mit einem Rückblick auf meine bewegten Jahre voller Begebenheiten, Überraschungen und Auseinandersetzungen in zwei verschiedenen politischen Systemen. Ein Bericht über Erlebtes und meine Gedanken zu persönlichen Erfahrungen beim Erwachsenwerden sowie über Eindrücke auf inspirierende Reisen zu den historischen Schätzen der Menschheit. Aber auch Hinweise auf meine Arbeit als Designer und Kunstschaffender mit wandelnden Einsichten. Es ist kein Roman, sondern vielmehr ein Bericht über die Vielfältigkeit des Lebens mit allen freudigen Ereignissen und auch unabwendbaren Schattenseiten.

Anmerkungen

"Was das Bauhaus in der Praxis lehrte, war die Gleichberechtigung aller Arten schöpferischer Arbeit und ihr logisches Ineinandergreifen innerhalb der modernen Weltordnung. Der Leitgedanke war, dass der Gestaltungstrieb weder eine intellektuelle noch eine materielle Angelegenheit ist, sondern einfach ein integraler Bestandteil der Lebenssubstanz der zivilisierten Gesellschaft. Unser Ehrgeiz ging dahin, den schöpferischen Künstler aus seiner Weltfremdheit aufzurütteln und seine Beziehung zur realen Werkwelt wieder herzustellen".

Walter Gropius 1956 in "Architektur" Fischer-Bücherei.

Impressum

Herausgegeben wurde das Buch vom Auto selbst.

Satz, Layout und Fotos wurden vom Autor gestellt.

Copyright und Druck

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Name: Horst Esther-Hartmann hartmanndesign@t-online.de

Hersteller und Verlag

BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN : 9783749426010

Der Autor

Horst Esther-Hartmann

Geboren wurde ich 1939 in Berlin-Tempelhof, im Jahr des Kriegsbeginns. Meine Kindheit verbrachte ich in Berlin, Neiße, Augustusburg und Bautzen. Nach den Schulabschlüssen begann ich 1957 ein Studium an der Ingenieur-Hochschule Mittweida und erwarb den Diplomabschluss. Danach studierte ich an der Kunsthochschule "Burg Giebichenstein" in Halle und schloss dieses als Diplom-Designer ab. 1964 erfolgte meine berufliche Tätigkeit in einem Atelier der Büromaschinenindustrie. Ab 1966 arbeitete ich als freiberuflicher Gestalter im eigenen Gestaltungsbüro, u.a. für verschiedene Firmen der Rundfunk-und Elektroindustrie. Im Jahre 1969 schloss ich mich mit mehreren Designern zu einer Arbeitsgemeinschaft für Design, dem "Atelier für Gestaltung", zusammen. Nach zehn Jahren erfolgreicher Tätigkeit im Produktdesign wurde unser Team durch Beschlüsse der "Berliner Administration" beruflich ausgegrenzt und wir konnten daraufhin unseren Beruf in dieser Form nicht mehr ausüben. Nach einigen Jahren artfremder Beschäftigung stellte ich einen Antrag auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR. Im August 1989 erfolgte die Übersiedlung in die Bundesrepublik. Danach begann die zweite Phase meiner beruflichen Entwicklung, indem ich mich verschiedenen künstlerischen Projekten für Design, Malerei und Plastik zuwandte. Dreißig Jahre nach der Wende blicke ich auf ein durchwachsenes Berufsleben zurück, aber auch auf einen unermesslichen Gewinn an persönlicher Freiheit im Denken und Handeln.

Inhalt Seiten

Kindheitserinnerungen

Es war das Jahr 1939, indem ich geboren wurde, aber auch das Schicksalsjahr der Deutschen, als alles begann, Krieg, Terror, Vertreibung und Tod in millionenfacher Weise. Am 1. September verkündete der gewählte Reichskanzler Adolf Hitler im Rundfunk, dass: „seit 5:45 Uhr jetzt zurückgeschossen werde“. Mit dem Überfall auf Polen begann der 2. Weltkrieg. Da war ich gerademal ein dreiviertel Jahr alt. Als Geburtsort wurde die Entbindungsstation der St. Joseph Klinik Berlin-Tempelhof angegeben.

Baden in der Zinkwanne

Als Baby gewickelt

Meine Mutter in Berlin

Meine frühesten Kindheitserinnerungen gehen auf das dritte Lebensjahr zurück. Damals wurde ich in der Leistengegend operiert, da ich mir beim Schleppen meines geliebten Dreirades einen Bruch zugezogen hatte. Als mich meine Eltern im Krankenhaus besuchten, zeigte ich ihnen den Verband und stand dabei aufrecht im Bett. So jedenfalls sind meine derzeitigen Erinnerungen an das damalige Geschehen.

Zu dieser Zeit lebten wir in Berlin-Hohenschönhausen. Der Orankesee war nicht weit von uns entfernt und so verbrachten meine Mutter und ich viele schöne Nachmittage in diesem Freibad. Mein Vater indes arbeitete bei Telefunken als Ingenieur und führte eine Abteilung für die Entwicklung und Herstellung fernmeldetechnischer Anlagen.

