Wien 1893: Im Prater wird eine tote Dienstmagd gefunden, brutal gepfählt. Es ist der Auftakt einer ganzen Serie von Pfahl-Morden. Leopold von Herzfeldt, junger Polizeiagent und neu in der Stadt, soll bei den Ermittlungen helfen. Doch die Kollegen wollen von seiner modernen Tatortanalyse nichts wissen, er wird mit einem anderen Fall betraut. Herzfeldt will nicht aufgeben und findet unerwartete Unterstützung bei Augustin Rothmayer. Der eigenwillige Totengräber vom Wiener Zentralfriedhof ist der Beste seiner Zunft, er kennt jede Todesarte und Verwesungsstufe. Vor allem aber weiß er, dass es für fast jeden Aberglauben eine wissenschaftliche Erklärung gibt. Doch in der Polizeidirektion helfen Leopold von Herzfeldt diese Erkenntnisse wenig. Niemand will ihm zuhören. Bis auf die junge Polizeimitarbeiterin Julia Wolf. Doch Julia, von den Kollegen spöttisch „Lämmchen“ genannt, ist eine Wölfin im Schafspelz. Bei Tag gibt sie die brave Angestellte, nachts taucht sie ein in die Halbwelt des verruchten 16. Bezirks. Denn dort befindet sich Julias eigentliches Zuhause – und auch ihr großes Geheimnis, von dem niemand etwas erfahren darf. Leopold ahnt nicht, worauf er sich da eingelassen hat ...
Ein Fall für Leopold von Herzfeldt
Ullstein
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Originalausgabe im Ullstein Paperback © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021 Umschlaggestaltung: www.zero-media.net, München Titelabbildung: © Granger / Bridgeman Images (Stadtansicht Wien); © FinePic®, München (Kreuz, Schriftmuster, Glow) Autorenfoto: © Frank Bauer E-Book Konvertierung powered by pepyrus.com ISBN 978-3-8437-2479-1
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Für meinen Ururgroßvater Max Kuisl (1861–1924), dessen Grab irgendwo in São Pedro in Brasilien liegt und der zum Zeitpunkt dieses Romans ein junger Arzt war.
Ich habe beim Schreiben oft an ihn gedacht!
»O, du lieber Augustin, alles ist hin … Augustin, Augustin, leg nur ins Grab dich hin. O, du lieber Augustin, alles ist hin.«
(Altes Wiener Volkslied, das auf den Bänkelsänger Marx Augustin zurückgeht, der betrunken und vermeintlich tot in eine Pestgrube geworfen wurde – und am nächsten Tag lebendig daraus geborgen wurde.)
Der Mann im Sarg öffnete die Augen und hörte seiner eigenen Beerdigung zu.
Dumpfe Wortfetzen drangen bis hinunter in sein Grab, durchsetzt vom Klagen und Weinen einer Frau. Er glaubte zu wissen, wer dort weinte, und sein Herz füllte sich mit Sehnsucht.
Anders als erwartet roch es im Sarg nicht schlecht. Das frische Fichtenholz duftete nach Harz, außerdem drang durch die schmalen Schlitze, dort, wo der Deckel mit dem Kasten vernagelt war, ein wenig Luft. Ein schwacher, fast nicht wahrnehmbarer Lichtschein fiel herein. Nun ertönte über ihm eine tiefe Stimme. Der Mann im Sarg konnte den genauen Inhalt der Rede nicht verstehen, aber es war sicher eine gute Rede, eine, die den Leuten vor Augen führte, was für ein wertvoller Mensch er gewesen war. Warum hatten sie nicht so über ihn geredet, als er noch lebte?
Aber was dachte er da? Er lebte ja noch …
Er hatte starke Kopfschmerzen, sein Schädel fühlte sich an wie in ein Glas Leinöl getaucht, aber natürlich, er lebte noch. Probeweise bewegte er erst Finger und Zehen, dann den rechten und den linken Fuß, schließlich die Arme. So ein Sarg war geräumiger als zunächst angenommen, nur ein wenig hart, ein krumm eingeschlagener Nagel drückte gegen sein rechtes Schulterblatt. Außerdem war ihm kalt, es fehlte eine Decke.
Wieder weinte die Frau über ihm, dazu erklang jetzt ein monotoner, gutturaler Laut aus vielen Kehlen gleichzeitig. Es war ein zweisilbiges Wort, das die Menschen dort oben murmelten, und der Mann brauchte eine Weile, um sich zu vergegenwärtigen, was für ein Wort es war.
Amen.
Sie kamen zum Ende.
Plötzlich war ein neues Geräusch zu hören, viel näher diesmal. Ein leises Rummsen und anschließendes Rieseln, das in regelmäßigen Abständen erfolgte.
Schrapp … schrapp … schrapp …
Der Mann hielt den Atem an. Jemand schippte Erde auf den Sarg, kleine Steine klickerten und rollten über den Holzdeckel, das Licht in der Kiste wurde nach und nach schwächer, während die Grube sich mit fetter, lehmiger Erde füllte.
