamen.
Chronik
Doch bald schon verließen die Engländer die ihnen versprochene Enklave. Das war nichts Besonderes. Im nachrömischen Westeuropa des 5. Jahrhunderts befanden sich germanische Krieger, die zuvor einen Großteil der römischen Armee gestellt hatten, auf Völkerwanderung. Und dennoch geschah im Südosten Britanniens etwas Einzigartiges.
DIE GRÜNDUNGS-BESONDERHEIT
Überall sonst in Europa kamen die germanischen Invasoren, sahen, siegten – und assimilierten sich. In England, und nur in England, ersetzten sie die Kultur, die sie vorfanden, vollständig. Dies ist Englands Gründungsbesonderheit. Sie erklärt, warum heutigen Engländern ihre unmittelbare Nachbarsprache, das Walisische, äußerst fremd erscheint, obwohl sie deutsche Flüche aus der Zeit um 850 bis auf den heutigen Tag einigermaßen verstehen können: hundes ars in tino naso, also Hundearsch in deiner Nase, oder hound’s arse in thine nose.
Warum also blieben die germanischen Einwanderer nur in England germanisch? Zum Teil, weil Britannien bereits in von ansässigen Kriegsherren, die Gildas Tyrannen nennt, beherrschte Landesteile zerfallen war. Alles, was die eindringenden Engländer vorfanden, waren Ruinen – und da sie nichts sahen, was sie hätten übernehmen können, hielten sie sich an ihre eigene Kultur. Das war für sie möglich aufgrund des anderen entscheidenden Unterschieds: des Meers.
Der Ärmelkanal beschützte Britannien nicht, er machte im Gegenteil seine vollständige Eroberung erst möglich. In anderen Teilen Europas waren die germanischen Eroberer rein männliche Kriegsbanden. Ein ganzer Stamm – Alte, stillende Mütter, kleine Kinder und so weiter – konnte eine lange Überlandreise durch feindliches Gebiet gar nicht überleben. Die Engländer jedoch konnten ganze Clans an einem oder in zwei Tagen an die sächsische Küste befördern und mit ihnen in gut ausgebauten, altbekannten römischen Häfen landen.
Als [die Nachricht ihres Sieges] und auch die Fruchtbarkeit der Insel und die Trägheit der Briten zu Hause berichtet wurde[n] … [kamen] Scharen der erwähnten Stämme auf die Insel.
Beda, Historia Ecclesiastica Gentis Anglorum (ca. 731)
Überall sonst gingen alleinstehende männliche germanische Krieger Mischehen mit ortsansässigen Frauen ein, weshalb die lateinischen Sprachen – und das Christentum – überlebten. Die Engländer kamen mit ihren eigenen Frauen und blieben deshalb englische Heiden.
DER SELTSAME FALL DER VERSCHWINDENDEN SPRACHE
Die englische Eroberung war so vollständig, dass von der römisch-britischen Sprache im heutigen England außer traumartigen Fragmenten wie yan-tan-tetherea (eins-zwei-drei auf Keltisch) für nordenglisches Schafezählen oder hickory-dickory-dock (acht-neun-zehn) im Kinderlied nicht viel überlebt hat.
Die Viktorianer, denen eine rücksichtslose, rassistische Kolonialpolitik nicht fremd war, ließen keinen Zweifel daran, was dies bedeutete:
Diejenigen, die gegen unsere Vorfahren kämpften, wurden getötet, und jene, die sich unterwarfen, wurden zu Sklaven gemacht … Nun sagst du vielleicht, unsere Vorfahren waren grausame und böse Menschen … Doch am Ende ist alles viel besser geworden.
Edward Freeman, Old English History for Children (1869)
Andererseits hat die moderne Wissenschaft herausgefunden, dass die meisten heutigen Engländer in ihrem Erbgut vor allem Gene der römisch-britischen Bevölkerung aufweisen.
