Bob Dylans Musik fasziniert und begeistert seit vielen Jahrzehnten Musikfans aus allen Generationen. 2021 feiert der amerikanische Sänger und Songwriter nun seinen 80. Geburtstag; Anlass genug, mit der vorliegenden Anthologie auf sein vielgestaltiges Werk und seine Wirkung zurückzublicken. Ergebnis ist eine Hommage aus Texten, die unterschiedlicher nicht sein können: Kurzgeschichten, Bekenntnisse, Autofiktionen, Reiseberichte, Reportagen und vieles mehr. Ein Vater unterhält sich mit seiner Tochter über ihre erste Tätowierung, die sie an das Dylan-Album Blonde on Blonde erinnert. Eine Songwriterin erklärt, wie man sich als Frau misogyne Songs des Musikers aneignen kann. Ein Autor folgt den Spuren, die Bob Dylan angeblich in Mexiko hinterlassen hat. Ein Schriftsteller malt sich aus, wie Bob Dylan eines Tages Schach gegen den Großmeister Bobby Fischer spielte. Eine stimmgewaltige und immer wieder aufs Neue überraschende Sammlung an exklusiv für diesen Band verfassten Texten, die dem wohl größten amerikanischen Songpoeten unserer Tage ein literarisches Denkmal setzen.
Bob Dylans Lieder, unsere Geschichten
Ullstein
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ISBN 978-3-8437-2532-3
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Sprechen wir über den Homer unserer Zeit. Sprechen wir über Peter Kurzeck, den 2013 verstorbenen poetischen Chronisten und Abschweifer. Als ich in seinem Epos Das alte Jahrhundert las, genauer gesagt im fünften Band Vorabend, stieß ich gleich zu Beginn auf eine Stelle, in der er auf den Sänger zu sprechen kommt, um den es hier gehen soll. Der Erzähler berichtet von seiner Schreibmanie. »Seit ich nicht mehr trinke, ist es noch schlimmer geworden«, heißt es da. »Kann nur immer weiter so (…). Und dabei Musik. Janis Joplin. Bob Dylan. Den ganzen Herbst und Winter Hard Rain.«
Hard Rain ist ein Live-Album von Bob Dylan aus dem Jahr 1976, aufgenommen am vorletzten Abend einer langen Tournee. Der Sänger hat seine Lieder wund gesungen. Die Haut aus Metaphern, Wortspielen und musikalischen Ornamenten ist abgescheuert, geblieben ist reine Energie, ist eine Bewegung oder besser: sind viele Bewegungen – zeitliche, räumliche, emotionale –, von denen Kurzeck sich tragen lässt. Nicht an fremde Orte, sondern an Orte aus seiner eigenen Geschichte.
Bob Dylan zuzuhören ist für jeden, der sich seinen Liedern aussetzt, wie der Blick aus dem Zugfenster, an dem schemenhaft Bilder aus dem eigenen Leben vorbeiziehen. Seine Lieder regen den Speichelfluss des inneren Erzählers an.
Dabei hält der amerikanische Theatermacher und Psychologe Jacques Levy, der Mitte der Siebziger mit Dylan an einigen Liedern gearbeitet hat, den Songwriter selbst nicht mal für einen besonders guten Erzähler. Dylan habe Probleme, sich auf eine Geschichte zu konzentrieren und sie linear wiederzugeben, erklärte er mal in einem Interview. »Er geht nicht von A nach B nach C nach D. Er hat viele gute Sachen in seinen Songs, aber sie ergeben nur selten eine Geschichte.«
Im Englischen nennt man diese mäandernden, oft Nebensächlichkeiten betonenden und nicht zum Ziel findenden Erzählungen shaggy dog stories. Sie erzählen keine Geschichte vom Anfang bis zum Ende, sie handeln vom Erzählen selbst, sie sind das Erzählen. Und genau das ist es, was auch in Dylans Zuhörer die Lust weckt, einen der vielen losen Fäden, die der Songwriter liegen lässt, mit seinen eigenen Gedanken, Fantasien und Erlebnissen weiterzuspinnen. Sein Song »Subterranean Homesick Blues« von 1965 etwa scheint aus lauter ersten Sätzen zu bestehen, die man gleich fortschreiben möchte.
Johnny’s in the basement mixing up the medicine …
I’m on the pavement thinking about the government …
The man in the trench coat badge out, laid off says he’s got a bad cough wants to get it paid off …
Look out kid, it’s somethin’ you did God knows when but you’re doing it again,
You better duck down the alley way lookin’ for a new friend …
A man in the coonskin cap, in the pig pen wants eleven dollar bills, you only got ten …
So gesehen ist Bob Dylan weniger ein Geschichtenerzähler als ein Geschichtenermöglicher. Das ist seine eigentliche Verbindung zur Literatur, auch wenn die Schwedische Akademie 2016 einen anderen Grund dafür fand, ihm den Nobelpreis zuzusprechen: die »neuen poetischen Ausdrucksmöglichkeiten innerhalb der großen amerikanischen Songtradition«, die er in seinen Liedern erkundet hatte.
