Zum Gruseln und Mitfiebern: Spektakuläre Fälle aus der Rechtsmedizin
Jeden Tag vor einer Leiche stehen? Nichts für schwache Nerven. Für Claas Buschmann ist genau das seine tägliche Arbeit – früher als Notfallsanitäter und heute als Rechtsmediziner an der Charité Berlin. Wann ist die Person gestorben? Und woran? War es ein natürlicher Tod, ein Unfall oder gar Mord? Diesen Fragen spürt er jeden Tag nach und leistet damit einen entscheidenden Beitrag zur Ermittlungsarbeit in einem Todesfall. Zu seinem Job gehört auch, dass er den Sektionssaal verlassen muss und an Fundorte fährt, um im Beisein der Polizei Leichen zu begutachten. In diesem Buch erzählt er von den spektakulärsten Fällen in seiner Laufbahn – und von denen, die ihn am meisten bewegten. Ein Muss für alle True Crime-Fans.
Spektakuläre Fälle aus der Rechtsmedizin
Ullstein
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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021
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Titelabbildung: © Parwez Photography
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ISBN 978-3-8437-2430-2
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Meiner Familie
Die in diesem Buch beschriebenen Fälle aus der Rechtsmedizin sind allesamt dem wahren Leben entnommen. Alle Namen der genannten Personen und Orte des Geschehens wurden anonymisiert. Etwaige Übereinstimmungen oder Ähnlichkeiten wären rein zufällig. Die angeführten Dialoge und Äußerungen Dritter sind nicht wortgetreu zitiert, sondern ihrem Sinn und Inhalt nach wiedergegeben.
Berlin-Mitte, kurz nach sieben Uhr morgens. Vorbei am gläsernen Hauptbahnhof und an den Mauern der sternförmigen Justizvollzugsanstalt, hinein in den alten Arbeiterbezirk Moabit, in dem sich eng Altbau an Neubau reiht. Aus den Augenwinkeln ist das imposante preußische Kriminalgericht zu sehen. Hinter einer Parkplatzschranke: ein Kubus mit durchbrochener Fassade. Ein bisschen in die Jahre gekommen, aber immer noch zurückhaltend modern. Drinnen ein langer, breiter Flur, ähnlich, wie man ihn aus einem Krankenhaus kennt – nur stiller. An den Wänden einige Glasschaukästen, darin präparierte Hände, Füße, Köpfe. Manche mit Schusswunden.
Rechts geht es hinein in die Umkleidekabinen. Die Straßenkleidung wird in den Spind gehängt und gegen eine blaue Stoffhose und ein blaues knopfloses Hemd getauscht. Schuhe aus, Gummilatschen an. Dazu eine frische Schürze und Einweghandschuhe. Keine Maske. Hinter der Umkleide öffnet sich eine Tür zu einem weiteren Flur. Jetzt riecht es: süßlich, faulig – manche würden sagen: stechend. Nur noch ein paar Schritte sind es bis zu der großen Schiebetür mit dem gläsernen Bullauge. Dahinter sind sie schon zu sehen, die vier parallel aufgestellten Metalltische. Am Ende jedes Tisches ein gefülltes Wasserbecken, daneben Scheren, Messer, Pinzetten, Skalpelle, Nadeln.
Und auf den Tischen, gewaschen und unverhüllt, das Gesicht zur Decke: vier Leichen.
Vier Menschen, die gestern, vorgestern, vor drei Wochen noch gelebt, geatmet, gesprochen haben.
Wer sind sie, was haben sie erlebt?
Und werden ihre Körper die Wahrheit über ihren Tod preisgeben?
Berlin-Mitte, kurz nach halb acht. Sechs Gerichtsmedizinerinnen und -mediziner betreten den Obduktionssaal – und beginnen mit der Arbeit.