Im Strandbad des Orankesee Berlin

Bereits 1941/42 begannen die ersten Bombenangriffe der Alliierten auf Berlin und diese wurden von Mal zu Mal heftiger. Nahezu jede Nacht sind wir von den Sirenen aufgeschreckt worden und rannten in den Keller, wo sich bereits viele Frauen, alte Männer und Kinder eingefunden hatten. Vorsorglich wurden Zinkbadewannen mit Wasser bereitgestellt, um sich bei Brandgefahr mit nassen Decken schützen zu können. Zwischendurch gingen wir vor das Haus und sahen ganze Geschwader von Flugzeugen, welche im Lichtkegel der Scheinwerfer aufblitzten und in sogenannten „Wellen“ die Stadt überflogen. Bis in den Keller waren die Einschläge und Detonationen zu hören, was jedes Mal zu heftigen Unruhen unter den Menschen führte. In Erinnerung geblieben sind mir die anhaltende Dauer der Bombardements, die relative Ruhe am Tage und die Bedrohung in den Nachtstunden. Alle Fenster und Türen wurden verhangen, damit kein Lichtstrahl nach außen dringen konnte. Die Situation war für alle Menschen beängstigend, äußerst bedrohlich, aber auch gespenstig. Immer wieder wurde von Blindgängern berichtet, welche von allein oder durch versehentliche Berührung explodiert waren. Auch konnte man am Tage die Granattrichter und die ausgebrannten Häuser und Ruinen sehen. Das Leben war für viele Menschen zum Alptraum geworden. Hinzu kamen die zunehmenden Versorgungsprobleme und die Angst vor Vernichtung und Tod. Immer öfters kam es vor, dass Menschen in Panik gerieten und ungewollt zu Tode kamen. Nicht selten wurden sie Opfer explodierender Blindgänger und herumliegender Granaten. Besonders Kinder waren davon betroffen, da sie oft in Granattrichtern spielten und dabei versehentlich Munition berührten.

Zerstörung nach Bombenangriffen

Das Elend in der Stadt Berlin

Da die Situation für meine Eltern bedrohlich wurde, brachte mein Vater uns beide, meine Mutter und mich, zu meinen Großeltern nach Neiße in Oberschlesien, während er wieder nach Berlin zurückkehrte, um seiner Arbeit nachzugehen. Mein Großvater, väterlicherseits, war Gebietsvorsitzender der Rotheburger Lebensversicherung und führte ein sehr umsichtiges Leben in gesicherten Verhältnissen. Es begann für mich eine ungetrübte und gefahrlose Zeit, ausgefüllt mit kindlichen Erlebnissen und vielen Spielaktivitäten. Selbst mein Großvater wuchs über sich hinaus, entwickelte ungeahnte Freizeitbedürfnisse und begleitete mich ins Schwimmbad und zu anderen Beschäftigungen. Besonders Dreiradfahren war mir ans Herz gewachsen, aber auch das Spielen mit kleinen Pferdekutschen und Spielzeugbauernhöfen.

Beim Sandkastenspielen

Mit meinem Opa im Freibad

Rückblickend erinnere ich mich allerdings auch an die Zeit in Oberschlesien, wonach wir Straßenaufmärsche der Nazis und die vielen zum Gruß ausgestreckten Arme erleben mussten. Bei Volksfesten durften begehbare Panzer und Militärgeräte nicht fehlen. An Verkaufsständen wurden ganze Armeen von Spielzeugsoldaten, Kanonen und Panzer angeboten, aber auch Spielzeuggewehre und Stahlhelme. Alles, was den Zeitgeist beflügeln sollte, war da zu haben. Aus einer früheren Zeit stammten meine Pferdegespanne und Weidentiere aus bemaltem Holz sowie Würfel- und Kartenspiele, mit denen ich gern gespielt habe. Dabei hing es im Wesentlichen davon ab, wie Kinder von den Eltern erzogen und an die ganze Sache herangeführt wurden, aber auch welchen Einfluss sie darauf nehmen wollten. Für mich war es zunächst eine unbeschwerte Zeit, ich fühlte mich von meinen Eltern und Großeltern behütet und geliebt. Aus meiner Sicht hat es an Nichts gefehlt. Wir lebten in einem großen Haus, direkt an dem Fluss Neiße, mit Chauffeur und Kindermädchen. Mein Opa genoss ein hohes Ansehen bei seinen Versicherten. Seine vertrauensvolle Art, mit Menschen umzugehen, verhalf ihm zu Anerkennung und gegenseitiger Achtung. Das zahlte sich für ihn aus.