Schrapp … schrapp … schrapp …
Dann war es dunkel. So dunkel, wie es in einem Grab eben war.
Schrapp …
Eine letzte Schaufel voll, verhallende Stimmen, Schritte, die sich langsam entfernten.
Stille.
Der Mann konnte die Stille beinahe fühlen, sie war wie zähflüssiges schwarzes Öl, das von seinen Beinen aufstieg, seinen fröstelnden Körper und schließlich den Kopf und die Haare erreichte und ihm die Ohren verklebte. Er badete förmlich in der Stille. Es war angenehm, auch weil er wusste, dass die Stille nicht ewig währen würde.
Der Mann wartete. Er lauschte, er horchte … dann endlich hörte er etwas. Ein stetes Pochen, so als würde jemand in weiter Ferne an eine Tür klopfen. Das Pochen wurde schneller, lauter!
Sie kommen! Endlich, sie kommen!
Erst nach einer Weile begriff er, dass es das Klopfen seines eigenen Herzens war. Es schlug und schlug, viel zu hastig, wie eine Uhr, die man zu schnell aufgezogen hatte.
Was ist dort oben nur los? Warum geschieht nichts?
Der Mann schrie, und sein eigener Schrei gellte ihm in den Ohren, so laut, dass es die ganze Welt vernehmen musste. Doch niemand hörte ihn, höchstens die paar Käfer, Asseln und Regenwürmer, die irgendwo, ganz nah, in der Erde krabbelten und krochen und darauf warteten, sich in seine Ohren, Augen und Eingeweide zu wühlen.
Allmählich wurde die Luft knapp. Wie lange reichte sie in so einem Kasten? Eine Stunde? Eine halbe? Weniger? Verzweifelt führte er seine Arme nach oben, bis sie auf Höhe des Brustkorbs lagen, dann drückte er mit aller Kraft gegen den Sargdeckel. Erde rieselte an den Rändern herein, verklebte ihm die Augen, er hustete, brüllte, drückte, schrie, schob, presste – doch vergeblich. Seine Fingernägel bohrten sich ins Holz, als könnte er sich auf diese Weise einen Weg ins Freie bahnen, durch Sarg und Erde hindurch, zurück zu den Lebenden.
Wieder schrie der Mann.
Er schrie, weil er insgeheim hoffte, dass er dann aufwachte. Als Kind hatte er einmal einen schlimmen Albtraum gehabt, ein großer Wolf mit blutigen Lefzen hatte an ihm gezerrt und ihn bei lebendigem Leib zerrissen. Damals hatte er geschrien und war schweißgebadet aufgewacht, dann war die Mutter an sein Bett gekommen und hatte ihm ein Schlaflied gesungen, und bald war alles wieder gut gewesen. Er hoffte, er betete, dass auch das hier nur ein Traum war.
Doch es war keiner.
Es ist die Wirklichkeit, dachte der Mann, während er langsam in den Wahnsinn hinüberglitt. Die unbarmherzige Wirklichkeit. Ich bin allein, keiner wird mir helfen, auch sie nicht …
Dieser Sarg war sein Grab, und das Grab war so wirklich wie der muffige Geruch der Erde, das eigene, immer schwächer werdende Keuchen, das Krabbeln der Käfer, Asseln und Spinnen und die ewige Dunkelheit, die ihn tiefer und tiefer hinabzerrte.
Wien, nachts auf dem Prater, Oktober 1893
Der Lichtstrahl der Petroleum-Starklichtlampe tastete wie ein dünner, langer Finger durch die Nacht. Er huschte hierhin und dorthin, wanderte über Büsche und Bäume, streifte ein paar weiter entfernte Würstelbuden und Ringelspiele, die Rückwand eines bunten Kasperltheaters und die hohe Kuppel der Rotunde und verharrte schließlich auf dem Fiaker mit schwarzem Verschlag, der sich vom Prater her mit hoher Geschwindigkeit näherte. Der Kutscher zügelte die Pferde, und das zweispännige Gefährt blieb mit quietschenden Rädern auf der vom Regen aufgeweichten Prater-Hauptallee stehen. Grinsend sah der Kutscher durch die Luke nach hinten und zwinkerte seinem Fahrgast zu.
»So schnell wia a englische Dampflok. Beim Praterderby kannt i mi anmelden. Gnädigster Diener, der Herr …« Erwartungsvoll streckte er die Hand aus, und Leopold gab ihm wie vereinbart den doppelten Lohn und sogar noch ein paar Münzen obendrauf.
»Herzlichen Dank«, sagte Leopold und richtete sich leise stöhnend im lederbespannten Sitz auf. Von dem Höllenritt taten ihm sämtliche Knochen weh. »Das war wirklich verdammt schnell. Sie können froh sein, dass uns kein Polizist angehalten hat.«
»Na, wenn die Polizei selbst im Fiaker sitzt, wird uns scho ka Kieberer anhalten«, gab der Kutscher zurück. Er öffnete den Verschlag, und die kühle, nach Gras, Pferdedung und Moder riechende Feuchte eines Wiener Herbstgewitters empfing Leo. Ein Geruch, der ihn an ein großes, verwesendes Untier denken ließ.