Ich komme aus Hamburg, das hört man immer noch deutlich, obwohl ich viele Jahre in Berlin gelebt habe. Seit kurzem bin ich ich wieder in Norddeutschland. Dass ich einmal Rechtsmediziner werden würde, war mir nicht in die Wiege gelegt, das Medizinstudium war sogar schon meine dritte Ausbildung. Ich stamme auch nicht aus einer Arztfamilie. Nach dem Abitur hatte ich zunächst gar keine Idee, was ich beruflich machen will. Mein Interesse an der Medizin entstand eher zufällig, als ich Mitte der 1990er-Jahre als Fahranfänger selbst einen schweren Autounfall hatte. Bei Glatteis prallte ich gegen einen Baum; der Rettungswagen kam, und die Jungs zogen mich aus dem Wrack. Schwer verletzt war ich zum Glück nicht, und ich kam auf dem Weg zum Krankenhaus mit einem der beiden ins Gespräch. Er erzählte mir von seiner Arbeit, und ich fand auf einmal, dass das mit dem Rettungsdienst doch nach einer Sache klingt, die zu mir passen könnte.
Die 13 Monate Zivildienst auf einem Rettungswagen (RTW) entpuppten sich dann als extrem spannend. Man kommt morgens zur Arbeit und weiß nicht, was der Tag bringen wird. Im Anschluss an den Zivildienst habe ich deshalb direkt noch eine Ausbildung zum Rettungsassistenten drangehängt: mein erster Beruf! Doch schnell merkte ich, dass mir das nicht reicht. Wo ist die langfristige Perspektive? Man schleppt Leute aus dem fünften Stock runter in den RTW – das machst du bis 30, dann ist höchstwahrscheinlich dein Rücken kaputt. Meine Zweifel wuchsen. Viele meiner Freunde steckten damals in einer kaufmännischen Ausbildung, also beschloss auch ich umzusatteln. Meine Ausbildung zum Industriekaufmann habe ich bei einem großen Pharmakonzern absolviert. Leider merkte ich schnell, dass mir die Schreibtischarbeit überhaupt nicht liegt. Ich riss mich zusammen und schloss die Ausbildung erfolgreich ab, wusste aber, dass ich in diesem Beruf niemals würde arbeiten wollen.
Nun war ich also Anfang 20 und hatte schon zwei abgeschlossene Berufsausbildungen. Aber immer noch keine Idee, womit ich mal mein Geld verdienen wollte. »Studier doch Medizin«, riet mir meine damalige Freundin. Medizin? Mein Abitur war ziemlich schlecht, und im Grunde meines Herzens war ich auch – ich gebe es zu – ein wenig faul. Aber ich hatte genug Wartesemester angehäuft, um sofort einen Studienplatz zu bekommen. Warum also nicht den Versuch wagen? Mit 23 Jahren fing ich an der Uni Hamburg an. Der Plan: Ich werde Anästhesist und fahre Blaulicht. Das heißt, ich wollte später als Notarzt arbeiten. Entsprechend habe ich mein Studium ausgerichtet, sogar meine Doktorarbeit im Fach Anästhesie geschrieben. An Rechtsmedizin habe ich zunächst gar nicht gedacht, ich fand, das sei doch ein eher schräges Fach. Warum sollte es als Arzt Freude bereiten, immer nur mit Toten zu tun zu haben? Erst durch ein Praktikum bin ich nach und nach in diesen Bereich hereingerutscht. Ich merkte: Das liegt mir – und das macht ja doch Spaß! Man kann viel bewirken, die Arbeit ist relevant und wichtig, und zwar nicht nur für die Staatsanwaltschaft. Dazu später mehr. Noch während des Studiums fing ich an, kurze wissenschaftliche Fallberichte über Verstorbene zu schreiben. Ich ging auch gelegentlich zu Rechtsmedizin-Kongressen, stellte kleine Forschungsarbeiten vor.
Nach dem Studium bekam ich dann, anders als erhofft, nicht gleich einen Job als Anästhesist. Aber plötzlich gab es das Angebot von Professor Michael Tsokos, seit vielen Jahren ein Freund und Mentor, mit ihm nach Berlin zu gehen, an die Rechtsmedizin der Charité. So eine Chance bekommt man wahrscheinlich nur einmal im Leben! Die Charité ist immerhin das älteste Krankenhaus Berlins und eine der größten Universitätskliniken Europas. So kam ich im Juli 2007 in die Hauptstadt und endgültig zur Rechtsmedizin. Beides habe ich bis heute keinen Tag bereut.