Die Mehrheit in Ost-, Zentral- und Südengland wird von einer einzigen, relativ homogenen genetischen Gruppe [d. i. die römisch-britische] gebildet, mit erheblichen DNA-Anteilen der angelsächsischen Migranten (10–40 Prozent der gesamten Abstammung). Dies beendet einen historischen Streit, weil gezeigt wurde, dass die Angelsachsen, statt die existierende Bevölkerung zu verdrängen, Mischehen mit ihr eingegangen sind.
»The Fine-Scale Genetic Structure of the British Population«, Nature (2015)
Die Romano-Briten in England überlebten demnach, übernahmen allerdings, wie später die große Mehrheit der Waliser, Schotten und Iren, eine andere Sprache.
DAS WESSEX-ABKOMMEN
Gildas erzählt vom erfolgreichen Widerstand der Einheimischen, den der Romano-Brite Ambrosius Aurelianus, den spätere Autoren als König Artus zu identifizieren versuchten, anführte. Wie dem auch sei, lassen Archäologie und der gesunde Menschenverstand darauf schließen, dass die Engländer, als sie aus dem Südosten anrückten, auf ernst zu nehmenden Widerstand stießen. Schließlich haben jene Briten, die die frühen Engländer Waelisce oder Waehla nannten (nach einem germanischen Wort, das Romanisierte bedeutet und auch in Wallonien und Wallachei enthalten ist), bis heute ihre Sprache und Gebräuche als Waliser im äußersten Westen der Insel beibehalten.
Es ist offensichtlich, dass die Romano-Briten in Wessex genügend Widerstand geleistet haben, um auf höchster Ebene echte Abkommen mit den Engländern abzuschließen. Mehrere Namen der königlichen Genealogie in Wessex klingen eindeutig keltisch: Cerdic, Caedwall, Cenwahl, Caelin. Der erste große englische Historiker, der ehrwürdige Beda (gest. 735), berichtet, dass Caelin (der seinen Stamm 577 bei Dryham in der Nähe von Bath zu einem großen Sieg, wahrscheinlich über gälische Kriegsherren, geführt hat) in der Sprache seines eigenen Stamms – womöglich sind die einheimischen Waelisce gemeint – als Ceaulin bekannt war. Interessanterweise überlebten die Gesetze des Königs Ine von Wessex (Ende des 7. Jahrhunderts), was zeigt, dass er über zwei Kulturen herrschte: Die Walisce waren im Allgemeinen Bürger zweiter Klasse, doch schützte auch sie weiterhin das Gesetz, und einige von ihnen waren sogar Großgrundbesitzer, die noch über den landbesitzenden englischen Freileuten standen (nur 5–10 Prozent der Engländer besaßen überhaupt Land).
Kenneth Hurlstone Jacksons Karte der Flussnamen.
Gebiet 1 wurde um 500 erobert und vollständig anglisiert. Gebiet 2 wurde um 600 erobert; hier tragen viele Flüsse weiter keltische Namen, was auf eine dauerhafte Präsenz schließen lässt. Die Eroberung von Gebiet 3 war vor 700 nicht abgeschlossen; selbst kleine Flüsse tragen noch vorenglische Namen, was darauf hindeutet, dass sich die Bevölkerung nur wenig veränderte. Gebiet 4 widerstand bis in die Neuzeit (Cornwall) oder bis heute (Wales).
Am erstaunlichsten war jedoch, dass Ine die Dienste der Kyninges Horswealh, also der Walisischen Reiterei des Königs, in Anspruch nahm. An der Kirche Lady St. Mary in Wareham ist der Nachweis für das Überleben wohlhabender Romano-Briten in Stein gemeißelt: fünf Denkmäler, original beschriftet mit eindeutig keltischen Zeichen, die ganze 350 Jahre nach Beginn der englischen Eroberungszüge entstanden. Die Romano-Briten aus dem britischen Tiefland wurden also weder getötet noch vertrieben.