Es regnete seit Stunden, wenn auch nicht mehr so stark wie zu Beginn, ein satter Oktoberregen, der auf das Dach der Kutsche prasselte und von den umstehenden Kastanienbäumen tropfte wie Harz. Leo klappte seine silberne Savonette-Taschenuhr auf, es war exakt acht Minuten nach Mitternacht. Von der Polizeidirektion am Schottenring hierher hatten sie nur zwölf Minuten gebraucht, unter Missachtung sämtlicher Verkehrsregeln. Sie konnten von Glück reden, dass ihnen keine Pferdetramway entgegengekommen war oder, noch schlimmer, eines dieser neuen Automobile, von denen Leo schon mal eines auf den Straßen Wiens gesehen hatte, am Steuer irgendein besoffener reicher Spinner mit seinem Flittchen.
Kurz schaute Leo über die Schulter zurück zu der Allee, die den großen Park wie ein schwarzes Band mittendurch schnitt. Der Prater war ein weitläufiges Erholungsgebiet, geprägt von den Auenlandschaften der Donau, von kleinen Waldgruppen und Büschen, bis hinunter zum Lusthaus und der Galopprennbahn Freudenau, wo sich Adel und Bourgeoisie amüsierten. Gleich hinter den Bäumen, wo der sogenannte Wurstelprater endete, schien die Stadt zu glühen. Die zahlreichen Gaslaternen hüllten die Varieté-Theater, Kaffeehäuser, Spiegelkabinette und Wurfbuden in ein warmes gelbliches Licht. Hier im nordwestlichen Teil des Parks amüsierte sich das einfache Volk auf die immer gleiche Weise. Von den Wirtshäusern ertönten selbst um diese späte Stunde noch Gelächter, Schreie und Schrammelmusik. Eine verstimmte Gitarre leierte zusammen mit einer steirischen Knopfharmonika einen kitschigen Gassenhauer.
Mein Bluat ist so lüftig und leicht wia der Wind, i bin halt an echt’s Weanerkind …
Unwillkürlich summte Leo die Melodie mit. Er hängte sich die abgegriffene Kameratasche samt dem Zusatzbehälter für die Trockenplatten um, nahm den unförmigen ledernen Kastenkoffer in die Hand und stieg aus. Der Kutscher wendete mit einem letzten Peitschenknall und fuhr dorthin zurück, wo die Musik, das Licht und der Lärm herkamen, dorthin, wo das Leben war.
Hier im Wald wartete der Tod.
»Heda, Bubi, hier ist nichts mit Spazierengehen!«, erklang eine Stimme aus der Dunkelheit. Ein kleiner Hügel zeichnete sich grau vor dem pechschwarzen Horizont ab. »Schleich di, hab ich gesagt, des ist a Befehl! Polizeiliche Anordnung!«
Im Regendunst sah Leo einen dicklichen, älteren Wachmann, der in durchnässter Uniform schnaufend auf ihn zukam. Er trug eine flackernde Laterne mit Glühstrumpf, eines der neuen sogenannten Auerlichter, dessen Strahl zuvor auch den Fiaker gestreift hatte. Das rechte Bein zog der Mann leicht nach, er hatte sichtlich Mühe, sich durch das Dickicht abseits des Weges zu kämpfen. »Ist alles abgesperrt hier!«, schimpfte er. »Hast verstanden, Strizzi? Wannst deine Miezn suchst, die san ausgeflogen. Also, kehrt marsch, retour!«
»Ich habe sehr wohl verstanden, bin ja nicht taub«, sagte Leopold. Er klappte das Revers seines Chesterfieldmantels um, wo die allbekannte Marke prangte, eine grauschwarze Stoffkokarde mit dem Habsburger Doppeladler in der Mitte. »Wir beide tun hier nur unsere Pflicht, Herr Wachtmeister.«
»Oh, Verzeihung, Herr Inspektor, ich … ich wusste nicht …« Der Wachmann nahm sofort Haltung an. »Bitte vielmals um Vergebung, Herr Inspektor, aber die Herren Kollegen vom Wiener Sicherheitsbüro sind schon da.«
»Auch das ist mir geläufig«, erwiderte Leopold. »Das dort vorne wird ja kaum ein Lagerfeuer sein.« Er deutete auf den flackernden Schein, der aus dem Waldstück jenseits des Hügels zu ihnen herüberleuchtete. »Sind die Spuren bereits gesichert?«
»Spuren … gesichert …?« Der Wachmann sah ihn verständnislos an. Leopold wies auf die vor Dreck starrenden Schuhe des Beamten.
»Nun, ich sehe, Sie laufen hier mit Ihren Kommissstiefeln durch den Matsch. Selbst im schwachen Licht Ihrer Laterne kann ich Spuren auf dem Erdboden erkennen. Der Tiefe nach könnten sie zu einem, nun ja, stämmigen Mann passen, jemandem wie Sie. Sie hinken leicht, auch das zeigen die Spuren. Das lang gezogene Schleifen ist deutlich zu erkennen, sehen Sie? Ich frage also, ob mögliche andere Spuren bereits gesichert wurden oder ob Sie hier einfach durchtrampeln wie ein Wildschwein durch den Kartoffelacker?«
»Bitte … bitte … vielmals um Vergebung, Herr Inspektor«, stotterte der Dicke.
