Der Autor

Noah Richter – Foto © Bernd Brundert

NOAH RICHTER ist das Pseudonym eines erfolgreichen Autors von Drehbüchern, Theaterstücken und Spannungsliteratur. Das Thema Wählermanipulation treibt ihn schon länger um, sein neuer Thriller ist das Ergebnis monatelanger Recherche. Noah Richter lebt mit seiner Familie in Berlin.
Von Noah Richter ist bei Ullstein bereits erschienen:
2,5 Grad – Morgen stirbt die Welt

Das Buch

2021. Neun Monate vor der Bundestagwahl tritt der strahlende Popstar Götz Wolf mit seiner Bewegung Die Morgenröte in den Wahlkampf ein. Doch was als Verheißung einer neuen, besseren Zeit beginnt, entwickelt sich zu einem Schreckgespenst. Götz Wolf schart große Teile der Bevölkerung um sich, eine Welle der Gewalt zieht durchs Land mit dem Ziel, eine Diktatur zu errichten:
Georg Herzfeld ist 27, Influencer und mit seinen neun Millionen Followern der Star auf YouTube. Als sein Vater einen Selbstmordversuch unternimmt, seine Freundin schwanger wird, und er wegen eines Videos auf Schadensersatz in Millionenhöhe verklagt wird, gerät Georg in eine tiefe Lebenskrise. Bis Götz Wolf ihm Hilfe und Rettung verspricht. Getragen von der Idee, dem Land eine Vision der Zukunft zu geben, stürzt Georg sich in die Arbeit und merkt nicht, dass er einem dunklen Messias in den Abgrund folgt …

Noah Richter

Die Morgenröte - Sie nehmen dir dein Leben

Roman

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:
www.ullstein.de

Sämtliche Handlungen und Personen in diesem Buch sind frei erfunden.

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage Juli 2021
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: Composing-Elemente: © FinePic®, München / Auge: GettyImages / EyeEm / © Rene Nortje / EyeEm
Autorenfoto: © Bernd Brundert
E-Book Konvertierung powered by pepyrus.com

ISBN 978-3-8437-2502-6

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

Auf einigen Lesegeräten erzeugt das Öffnen dieses E-Books in der aktuellen Formatversion EPUB3 einen Warnhinweis, der auf ein nicht unterstütztes Dateiformat hinweist und vor Darstellungs- und Systemfehlern warnt. Das Öffnen dieses E-Books stellt demgegenüber auf sämtlichen Lesegeräten keine Gefahr dar und ist unbedenklich. Bitte ignorieren Sie etwaige Warnhinweise und wenden sich bei Fragen vertrauensvoll an unseren Verlag! Wir wünschen viel Lesevergnügen.

Hinweis zu Urheberrechten
Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.
In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Widmung

Für Max

Motto

»Die Menschheit will betrogen werden, heißt es. Aber das stimmt nicht. Die Menschheit will verführt werden. Und um jemanden zu verführen, ist es wichtig, die Bedürfnisse, Wünsche und geheimen Sehnsüchte zu kennen. Was das angeht, ist die Morgenröte ein allmächtiger Gott, schlimmer noch als Facebook.«
Nellie Freitag, 10. Juni 2021

Aufbruch


1

Denkt ihr nicht auch manchmal, es wäre besser, wir hätten wieder einen König? Jemand mit Verstand, Erfahrung, Ausstrahlung, Geld, Stil. Jemand, der einfach cool ist. Ich stelle mir da so eine Mischung aus Wonder Woman, Albert Einstein und dem Alten Fritz vor. Vielleicht auch noch Götz Wolf. Jemand, der entscheidet, was richtig und was falsch ist, der die klaren Ansagen macht und uns sagt, wo es langgeht. Nicht so wie jetzt, wo jedes Problem endlos diskutiert wird, jeder geschlagener Trottel seinen unterkomplexen Senf dazugeben darf, endlos Experten angehört, Konferenzen abgehalten, Task Forces gebildet werden, damit am Ende WAS passiert? Nichts. Und wenn doch, ist es entweder falsch, oder es passiert so langsam, als würdest du Farbe beim Trocknen zuschauen.

Wenn du dir die politische Prinzengarde hier im Land ansiehst, fragst du dich doch, ob die echt sind oder ob jemand die von Madame Tussauds ausgeliehen hat und bei welchem Exemplar der IQ höher ist. Falls jemand einen Beweis braucht, dass die Menschheit von schleimigen Einzellern abstammt, hier ist er. Oder?

Und jetzt stellt euch für einen Moment vor, jemand wie der Alte Fritz wäre unser König. Ich habe gestern auf Amazon eine Doku über den Mann gesehen. Der Philosoph auf dem Königsthron. Mit Mark Aurel als Vorbild fordert er sich selbst zu einem tugendhaften Leben auf, geleitet von Klugheit, Vernunft und Gerechtigkeit, sodass sich die Untertanen ein Beispiel nehmen können, hieß es da. Klingt das nicht verdammt cool? Kann da einer von denen, die im Bundestag sitzen, auch nur ansatzweise mithalten? Ich weiß, Fritze hat ein paar Kriege geführt, aber nur, weil die Franzosen, die Österreicher und die Russen ihm Sachsen wegnehmen wollten. Und da ich nun mal in Leipzig geboren bin und in Dresden wohne, hätte ich in dem Fall auch einen Krieg angefangen.