Die folgenden Geschichten stammen bis auf eine Ausnahme alle aus meiner Berliner Zeit, nichts an ihnen ist erfunden, gelegentlich musste ich allerdings auf meine (sicherlich subjektiven) Erinnerungen vertrauen. Anatomische Details wurden gelegentlich leicht vereinfacht dargestellt; die Medizinerinnen und Mediziner unter meinen Lesern mögen es mir nachsehen. Außerdem habe ich Details wie Namen, Berufe und Orte verändert, um die Persönlichkeitsrechte der Opfer und auch der Täter zu wahren. Szenen oder Dialoge habe ich frei nacherzählt – allerdings immer auf Grundlage authentischer Quellen und eigener Erlebnisse vor Ort oder im Gericht.
Viele Menschen stellen sich die Arbeit eines Rechtsmediziners ganz grauenvoll vor. Jeden Tag untersuchen wir Tote – große, kleine, junge, alte, auch verstümmelte, zerstückelte oder stark fäulnisveränderte Leichen. Ich empfinde Obduktionen trotzdem überhaupt nicht als belastend. Warum? Das hat nichts damit zu tun, dass ich vielleicht abgestumpft wäre, im Gegenteil. Der Grund ist ein anderer:
Weil die Toten es schon hinter sich haben.
Weil sie frei sind von Leid und Schmerz.
Wir Lebenden dagegen haben das Sterben alle noch vor uns. Und das kann sehr grausam sein. Und enorm belastend für die, die es unmittelbar oder mittelbar miterleben.
Als Medizinstudent bin ich einmal völlig unvorbereitet in eine solche Situation hineingeraten. Es war im Hochsommer, ich fuhr an den Wochenenden meist immer noch Rettungswagen, um mein Studium zu finanzieren. In einem Landkreis im Speckgürtel Hamburgs arbeiteten wir in 24-Stunden-Schichten. Die gingen am Samstagmorgen los und dauerten bis zum Sonntagmorgen. Einen ganzen Tag und eine ganze Nacht war man im Einsatz. Heute sehe ich das aus vielen Gründen kritisch. Wer 24 Stunden nicht schläft, dessen Konzentration lässt deutlich nach, der Zustand ähnelt einem leichten Alkoholrausch. Trotzdem soll man zu jeder Zeit in der Lage sein, Menschenleben zu retten und eventuell innerhalb von Sekunden schwerwiegende Entscheidungen während eines Einsatzes zu treffen. Das ist manchmal einfach, manchmal schwierig und manchmal unmöglich.
Zumal sich die Gegebenheiten auf dem Land vom Rettungsdienst in der Stadt stark unterscheiden. In der Großstadt habe ich im Rettungsdienst oft erlebt, dass wir eher eine Art Sozialfeuerwehr waren. Es riefen Menschen an, die uns faktisch nicht brauchten. Häufig wurde man dann noch beschimpft, wenn man nicht innerhalb von zwei Minuten vor Ort war. Auch Handgreiflichkeiten waren an der Tagesordnung und sind es heute auch noch; ich habe mir schon damals ein Pfefferspray zugelegt, um mich notfalls selbst verteidigen zu können. Zum Glück bin ich ziemlich groß und konnte mich bisher immer ganz gut wehren – meistens natürlich nur verbal. Gewalt gegen Rettungskräfte ist aber leider kein neues Thema. Wenn in der Großstadt die 112 gewählt wird, geht es nicht selten um Alkoholexzesse, Streitereien, Schlägereien, da müsste häufig kein Rettungswagen kommen; ein Taxi zur Notaufnahme würde reichen. Oder die Leute sollten einfach mal nach Hause gehen, sich ins Bett legen und ihren Rausch ausschlafen.
Auf dem Land ist das anders. Wenn da ein Anruf in der Leitstelle eingeht, ist oft wirklich etwas passiert. Die Wege sind zudem viel länger; auch kleine Einsätze dauern daher mit Hin- und Rückfahrt gerne mal zwei Stunden. Und es kann vorkommen, dass man als Rettungsassistent irgendwo ankommt und dort eine halbe Stunde allein ist, bevor der Wagen mit dem Notarzt auftaucht.