»Das sagten Sie bereits. Also wohl keine Spurensicherung. Kriegsverletzung?« Leo deutete auf das steife rechte Bein des Mannes.
»Krieg …? Äh, ja, aber woher …«
»Ihre Ausdrucksweise. Erinnert an Militär, vermutlich die Schlacht bei Königgrätz, wenn ich Ihr Alter richtig schätze. Und, ach ja, schicken Sie ein paar Männer zur Zeugenbefragung hinüber zum Wurstelprater, falls das noch nicht geschehen ist. Wenn ich die Zusammenrottung vorhin am Calafati richtig deute, hat sich unser Fall bereits herumgesprochen.«
Ohne ein weiteres Wort schritt Leo an dem verdutzten Wachmann vorbei und näherte sich dem Hügel. Daneben lag ein kleiner See, dessen Oberfläche im Licht weiterer Auerlampen ölig schwarz leuchtete. Einige Uniformierte mit den typischen Blechhelmen und den dunkelgrünen Waffenröcken standen am Ufer, außerdem drei Männer in Zivil. Zwei von ihnen trugen Mantel und Bowler, von deren Krempe der Regen tropfte, der dritte, ein jüngerer Mann, war barhäuptig. Er stützte sich etwas abseits an einer Weide ab, hielt den Kopf gesenkt und gab würgende Geräusche von sich. Der ganze Boden im Umkreis war durchweicht und aufgewühlt.
So viel zu weiteren Spuren, dachte Leo. Ein Wildschwein hätte weniger Schaden angerichtet.
Er atmete noch einmal tief durch. Dann ging er mit zügigen Schritten, den Koffer und die zwei Ledertaschen in den Händen, auf die beiden Männer in Zivil zu. Mit den Wachleuten umstanden sie einen leblosen Körper am Ufer. Als Leo in den Lichtkegel trat, sahen die Männer überrascht auf.
»Verflucht, was machen Sie denn hier?«, knurrte der eine von ihnen, ein stämmiger Kerl mit Glatze und zugeknöpftem Ledermantel, den er fast zu sprengen schien. Trotz des Regens kaute er auf einer erkalteten Zigarre. »Na los, verschwinden Sie! Das ist hier nicht der Nordbahnhof, wenn Sie den suchen.«
»Suche ich nicht, und ich bin auch kein verirrter Reisender. Guten Abend, die Herren!« Leo lüftete seinen eleganten grauen Homburg, dann zeigte er erneut seine Marke. »War der Untersuchungsrichter vom Landesgericht schon da?«
Der Glatzkopf kniff die Augen zusammen, kaute weiter an der Zigarre und musterte einen Moment lang die Marke. »Wer zum Teufel sind Sie? Hab Sie noch nie in der Direktion gesehen.«
»Herzfeldt«, sagte Leo und verbeugte sich leicht. »Leopold von Herzfeldt. Ihr neuer Kollege.«
»Herzfeldt … Klingt ziemlich jüdisch. Sind Sie Jude?«
Leo schwieg. Der zweite Mann mit Bowler trat nun hinzu. Im Gegensatz zu seinem stämmigen Kollegen war er hager, mit Walrossschnauzer und dünnem Haar, das ihm in die Stirn hing wie nasser Tang. Der schwere, mit Wasser vollgesogene Filzmantel zog an seinen Schultern, im Dunkeln sah er aus wie eine zerfledderte Vogelscheuche nach einem Gewitter.
»Ich glaub, ich weiß, wer das ist, Paul«, sagte er. »Polizeikommissär Stukart hat kürzlich auf der Morgensitzung von ihm erzählt, erst vor ein paar Tagen, erinnerst du dich? Dieser junge Kerl aus Graz …«
»Wenn du mich fragst, klingt der da eher wie ein jüdischer Piefke. So spricht doch kein Steirer.«
Die beiden unterhielten sich, als wäre Leo gar nicht anwesend. Er räusperte sich.
»Mein Dienst fängt erst morgen an«, sagte er förmlich. »Aber ich war heute schon in der Direktion, um mich ein wenig, nun ja … einzurichten. Und da hab ich von dem Einsatz hier gehört. Dachte, ich unterstütze Sie spontan …«
»Spontan, am Sonntag? Sie waren am Sonntag im Büro, ohne dass Sie Dienst hatten?« Der dicke Glatzkopf, der offenbar Paul hieß, lachte laut auf, ohne dabei die Zigarre aus dem Mund zu nehmen. Sein buschiger Backenbart verdeckte nur schlecht einen Schmiss an der rechten Wange. Er wandte sich an seinen zaundürren Kollegen. »Was sag ich, Erich? Er muss ein Piefke sein. So was macht kein Österreicher, nicht mal ein Steirer!«
»Und sein Reisegepäck hat er auch gleich dabei«, sagte der Dünne grinsend und deutete auf den sperrigen Koffer und die Taschen.