Es könnte von mir aus auch ein Diktator sein. Natürlich kein Kim Jong-un oder Assad oder der Papst. Der Papst hätte ja auch gar keine Zeit zum Regieren, der müsste sich ja den ganzen Tag mit all den Priestern rumärgern, die ihre Finger nicht von kleinen Jungs lassen können. Auch nicht so ein Schwachkopf wie Donald »grab them by the pussy« Trump. Vielleicht jemand wie Putin. Nur sollte der nicht so verbissen darum bemüht sein, sein Coming-out zu verhindern. Was ist mit dem Chinesen, dessen Namen ich mir nicht merken kann? Der Mann sagt jeden Tag seinen 1,4 Milliarden Landsleuten, was sie machen sollen. Und was machen die? Sie machen exakt das, was er sagt. Wenn nicht, kriegen sie einen Tritt in die Weichteile. Aber sehen die deswegen unglücklich aus? Habt ihr schon mal einen unglücklichen Chinesen gesehen? Rufen die: Wir wollen wählen dürfen? Wir wollen Netflix haben? Wir wollen, dass nichts vorangeht? Ich jedenfalls höre nichts aus dieser Richtung. Aber was weiß ich denn schon?

Das Allerbeste, also gewissermaßen der Goldstandard und die ultimative Lösung des Problems, ist natürlich, wenn moi euer König wäre. Ich weiß, das klingt für einige von euch Nörgelheinis ein bisschen größenwahnsinnig, aber im Gegensatz zu euch habe ich mir gestern einfach mal anstelle eines Abendessens ein paar Gedanken gemacht. Und jetzt weiß ich genau, was in diesem Land passieren muss. Als Erstes würde ich den Klimawandel abschaffen, sämtliche Kriege beenden und jeden Deutschen verpflichten, zweimal pro Tag meine Show auf YouTube anzuschauen und mich zu liken. Damit das möglich ist, würde ich das bedingungslose Grundeinkommen für jeden einführen. Vor allem für meine Gegner. Danach müssten sämtliche Waffenhändler ihre Waffen an sich selbst testen, und ich würde Päderasten und Vergewaltiger zwingen, sich selbst zu ficken. Oder?


Sich selbst zu ficken. War das zu hart? Sogar für eine YouTube-Show? Sollte ich den Satz streichen? Vielleicht später. Der Rest klang aber doch schon mal nicht schlecht. Nur war es noch zu wenig. Der Opener meiner Show Herzfelds Herzschlag war normalerweise fünf Minuten lang. Drei hatte ich. Zwei fehlten noch. Zwei klingt nach nicht viel, allerdings sah es nicht so aus, als würde mir in diesem Leben noch was Besseres einfallen. Seit dem frühen Morgen saß ich im Wohnzimmer auf dem Sofa und zermarterte mir das Gehirn. Ich hatte noch vier Stunden Zeit, dann sollte der Text an Manuela gehen. Sie würde ihn lesen, mit ein paar Anmerkungen zurückschicken, die normalerweise darauf hinausliefen, dass ich den Mittelteil verbessern sollte. Und vielleicht den Schluss. Aber auf jeden Fall den Anfang. Noch drei Stunden fünfundvierzig. Langsam wurde ich nervös.

2

Zwei Stunden später saß ich immer noch da wie zuvor. Das Handy mit der Diktier-App in meinem Schoß, das Tablet mit den Notizen rechts neben mir. Um mich zu inspirieren, hatte ich im Zeitungsladen um die Ecke die FAZ, die Süddeutsche, BILD, Spiegel, Super Illu, Sächsische Allgemeine, DROBS, Playboy und Bäckerblume gekauft und auf unserem neuen gestylten Wohnzimmertisch aus recycelten Europaletten ausgebreitet. Im Fernseher lief ein Vorbericht zum Götz-Wolf-Konzert im Rudolf-Harbig-Stadion, die Dresdner Sensation des Jahres, auf meinem Notebook eine Reportage, in der langweilig über die Wahl im kommenden September berichtet wurde und langweilige Kandidaten einen noch langweiligeren Sermon ablieferten. Was für ein hirnloses Rumgeeiere. Das Ganze unter dem alten Karl-Kraus-Motto: Es genügt nicht, keine Gedanken zu haben, man muss auch unfähig sein, sie auszudrücken.

Vielleicht sollte ich den Müll runterbringen und den Taubendreck vom Fensterbrett abkratzen. Ich hatte bereits meine Plattensammlung neu nach Titeln sortiert und dann die Aktion wieder rückgängig gemacht, weil ich mich besser an Interpreten als an Titel erinnern konnte. Was man eben so macht, wenn es mit der Arbeit nicht vorangeht und man auf der Suche nach Ersatzbefriedigung ist. Selbst Masturbation half nicht weiter, und das war wirklich niederschmetternd. Ich wollte diesmal unbedingt etwas Geistreiches über das Unglück sagen, in das uns die Regierung seit der Pandemie mit all den Pleiten, den Arbeitslosen und den vielen Toten gestürzt hatte. Ich wollte meinen Fans eine ermunternde Botschaft mit auf den Weg geben. Etwas, das sie aufrichten könnte, das ihnen Mut machte. Aber weit und breit ließ sich nichts davon blicken.