Stattdessen nahmen sie nach dem Vorbild ihrer eigenen Eliten von oben nach unten die englische Lebensart – und schließlich auch deren Sprache – an. Fast von Beginn an war die englische Identität keine ethnische Frage, sondern eine politische Wahl – sicherlich eine harte, aber doch eine Wahl.*
* Man benötigt keine besondere historische Fantasie, um sich dies vorzustellen. Es genügt, mit Menschen aus dem Hochland, aus Irland oder Wales zu sprechen, deren Eltern ihre eigene Sprache mit voller Absicht nicht weitergaben, weil sie dachten, ohne fließendes Englisch (das die eigene Elite schon längst übernommen hatte) seien ihre Kinder hoffnungslos benachteiligt.
Nach dem Jahr 600 erwies sich diese Wahl für die eroberten Einheimischen als weitaus weniger drastisch, da man der heidnischen germanischen Welt ihr Englischsein schnell wieder abgewöhnte. Rom war zurück.
BIBEL UND GESETZBUCH
Jeder englische Kleriker seit Beda liebt die Legende, wonach Papst Gregor um 590 auf einem römischen Sklavenmarkt einige Jungen beobachtete. Als man ihm berichtete, dass es sich um Angeln handele, scherzte er: Ein guter Name, haben sie doch Engelsgesichter. In der Folge wurde der italienische Bischof Augustinus entsandt, sie zu bekehren. Seine Mission wurde von den Franken ermöglicht, die bereits seit einem Jahrhundert Christen waren. Ihre Königstochter Bertha hatte kurz zuvor Æthelbert von Kent geheiratet. Zunächst weigerte er sich zu konvertieren, doch erlaubte er Bertha, für Augustinus ein römisches Mausoleum in Canterbury zur ersten Kirche Englands umzugestalten.
Im Jahr 601 gab Æthelbert Augustinus oder den Franken oder seiner Frau nach und ließ sich taufen. Daraufhin ließ er die Gesetze seines Landes niederschreiben. Sie betonen die privilegierte Position der Kirche in der Gesellschaft und legen detailreich die Strafen für verschiedene Akte der Vergewaltigung und Gewalt fest (12 Schilling für das Abschneiden eines Ohrs; 50 Schilling für das Ausschlagen eines Auges; 12 Schilling für Geschlechtsverkehr mit der Magd eines Adeligen – jedoch nur 6 Schilling, wenn es sich um die Magd eines einfachen Bürgers handelte). Hier betritt Zivilisation am Ground Zero die Bühne.
Diese Gesetze wurden auf Englisch niedergeschrieben. Das ist einzigartig: Alle germanischen Nationen auf dem europäischen Festland hielten ihre Gesetze in der angesehenen Sprache Latein fest. In England sprach fast niemand mehr Latein, weshalb die alltägliche Sprache mit Anbruch der Alphabetisierung das besondere Privileg einer Schriftsprache genoss. Bis zur Eroberung durch die Normannen wurden in Westeuropa einzig die Engländer in ihrer eigenen Sprache regiert.
Æthelbert war Bretwalda (höchster König) in England, weshalb sein Beispiel Schule machte. Der nächste Bretwalda, Rædwald von East Anglia, blieb zwar Heide, erlaubte jedoch in seiner Ruhmeshalle einen christlichen Schrein. Man geht allgemein davon aus, dass er der Mann ist, der in dem prächtigen Bootsgrab in Sutton Hoo bestattet wurde, zu dessen Grabbeigaben neben lokalen heidnischen Arbeiten auch importierte christliche Güter und Luxusartikel gehören.
VORWÄRTS, CHRISTI STREITER!
Die Kirche machte sich daran, das englische Heidentum auszurotten, und im Jahr 655 war auch der letzte ungläubige König Englands, Penda, König von Mercien, tot. Nun stellte sich die Frage, welche Form des Christentums sich durchsetzen sollte. Die Kelten und einige Nordengländer wollten von Rom unabhängig bleiben und die eigenen Bräuche bewahren. Die meisten englischen Bischöfe wollten sich mit dem europäischen Festland zusammentun. Auf der Synode von Whitby 663/64 triumphierte Bischof Wilfred, als er die Frage stellte: Wer besitzt die Schlüssel zum Himmel? Und niemand konnte ihm widersprechen, dass dies Petrus, der Schutzpatron von Rom, sein musste.