In der besagten Nacht war ich auf einer Rettungswache nahe einer niedersächsischen Kleinstadt eingesetzt. Mein Kollege an diesem Wochenende war ein Zivildienstleistender, der frisch von der Rettungsdienstschule kam, medizinisch völlig unerfahren, dazu noch fast ein Teenager. Warum ich das erwähne? Weil die Erlebnisse, die in dieser Nacht auf uns zukommen sollten, selbst für Profis schwer zu verdauen sind. Zwei Drittel unserer 24-Stunden-Schicht – den Tag und den Abend – hatten wir schon hinter uns, bisher nichts Dramatisches. Aber wir hatten alle Hände voll zu tun, fanden kaum Zeit zu essen oder zu trinken. An Hinlegen war gar nicht zu denken. Als die Nacht anbrach, hofften wir endlich auf ein paar Stunden Ruhe.
Doch gegen halb drei Uhr morgens wurden wir schon wieder rausgeklingelt: Schlägerei auf einem Abiball. Das klang wenig spektakulär, aber wer weiß. Als wir bei dem Fest ankamen, saßen da tatsächlich nur ein paar betrunkene Abiturienten. Einer jammerte, sie hätten sich geprügelt und jetzt tue ihm der Fuß weh. Darüber konnte ich nicht lachen. Ein Notfall sieht anders aus. »Pass mal auf«, wurde ich relativ unfreundlich, »es ist mitten in der Nacht! Morgen früh gehst du damit zum Arzt, wir düsen jetzt wieder ab.« Das ist vielleicht ein bisschen ruppig, aber manchmal helfen klare Ansagen.
Wir fuhren wieder los. Plötzlich begann unser Funk im Rettungswagen verrücktzuspielen. Hektisches Durcheinander, wir verstanden nur: »Verkehrsunfall, unklare Lage«. Dann wurden verschiedene Straßennamen genannt, das war äußerst ungewöhnlich. Wo war jetzt genau was passiert? Keiner wusste Näheres. In dem Moment kam auch schon der Funkalarm der Leitstelle: Wir sollten direkt hinfahren. Ich war immer noch leicht genervt vom vorherigen Einsatz beim Abiball – vor allem war ich wirklich müde mittlerweile. Vielleicht ist das wieder einer, der nur wegen Nackenschmerzen ins Krankenhaus gefahren werden will, dachte ich. Wie sehr ich mich irrte, ahnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Mittlerweile war es etwa halb fünf. Die blaue Stunde: nicht mehr ganz dunkel, aber auch noch nicht hell. Über den Wiesen und Feldern lagen ein wenig Nebel und ein fast surreales Licht. Man hätte denken können, man sei in einer Traumlandschaft unterwegs. Wir fuhren die letzten ein, zwei Kilometer. Und dann sahen wir den Unfallort.
Erst später habe ich die ganze Vorgeschichte erfahren: Eine große Gruppe Jugendlicher hatte zusammen in einer örtlichen Disco gefeiert. Im Laufe des Abends gab es Streit mit einer anderen Clique von außerhalb. Die Jugendlichen reagierten ganz vernünftig und beschlossen, sich nicht auf heftigere Diskussionen, vielleicht gar eine Schlägerei einzulassen. Sie wollten sich den schönen Abend nicht verderben lassen. Stattdessen beschloss man: »Lasst uns mal alle nach Hause gehen.« Mit von der Partie war auch ein 19-jähriger Fahranfänger, der mittlerweile leicht angetrunken war. Er war mit dem Auto gekommen, wollte es nun aber doch lieber stehen lassen. Richtige Entscheidung. Die ganze Gruppe setzte sich also zu Fuß in Bewegung in Richtung Stadt; die Disco selbst lag etwas außerhalb in einem Gewerbegebiet.
Doch wie sie da so entlangschlenderten, kam plötzlich ein Auto angefahren. Auf Höhe der Jugendlichen bremste es ab. Es war die andere Clique. Aus dem offenen Fenster heraus pöbelten die Insassen den jungen Mann an: »Wir haben dein Auto auf dem Disco-Parkplatz gefunden und den Lack zerkratzt!« Dann rasten sie davon. Daraufhin drehte der junge Mann durch. Das Auto war ganz offensichtlich sein Hobby, ein tiefergelegter Golf. Der Fahranfänger schnappte sich seinen besten Freund und lief den Weg zurück zur Disco. Dort angekommen, setzte er sich – wütend, wie er war – mit seinem Freund ins Auto und raste los. Er wollte die Verfolgung aufnehmen.