Entnervt stand ich auf, schleppte mich zum Kühlschrank, starrte hinein. Vielleicht versteckten sich ja hier die genialen Ideen. Nein. Nur drei Himbeerjoghurts, ein Stück Käse, das mir langsam wie ein feindliches Wesen aus dem Weltall entgegenkroch, die Pizza von voriger Woche mit einem feinen grünen Flaum, Marmelade, Bier. Zwei Flaschen Weißwein boten sich an, ich lehnte dankend ab. Auf der Straße heulte ein Krankenwagen vorbei. In der Hoffnung, dass unser Viertel endlich mal etwas Interessantes zustande brachte, öffnete ich das Küchenfenster. Aber der Wagen bog in Richtung Elbe ab, und die Sirene verstummte. Eine fette Wolke schob sich vor die Sonne, die aufgeschreckten Tauben hockten sich wieder auf die Straßenlaternen und ließen mich einsam in meiner mentalen Wüste Gobi zurück. Seit zwei Wochen war ich allein in der Wohnung. Sophie besuchte ihre Eltern in Boston. Sie fehlte mir. Ihr endloses Reservoir an guter Laune. Die Geräusche, die sie machte, wenn sie mit zwei Fingern in ihr Notebook hackte, ihr Geruch, wenn ich die Nase in ihre Haare versenkte, die Berührungen ihrer warmen Hände. Ich stellte mir vor, wie ich ihr T-Shirt … und da riss mich das Telefonklingeln aus meinem erotisierten Tiefflug.

Mein Vater. Auf der Mailbox. Die Nachricht war vier Stunden alt. Ruf mich an. Drei Worte. Das war alles. Ruf mich an. Kein Hallo, kein Wie geht es dir?, kein Tschüss, nur Ruf mich an. Obwohl ich es nicht anders von ihm kannte, nervte es mich jedes Mal endlos, wenn er mit diesem Befehlston um die Ecke kam. Ein Herzfeld bittet nicht, alte Bundeswehrschule. Als ob das eine Entschuldigung wäre. Allerdings klang er diesmal seltsam kraftlos, als hätte er sich die Kante gegeben und die Nacht durchgemacht. Sollte ich zu ihm fahren? Und mir dann wieder anhören, dass ich mich nicht um ihn kümmerte, dass ich selbstsüchtig war, nur darauf wartete, dass er ins Grab steigt?

Mein alter Herr und ich hatten von Anfang an ein schwieriges Verhältnis gehabt. Er war nicht der Vater, den ich mir gewünscht hatte, und ich nicht der Sohn, den er erwartet hatte. Man muss es sich so vorstellen: Als ich im Kreißsaal aus meiner Mutter herausgeschlüpft war und ihn sah, wollte ich sofort wieder zurück. So ungefähr jedenfalls. Wir haben vom ersten Tag an miteinander gefremdelt, wie Stiefvater und Stiefsohn. Möglicherweise war es ja auch so. Obwohl meine Mutter es immer bestritten hatte. Aber mein Vater war blond, ich hatte braune Haare, er hatte grüne Augen, ich braune, er war dick, ich nicht. Er hatte ein klares Weltbild, dessen Paradies darin bestand, sich zu Tode zu schuften, ich gehörte zu der Generation, die über alles jammert und an den Weltuntergang glaubt. Er war ein Arschloch, ich nicht. Zumindest dachte ich das. Um damit halbwegs klarzukommen, hatte ich mir seine Strenge, die keine Herzlichkeit duldete, mit den asozialen Anforderungen eines Berufes erklärt. Gehe früh ins Bett, stehe früh auf, hasse alle, die das nicht machen müssen, kriege eine Staublunge, mache wiederum alle dafür verantwortlich außer dich selbst und sterbe mit fünfzig an Lungenkrebs. Den Lungenkrebs hat er nicht hingekriegt, den Rest schon.

Ich rief ihn dann doch zurück. Wie immer. Er ging nicht ans Telefon. Auch wie immer. Umso besser. Trotzdem wuchs in mir eine komische Unruhe. Sollte ich mal nach ihm schauen? Bis nach Neustadt waren es sechs Kilometer.

3

Es war bereits dunkel, als ich vor dem Haus ankam. Die Straßenlaternen warfen ein mattes Licht, das kaum bis zum Boden reichte. Die Mülltonnen standen wie Soldaten in Reih und Glied auf der Straße, damit sie am nächsten Morgen geleert werden konnten. Im Gegensatz zu der Gegend, in der ich wohnte, war hier alles sauber und gepflegt. Als würde jemand statt seines Hundes einen Staubsauger spazieren führen. Ich stellte das Fahrrad in dem Ständer vor der Bäckerei ab und schloss die Haustür auf.

»Hallo? Ich bin’s«, rief ich.