Diese Begründung ist fast so alt wie Bob Dylan selbst. Schon mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor beschrieb der Jazzkritiker Robert Shelton den jungen Sänger mal als »eine Kreuzung aus Chorknabe und Beatnik … Er bricht alle Regeln des Songschreibens – außer der, dass man etwas zu sagen haben muss«. Der so Beschriebene beteuerte später in seinen Memoiren Chronicles. Volume One, er habe nie vorgehabt, irgendwelche Regeln zu brechen. »Ich wollte nur etwas ausdrücken, was jenseits der gewohnten Grenzen lag.«
Wenn die moderne Welt in der alten Songform Platz finden sollte, musste er diese halt erweitern, musste über Dinge singen, über die noch niemand gesungen hatte, die Form, die Sprache und die Struktur der Lieder dem anpassen, was er ausdrücken wollte. Er musste Platz schaffen für das Reale und das Surreale, die Geschichte und den Mythos, die Liebe und den Hass, die Großstadt und die Landschaft, das Innenleben und die Nachrichten, das Ernste und das Triviale, die Filme und die Literatur – von Ovid bis Allen Ginsberg, von Shakespeare bis zum japanischen Pulp-Autor Junichi Saga.
Doch auch wenn er über den traditionellen Song hinausgeht, ist das immer noch Musik, nicht Lyrik. Es braucht die Entäußerung, den Klang der Stimme, die Betonung, die Melodie, das Arrangement, den Rhythmus – eben die Energie, um die Bedeutung eines Liedes zu erfassen.
Und die kann sich von Aufführung zu Aufführung ändern.
So wie wir alle, wenn wir etwas erlebt haben, es jedem, dem wir davon berichten, wieder neu erzählen, auf unser Gegenüber und die Umgebung reagieren, den Fokus anders setzen, ausschmücken oder verknappen, verfährt der Songwriter mit den mäandernden Geschichten, die er spinnt wie ein langes Garn. Es gilt das gesungene Wort, nicht das geschriebene.
Was für das Werk gilt, gilt für den Künstler – auch seine Identität ist permanent im Fluss, variiert und verändert sich. Denn Bob Dylan ist Teil seines Werks, ist eine Kunstfigur, die sich der junge Robert Allen Zimmerman aus dem Mittleren Westen der Vereinigten Staaten Anfang der Sechzigerjahre ausgedacht hat.
»Bob Dylan wurde am 24. Mai 1941 in Duluth, Minnesota, geboren«, heißt es auf der Hülle seiner ersten LP von 1962 in einem Text von Stacey Williams (auch das ein Pseudonym – von Robert Shelton).
»Nachdem er kurz in Sioux Falls, South Dakota, und Gallup, New Mexico, gelebt hatte, absolvierte er die Highschool in Hibbing, Minnesota, ›ganz oben an der kanadischen Grenze‹. Für sechs quälende Monate besuchte Bob die
University of Minnesota mit einem Stipendium. Aber wie so viele der unruhigen, wissbegierigen Studenten seiner Generation konnten ihn die engen Mauern des Colleges nicht halten. ›Die Schule war nichts für mich‹, sagt er. ›Ich bin rausgeflogen. Ich habe viel gelesen, aber nicht die verlangte Lektüre.‹ Er erinnert sich, wie er die ganze Nacht wachblieb, um die Philosophie von Kant durchzuarbeiten, anstatt Living With the Birds für einen naturwissenschaftlichen Kurs zu lesen. ›Meistens‹, fasst er seine College-Tage zusammen, ›konnte ich nicht lange an einem Ort bleiben.‹«
Auch Robert Allen Zimmerman wurde am 24. Mai 1941 in
Duluth geboren, wuchs in »Hibbing, Minnesota, ganz oben an der kanadischen Grenze« auf und besuchte die University of Minnesota in Minneapolis – beziehungsweise: Er besuchte sie eben nicht, weil er lieber in den Folkclubs des Vergnügungsviertels Dinkytown Lieder des linken Folksängers Woody Guthrie sang. Aber als milchgesichtiger Spross einer jüdischen Mittelstandsfamilie wäre das nicht besonders glaubwürdig gewesen, also erfand er sich als viel herumgekommener, mit der Halbwelt vertrauter Vagabund Bob Dylan neu. In Sioux Falls, South Dakota, und Gallup, New Mexico, war Robert Zimmerman nie gewesen. Auch nicht in Central City, Colorado, wo Bob Dylan laut Stacey Williams 1959 seinen ersten Job hatte – »in einem schäbigen Striptease-Laden«. Und wenn man hört, wie er 1962 auf seinem ersten Album mit der Stimme eines alten Mannes Folksongs und ein paar altersweise eigene Lieder singt, glaubt man ihm jedes Wort seiner Rumtreibergeschichten.
Diese Stimme ist erstaunlich, klingt sie doch im Lauf der Zeit von Album zu Album immer wieder anders, so als hätte der Sänger sich jedes Mal einen neuen Erzähler für seine struppigen Storys ausgedacht. Wohl kein Zufall, dass er in seiner Kindheit immer eine Bauchrednerpuppe mit sich rumschleppte, die er Peco’s Pete nannte. Er liebte es schon damals, mit Identitäten zu spielen und jemand anderes zu sein als der, den die Leute in ihm sahen.