Leo setzte ein schmales Lächeln auf. »Nun, da ich schon mal hier bin – vielleicht klären mich die Herrschaften kurz auf, mit was wir es zu tun haben.« Er deutete auf den leblosen Körper zwischen ihnen. »Vielmehr mit wem.«
Zum ersten Mal sah er hinunter zu der Leiche, die vor ihm am schlammigen Ufer lag. Die Tote war eine zierliche junge Frau, Leo schätzte sie auf Anfang bis Mitte zwanzig. Sie hatte blassblonde Locken, in denen Laubreste und Dreck klebten, ihre Leinenbluse, unter der sich ein üppiger Busen abzeichnete, war zerrissen, der mit Blutflecken verunreinigte Rock hochgeschoben. Auch an den weit gespreizten Oberschenkeln klebte getrocknetes Blut sowie an der Bluse, im Gesicht und eigentlich überall, vor allem aber am Hals, der eine einzige offene Wunde war. Jemand hatte dem Mädchen die Kehle durchgeschnitten, und zwar so gründlich, dass der Kopf zur Seite hing, als könnte er jeden Moment abfallen.
Leo bemerkte einen schillernden schwarzen Käfer, der aus den regennassen Haaren hervorkroch und über das Gesicht der Toten lief. Ihre Augen waren weit aufgerissen, als könnte sie ihren frühen Tod noch immer nicht fassen, die Füße ragten ins Wasser. Ein Schuh hatte sich gelöst, er dümpelte im Uferwasser wie ein kleines Boot.
Leo fiel das Lied wieder ein, das die Musikanten eben gespielt hatten.
Mein Bluat ist so lüftig und leicht wia der Wind, i bin halt an echt’s Weanerkind …
Er betrachtete eine Pfütze, in der sich rötliches Wasser sammelte, es sah aus wie verdünnte Farbe.
»Die Sicherheitswache vom zweiten Bezirk hat uns eben erst dazugerufen«, sagte der Hagere, der offenbar der Zugänglichere der beiden Zivilinspektoren war und Erich hieß. »Papiere hatte das arme Hascherl keine bei sich. Aber das wird sich schon noch aufklären.« Er zuckte mit den Schultern. »Der Untersuchungsrichter verspätet sich ein bisserl, ist halt Sonntag. Da sitzen die braven Bürger bei Sauerbraten und geschmelzten Erdäpfeln am Tisch und gehen dann früh zu Bett. Na ja, und die nicht ganz so braven, die gehen eben in den Prater …«
Mit einer Kopfbewegung deutete er auf die Leiche. Jenseits des Hügels kreischten ein paar Frauen vor Vergnügen, ein Mann lachte dreckig; der sogenannte Calafati, die überlebensgroße Statue eines Chinesen mit Ringelspiel, war nicht weit entfernt. »So was sieht man leider immer wieder, wenn die jungen Damen einen Ausflug in den Prater machen«, erklärte der Dünne. »Der See am Constantinhügel ist ein beliebtes Ziel für junge Paare. Ich denke, sie wollte mit ihrem Hawara eine nächtliche Bootspartie machen, und er wollte mehr als sie. Sie hat geschrien, da hat der Kerl Panik bekommen …«
»Und schneidet ihr gleich den ganzen Hals durch wie einem Huhn?« Leo kniete sich in den Dreck und begann, die Leiche oberflächlich zu untersuchen. Er glaubte, den feinen metallischen Geruch des Blutes noch immer wahrzunehmen. »Warum hat man noch keine Spuren gesichert?«
»Verflucht, als wir hier ankamen, war alles schon zertrampelt«, murrte der stämmige Glatzkopf mit Zigarre, der neben seinem bohnendünnen Kollegen stand. Zusammen erinnerten sie Leo an zwei Schießbudenfiguren vom benachbarten Wurstelprater. »Zuerst die Zeugen, die die Kleine gefunden haben, dann deren Spezln, dann die Wachleute …«
»Wo sind diese Zeugen? Hat man sie getrennt befragt?«
»Das waren zwei Betrunkene, die zum Brunzen auf den Hügel gegangen sind. Zusammen mit einer Hure übrigens, die ihnen offenbar ihre kleinen Zumpferl gehalten hat. Aber ja, Herr Kollege …« Der glatzköpfige Dicke gab dem Wort einen spöttischen Beiklang. »Wir haben die drei getrennt befragt und zur Überprüfung in die Theobaldgasse bringen lassen. Wir sind ausgebildete Polizeiagenten so wie Sie, schon vergessen? Wir wissen, was wir tun. Und wenn Sie hier schon ungefragt … He, was wird das?«
Leo hatte in der Zwischenzeit den Lederkoffer und die beiden Taschen abgestellt. Mit einem gut geölten Schnappen klappte der Koffer auf, darin befanden sich Fächer in verschiedenen Größen, gefüllt mit Ampullen, Dosen, vielerlei Kästchen und Utensilien, außerdem zehn Bogen Schreibpapier, Feder und Bleistift, Lupe, Schrittzähler, Kompass, Maßband, drei weiße Stearinkerzen und ein silbernes Kruzifix.