Der Rest der Freundesgruppe hatte derweil den Heimweg fortgesetzt, immer noch an der Landstraße entlang. Von hinten kam nun ihr Kumpel mit viel zu hoher Geschwindigkeit, etwa 100 km/h, angerast und verlor in einer leichten Linkskurve die Kontrolle über seinen Wagen. Und zwar exakt dort, wo sich der Rest der Gruppe gerade befand. Er fuhr gegen die Bordsteigkante, das Auto wurde über den Fußweg geschleudert und raste genau in die eigene Freundesgruppe hinein. Es erwischte – schicksalhaft, tragisch – die 17-jährige Freundin des Fahrers und die 16-jährige Freundin des Beifahrers. Danach prallte es gegen einen Baum. Neben der Straße war eine bewaldete Böschung, die leicht anstieg. Dorthinein wurden die beiden Mädchen geschleudert.
Das alles wussten wir zum Zeitpunkt unserer Ankunft am Unfallort natürlich nicht. Wir bogen um die letzte Kurve, und das Erste, was ich im morgendlichen Dämmerlicht sah, war der zertrümmerte tiefergelegte Golf, der quer auf der zweispurigen Fahrbahn stand. Mir gingen sofort lauter Fragen durch den Kopf: Wieso steht das Auto so merkwürdig? Es war auch kein zweiter Unfallwagen zu sehen. Unausgesprochen waren wir auf einen Verkehrsunfall zwischen zwei Pkw eingestellt gewesen. Dann entdeckte ich, dass etliche Meter von der Straße entfernt, den Hang hinauf, jede Menge Menschen zwischen den Bäumen standen, saßen, lagen, herumliefen. Was machen die da oben? Die Situation war auf den ersten Blick überhaupt nicht zu entschlüsseln.
Weil auch noch lose Autoteile auf der Fahrbahn und dem Gehweg lagen, kamen wir mit unserem Rettungswagen nicht näher an den Golf und den Hang heran. Die Polizei war offenbar ganz kurz vor uns eingetroffen. Ein junger Polizist sprintete auf uns zu und kickte mit dem Fuß die Frontschürze des Unfallwagens zur Seite. Seine Augen waren weit aufgerissen und schienen zu schreien: »Kommt schnell!« Da erst verstand ich, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Wenn Polizisten oder Feuerwehrleute anfangen zu rennen, ist es verdammt ernst. Im Augenwinkel sah ich einen Kollegen des zweiten Rettungswagens, der wenige Minuten vor uns eingetroffen war. Er machte sich an einem Wildzaun im unteren Bereich des Hangs zu schaffen. Der dazugehörige Zivi, auch ein ganz junger Mann, saß ein Stück weiter den Hang hinauf zwischen den Bäumen neben einem älteren Polizisten. Der wiederum hielt ein lebloses Mädchen im Arm. Der Polizist weinte. Ich lief auf ihn zu mit den Worten: »Wir übernehmen das jetzt.« Dann nahm ich ihm das Mädchen ab und legte seinen Körper vorsichtig auf den Waldboden. Äußerlich sah sie fast unverletzt aus. Keine großen Kratzer, keine Blutlache. Um zu sehen, welche Verletzungen vorlagen, schnitt ich die Kleidung auf.
Bei fast jedem Fall gibt es Kleinigkeiten, die sich tief ins Gedächtnis graben, die einen menschlich bewegen und berühren. Ich weiß es noch ganz genau: Das Mädchen trug ein schickes Outfit, offensichtlich hatte sie sich auf den Abend gefreut und sich für die Party zurechtgemacht. Das geht mich doch überhaupt nichts an, das will ich gar nicht sehen, dachte ich. Ich begann mit der Reanimation, zunächst mit der Herzdruckmassage. Doch schon beim ersten Drücken bemerkte ich, wie der ganze Brustkorb knirschend nachgab. Da war kein heiler Knochen mehr in ihrem Oberkörper. Ich fühlte nicht mal die Wirbelsäule, nur noch die Grasnarbe. Kein Zweifel, dieses Mädchen war tot. Trotzdem hörten wir nicht auf. Es gelang mir sogar, durch den zertrümmerten Mund einen Beatmungsschlauch in die Luftröhre einzuführen.