Der Musikjournalist Rob Jones hat in seinem Blog The Delete Bin mal acht verschiedene Dylan-Stimmen unterschieden: den »jungen Mann in den Kleidern eines alten«, den »nasalen Jüngling«, den »gellenden Beatnik«, den »sepia-gefärbten Ton eines Erzählers von Parabeln«, den »Country-Schnulzensänger«, den aus »voller Kehle schmetternden Rocksänger«, den »Altvorderen« und den »alten quengelnden Troubadour«. Aber hat er da nicht noch einige Stimmen vergessen? Was ist mit dem biblischen Prediger? Dem weit gereisten Hobo? Dem Trickster und Falschspieler? Dem raunenden Apokalyptiker? Dylan erschafft durch den Ton seiner Stimme Typen und Figuren und weckt Assoziationen, die oft genug weit über den Text des jeweiligen Liedes hinausgehen.
Die Masche, seine Stimme zu verändern, um sich so eine Art Maske zu verpassen, ist nicht Dylans Erfindung, sondern hat ihre Wurzeln in der Tradition des Blues. Charley Patton, der große Delta-Blues-Sänger aus Mississippi, legte sich etwa das Pseudonym The Masked Marvel, das maskierte Wunder, zu und sang in vielen Zungen Rollenprosa.
»Hast du mal von den italienischen Schauspieltruppen gehört, die durch Italien reisen?«, fragte Dylan den Journalisten Larry Sloman 1975 spätnachts übers Telefon und erklärte ihm, seine damalige Tour mit befreundeten Künstlern wie Joan Baez, Allen Ginsberg, Roger McGuinn und Rambin’ Jack Elliot, der er den Namen The Rolling Thunder Revue gegeben hatte, stehe in der Tradition der Commedia dell’Arte, des italienischen Straßentheaters, bei dem die Mehrzahl der Schauspieler Masken trug. »Wenn jemand eine Maske trägt, ist es ziemlich wahrscheinlich, dass er die Wahrheit sagt«, erklärte Dylan 34 Jahre später in Martin Scorseses Dokumentation Rolling Thunder Revue, die es im Übrigen mit der Wahrheit selbst nicht so genau nimmt.
Wie könnte man diesen inspirierenden fahrenden Sänger, Dichter, Shaggy-Dog-Storyteller und Geschichtenermöglicher mit den vielen Stimmen besser ehren als mit einem Buch voller Geschichten, die mit ganz unterschiedlichen Stimmen von ihm, seinem Werk und seiner Wirkung erzählen?
Für Look Out Kid habe ich daher einige meiner liebsten Storyteller gebeten, mir ihre Geschichten zu diesem großen amerikanischen Songwriter und seinen Liedern zu erzählen. Einige von ihnen sind in der Literatur zu Hause, andere eher in der Musik, viele sind Dylan-Fans, manchen sind seine Lieder eher zufällig über den Weg gelaufen. Alle haben sich von seinem Werk inspirieren lassen. Sie erzählen von Erweckungserlebnissen und Epiphanien, von Erinnerungen und Träumen, von Beobachtungen und Recherchen, von surrealen Orten und geheimnisvollen Figuren, von Genies und der Kraft der Vorstellungsgabe.
Ein vielgestaltiges Werk, dessen Schöpfer die Grenzen der Form auflöste, um ausdrücken zu können, was ihn bewegte, verlangt nach erzählerischer Freiheit. Und so finden sich in diesem Buch verschiedenste Textsorten wieder: Kurzgeschichten, Bekenntnisse, Autofiktionen, Reiseberichte, ein Gespräch, Reportagen, ein Mixtape, Übersetzungen, Analysen, Songtexte.
Ein Vater unterhält sich mit seiner Tochter über ihre erste Tätowierung, eine Songwriterin erklärt, wie man sich als Frau misogyne Songs aneignen kann, andere reflektieren ihr Handwerk und das Wesen der Inspiration, ein Autor folgt den Spuren, die Bob Dylan in Mexiko hinterlassen hat (oder vielleicht auch nicht), ein enger Verbündeter des Schicksals führt im Zug Kartentricks vor und trinkt Whiskey, ein erfolgreicher Drehbuchautor streitet mit seiner Frau über die Sprache der Liebe, Bob Dylan spielt Schach gegen Großmeister Bobby Fischer.
Und auch die Dylan’sche Methode, einen Song immer wieder auf eine andere Art zu interpretieren, findet sich in dieser Buch gewordenen LP: Gleich zwei Autoren haben sich von »Ballad of a Thin Man« inspirieren lassen – die Unterschiede der daraus resultierenden Texte könnten nicht größer sein. Überhaupt scheint dieser Song in vielen der hier versammelten Autorinnen und Autoren etwas auszulösen, taucht er doch auch in Geschichten auf, die eigentlich von ganz anderen Liedern handeln. Vielleicht, weil sie sich, wie Mister Jones in dieser Ballade vom dünnen Mann, in der Welt der Literatur gut auskennen und viele Fragen an Dylans Lieder haben. Aber im Gegensatz zum »investigativen« Reporter Jones, der den Songwriter ins Verhör nimmt, haben die beitragenden Autorinnen und Autoren erkannt, dass sie sich die Antworten am Ende nur selbst geben können.