Nachdem dieser Brückenkopf gesichert war, fluteten Roms multinationale christliche Soldaten, angeführt von einem Griechen, Theodor von Tarsus, und einem Afrikaner, Adrian von Canterbury, ins Land. Sie zeigten, wie schnell alteingesessene Überzeugungen des einfachen Volks von einer zupackenden neuen Elite verändert werden können. Innerhalb einer einzigen Generation gaben die Engländer ihren alten Brauch auf, die Toten mit wertvollen, für das Jenseits gedachten Gegenständen zu beerdigen.
Die Praxis der Grabesbeigaben kam in den 670er- bis 680er-Jahren zu einem abrupten Ende. Das Verschwinden dieser Riten fiel genau mit der Zeit Theodors von Tarsus als Primas [bischöflicher Titel] zusammen … eine weitaus radikalere Veränderung der Beerdigungspraktiken unter der Bevölkerung, als man sie davor für möglich gehalten hätte.
Current Archaelogy (6. November 2013)
Nach dem kurz zuvor errungenen Sieg über ihre eigenen Heiden und keltischen Häretiker sahen sich die englischen Christen als heroischer Stoßtrupp des Pontifikats. Die älteste noch existierende lateinische Bibel ist der großartige Codex Amiatinus, ein Geschenk an den Papst von Bedas Lehrer Ceolfrid (642–716); die Mönche in Jarrow benötigten allein für die Herstellung des Pergaments 2000 Rinder. Der heilige Bonifatius (ca. 675–754) kehrte als Missionar nach Deutschland, das ursprüngliche Stammesgebiet der Engländer, zurück: Da er noch ohne Übersetzer mit den Germanen sprechen konnte, vermochte er viele Heiden zu bekehren, bevor er schließlich doch umgebracht und zum Märtyrer wurde. Alkuin von York wurde der wichtigste politische Berater Karls des Großen. Erstaunlicherweise ist ihre persönliche Korrespondenz erhalten geblieben, und sie zeigt, wie der englische Kirchenmann dem großen fränkischen König während seiner Wiederherstellung des Römischen Reichs im Jahr 800 mit Rat zur Seite stand.
DER GROßE GRABEN
Gegen Ende des 8. Jahrhunderts waren die Engländer auf dem Gipfel ihrer Ausdehnung in Britannien. Im Norden wurde das mächtige Königreich von Northumbria bei Nechtansmere von den Pikten besiegt (ca. 685). Im Westen betrieben die Mercier unter König Offa großen Aufwand, um zwischen 778 und 786 endlich die Waehlas zu unterwerfen. Sie scheiterten jedoch und errichteten deshalb einen gigantischen, bewachten Grenzwall, der walisische Raubzüge in ihre Gebiete verhindern sollte.
Offas Deich ist der größte, eindrucksvollste und vollständigste frühmittelalterliche Zweckbau in Westeuropa.
Ministerium für Kultur, Medien und Sport, UNESCO-Bewerbung
Drei Jahrhunderte vor der Eroberung durch die Normannen waren die Grenzen zwischen England und seinen Nachbarn im Grunde genommen dieselben wie heute. Und bereits damals wurde von einem Nord-Süd-Gefälle unter den Engländern gesprochen. Beda, der etwa 731 schrieb, erwähnte die Humber-Bucht neunmal, und jedes Mal im Zusammenhang mit der Vorstellung, wonach diese Bucht die Südsachsen von den Nordsachsen trennt.
Wo genau Beda die Nord-Süd-Linie weiter westlich zog, kann unmöglich gesagt werden – nicht zuletzt, weil Waliser und Engländer noch lange um die heutigen Regionen Lancashire, Cheshire, Shropshire und sogar Herefordshire gestritten haben. Mit der Zeit jedoch wurde der Fluss Trent in der Vorstellung der Menschen zur Quasigrenze innerhalb Englands.