Auf dem Tisch im Wohnzimmer standen Weinflaschen, Bierflaschen, Cognac und Korn. Billiges Zeug von Aldi. Papiertüten von Lieferando neben Hosen, Hemden und Socken, Zeitungen und Papiertaschentüchern. Mein Vater hat ein Sexleben gehabt, dachte ich und wunderte mich, dass ich mich darüber wunderte. Auf dem Sofa lag eine Bettdecke, die Ränder waren grau. Ich stieg die knarzende Treppe hinauf, um im Schlafzimmer nachzusehen. An der Garderobe im Flur hing sein alter Wintermantel. Schuhe lagen kreuz und quer verteilt. Verfaulte Blätter und Schmutz von Spaziergängen bedeckten den Fußboden. Im Schlafzimmer roch es muffig nach altem Mann und schimmligen Wänden. Als hätte er seit Wochen weder geduscht noch gelüftet.

»Papa?«

Wenn er nicht in der Wohnung war, blieb noch die Backstube. Um diese Uhrzeit? Ich eilte die Treppe wieder runter, rutschte auf der vorletzten Stufe aus und konnte mich gerade noch am Geländer festhalten, bevor ich lang hinschlug. Die Tür zum Verkaufsraum stand offen, was ungewöhnlich war, weil er eigentlich darauf bestand, alle Türen zu schließen, damit die Wärme nicht entweichen konnte. Licht musste gelöscht werden, sobald man einen Raum verlassen hatte. Atmen war nur in Ausnahmefällen erlaubt, und dann auch nur ein Mal pro Minute. Ich blieb kurz stehen. Es roch unangenehm, als wäre ein Abfluss verstopft. Ein kalter Hauch wehte über meinen Nacken.

»Hallo?«

Immer noch keine Antwort. Ich durchquerte den Verkaufsraum und ging nach hinten in die Backstube. Dunkel. Lediglich das Deckenlicht warf einen kümmerlichen Schein in seine heilige Hölle. Und dann sah ich ihn. Er trug die übliche grau karierte Bäckerhose, die an ihm festgewachsen zu sein schien, und ein weißes T-Shirt. Er stand auf Zehenspitzen. Grinste er mich an?

»Papa?«, sagte ich. »Was machst du da?«

Noch während die letzten Buchstaben über meine Lippen stolperten, sah ich, was er machte. Er stand nicht auf Zehenspitzen, er hatte sich einen Strick um den Hals gelegt. Ein Seil, so dünn, dass ich es im ersten Moment übersehen hatte. Hinter ihm lag ein Stuhl auf die Seite umgekippt. Sein Körper war wie in einem Krampf erstarrt. Die Arme waren zur Seite gestreckt, die Finger gespreizt, die Zunge schaute blau zwischen den Lippen hervor wie ein Tier, das aus ihm herauskriechen will. Die Augen, als wollten sie ihre Höhlen verlassen. Schaum auf den Lippen. Er hat sich das Leben genommen. Er hat sich erhängt. Und ich stehe hier, halte die Luft an, bin unfähig, auch nur einen Schritt zu machen. Der Boden unter mir bewegt sich, die Wände neigen sich gegeneinander. Es ist nicht wirklich. Es kann nicht wirklich sein, dachte ich. Denn irgendetwas stimmte hier nicht. Irgendetwas in diesem Bild war falsch. Aber was? Zuerst sah ich es nicht. Doch dann. Blinzelte er? Ja, er blinzelte tatsächlich! Das hieß, er lebte! Ich stürzte auf ihn zu, umfasste ihn an der Hüfte, hob ihn hoch, damit der Druck des Seils auf seinen Hals nachließ.

»Was machst du?«, schrie ich. »Bist du verrückt geworden?«

Er sah mich an, ein eigenartiger Aufruhr in den Augen. Dann hob er die Arme, legte die Hände auf meine Schultern, als wollte er sich abstützen. Aber im nächsten Moment merkte ich, dass er sich nicht abstützte, sondern mich von sich wegschob. Die Füße traten nach mir. Die Knie stemmten sich gegen meine Brust. Er schlug nach mir, traf mich im Gesicht.

»Hör auf!«, schrie ich ihn an.

Ich drehte den Kopf weg. Trotzdem trafen mich seine Fäuste immer wieder. Die Nase, die Wangen, den Hals. Um seinen Schlägen zu entgehen, musste ich ihn drehen und von hinten hochhalten. Dabei merkte ich, dass seine Hose feucht war. Er hatte sich vollgepinkelt und dem Geruch nach auch eingeschissen. Die Feuchtigkeit drang durch meinen Pullover, ich spürte die warme Nässe. Und die ganze Zeit zappelte er hin und her, griff nach hinten, fasste meine Haare und zog daran. Er wollte nicht gerettet werden. Er wollte sterben.

Meine Arme wurden schwer. Lange würde ich ihn so nicht mehr halten können. Irgendwie musste ich versuchen, das Seil zu lösen. Ich zog mit dem rechten Fuß den Stuhl herbei, kletterte darauf. Mit der linken Hand hielt ich ihn am Gürtel hoch. Aber es gelang mir nicht, den Knoten am Wasserrohr mit einer Hand zu lösen. Was jetzt?