Es hat großen Spaß gemacht, die so unterschiedlichen Texte wie die Lieder eines Albums, eines Mixtapes oder einer Playlist für dieses Buch in eine Abfolge zu bringen, sodass sie sich gegenseitig kommentieren, ein Flow entsteht und sich eine übergeordnete Erzählung ergibt, die sich auch als eine alternative Dylan-Biografie lesen lässt – aber Vorsicht, die Wahrheit versteckt sich auch hier häufig hinter einer Maske.
Mein besonderer Dank gilt natürlich dem Mann hinter der Maske, Robert Allen Zimmerman, für die Erfindung meines liebsten amerikanischen Songwriters, in dessen Liedern so viele Geschichten stecken. Einige davon erzählen wir hier. Look out kids, it’s something we did!
Maik Brüggemeyer
von Frank Goosen
Als ich neun Jahre alt war, wohnte bei uns unterm Dach ein Verdächtiger. Er war ein Student und deshalb den meisten Erwachsenen im Haus zutiefst suspekt. Die Mansarde hatte er nur bekommen, weil er mit dem Sohn der Vermieterin befreundet war.
Der Sohn unserer Vermieterin hieß Thomas und sah ein bisschen aus wie Reinhard Mey. Davon hatte ich damals natürlich keine Ahnung, aber es gab Fotos von Thomas und mir, und Jahre später ist mir diese Ähnlichkeit aufgefallen. Bei YouTube gibt es ein Video von Reinhard Mey, wie er im österreichischen Fernsehen »Diplomatenjagd« singt. Die Aufnahme ist von 1975, also aus dem Jahr, in dem ich neun war und der Verdächtige in unserem Haus wohnte. In diesem Clip sieht Reinhard Mey genauso aus wie Thomas. Seine Haare waren gar nicht so lang, aber sie verdeckten seine Ohren und berührten den Kragen seines hellen, gemusterten Hemdes, über dem er eine graue Anzugweste trug. Vorne hingen sie ihm in die Stirn und bis fast auf die Brille. Und das war genau wie bei Thomas, auch wenn der eine schwarze Hornbrille trug und nicht so ein helles Kassengestell wie Reinhard Mey. Auf den alten Fotos wirkt Thomas heute für mich wie ein Lieblingsschüler von Ernst Bloch oder ein Volontär bei Günter Gaus.
Durch Thomas erfuhr ich jedenfalls das erste Mal von Bob Dylan. Thomas lebte damals in der Mansarde, die später der Verdächtige und noch später ich selbst bewohnen sollte. Manchmal saß ich da oben bei ihm auf einem Sofa, das ein bisschen aussah wie das von Loriot. Thomas hatte eine Pistole, einen Colt wie aus einem Western, und mit der hatte er nachts mal aus dem Fenster in die Luft geschossen. Mein Vater hatte am nächsten Tag gesagt, Thomas habe das gemacht, weil er Drogen nehme. Ich nahm keine, hätte aber trotzdem gerne mit der Pistole in die Luft geschossen.
Einmal, als ich nach oben kam, lief Musik, und als ich Thomas fragte, was das sei, zeigte er mir Bringing It All Back Home. Ich konnte zwar schon lesen, verstand aber kein Englisch. Beim Namen Bob Dylan dachte ich, das Ypsilon spreche man wie ü aus und die zweite Silbe des Nachnamens mit einem langen a. Bob Dülahn. Auf der Plattenhülle sah man im Vordergrund einen Mann sitzen, aber man achtete eigentlich nur auf die Frau im Hintergrund. Sie trug ein rotes Kleid und rauchte. Alles sah aus, als würde man es durch ein Glas ohne Boden betrachten, jedenfalls war da eine kreisförmige Struktur, die mich genau daran erinnerte.
Es lief gerade ein Stück, bei dem Bob Dülahn vor allem zu reden schien. An einigen Stellen gab es dann doch wieder so etwas wie eine Melodie.
»Was singt der da?«, wollte ich von Thomas wissen.
Er war damit beschäftigt, in einem Buch etwas anzustreichen. Auch er war ein Student, aber ich wusste nicht, was er studierte und was das überhaupt war. Ohne aufzublicken murmelte er: »Es ist in Ordnung, Mama, ich blute nur.«
»Wieso blutet er? Und wieso ist das in Ordnung? Wenn ich blute, tut das weh.«
»Kann man schwer erklären.«
Meine Eltern hörten damals gerne »Schön wie Mona Lisa« von Demis Roussos.
Kurz darauf zog Thomas aus, weil er in München weiterstudieren wollte, und der Verdächtige zog ein.
»Ich glaube, das ist so ein Hippie«, sagte meine Omma ein paar Tage später. Sie saß bei uns in der Küche auf der Eckbank und trank Kaffee aus dem Alltagsservice, auf dem rosa Blumen zu sehen waren. Mit am Tisch saß meine Patentante, die eine Jugendfreundin meiner Mutter war und deren Vater das Haus gehörte, in dem wir wohnten. Im Parterre hatte er seine Zahnarztpraxis. Meine Patentante war also Thomas’ Schwester. Draußen fielen ein paar Schneeflocken vom Himmel.