Die traditionelle symbolische Trennlinie zwischen Norden und Süden war der Trent … ein bemerkenswertes Bewusstsein für den Norden lässt sich bis zu Beda zurückverfolgen.
Andrea Ruddick
Die Kirche erkannte diesen Graben noch zu Bedas Lebzeiten an: Im Jahr 733 wurde ihre bis heute fortdauernde, zweigliedrige Struktur mit den Zentren York und Canterbury festgelegt. Die Rechtsgelehrten taten es ihr gleich: In einer Charta von 736 ist Æthelbald von Mercien König aller Provinzen, die im Allgemeinen mit südenglischen Namen [Sutangli] bezeichnet werden.
Der Juragürtel, der das vorrömische und das römische Britannien definiert hatte, galt auch für die englische Landnahme. Und es dauerte nicht lange, bis dieser kulturelle Graben innerhalb Englands noch einmal massiv vertieft wurde.
ALLEIN DER SÜDEN ÜBERLEBT
Die Wikinger wüteten in ganz Nordwesteuropa, sie brandschatzten sogar Pisa. Die Plünderungen Southamptons (840) oder Londons (842) waren also nichts Außergewöhnliches. Im Jahr 865 jedoch fiel eine riesige Wikingerarmee in Northumbria und East Anglia ein und tötete deren Könige. Ein Teil von Mercien wurde von den Wikingern erobert. England wurde nicht mehr nur von Plünderungen heimgesucht, es wurde von den Wikingern, als einziges Land in Westeuropa, richtiggehend kolonisiert. Bei dem Überraschungsangriff bei Chippenham (6. Januar 878) schlugen die Wikinger auch den letzten verbliebenen englischen König, Alfred von Wessex, in die Flucht.
Nie zuvor hat solch ein Schrecken Britannien heimgesucht wie jener, den wir nun von einer heidnischen Rasse erdulden mussten, noch konnte man sich vorstellen, dass solch ein Überfall vom Meer aus möglich wäre.
Alkuin (793)
Irgendwie bewies Alfreds Wessex einzigartige Nehmerqualitäten, womöglich weil es aus einer mehr oder weniger gleichberechtigten, auf dem Gesetz fußenden Verbindung eindringender Engländer mit bereits ansässigen römisch-britischen Eliten entstanden war. Die Erinnerungen einer Landbevölkerung umspannen leicht mehrere Jahrhunderte.* Es ist durchaus möglich, dass es Alfred von den Cerdicingas (wie Wessex’ königliche Familie sich selbst zu nennen pflegte) möglich war, sich im entscheidenden Augenblick auf eine ältere, tiefer empfundene Loyalität zu berufen als andere englische Könige.
* In den 1980er-Jahren vermaß ich im abgelegenen Carlow in Irland eine normannische Motte (Burg). Der Bauer, auf dessen Land sie stand, machte mich voller Bitterkeit auf ein vornehmes Haus unten im Tal aufmerksam: Dieses Land gehörte einmal uns, und eines Tages wird es uns wieder gehören. Das Haus wurde Mitte des 18. Jahrhunderts erbaut.
Jedenfalls gelang es Alfred, seine Mannen neu zu formieren, die Grafschaften um sich zu sammeln und die Dänen in der Schlacht von Eddington (878) zu besiegen. Ihr Anführer Guthrum ließ sich taufen und stimmte dem Vertrag von Wedmore, später auch dem Vertrag von Alfred und Guthrum, zu (878–889).
IMPORTNATION ENGLAND
Alfred wollte die Engländer nun vereinigen – Sachsen, Angeln und alle anderen. In seiner Jugend hatte er zweimal den Hof der karolingischen Franken in Aachen besucht. Dort war das von Karl dem Großen (mit dem Rat von Alkuin) initiierte mittelalterliche Abkommen zwischen Kirche und Staat fest verankert. Alfred übernahm diese Idee.