Neben dem Ofen lag ein Messer. Damit ritzte er normalerweise die Oberseite der Brötchen ein. Ich ließ ihn los. Ein krächzendes Röcheln entwich seinem Mund, weiße Blasen quollen zwischen den Lippen hervor, seine Augen traten wieder aus den Höhlen. Beeil dich, Georg. Vom Stuhl heruntersteigen. Das Messer greifen, zurück auf den Stuhl. Das Seil war zwar dünn, aber fest, und ich musste eine Weile sägen, bis ich es durchtrennt hatte. Dann endlich stürzte er zu Boden und ich mit ihm. Ich raffte mich schnell auf und konnte endlich seinen Hals aus der Schlinge befreien. Er riss den Mund auf, sog die Luft ein, hustete, zuckte krampfend.

»Warum hast du das gemacht?«, fragte ich.

Er packte mich an den Haaren, zog mich zu sich heran, sein Mund nahe an meinem rechten Ohr. Er krächzte irgendetwas, das ich nicht verstehen konnte.

»Was sagst du?«

Er hob den Kopf, seine Lippen berührten meine Ohrmuschel.

»Wieso … hast du … so lange … gebraucht?«

»Ich wusste doch nicht, dass du dich umbringen willst«, sagte ich.

Er ließ meinen Kopf los, sah mich an. Entsetzt, wütend, als würde er die Schuld von siebenundzwanzig Jahren auf mich türmen. Dann knallte sein Kopf auf den Boden, und er schloss die Augen.

»Papa!«

Ich rüttelte an seinen Schultern, schlug ihm auf die Wangen, schrie ihn an. Ich hatte keine Erfahrung mit Selbstmordversuchen. Ich wusste nicht, was der Entzug von Sauerstoff anrichtet, wie lange es dauert, bis das Gehirn irreparable Schäden erleidet, und wie ich in irgendeiner Weise Erste Hilfe leisten konnte. Aber ich erinnerte mich dunkel an den Kurs, den ich während der Führerscheinprüfung ablegen musste. Darin war uns gesagt worden, dass wir zuerst den Selbstschutz berücksichtigen sollten, was hier aber nicht nötig war, da er aufgehört hatte, nach mir zu schlagen. Danach musste überprüft werden, ob die betroffene Person bei Bewusstsein war. Gegebenenfalls sollte man laut um Hilfe rufen. War die Person nicht bei Bewusstsein, sollte man überprüfen, ob sie überhaupt noch lebte. Das konnte man feststellen, indem man die Atmung kontrollierte.

Ich ging das Prozedere so ruhig wie nur möglich an. Griff unter seine Schultern, hob meinen Vater leicht hoch, neigte seinen Kopf nach hinten und hielt das Kinn fest. Der Brustkorb bewegte sich. Das war schon mal gut. Ich hielt das rechte Ohr über seinen Mund und spürte seinen schwachen Atem. Er lebte noch. Ich wählte die 112.

Keine fünf Minuten später hielt der Notarztwagen des Roten Kreuzes vor der Bäckerei. Mein Vater wurde beatmet und in den Krankenwagen verladen. Ich durfte ihn auf der Fahrt in die Klinik begleiten. Saß neben der Liege, auf der er festgeschnallt war, und wagte nicht, seine Hand zu nehmen. Der Arzt sagte, er würde durchkommen. Ich nickte. Es war seltsam. Obwohl ich so oft wütend auf ihn gewesen war, ihm manchmal die Pest an den Hals gewünscht hatte, berührte mich der Satz. Und plötzlich schlich sich eine tiefe Angst an. Es war, als würde jemand nach meinem Herz greifen und es zusammendrücken. Ich senkte den Kopf, weil ich nicht wollte, dass der Arzt sah, wie mir die Tränen in die Augen schossen.

Auf dem Boden des Krankenwagens lag ein Brief von der Deutschen Bank. Er musste meinem Vater aus der Hosentasche gefallen sein.

4

Vor einer Stunde hätte das Konzert beginnen sollen, und die Polizeiführung überlegte immer noch, ob es nicht das Beste wäre, die Veranstaltung komplett abzusagen. Statt dreißigtausend zugelassenen Zuschauern befanden sich inzwischen mehr als fünfundvierzigtausend im Rudolf-Harbig-Stadion. Der Ort war zu einem Pulverfass geworden, und ein einziger Funke würde genügen, damit die Situation eskalierte. Viele Fans waren betrunken, auf den Rängen wurden die Sitze aus den Verankerungen gerissen, hie und da fingen Besucher an, sich zu prügeln. Die Alternative war kaum weniger riskant. Götz müsste rausgehen, sich ans Klavier setzen, seine Fans beruhigen und das Konzert halbwegs kontrolliert über die Bühne bringen. Es war ja nicht das erste Mal, dass sie gründlich durchdrehten. Das konnte er schaffen. Aber er fragte sich, ob er sie diesmal nicht einfach laufen lassen sollte. Sie nicht beruhigen, wie er es sonst immer tat. Er wollte es spontan entscheiden, sobald er auf der Bühne stand.

»Eine Bande unfähiger Idioten«, schimpfte er, als er von der Besprechung zurück in seine Garderobe ging, wo eine Reporterin von der Sächsischen Allgemeinen auf ihn wartete. Sie hatte es in dem Tohuwabohu geschafft, bis zu ihm vorzudringen. Dass sie erst fünfundzwanzig war, blond und durchaus hübsch zu nennen, hatte erheblich geholfen. Mit einem Zwinkern hielt sie ihren Kameramann an, immer auf den Superstar draufzuhalten. Das war nicht besonders schwer, weil der Raum nur etwa zwölf Quadratmeter groß war und Götz der Kamera kaum entwischen konnte.