Ich stand in der Schiebetür aus Plastik und wartete darauf, dass Omma mir vielleicht noch mal zwei Mark für Fußballbilder gab. Unsere Küche war klein, aber bunt, denn die Eckbank war mit rotem Kunststoff bezogen, und die Vorhänge waren ebenfalls rot, mit schwer zu beschreibenden, aber floral wirkenden Mustern, in denen Grün und Gelb vorkamen.
»Das ist ein Chaot«, sagte meine Patentante. »Unser Vater wollte den nicht im Haus haben, er sagt, das ist ein Gammler, aber der Thomas hat unsere Mutter bequatscht. Und die ist nun mal für die Mietangelegenheiten zuständig.«
Gammler, das Wort hatte ich schon gehört. Mein Oppa benutzte das häufig, wenn er sich über junge Leute aufregte. »Der Oppa hat gesagt, das sind alles Bombenleger«, sagte ich.
»Ich finde, er sieht sehr gepflegt aus«, sagte meine Mutter, die an die Spüle gelehnt stand und rauchte.
»Du musst nicht alles glauben, was der Oppa erzählt«, sagte meine Omma und steckte sich die nächste Lord Extra an.
»Der grüßt immer nett«, sagte meine Mutter.
»Der Oppa?«, fragte ich.
Meine Mutter lachte. »Nein, der bestimmt nicht. Ich meine den Hippie.«
»Der Papa hat gesagt, der guckt dir immer auf den Popo«, sagte ich.
»Ist doch gut«, sagte meine Omma.
»Stimmt, du hast einen guten Hintern«, pflichtete meine Patentante bei.
Abends saßen meine Mutter, mein Vater und ich vor dem Fernseher und guckten die Tagesschau. Einen Tag zuvor war in Berlin der Politiker Peter Lorenz entführt worden. Mein Vater schimpfte, meine Mutter strickte. Karl-Heinz Köpcke war der Nachrichtensprecher. Von dem hatte erst neulich in der Zeitung gestanden, dass er Heiratsanträge von weiblichen Zuschauern bekam, was ich überhaupt nicht verstehen konnte. Meine Omma schon. »Der sieht doch gut aus!«, hatte sie mal gesagt. – »Du bist eine komische Frau«, hatte mein Oppa gebrummt.
In der Tagesschau zeigten sie ein Schwarz-Weiß-Foto von Peter Lorenz mit einem Schild vor der Brust: »PETER LORENZ – GEFANGENER DER BEWEGUNG 2. JUNI«.
»Was soll das heißen, Bewegung?«, wollte ich wissen. »Und wieso wird die Schrift in diesem Wort nach hinten kleiner?«
Meine Mutter schüttelte den Kopf. »Was dir immer auffällt!«
»Bewegung!«, sagte mein Vater. »Das sind Verbrecher. Terroristen.«
Damit war nichts erklärt, fand ich, hielt aber meinen Mund.
Ansonsten hieß es noch, dass das Bild ein Polaroid-Foto sei, und ich musste daran denken, dass wir auch eine Polaroid-Kamera hatten. Wir hatten also etwas mit den Terroristen gemeinsam.
»Und wir haben auch so einen Bombenleger im Haus«, sagte mein Vater. »Der kommt mir verdächtig vor.«
»Der legt doch keine Bomben!«, sagte meine Mutter. Und mit einem Blick auf mich: »Du machst dem Jungen Angst.«
»Ich?«, rief mein Vater. »Ich mache dem Jungen Angst? Das sind ja wohl eher die. Hast du Angst?«, fragte er mich.
»Nee«, sagte ich.
»Na also«, meinte mein Vater. Meine Mutter verdrehte die Augen, ohne dass er es sah.
Ich hatte wirklich keine Angst. Das war doch alles wie im Film. Und nach dem Film standen alle Toten wieder auf und lebten weiter. Oder spielten in einem anderen Streifen mit.
Die Entführung lief schon fast eine Woche, da wollte ich nachmittags rüber zu Mücke gehen, als gerade der Hippie zur Haustür hereinkam. Er trug einen schweren Mantel, mit merkwürdigen, quer sitzenden, länglichen Knöpfen, die man durch Schlaufen ziehen musste, und versuchte gerade, einen zusammengerollten Teppich hereinzuzerren, aber das funktionierte nicht, also hielt ich ihm die Tür auf. Er bedankte sich und fragte mich, ob ich ihm nicht helfen könne, das Ding nach oben zu tragen.
»Klar«, antwortete ich, einerseits, weil ich mich nicht traute, Nein zu sagen, andererseits, weil mich interessierte, wie die Wohnung von so einem Hippie, einem Verdächtigen, der vielleicht sogar ein Bombenleger war, aussah.
Der Teppich war zwar zusammengerollt, aber ich konnte erkennen, dass er ziemlich lange Haare hatte, genau wie der Hippie selber. Nur waren die Teppichhaare weiß. Das war ein Flokati, das wusste ich, weil Spülis Eltern einen hatten. Meiner Mutter kam so etwas nicht in die Wohnung, weil sie meinte, den könne man gar nicht richtig sauber halten, in den Haaren würde sich tonnenweise Dreck sammeln, den man auch mit dem guten Vorwerk-Staubsauger nicht rausbekomme.