Wie im Fränkischen Reich konnten Könige in Alfreds modernisiertem England nur unter Anerkennung der Kirche die Königswürde erhalten, die ihnen bei der Krönung feierlich verliehen wurde. Auch in der Politik wurden französische Praktiken imitiert. Das Ergebnis war eine neue Art höherer, imperialer Aristokratie.
Der kollektive Treueeid, der Königen geschworen wird … geht direkt auf die karolingische Gesetzgebung zurück.
Chris Wickham
Was Alfred nicht importierte, war eine auf dem Lateinischen gründende Herrschaft. Das wäre auch gar nicht möglich gewesen, weil es auf beiden Seiten des Humber nicht mehr genügend Menschen gebe (schrieb er), die Latein lesen könnten. Doch aufgrund der einzigartigen Tradition, dass die Herrschaft in England auf englisch geschriebenen Gesetzen beruhte, gab es noch Menschen, die Englisch lesen konnten.
Ich erinnerte mich, dass die Lateinkenntnisse in ganz England verfallen waren, aber doch viele Englisch lesen konnten.
Brief von Alfred an den Bischof von Worcester
Es wird angenommen, dass die Angelsächsische Chronik auf Anweisungen Alfreds zurückgeht. Sein Drang, alle Engländer in einer Zeit zu vereinen, da dies dringend notwendig war, bedeutete, dass England sich seine Besonderheit bewahrte: Die Gesetze und die Geschichte des Landes wurden auch weiterhin in der Sprache des einfachen Volkes niedergeschrieben.
Alfred behielt auch die Dänen in England im Blick. Dies erklärt vielleicht ein Rätsel aus den Anfangstagen der englischen Literatur. Warum spielt Beowulf, das große Nationalepos des angelsächsischen Englands, in Skandinavien? Die Antwort lautet, dass Beowulf die ideale Erzählung für Alfreds neue Politik darstellte. Eine heidnische Heldensage aus Skandinavien mit skandinavischen Helden, die jedoch in englischer Sprache aufgeschrieben und vorgetragen wurde, demonstrierte die Idee, wonach es ein großes, altes angloskandinavisches Erbe gab, das allen gemeinsam war und in dem die Treue der Elite zum König den lebensnotwendigen Kitt der Gesellschaft darstellte.
Alfreds wessex-fränkische Politik funktionierte. Im Jahr 886 eroberte er London von den Dänen zurück und nahm einen völlig neuen Titel an: Rex Anglorum Saxonum oder Rex Angul-Saxonum. Es gab auch einige Münzen, die ihn einfach zum Rex Anglo (König der Engländer) erklärten. Er schuf die erste königliche Flotte, fuhr selbst dreimal zur See, auf Schiffen nach eigenem Entwurf geradezu doppelt so lang als die anderen [d. h. Wikingerschiffe] … weder geformt wie friesische Schiffe noch wie dänische, sondern so, wie er selbst dachte, dass sie den Anforderungen gemäß erbaut sein sollten. (Chronik)
Bis zu seinem Tod im Jahr 899 hatte Alfred eine englischsprachige Version der modernsten politischen Kultur Europas geschaffen und war cyning ofer eall Ongelcyn butan ðæm dæle þe under Dena onwalde (König über alle Angelcynn außer dem Teil unter dänischer Herrschaft). Dieser Teil war allerdings nicht gerade klein. Die Kluft zwischen Nord und Süd aus den Tagen Bedas hatte sich durch die Ansiedlung und die Herrschaft der Wikinger noch einmal massiv vergrößert, wobei die Kultur des Nordens sich fast bis ins Tal der Themse erstreckte und East Anglia definitiv dazugehörte. Ortsnamen zeichnen in England bis heute die politischen Grenzen nach, die in den Tagen von Alfreds Tod bestanden.
Das Danelag lebt weiter:
Skandinavische Ortsnamen im heutigen England.
GEEINTES ENGLAND, UNTERWÜRFIGES BRITANNIEN?