Mit geübten Fingern zog Leo den Schrittzähler hervor, eine teure Sonderanfertigung aus Jena. Schweigend und mit genau bemessenen Schritten ging er mit dem taschenuhrgroßen Blechapparat in der Hand die Lichtung ab, wobei er immer wieder stehen blieb und sich Notizen machte. Die beiden Kollegen waren so verblüfft, dass sie für eine Weile schwiegen, und auch die Wachmänner sahen dem Schauspiel staunend zu, wie einem seltenen Tier auf der Balz.
»Was … was zum Teufel machen Sie da?«, meldete sich schließlich der Glatzkopf.
»Ich messe den Tatort ab, suche nach Spuren und … Ah! Würden Sie mir mal leuchten? Hier, bitte.« Leo wandte sich an einen der Wachmänner, der seine Laterne nun dicht über einen Gegenstand am Uferboden hielt. Dort lag, von einem Stiefel in den Dreck getreten, ein schlammverschmiertes rotes Seidenband. Mit einer Pinzette nahm Leo es hoch und steckte es in einen der gefalteten Papierbögen. Suchend sah er sich nach weiteren Spuren um.
»Haben Sie einen Hut gesehen?«, fragte er schließlich in die Runde. »Einen Frauenhut?«
»Da war kein Hut«, sagte der dünne Erich. »Wir haben selbst schon alles abgesucht. Bloß das Band haben wir wohl übersehen. Warum fragen Sie?«
»Nun, manchmal ist fast interessanter, was man nicht findet, nicht wahr?« Leo deutete auf das knappe Dutzend Männer, das schweigend im Kreis um ihn herumstand. »Sie alle tragen einen Hut, und das mit gutem Grund, denn es regnet. Wäre eine Frau draußen ohne Hut unterwegs, bei einem solchen Gewitter? Ich denke, nein. Es regnet seit …« Er klappte seine Taschenuhr kurz auf. »… zwei Stunden etwa. Sie muss also schon vor dem Regen zu Hause losgegangen sein, mit oder ohne Begleitung. Die Totenstarre hat allerdings noch nicht eingesetzt. Und für einen größeren Ausflug hat sie viel zu wenig an, nicht mal eine Jacke, und das im Oktober. Der Todeszeitpunkt dürfte also zwischen neun und zehn Uhr abends gewesen sein, und sie kommt aus der näheren Umgebung, ich denke, aus dem zweiten Bezirk. Die Kleidung ist ärmlich, aber trotzdem gepflegt. Hm …« Leo nickte nachdenklich. »Ein armes, jedoch ordentliches Mädchen, das sich mit einem roten Band ein wenig aufgehübscht hat und am Sonntag einen kleinen Ausflug zum Constantinhügel im Prater macht. Ich vermute, eine Dienstmagd. Wir sollten unsere Suche nach der Identität der Leiche also auf den zweiten Bezirk und dort auf vermisst gemeldete Dienstmädchen konzentrieren. Sind Sie damit einverstanden, meine Herren?«
Eine ganze Weile sagte keiner etwas, nur das Prasseln des Regens und die entfernte Musik waren zu hören. Die Wachleute hatten Leos Ausführungen mit offenem Mund gelauscht.
Schließlich trat der Glatzkopf vor, an seiner Stirn war eine Ader rot angeschwollen, die Narbe auf der Wange zuckte nervös. »Das sind doch alles nur Vermutungen, Sie Obergscheiter!«, bellte er. »Und überhaupt, was soll dieser großspurige Auftritt? Weiß Oberpolizeirat Stehling überhaupt, dass Sie hier sind? Ich leite hier die Ermittlungen, verstanden?«
»Nun beruhig dich erst mal, Paul.« Der dünne Erich fasste seinen dicken Kollegen am Arm. »Das klingt doch zumindest interessant. Lass den Piefke mal machen, kann ja nicht schaden.«
Der dicke Paul gab ein abfälliges Geräusch von sich. In der Zwischenzeit war nun auch der dritte Mann in Zivil hinzugetreten. Er war noch sehr jung, jünger als Leo, und auffällig blass, mit semmelblondem Haar und einem wie mit dem Bleistift aufgemalten dünnen Schnurrbart.
Verlegen wischte er sich mit einem Taschentuch über den Mund, an dem noch Spuren von Erbrochenem klebten. Der Anblick der blutüberströmten Leiche war für den zartbesaiteten Kollegen wohl zu viel gewesen. Doch augenscheinlich hatte er Leos Darlegungen aufmerksam zugehört. Trotz seines kränklichen Zustands wirkte er interessiert, jedenfalls weit mehr als die beiden älteren Zivilinspektoren.
»Meinen Sie, Sie könnten mir kurz helfen?«, wandte Leo sich mit ruhiger Stimme an den jungen Mann.