Der Hippie ging vor, und ich guckte ihm auf den Hintern, wie er das angeblich bei meiner Mutter machte. Obwohl, man sah seinen Hintern ja gar nicht, sondern nur diesen schweren, grünen Mantel.
Oben angekommen waren wir ziemlich außer Puste. Der Hippie schloss die Tür zur Mansarde auf, und ich fragte mich, wo er den Flokati überhaupt hinlegen wollte, da war nicht gerade viel Platz, das wusste ich schon von meinen Besuchen bei Thomas. Und tatsächlich sah die Mansarde nicht viel anders aus als früher. Rechts stand ein Bett, das der Hippie am Morgen nicht gemacht hatte, mit orangefarbener Bettwäsche. Außerdem hingen ein paar Regale mit Büchern an der Wand neben der Eingangstür. Auf einer Kommode darunter sah ich einen Plattenspieler, neben dem einige LPs lagen. Die oberste war die, die ich von Thomas kannte, von Bob Dülahn. Mitten im Raum stand ein kleiner runder Tisch mit zwei unterschiedlichen Holzstühlen. Außerdem gab es einen Einbauschrank mit braunen Schiebetüren. In der Dachgaube unterm Fenster standen ein Schreibtisch, ein Stuhl mit Rollen und zwei Stative mit Lampen drauf, die mir sehr merkwürdig vorkamen. Rechts zweigte eine winzige Küche ab, von der es in ein ebenfalls winziges Bad ging, wie ich mich erinnerte. Damals ahnte ich nicht, dass ich hier die ersten drei Jahre meiner Volljährigkeit verbringen würde.
Der Hippie warf seinen Mantel auf das ungemachte Bett. »Willst du was trinken? Eine Cola?«
Cola. Teufelszeug. Machte Zähne kaputt. Legte man ein Stück Fleisch in Cola, war es am nächsten Tag weg. Total verboten!
»Ja, gerne«, sagte ich.
Der Hippie ging nach nebenan und öffnete den Kühlschrank. Ich sah mich um. Auf dem Tisch lagen ein paar Polaroid-Bilder. War der Hippie also tatsächlich ein Terrorist, ein Bombenleger? Auf den Fotos sah man eine Frau mit langen Haaren, die einen Kussmund in die Kamera machte. Vorsichtig schob ich ein Bild zur Seite, um das darunter zu sehen. Darauf trug die Frau nur eine schwarze Unterhose und hatte die Hände in die Hüften gestemmt. Deshalb brauchte man wohl Sofortbilder: weil man Nacktbilder nicht im Fotogeschäft entwickeln lassen wollte.
Der Hippie kam mit einem Glas Cola zurück.
»Die Platte da drüben kenne ich«, sagte ich, um ihm zu zeigen, dass ich praktisch erwachsen war.
»Du hörst Bob Dylan?«
»Der Thomas hatte die auch.«
»Das ist sogar die von Thomas«, sagte der Hippie. »Er hat seine Platten hiergelassen. Ich bringe sie ihm mit, wenn ich das nächste Mal nach München fahre.«
Es klingelte. »Wurde auch Zeit«, sagte der Hippie. Er drückte den Knopf, um die Haustür zu öffnen. Ich musste daran denken, dass die Leitungen für die Klingeln mein Vater verlegt hatte.
Der Hippie öffnete die Tür der Mansarde einen Spalt. Ich nippte von der Cola, die in meinem Mund prickelte. Ich wollte nicht zu schnell trinken, es interessierte mich, wer da jetzt zu Besuch kam.
»Wie läuft es in der Schule?«, wollte der Hippie wissen, aber das fragten Erwachsene immer, wenn ihnen nichts anderes einfiel.
»Gut«, sagte ich, und das stimmte. Die Grundschule war leicht für mich, nächstes Jahr würden meine Eltern mich aufs Gymnasium schicken, sogar auf eines, in dem man im fünften Schuljahr schon Latein lernen konnte. Beherrsche man erst mal Latein, sagten meine Eltern, dann tue man sich mit allen anderen Sprachen viel leichter. Ich fragte mich, woher sie das wissen wollten, sie selbst sprachen nur Deutsch.
»Welche Fächer gefallen dir besonders?«
»Ist mir eigentlich egal.« Ich sagte ihm das mit dem Gymnasium.
»Au Mann«, sagte er, »Latein ist schlimm. Aber nicht so schlimm wie Mathe. Mathe ist das Schlimmste überhaupt. Habe ich nie kapiert.«
Mathe, das kam nach Rechnen, davon hatte ich schon gehört.
Ich hörte Schritte auf der Treppe. Der Hippie machte die Tür noch weiter auf und strich sich die Haare hinter seine Ohren. Dann stand eine Frau in einem kurzen Rock und hohen, weißen Stiefeln in der Tür. Außerdem trug sie eine Jacke mit Fellkragen und mehrere lange, goldene Ketten mit Anhängern. Die Ketten hingen ihr bis zum Bauchnabel, eine sogar bis zu ihrem weißen Nietengürtel. Sie hatte lange, wellige Haare, ihre Wangen waren rötlich geschminkt, ihr Lippenstift wirkte dagegen weißlich. Sie hatte große Augen hinter einer großen, runden Brille, und in den Ohren trug sie Ringe, von denen ich heute weiß, dass man sie Kreolen nennt. Es war die Frau auf den Polaroid-Bildern.