»Ein Jahr haben die Zeit gehabt, das Konzert zu organisieren. Ein Jahr! Und trotzdem endet es im Chaos«, knurrte Götz. Er war außer sich, während er versuchte, in seine schwarzen Cowboystiefel zu schlüpfen. Ausgelatschte Boots, die er schon so oft hatte reparieren lassen, dass fast nichts mehr daran original war.

»Aber da sind sie nicht die Einzigen«, schimpfte er. »Angefangen bei der Kanzlerin bis zu dem letzten unfähigen Volltrottel auf irgendeinem Bürgermeistersessel in irgendeinem Provinzkaff geben sie sich alle Mühe, das Land zu ruinieren. Und wie machen sie das?«

Er sah die Reporterin fragend an, woraufhin ihre Gesichtsfarbe von Blass zu Hellrot wechselte. Sie war noch neu in dem Geschäft, und das hier war ihre erste große Reportage. Und dann auch noch mit Götz Wolf. Sie legte eine blonde Strähne hinter das rechte Ohr, schob ihre Brille zurecht und wollte gerade zu einer Reihe von Ähs ansetzen, als Götz die Frage selbst beantwortete.

»Indem sie zuallererst sich selbst versorgen, dann ihren Freunden Posten zuschanzen und nach ihrer Amtszeit bei den Unternehmen anheuern, denen sie vorher die Kohle bis zum Anschlag hinten reingeschoben haben. Währenddessen verlieren Millionen ihre Jobs, gehen mit ihren kleinen Geschäften pleite, fliegen aus ihren Wohnungen. Wann wart ihr beiden zuletzt am Bahnhof?«

Er deutete abwechselnd auf die Reporterin und den Kameramann.

»Ich vor einer Woche. Da bin ich nach Paris gefahren«, sagte die Reporterin stolz.

Götz zog den Bauch ein, damit er den obersten Knopf seiner Jeans zumachen konnte.

»Das meine ich nicht. Hast du dir mal die Caritas am Bahnhof angesehen? Ich bin vorhin da vorbeigefahren. Da hängen jetzt nicht mehr nur die Penner rum. Da sind Frauen mit Kinderwagen, Schüler, Männer in Anzügen, Alte, Junge. Die stehen da mit gesenkten Köpfen und verschämten Blicken und warten auf einen Teller Suppe, ein Stück Brot und einen Becher Tee.«

Das Bild hatte ihn zuerst gerührt und dann wütend gemacht. Weil niemand sich um sie kümmerte, weil man sie alleinließ. Wer wollte den Leuten verübeln, dass sie stinksauer waren. Dass sie die Schnauze voll hatten und sich den Radikalen zuwandten, bei Demonstrationen anfingen zu plündern. Keine Klamotten, keine Elektronik, sondern Essen!

»Interessiert das jemanden?«

»Ja«, sagte die Reporterin, »dich … ich meine Sie. Sie haben so viele tolle Lieder, die den Menschen Mut und Hoffnung machen.«

»Blödsinn. Lieder, Musik, was ändert das denn? Ich mache das seit zwanzig Jahren. Und hat sich was gebessert?«

Wieder so eine rhetorische Frage, auf die die Reporterin keine Antwort wusste.

»Ich bin doch nur der Clown, der Pausenfüller zwischen den großen Nummern, bei denen wir alle in den Arsch gefickt werden. Ich singe vom Leben der einfachen Leute, und alle jubeln mir zu. Dabei bin ich nicht besser als das verdammte Fernsehen, die blinkenden Shoppingmalls und die öden Skandale in den Zeitungen.«

Das Gebrülle aus dem Stadion drang bis in die Garderobe herein. Götz hielt kurz inne, als er das Hemd zuknöpfte. Noch fünf Minuten.

»Ihr müsst jetzt gehen«, sagte er. »Vielleicht sehen wir uns noch nach dem Konzert.«

Er schickte die Reporterin und ihren Kameramann aus der Garderobe, konzentrierte sich, versank für ein paar Minuten in einer Instant-Meditation. Dann war er bereit. Ließ sich von der Tourmanagerin durch die endlosen Gänge führen. Der Lärm war die Navigation. Vorbei an den Mitarbeitern, die für die Backstage zuständig waren. Ein Vorhang wurde beiseitegeschoben. Götz Wolf trat auf die dunkle Bühne hinaus, der Suchscheinwerfer erfasste ihn, und während er zum Klavier ging, rollte ein Sturm der Begeisterung wie ein Tsunami über die Bühne. Fünfundvierzigtausend, dicht gedrängt wie ein einziger Körper, schrien sich die Seele aus dem Leib. Die Absperrgitter, einen Meter von der Bühnenkante entfernt, ächzten und klapperten. Ordner hatten alle Hände voll zu tun, die Meute in Schach zu halten. Hoben die Ohnmächtigen aus der Menge und übergaben sie den Sanis.