»Lassen Sie mir bloß den Andreas Jost in Ruhe!«, sagte der dicke Glatzkopf, der offenbar der Vorgesetzte war. »Das ist seine erste Leiche. Mir reicht es schon, wenn er auf die Lichtung kotzt. Wenn er über das Opfer speibt, ists vorbei mit Ihrer schönen Spurensicherung. Außerdem warten wir gefälligst, bis der Herr Untersuchungsrichter eintrifft. So sind die Vorschriften!«
»Wenn der Herr Untersuchungsrichter hier eintrifft, sind alle Spuren vom Regen weggewaschen«, entgegnete Leo. »Wollen Sie das verantworten?«
»Ich denke, er hat recht, Paul«, sagte dessen hagerer Kollege. »Wir sollten wenigstens schon mal anfangen.«
Der Oberinspektor schwieg trotzig und kaute auf seiner Zigarre. Derweil kam der junge Jost auf Leo zu und nickte. »Es … es geht schon wieder, Verzeihung! Hab die Blutwurst zum Abendbrot wohl nicht so gut vertragen. Was … was soll ich genau tun?«
»Ich brauche einen Protokollanten.« Leo reichte dem jungen Kollegen Stift und Papier. »Schreiben Sie alles auf, was ich Ihnen jetzt sage.« Er kniete sich neben die Leiche und begann, seine Beobachtungen laut zu diktieren. »Geschlecht weiblich, etwa zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre alt. Die Totenstarre ist noch nicht eingetreten. Die Kehle wurde mit einem …« Er beugte sich über den Kopf der Toten. »… scharfen Gegenstand durchschnitten.«
»Na, mit einem Messer halt«, warf der dünne Erich grinsend ein. »Mit was sonst, Sie Schlaumeier.«
»Feiner Schnitt ohne Einfransungen«, fuhr Leo stoisch fort und nahm das Maßband zur Hand. »Das Schnittbild weist auf eine sehr scharfe Klinge hin, möglicherweise ein Rasiermesser. Der Schnitt ist …« Er blinzelte. »17,3 Zentimeter lang und geradlinig, eine Glasscherbe wie von einer Weinflasche kann deshalb meines Erachtens ausgeschlossen werden. Weiteres klärt die Gerichtsmedizin. Das Mordopfer ist vermutlich vergewaltigt worden.«
»Vermutlich?« Paul, der Glatzkopf, lachte. »Gratuliere, Herr Kollege, zu dieser großartigen Erkenntnis! Da hat einer seinen Spaß gehabt, und zwar ganz gehörig.«
»Kaum Spuren von Kampf«, ergänzte Leo seine Ausführungen, während der junge Jost zitternd mitschrieb. »Es muss sehr schnell gegangen sein, was auf eine Vertrautheit des Opfers mit dem Täter schließen lässt.« Leo nahm die Hände der Frau und betrachtete sie sorgfältig. »Keine ausgerissenen Haarbüschel, keine Kratzer, nur …« Er zögerte und wandte sich an einen der Wachmänner. »Würden Sie mit Ihrer Laterne bitte einmal näher kommen?«
Im wabernden Licht des Glühstrumpfs sah Leo jetzt, dass sich am rechten Ärmel der Bluse schwarze Flecken befanden, es war eine schmierige ölige Masse, die dort klebte. Er nahm eine kleine Schere aus dem Koffer und schnitt das verdreckte Stück aus der Bluse.
»Ein Reagenzglas aus dem Koffer bitte«, wandte er sich an seinen neuen Assistenten. Dieser reichte ihm nach einigem Suchen das Gläschen.
»Was … was ist das?«, fragte der junge Kollege.
»Das werden wir hoffentlich noch herausfinden.« Leo schnupperte an der Masse. Sie roch wie Teer, allerdings schärfer. »Wir sollten uns das auf alle Fälle unter dem Mikroskop näher ansehen. Vielleicht ist es ein Hinweis auf den Mörder, vielleicht auch einfach nur Dreck. Jede Spur muss untersucht werden.« Er steckte den Fetzen in die Ampulle, verkorkte sie sorgfältig und reichte das Gläschen einem der Wachmänner. »Bitte bringen Sie das in die Direktion. Sie werden doch ein Mikroskop dort haben, oder?«
»Sind Sie dann fertig mit Ihrer Vorstellung, ja?«, unterbrach ihn der Glatzkopf. »Ich hab jetzt wirklich lange genug zugeschaut …«
»Eine Sache noch, Herr Oberinspektor.« Leo stand auf und ging hinüber zu der Ledertasche, die er dort abgestellt hatte. »Ich nehme nicht an, dass die Kollegen eine Kamera dabeihaben?«
»Eine fotografische Kamera? Machen Sie Witze?« Der dünne Erich kicherte. »Was glauben Sie, was das hier ist? Die Weltausstellung in Chicago?«
»Die Universal-Detektivkamera von Goldmann ist ein wahres Wunderwerk an Technik«, sagte Leo, ohne auf den Spott des Kollegen einzugehen. Währenddessen kramte er in der Tasche. »Eine der modernsten Kameras auf diesem Gebiet, sogar mit Weitwinkelobjektiv.« Er zog einen schwarzen, kantigen Gegenstand hervor, etwa von der Größe einer Kaffeemühle. Mit geübter Bewegung klappte Leo den Verschluss auf, woraufhin sich ein Stoffbalg auffaltete wie bei einer Ziehharmonika.