»Hey«, sagte der Hippie und küsste die Frau auf die Wange.
»Hey«, antwortete sie. »Mensch Joe, die nächste Wohnung nimmst du aber bitte im Erdgeschoss.«
Der Hippie hieß also Joe. Ich musste an Little Joe aus Bonanza denken.
»Alles easy, Maggie«, sagte Joe. Maggie, so hieß also die Frau. Ich war zusammen mit Joe und Maggie. Ich war begeistert, ich kam mir schon wieder vor wie in einem Film. Und ich trank Cola. Die immer noch prickelte. Ich hielt sie einen Moment im Mund, um den Effekt zu verstärken.
»Wer ist der Knirps?«, wollte Maggie wissen. Sie sah mich über ihre ganz vorn auf der Nasenspitze sitzende Brille an. Ihre Wimpern waren sehr lang. Die waren nicht echt, das wusste ich von meiner Mutter, die sich auch solche Dinger anklebte, wenn sie mit meinem Vater am Wochenende auf eine Feier ging.
»Nachbarsjunge«, sagte Joe. »Hat mir geholfen, den Teppich raufzutragen.«
»Wo willst du denn hier Fotos machen?«, fragte Maggie und beachtete mich nicht weiter. »Hier ist doch gar kein Platz.«
»Wir gehen auf den Trockenboden nebenan. Der ist super mit den Sparren und den Dachziegeln im Hintergrund. Da ist auch eine Fernsehantenne, das sieht klasse aus.«
»Dann wollen wir mal hoffen, dass da keine Wäsche hängt. Ich auf dem Teppich und dahinter die Schlüpper von seiner Mutter?« Sie machte eine Kopfbewegung in meine Richtung.
Joe lachte nur und sagte, ich solle ihm helfen, den Teppich rüberzutragen.
Die Türen zum Dachboden sahen aus wie ganz normale Zimmertüren und waren immer abzuschließen, darauf legte die Vermieterin großen Wert. Ich hatte öfter schon Wäsche hier oben hängen sehen, wenn ich meiner Mutter die Klammern angereicht hatte, aber nichts davon hatte auf mich so gewirkt, als würde das jemand klauen wollen. Heute waren die Leinen leer. Wir rollten den Flokati aus. Joe holte die Lampen aus seiner Mansarde. In der kurzen Zeit, in der wir warteten, zog Maggie ihre Jacke aus und legte sie über eine der Wäscheleinen. Unter der Jacke hatte sie eine weiße Bluse mit weißen Stickereien an, daran kann ich mich noch ganz genau erinnern, weil ich mich gefragt habe, wieso man weiße Blumen auf eine weiße Bluse stickte, die sah man doch gar nicht richtig. Maggie hatte die oberen drei Knöpfe schon auf, griff nach dem vierten, sah mich kurz an und ließ ihn zu. Joe kam mit den Lampen zurück. Außerdem zog er ein langes Kabel hinter sich her, an dem eine runde Dreifachsteckdose hing. Um den Hals baumelte ihm eine schmale, braune Ledertasche, die mich ein bisschen an den Brustbeutel erinnerte, in dem ich immer das Milchgeld für die Schule hatte. An der freien Hand hatte er noch eine andere Tasche, aber die war schwarz.
»Riesen Lightshow, Joe, ehrlich!«, sagte Maggie.
»Die Bilder sollen ja gar nicht perfekt aussehen. Die Lampen habe ich nur, damit man überhaupt was sieht.« Dann sagte er zu mir: »Nimm mir doch mal die Kamera ab.« Er beugte sich zu mir herunter, ich hob den Ledergurt über seinen Kopf und kam mir komisch vor, weil mein Gesicht seinem dabei so nahe war. Er gab mir auch die andere Tasche, stellte dann die Lampen auf und schloss sie an die Dreifachsteckdose an. Jetzt war es sehr hell auf dem Dachboden. Damals war da nichts gedämmt, man stand einfach unter den Dachziegeln. Der ganze Raum sah schmutzig aus. Bei jedem Schritt hatte man den Eindruck, man schiebe Dreck vor sich her.
»Einen Heizlüfter hättest du mal besorgen sollen«, sagte Maggie. Es war noch ziemlich kalt, obwohl der März gerade begonnen hatte. Im Sommer war es hier so heiß, dass die Wäsche innerhalb von ein paar Stunden trocken war. Das passte meiner Mutter aber nicht so richtig. Wenn die Wäsche länger hing, musste sie sich auch länger nicht darum kümmern. »Ich will nicht springen, wenn die Wäsche pfeift«, hatte sie mal gesagt.
Joe ging noch mal in seine Wohnung. Maggie betrachtete ihre Fingernägel, fuhr sich durchs Haar und warf mir komische Blicke zu.
Als Joe zurückkam, hatte er den Plattenspieler in der Hand, auf dessen Deckel die zwei Boxen lagen.
»Hol mir doch mal die Dylan-Platte«, sagte er zu mir.