Götz saß unterdessen unbeweglich auf dem Klavierhocker. Den Kopf leicht gesenkt, die Hände im Schoß gefaltet. Im Licht des goldgelben Scheinwerfers sah er aus wie der Held eines Superheldenfilms. Er war fast zwei Meter groß, leicht übergewichtig, blond wie ein Siegfried, Locken bis zu den Schultern. Blaue Augen, eine kleine, filigrane Nase und darunter volle, sinnliche Lippen. Er trug ein weißes Hemd, dessen Ärmel er bis über die Ellbogen hochgekrempelt hatte. So wartete er bei jedem Konzert, bis die Menge sich beruhigte. Das konnte schon mal ein paar Minuten dauern. Aber er fing nicht an, bevor es absolut still war. Dann legte er die Hände auf die Tasten.

Auf der Playlist standen fünfundzwanzig Songs. Zuerst der aktuelle Hit Die Heldin. D-Dur, einzelne Töne mit der rechten Hand wie Perlen an einer feinen Schnur. Sie ist die Heldin aus den stolzen Träumen, das Fühlen, das Lachen und das Fliegen / Auf dem Weg in den Himmel auf Erden und das Lied vom Fallen und Liegen. Es begann leise, fast schüchtern und steigerte sich zum Ende hin zu einem gewaltigen Crescendo, indem er die Akkorde beidhändig ins Klavier hämmerte. Als der letzte Ton verklungen war, hatte er seine Fans gebändigt, hielt sie in Händen. Die Ungeduld, weil sie so lange hatten warten müssen, entlud sich nun in Begeisterung und Freude. Rote Rosen flogen auf die Bühne. Plüschtiere, BHs und Slips. Schilder wurden hochgehalten. Heirate mich. Ich liebe dich. Ich will ein Kind von dir. Eben all das, womit die überquellenden Herzen sich Luft verschaffen konnten.

Götz drehte sich auf dem Klavierhocker langsam zum Publikum hin. Er öffnete den ersten Knopf an seinem Hemd, was zu weiteren Gefühlsentladungen führte. Dann nahm er das weiße Handtuch, das jeden seiner Auftritte begleitete, und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Eigentlich sah der Ablaufplan vor, dass er die Songliste herunterspielte, in den Pausen dazwischen ein paar Anekdoten erzählte, traurige, lustige, schlüpfrige, und am Ende dem Publikum eine halbe Stunde Zugabe gewährte. So lief es immer ab. Nur nicht an diesem Abend. Er ging zu dem zweiten Mikrofon, das am Bühnenrand stand. Schaute seine Fans an, als würde er sie alle persönlich kennenlernen wollen, als würde er wissen wollen, wer das ist, zu dem er gleich sprechen will. Keine anonyme Masse, sondern eine Versammlung von Individuen und Schicksalen. Er schwieg. Fünf Sekunden, zehn Sekunden, zwanzig Sekunden, eine gefühlte Ewigkeit. Er senkte den Kopf, hielt das Mikro so nahe an den Mund, dass man hören konnte, wie er atmete.

»Es war der neunte Februar 1980. Ich erinnere mich noch genau, als wäre es gestern gewesen. Meine Mama war an dem Tag früher als sonst nach Hause gekommen. Meine Schwester Marie, mein kleiner Bruder Andreas und ich haben ihr die schweren Einkaufstaschen abgenommen. Sie hat nichts gesagt, hat sich nur an den Küchentisch gesetzt und geheult. Neckermann hatte ihr gekündigt, weil es zu viele Buchhalterinnen waren. Meine Schwester hat sie gefragt, warum sie nicht zum Arbeitsamt geht. Aber das wollte sie nicht. Sie war ein Sturkopf, wie ihr es noch nicht erlebt habt. Auf ihrem Schädel hätte man Holz hacken können. Sie hat dann drei Jobs angenommen, um uns Kinder durchzubringen. Frühmorgens hat sie Zeitungen ausgetragen, mittags im Rathaus geputzt und abends in einer Kneipe bedient. Fünf Jahre lang. Und dann ist sie eines Morgens nicht mehr aufgewacht. Ich hab Die Heldin für sie geschrieben.«

Er flüsterte die Strophe. Sie ist für jeden da, nur nicht für sich, ist für jeden da, nur nicht für sich. Hielt das Mikro mit beiden Händen, als brauchte er den Halt. Und alle sahen, dass die Erinnerung ihm Tränen in die Augen getrieben hatte. Jetzt hob er wieder den Kopf. Wischte die Tränen weg. Schaute ins Publikum, hielt die Hand wie einen Schirm an die Stirn, blinzelte, weil die Scheinwerfer ihn blendeten.

»Viele von euch haben in den vergangenen Monaten ihren Job verloren. Man hat euch gesagt, dass ihr und die, die euch entlassen haben oder euch in die Pleite getrieben haben, dass ihr alle im selben Boot sitzt. Aber das stimmt nicht. In diesem Boot gibt es den Maschinenraum. Ganz tief unten, wo die Krankenschwestern, die Müllkutscher, die Bauarbeiter, die Verkäuferinnen, die Kindergärtnerinnen, die Kraftfahrer, die Mütter hocken und den Laden am Laufen halten. Dann gibt es die Innenkabinen, wo die Ärzte und Angestellten und Beamten sitzen und sich den Arsch aufreißen. Dann die Außenkabinen mit den Leuten von den Zeitungen, die Schriftsteller, die schlaue Bücher über euch schreiben, ohne zu wissen, wie euer Leben wirklich aussieht. Und dann ganz oben die Brücke und das Sonnendeck für die Politiker, Unternehmer, Banken. Die ihr Luxusleben nur leben können, weil ihr wie die Blöden schuftet. Und was ist der Dank? Wenn sie euch nicht mehr brauchen, entlassen sie euch. Machen die sich Gedanken um euch?«

Er nahm das Mikro aus der Halterung, setzte sich an den Bühnenrand. Die Kameras übertrugen das Bild auf die riesigen Leinwände, die rechts und links von der Bühne aufgebaut waren.