Unter Alfreds Nachfolgern vereinte die Wessex-Dynastie schließlich England. Sein Sohn Eduard der Ältere und seine Tochter Æthelflæd, die Herrscherin Merciens, holten sich East Anglia und die Five Boroughs* des Danelag (in den Midlands) zurück. Ihre Kampagne zur Vereinigung Englands umfasste auch den Brückenbau über den Trent im Jahr 920. 927 besetzte dann Eduards Sohn Æthelstan Northumbria. Zum ersten Mal wurden alle Engländer – und Dänen – auf der britischen Insel von einem einzigen König regiert.
* Derby, Leicester, Lincoln, Nottingham und Stamford.
Æthelstan, der große Eroberer, der dieses glückliche Ergebnis zustande brachte, wird als Gründer von etwas Glorreichem und Neuem gefeiert: jenem vereinigten Königreich, das in der Muttersprache derjenigen, die darin lebten, als »Englalonde« bekannt werden sollte.
Tom Holland
Das moderne England war geboren. Und unmittelbar hieraus erwuchs die bis auf den heutigen Tag zentrale Frage der englischen und britischen Geschichte.
Ohne Zweifel war ein politisch geeintes England die dominierende Macht auf der Insel. Sollte demnach der Herrscher über England nicht gleich noch über alle anderen Gebiete regieren? Im Jahr 937 machte Æthelstan seine Ansprüche in einer Schlacht so überzeugend geltend, dass sich die Engländer noch 200 Jahre später daran erinnerten: Er besiegte bei Brunaburgh Konstantin, den König von Schottland, Owen, den König von Strathclyde, und den Wikinger-Kriegsfürsten von Dublin, Olaf Guthfrithsson (dessen Familie kurz zuvor noch über York geherrscht hatte). Die Chronik schlug den Ton eines Heldenepos an und beschrieb die Schlacht als blutigen Höhepunkt der gesamten englischen Geschichte, und zugleich riefen Æthelstans Münzen ihn zum König über ganz Britannien aus. Vier seiner Halbschwestern heirateten in kontinentaleuropäische Königshäuser ein. Bei Æthelstans Tod 939 war Englalonde ein Hauptakteur in Europa und beanspruchte die Herrschaft über die gesamte britische Insel.
Münze von Æthelstan
REX TO BR = Rex Totius Britanniae.
DIE PR DER BENEDIKTINER
Doch kaum war Æthelstan tot, holten sich die Wikinger York, dann Northumbria und schließlich auch die Five Boroughs zurück. Nach weiteren 15 Kriegsjahren war England wieder geteilt zwischen den Bruderkönigen Eadwig (Süden) und Edgar (Norden), bis Eadwig 959 starb. Edgar musste sich den Frieden erkaufen, indem er das nördlichste englische Königreich, Lothian, an die Schotten abtrat. Es wurde nie wieder zurückerobert.
Edgar zementierte seine Macht mit einem weiteren fränkischen Import: Benediktinermönche verliehen der Kirche neue Disziplin und machten sie zur unersetzlichen Gefährtin der Könige. Im Jahr 973 ersann Erzbischof Dunstan in Bath eine Zeremonie, die immer noch Grundlage des heutigen Krönungsrituals ist. Kurze Zeit später – so berichten es seine neuen benediktinischen Schreiber – erwiesen die Könige von Wales und Schottland Edgar in Chester ihre Ehrerbietung.
Tatsächlich hat Edgar gar nicht ganz England regiert. Seine Gesetze galten explizit nur für die Engländer. Unter den Dänen mussten die Dinge nach möglichst guten Gesetzen, die sie selbst am besten festlegen konnten, geregelt werden. Ein großer Teil Englands – das Danelag – wurde immer noch von Menschen mit eigener Sprache, eigenen Gesetzen und eigenen Hierarchien geführt. Dies sollte sich als fatal erweisen: Nur eine Generation nach Edgars Tod im Jahr 975 sollte England eine Kolonie Dänemarks werden.