»Was weiß der Kurze denn von Dylan?«, fragte Maggie.
»Vor allem, dass er nicht Bob Dülahn heißt«, erwiderte ich. Ich wusste nicht, warum ich das gesagt hatte, aber Joe und Maggie schien es zu gefallen. Jedenfalls lachten sie.
Ich holte die Platte, und Joe legte sie auf. Bob Dylan fing an zu singen. Komische Stimme, dachte ich, alles ein bisschen hektisch. Eine Mundharmonika war zu hören. Voll das Kinderinstrument, dachte ich. Was kommt noch, eine Blockflöte?
Joe öffnete die schwarze Tasche und nahm eine Kamera heraus, die man oben aufklappen konnte. Er sagte Maggie, wie sie sich hinstellen und was sie machen sollte: Hände in die Hüften, lachen, nicht lachen, Hände in die Haare, solche Sachen. Er hielt die Kamera ganz still, drückte auf einen Knopf und drehte dann eine Kurbel an der Seite.
Beim zweiten Lied auf der Platte fing Maggie an mitzusingen. Sie legte sich bäuchlings auf den Flokati, das Kinn auf ihre gefalteten Hände gestützt. Dann winkelte sie ihre Beine nach oben ab. Von vorne musste man jetzt ihre weißen Stiefel über ihrem Kopf sehen. Ich sah das alles von der Seite. Maggie trug keine Strumpfhose. Ihre Knie und ihre Oberschenkel waren nackt. Draußen musste sie noch mehr frieren als hier oben unterm Dach.
»Okay, jetzt machen wir noch ein paar Polaroids«, sagte Joe, und Maggie stand wieder auf. Sie warf mir einen merkwürdigen Blick zu, als fragte sie sich, wann ich endlich abhauen würde.
Joe nahm jetzt die braune Tasche und nahm eine andere Kamera heraus, die sehr flach war und die er erst auseinanderfalten musste. Wenn das eine Polaroid war, sah sie ganz anders aus als die, die meine Eltern hatten.
Maggie stellte sich breitbeinig auf den Flokati, stemmte die Hände in die Hüften und beugte sich leicht vor. Ihre Ketten baumelten. Joe knipste. Das Bild surrte vorne aus der Kamera heraus. Joe fasste es am unteren Rand an, wedelte ein bisschen damit herum und gab es dann mir, damit ich es festhielt. Langsam erschien Maggie auf dem Bild. Ihr Gesicht war ganz hell. Auf den Dachziegeln hinter ihr sah man ihren Schatten. Ich hörte, wie das nächste Foto aus der Kamera glitt. Auch das durfte ich festhalten. Auf dem hatte Maggie die Arme vor der Brust verschränkt.
Nach dem dritten sagte Joe zu mir: »Komm mal her, stell dich mal ins Licht.«
Ich stellte mich ins Licht. Joe machte ein Foto, reichte es mir und sagte, ich müsse jetzt gehen. Ich sah Maggie an, sie lächelte, und dann sah sie weg.
Ich wollte noch bleiben und sagte: »Auf der Platte ist ein Lied, da singt er, dass er blutet, aber dass alles in Ordnung ist.«
»Ja, das stimmt«, sagte Joe. »Aber du musst jetzt wirklich gehen.«
»Warum?«, fragte ich.
Maggie verdrehte die Augen.
»Das erkläre ich dir später mal«, sagte Joe.
Die Tour kannte ich von meiner Mutter. Ich hatte mal im Fernsehen eine Werbung für Tabletten gesehen, von denen es hieß, sie seien auch gegen Monatsschmerzen. Ich hatte meine Mutter gefragt, was das heiße, und sie hatte gesagt, das erkläre sie mir später. Hatte sie bisher aber nicht getan.
Joe brachte mich zur Tür und machte sie hinter mir zu, aber er konnte nicht abschließen, weil kein Schlüssel von innen steckte. Ich guckte durch das Schlüsselloch, aber Maggie und Joe konnte ich nicht sehen. Ich hörte nur, wie er sagte: »Häng das einfach über die Leine.« Und: »Nein, die Ketten lass ruhig.«
Ich sah mir an, wie langsam mein Gesicht auf dem Polaroid erschien.
Abends zeigten sie in den Nachrichten, wie einige Leute in ein Flugzeug stiegen, begleitet von einem Pfarrer, der mal Bürgermeister von Berlin gewesen war. Das waren Terroristen, die man gehen ließ, damit die anderen Terroristen Peter Lorenz freiließen.
Mein Vater schüttelte nur den Kopf. »Vielleicht sollte ich mal mit dem Günther über den Langhaarigen da oben sprechen.«
Günther war ein Schrebergartenkollege von meinem Vater und außerdem Polizist.
»So lang sind die Haare von dem doch gar nicht«, sagte meine Mutter. »Außerdem sind die immer frisch gewaschen. Und rasieren tut er sich auch.«
Ich wollte sagen, dass der Langhaarige Joe hieß und keine Bomben legte, sondern nur Fotos machte, aber das behielt ich mal lieber für mich. Auch von dem Polaroid, das Joe von mir gemacht hatte, erzählte ich nichts. Am nächsten Tag wurde Peter Lorenz freigelassen.