»Es gibt natürlich auch noch handlichere Modelle wie die von Krügener«, erklärte Leo. »Aber bei Krügener ist das Format, wie ich finde, viel zu klein. Die Wiener Polizeidirektion sollte sich wirklich überlegen, ein paar dieser Goldmann-Kameras anzuschaffen. In Paris und London sind sie da schon viel weiter. Das Problem ist wie immer das Licht. Aber ich habe da etwas gebastelt, natürlich nur ein Provisorium …«
Leo präsentierte eine Kerze, um deren oberes Ende ein Blechröhrchen gewickelt war, das in einem Kautschukschlauch mit handgroßem Blasebalg endete. Der seltsame Apparat sah ein wenig aus wie eine kleine Blechhupe. Vorsichtig löffelte Leo aus einer Dose ein weißes Pulver in die Röhre und entzündete die Kerze. Dann reichte er Jost die merkwürdige Vorrichtung. »Drücken Sie bitte auf mein Kommando hin den Blasebalg. Schließen Sie dabei aber unbedingt die Augen, wenn Sie nicht erblinden wollen! Auf mein Zeichen. Eins, zwei und jetzt!«
Jost drückte den Blasebalg, woraufhin das selbst hergestellte Pulver aus Magnesium, Kaliumchlorat und Schwefelantimon in einer weißen Wolke in die Kerzenflamme gepustet wurde. Es explodierte mit einem lauten Knall. Für einen kurzen Moment war es am Seeufer taghell, die Leiche und die Männer, die sie im Kreis umstanden, wirkten wie eingefroren, dahinter erhob sich schwarz der Constantinhügel, gleich einem Scherenschnitt. Im gleichen Augenblick drückte Leo den Knopf seiner Kamera.
Es machte klick.
»Fertig«, sagte Leo und wechselte routiniert die Trockenplatte. »Selbst Kinder könnten mit so einer Kamera Aufnahmen machen. Man nennt es Amateurfotografie, ist in Amerika der neueste Schrei. Beeindruckend, nicht wahr?«
»Verflucht, wollen Sie uns alle in die Luft jagen?«, brüllte Paul, der Glatzkopf. »Es reicht mir jetzt endlich mit Ihren neumodischen Spielchen, Sie … Sie Piefke! Machen Sie, dass Sie hier verschwinden, bevor ich Sie von den Wachmännern abführen lasse! Diesen albernen Hokuspokus können Sie meinetwegen in New York oder Paris aufführen, aber doch nicht hier in Wien! He, hören Sie mir überhaupt zu?«
Doch Leo hörte nicht zu, stattdessen starrte er auf die Leiche. Im grellen Licht hatte er eben etwas bemerkt, was seinem aufmerksamen Auge bislang entgangen war. Vielleicht auch, weil er sich gescheut hatte, näher hinzusehen.
Zwischen den blutigen Schenkeln des Mordopfers steckte ein … Ding.
Jemand hatte dieses Ding so tief in die Vagina der Toten getrieben, dass nur ein winziges Stück davon herausragte.
»Was in Gottes Namen …«, murmelte Leo. Er stülpte sich seine Lederhandschuhe über und zog vorsichtig an dem länglichen Gegenstand. Langsam glitt er zwischen den Schamlippen hervor, fast wie ein Schwert aus einer Scheide.
Als Leo ihn schließlich ins Licht hielt, wichen die Männer unwillkürlich zurück und keuchten. Manche der Wachleute schlugen ein Kreuz. Einer von ihnen schickte ein kurzes Stoßgebet in den regenverhangenen Nachthimmel.
»Mein Gott, wie … wie abscheulich!«, ächzte der hagere Inspektor. »Welcher Teufel macht so etwas?«
»Kein Teufel, sondern ein Mensch«, sagte Leo leise. »Vergessen wir nicht, es sind immer Menschen, die so etwas tun.«
Es war ein angespitzter Pfahl, den Leo mit den Fingern vorsichtig umfasste, gut dreißig Zentimeter lang, aus hartem Holz. Das Blut hatte ihn dunkel gefärbt, trotzdem ließen sich einzelne geschnitzte Buchstaben im Holz erkennen.
»Domine, salva me«, las Leo vor. »Herr, errette mich.« Er wandte sich an den Glatzkopf mit Zigarre. Im Gegensatz zu vorher war dieser nun sehr still.
»Vielleicht sollten wir doch noch versuchen, ein paar Spuren mehr zu sichern«, sagte Leo. »Auch ohne Untersuchungsrichter. Was meinen Sie?« Er reichte dem Kollegen den blutigen angespitzten Pfahl, an dem einige schwarze, krause Haare klebten. »Aber natürlich haben Sie das Kommando, Herr Oberinspektor.«