Ein solches Verletzungsmuster nennt man ein »großflächiges stumpfes Trauma«; im Unterschied zu einer Stich- oder Schussverletzung ist von außen kaum etwas zu sehen. Was wenige wissen: Die menschliche Haut ist sehr elastisch, sie hält den Körper regelmäßig auch nach einem sehr harten Aufprall zusammen. Für den weinenden Polizisten (in dessen Armen das sterbende Mädchen wohl seinen letzten Atemzug getan hatte und der, wie ich später erfuhr, eine Tochter im selben Alter hatte) und die anderen Zeugen war es deshalb nicht ersichtlich, dass jede Rettung zu spät kam. Es sah aus, als sei das Mädchen nur bewusstlos. Wir machten weiter mit Reanimation und Intubation, auch wenn mir nach den ersten Handgriffen klar war, dass wir nichts mehr für sie tun konnten. Außerdem gibt es im Rettungsdienst bestimmte Leitlinien, nach denen man handeln muss. Als Rettungsassistent ist man nicht befugt, eine einmal begonnene Reanimation eigenmächtig zu beenden und den Tod festzustellen. Das darf nur ein Arzt oder eine Ärztin. Doch an diesem Unfallort war noch immer kein Notarzt. Es hat in meiner Erinnerung eine gefühlte Ewigkeit gedauert, bis endlich ein Mediziner eintraf. Sobald er da war, brachen wir die Reanimation des Mädchens erfolglos ab. Es hatte zu keinem Zeitpunkt Lebenszeichen gezeigt.
Erst jetzt fand ich die Zeit, den Rest der Situation wahrzunehmen – und begriff das ganze Ausmaß des Unfalls. Es war unbeschreiblich, man hatte das Gefühl, man sei in einen Bombenangriff hineingeraten. Es waren fast apokalyptische Szenen: Dutzende panischer Teenager, teilweise angetrunken, viele völlig hysterisch, schrien herum, lagen weinend übereinander. Der Fahrer war nur leicht verletzt, stand aber unter Schock. Er murmelte vor sich hin und sah durch mich hindurch, als ich überprüfte, ob er Verletzungen davongetragen hatte. Der Beifahrer, der Freund der Toten, rannte derweil hin und her, schlug sich selbst mit der geballten Faust gegen den Kopf, war völlig außer sich. Als wollte er sich selbst aus diesem fürchterlichen Albtraum aufwecken.
Schließlich konnten wir gemeinsam mit dem anderen Rettungsteam das zweite Mädchen aus dem Zaun und dem Waldboden befreien, in den es durch den Aufprall hineinkatapultiert worden war. Sie schrie markerschütternd. Ein gutes Zeichen: Wer schreit, lebt. Wir brachten sie zum Rettungswagen. Der Notarzt entschied – genau richtig, wie sich später herausstellte –, dass sie ins nächstgelegene, nur etwa einen Kilometer entfernte Krankenhaus gebracht wurde. Den langen Transport zu einem sogenannten »Haus der Maximalversorgung«, beispielsweise einer Universitätsklinik, hätte sie vermutlich nicht überlebt. Sie hatte schwerste innere Verletzungen und musste sofort notoperiert werden.
Das zweite Mädchen hat den Unfall dann tatsächlich überlebt. Dieses kleine Krankenhaus besaß zum Glück eine hervorragende Unfallchirurgie, dort konnte sie zunächst stabilisiert werden. Ein paar Tage später hat man sie, soweit ich weiß, in eine größere Klinik verlegt.
Und wir?
Sind zurück zur Wache gefahren und haben ordnungsgemäß unsere Schicht beendet. Rettungswagen aufräumen, sauber machen, Sachen wegpacken, umziehen, ab nach Hause. Psychologische Betreuung wurde uns nicht angeboten, nach diesem Unfall nicht und auch nach sonst keinem Erlebnis in meinem bisherigen Berufsleben – mit einer Ausnahme, von der ich gleich noch kurz berichten werde.
In dieser Sommernacht aber, vor knapp zwanzig Jahren, in der zwei junge Männer in ein Auto stiegen, kurze Zeit später zwei junge Mädchen, ihre Freundinnen, überfuhren und eine von ihnen in den Tod rissen, kam ich am Sonntagmorgen nach Hause, als wäre es eine ganz normale Schicht gewesen.
Als ich die Wohnungstür aufschloss, rief meine damalige Freundin beiläufig aus der Küche: »Und, wie war’s?« Ich konnte ihr nicht antworten, ich fing direkt an zu weinen.