DER VERFALL UND UNTERGANG DES ANGELSÄCHSISCHEN ENGLANDS
Edgar, der mehrmals verheiratet war, hinterließ zwei minderjährige Söhne von verschiedenen Frauen. Und es gab auch mächtige Männer in seinem Reich, die den Reichtum und die Macht, die er den Benediktinern überlassen hatte, als Affront empfanden. Somit waren Probleme praktisch vorprogrammiert.
Die Krone erhielt der ältere Sohn Eduard (der Märtyrer), doch besuchte er 978 unvorsichtigerweise seine Stiefmutter Ælfthryth auf Corfe Castle und wurde von ihren Männern getötet, bevor er auch nur vom Pferd steigen konnte. An seiner statt bestieg Ælfthryths eigener, mit Edgar gezeugter Sohn Æthelred der Unberatene (ein Wortspiel mit seinem Namen, der Edelberatener bedeutet) unter ihrer Regentschaft den Thron.
Als sie sahen, dass Englands Politik in blutrünstigem Chaos versank, witterten die Wikinger Morgenluft. Nachdem erste Überfälle auf nur schwache Gegenwehr stießen, folgten Großangriffe. Das alte englische Gedicht The Battle of Maldon (991) erzählt davon, wie ein englischer Befehlshaber und seine Gefolgsleute sich tatsächlich so verhielten, als wären sie Beowulf entsprungen, indem sie sich den Wikingern frontal entgegenstellten und eher bis zum Tod kämpften, als ihren Fürsten zu verraten.
Doch wurde Maldon von den englischen Barden vor allem deshalb so gefeiert, weil es die große Ausnahme darstellte. Viele im Norden und Osten fühlten sich den Wikingern näher als der Wessex-Dynastie. Dies machte einen wirkungsvollen nationalen Widerstand unmöglich. Stattdessen zahlte man den Wikingern Danegeld, damit sie sich zurückzogen. Da überrascht es nicht, dass sie schon bald zurückkamen, um sich noch mehr zu holen. Diese Form der Beschwichtigung korrumpierte die englische Gesellschaft, da Æthelred seine Günstlinge als Steuereintreiber einspannte, die sich wiederum ihren Anteil sicherten – und ohne Danegeld kein Anteil. Kein Wunder, dass die Chronik dieser Jahre wiederholt darüber klagt, dass alle Pläne, die Dänen im Kampf zu stellen, von Verrat vereitelt wurden.
Æthelred setzte auf eine gewagte Strategie, die etwas in Gang brachte, was über Englands Schicksal entscheiden sollte. Die dänischen Plünderer liefen oft Häfen an, die Richard, dem Herzog der Normandie, gehörten, dessen Wikingervorfahren sich 90 Jahre zuvor dort angesiedelt hatten. Um die Normannen auf seine Seite zu ziehen, heiratete Æthelred 1002 Richards Schwester Emma von der Normandie.
Nachdem er sich so seine normannische Allianz gesichert hatte, versuchte Æthelred Englands dänisches Problem zu lösen. Im November 1002 befahl er ein Massaker an allen dänischen Männern in der englischen Bevölkerung.* Der Plan scheiterte spektakulär, da sich unter den Ermordeten auch die Schwester Svens, des Königs von Dänemark, befand. England zu schleifen wurde nun zur offiziellen dänischen Staatsraison, und die Kosten für Danegeld schossen in die Höhe.
* Für die Angelsachsen waren alle Wikinger nichts anderes als irgendeine Art von Dänen.
Als Sven im Jahr 1013 höchstpersönlich angriff, zeigte das Danelag sein wahres Gesicht. Bezeichnenderweise kannten die Autoren der Chronik die dänische Bevölkerung Englands immer noch unter der Bezeichnung die Armee.
Earl Uhtred und ganz Northumbria verneigten sich bald vor ihm, wie auch die Menschen aus Lindsey und dann die Menschen der Five Boroughs und bald schon die ganze Armee.
Chronik
Æthelred, Emma und ihre Söhne flohen ins Land ihrer Brüder. Englands königliche Familie lebte nun im normannischen Exil.