»Nein, das machen sie nicht. Für die seid ihr nicht mehr als ein Haufen Idioten. Ihr sollt nicht darüber nachdenken, was ihr braucht. Ihr sollt nicht sagen, dass ihr Angst um eure Zukunft und die eurer Kinder habt. Ihr sollt euer Leben als Schicksal ansehen, das ihr sowieso nicht ändern könnt. Wenn ihr unbefriedigt seid, sollt ihr shoppen gehen, wenn ihr frustriert seid, sollt ihr fernsehen und euch besaufen, und wenn ihr nicht mehr weiterwisst, sollt ihr euch die Kugel geben.«

Es war ein kalter Spiegel, den er seinen Fans vorhielt. Einer, der ihnen nicht schmeichelte. Sie hingen ungeduldig und gespannt an seinen Lippen. Worauf wollte er hinaus?

»Ihr seid selbst daran schuld, dass es euch so beschissen geht, sagen sie. Aber das stimmt nicht, ihr seid nicht schuld daran. Und trotzdem seid ihr die Einzigen, die es ändern können.«

Er deutete ins Publikum, sah denen in den vorderen Reihen in die Augen. Ohne es zu merken, hatte er sich entschieden, sie nicht zu beruhigen, ihnen nicht zu sagen, dass alles gut werden wird. Er zeigte auf ein Pärchen direkt vor ihm.

»Du und du. Ihr müsst den Politikern und den Firmenbossen sagen, dass ihr euch nicht mehr alles gefallen lasst, dass ihr keine Schafe seid, die man einfach so schlachten kann. Dass ihr lange genug verarscht worden seid. Dass ihr die Scheiße nicht mehr ertragt. Und dass jetzt die Zeit gekommen ist, in der ihr euch zu wehren beginnt.«

Die letzten Sätze hatte er so laut in das Mikrofon gebrüllt, dass es zu Übersteuerungen kam. Die Rückkopplungen jagten durch das Stadion, als würden Raubvögel angreifen. Das Publikum tobte, schrie. Das Pulverfass, von dem der Polizeichef gesprochen hatte, war bereit und wartete darauf, dass Götz Feuer an die Lunte legte. Er sah es. Er stand auf, blieb am Bühnenrand stehen und ließ die Meute eine Weile toben. Er genoss mit einem Schaudern die Macht, die er in solchen Momenten hatte. Ein Wort genügte, und seine Fans würden aus dem Stadion stürmen und alles kurz und klein schlagen. Sie würden ihrer Wut, die er hochgekitzelt hatte, freien Lauf lassen. Aber das durfte nicht geschehen. Nicht heute. Er wusste um die Verantwortung, die jeder hat, der auf einer Bühne steht und dem Zehntausende zujubeln. Er musste sie steuern, ihre Erregung kanalisieren.

»Ich werde euch bei diesem Kampf unterstützen. Mit allem, was ich habe. Mit jeder Faser meines Körpers. Ich konnte nicht für meine Mama kämpfen, weil ich zu klein und dünn und ohnmächtig war. Und weil ich Angst hatte. Heute habe ich keine Angst mehr. Ich bin groß. Und ein bisschen dick. Ich gebe es zu. Aber das heißt auch, dass niemand an mir vorbeikommt.«

Die Leute lachten. Er machte wieder eine Pause. Und dann sagte er einen Satz, von dem er wusste, dass er sein Leben radikal verändern würde. Es war eine spontane Entscheidung, zu der er sich in den letzten Minuten selbst gedrängt hatte. Götz hob die Hände in die Höhe, er musste brüllen, um den Lärm zu übertönen.

»Ich will den ganzen Weg mit euch gehen … und deswegen gebe ich hiermit meine Kandidatur für die Bundestagswahl bekannt.«

Kaum hatte er den Satz ins Publikum geschleudert, brach ein Sturm los.

»Ich weiß auch noch nicht genau, wie das alles gehen soll. Aber ich werde für euch kämpfen. Und wir werden zusammen eine großartige Bewegung sein. Und diese Bewegung wird Morgenröte heißen.«

Er spielte das Konzert zu Ende. Dreieinhalb Stunden. Verausgabte sich und riss sich wie üblich auf dem Höhepunkt das Hemd vom Leib. Als das Konzert vorbei war, kam es rund um das Stadion zu schweren Ausschreitungen. Lorenz Ziffer rief ihn noch in derselben Nacht an, um ihm zu gratulieren. Er wollte sich so bald wie möglich mit Götz und Amalia zusammensetzen, um über die Morgenröte zu sprechen.