Verglichen mit solchen Einsätzen auf der Straße, ist die Arbeit in der Rechtsmedizin überhaupt nicht verstörend. In unserem Sektionsraum, der einem Operationssaal ähnelt, sind wir täglich in unserer gewohnten stereotypen Umgebung mit denselben Kolleginnen und Kollegen. Wir werden nicht von plötzlichen Eindrücken überrollt. Ja sicher, die Leichen und die damit verbundenen Geschichten unterscheiden sich. Aber unsere Handgriffe sind stets die gleichen, auch unsere Instrumente, Gerätschaften und Untersuchungsmethoden. Wir haben keinen immensen Zeit- oder Entscheidungsdruck, wir können unser Vorgehen in Ruhe überlegen. Denn bei uns geht es eben nicht mehr um Leben oder Tod. Es geht vielleicht um Wahrheit oder um Gerechtigkeit – aber nicht mehr um lebensrettende Entscheidungen. An den Unfall- oder Tatorten, zu denen wir gerufen werden, sind wir stets die Letzten. Wir stehen auch selten bei den Hinterbliebenen im Wohnzimmer; wir sind nicht die, die Todesnachrichten überbringen müssen.
Das heißt nicht, dass es nicht schlimme Tage in meinem Beruf gibt. Der 19. Dezember 2016, ein Montag, war ein solcher Tag. Ich saß abends mit meiner Familie in einer Pizzeria, als der Anruf kam: Terroranschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz. Etliche Tote, viele Schwerverletzte, unklare Lage. Gegen 22 Uhr waren meine Kolleginnen und Kollegen und ich vor Ort. Fünf von uns waren angefordert worden; zu diesem Zeitpunkt war die Arbeit der Rettungsdienste schon beendet. Die Verletzten waren versorgt und in Krankenhäuser gebracht worden. Nun musste sich noch jemand um die Toten kümmern.
Ein mulmiges Gefühl hatte ich dennoch, als ich mich in mein Auto setzte und Richtung Charlottenburg fuhr. Niemand wusste, was genau uns dort erwartete, ob die Gefahr eines »second hit«, eines zeitversetzten, zweiten Anschlags bestand. Meine Frau war damals gerade schwanger mit unseren Zwillingen, ich würde in Kürze zum ersten Mal Vater werden. Und ich wollte nicht nur ein Schwarz-Weiß-Foto im Leben meiner Kinder sein. Als ich aufbrach, hatte sie den gleichen Gedanken wie ich: »Ist es denn sicher dort?«
Vor Ort herrschte eine gespenstische Ruhe. Und es war ein hochsymbolisches Szenario, so empfand ich es. Dafür haben Terroristen scheinbar ein Gespür: Wir standen um Mitternacht am Fuße der erleuchteten Gedächtniskirche, um uns herum ein zerstörter Weihnachtsmarkt, überall zerborstene christliche Symbole, zerbrochene Engel, kaputte Weihnachtssterne – und mittendrin ein schwarzer Laster, wie der Hölle entsprungen. Als wenn die Erde sich aufgetan und einen solchen Lkw ausgespuckt hätte. Totenstille. Und dazu der allgegenwärtige Geruch von Senf, Glühwein und gebrannten Mandeln. Die Bergung eines Leichnams ist immer ein schlimmer Moment für alle Einsatzkräfte. Man weiß, gleich wird aus dem Körper eine Person, gleich kennen wir den Namen, gleich hat sie oder er eine Adresse, eine Biografie, Angehörige. Es gibt einen Spruch, den ich als junger Rettungsassistent manchmal von älteren Notärzten gehört habe: »Bei manchen Dingen ist man froh, wenn man sie nur aus der Zeitung erfährt.« Heute weiß ich, was sie damit meinten.
Einsätze, die man als Feuerwehrmann, als Notarzt, als Polizist oder Rettungsassistent erlebt, können weitaus belastender und traumatischer sein als jede Obduktion dieser Welt. Relativ unvermittelt wird man in Situationen hineingeworfen, die man nicht kommen sehen oder ahnen kann. Man muss trotzdem sicher agieren und funktionieren. Es gibt nicht die Option, sich umzudrehen und zu sagen: »Nein danke, darauf habe ich keine Lust.« Diesen Berufen gebührt unser größter Respekt.