Horst, der „Liebling“ der Familie, mit meinen Eltern und mit Freund Karl

Zwischendurch besuchten wir die Eltern meiner Mutter in Waldenburg bei Breslau. Eine typisch schlesische Familie mit strengen Regeln und einer starken Hinwendung zu Gott. An keinem Sonntag wurde der Gang zur Kirche versäumt. Vor und nach den Malzeiten wurde gebetet und es lag überall das „Halleluja“ in der Luft. Mein Großvater war Konrektor der dortigen Schule und nutzte den Taktstock für Zucht und Ordnung. Seine drei Mädchen zu Hause mussten seinen Anweisungen gehorchen, sonst gab es strenge Bestrafungen jeglicher Art. Meine Mutter, die jüngste der drei Schwestern, bekam für den Turnunterricht keine Sportschuhe, da sie das ihr auferlegte Klavierstück nicht geübt hatte. Sie musste barfuß turnen, bis sie die Noten spielen konnte. Untergebracht waren meine Großeltern im Haupthaus eines Bauerngutes, bei Frau Endler. Sie war es auch, die mir das Kühe hüten beibrachte und mich auf ihrem Traktor als Beisitzer mitnahm. Die Wiesen waren voller Champions, welche in dieser Zeit sehr willkommen waren. Die Großeltern habe ich später nie wieder gesehen. Meine Oma starb früh und mein Großvater floh ebenso aus seiner Heimat und hat alles zurücklassen müssen. Er wurde in Bad Lauterberg angesiedelt und verstarb dort ohne familiären Beistand. Eine persönliche Tragik am Ende des 2. Weltkrieges. Meine Mutter durfte als Tochter nicht einmal zur Beerdigung ihres Vaters dorthin fahren, was sie nie verwinden konnte.

Mit meiner Holzautobahn

Am See

Noch ahnten wir nicht, was alles auf uns zukommen würde. Der Krieg kam näher, die Durchsagen im Rundfunk wurden deutlich bedrohlicher. Wir schreckten jedes Mal auf, wenn die Fanfare aus Franz Lists „le prelude“ ertönte und eine Stimme vom Frontverlauf berichtete. Ein Schauer lief uns jedes Mal über den Rücken. Die Hitlerjugend trommelte zum Endkampf. Benzinmarken wurden eingezogen und Fahrzeuge beschlagnahmt. Es begann die Zeit der Angst und der Verzweiflung. Als Kind fühlte ich mich noch relativ sicher, war unberührt von den nahenden Ereignissen, aber man spürte die Zerrissenheit und Panik, welche die Menschen und meine Großeltern insbesondere ergriffen hatten.

Mein Großvater veranlasste, dass sein Opel zu einem Bauern in die Scheune gebracht wird. Mit einem Pferdegespann zog man diesen dorthin, da es kein Benzin mehr gab. Ich selbst habe dieses miterlebt und so den schmerzlichen Abschied meines Opas von seinem geliebten PKW erleben müssen. Das Auto verschwand für alle Zeiten und dies war ein schwerer Schlag für ihn.

Fluchtbeginn Januar 1945 Neiße.

Im Januar 1945 war es dann soweit. Meine Mutter und ich flohen vor der heranrückenden Front. Wir stiegen in einen der letzten Lazarettzüge. Ungeheizt, bei Minusgraden, frierend auf Holzbänken sitzend, fuhren wir eine gefühlte Ewigkeit in Richtung Berlin, in der Hoffnung, meinen Vater dort zu treffen. Meine Großeltern blieben zurück und haben in letzter Minute ihre Heimat und ihr Eigentum verlassen müssen. Sie wurden überrollt von der Wucht des Krieges, von der Vertreibung und dem Verlust an Sicherheit und Lebensexistenz. Davon haben sie sich nie mehr erholt. Sie flohen in voller Panik und mit der Ungewissheit über ihre Zukunft. Meine Großmutter starb an Überforderung und mein geliebter Großvater kam in Witzenhausen bei einer Gastfamilie unter. Meine Eltern und ich haben ihn noch ein einziges Mal besuchen können, was der Teilung Deutschlands zuzuschreiben ist.

Als meine Mutter und ich in Berlin ankamen, vermutlich auf dem Ostbahnhof, ertönten die Sirenen und wir rannten ohne Gepäck in einen Luftschutzbunker. Die Erschütterungen spürten wir selbst durch die dicken Betonwände. Nach der Entwarnung wollten wir unsere Habseligkeiten wieder aus dem Zug holen, doch diese waren nicht mehr da. So fingen wir wieder bei „Null“ an und versuchten, zu Fuß unsere alte Wohnung zu erreichen. Aber auch diese war geplündert worden, da inzwischen mein Vater mit seiner Firma ins Erzgebirge versetzt wurde.

Mit einem Güterzug fuhren wir dann weiter in Richtung Erzgebirge und kamen nach einer Irrfahrt in Erdmannsdorf bei Augustusburg an. Der Bahnsteig war voller gestrandeter Menschen, die nicht wussten, wohin sie eigentlich gehen sollten. Viele hielten sich von außen an den Waggons fest, um noch mitgenommen zu werden. Es war ein Durcheinander, alle irrten hilflos herum und suchten nach einem Ausweg und einer Aufnahme. Man war fremd im eigenen Land. Wir hatten eine Information erhalten, dass mein Vater mit seinem Team und den Mitarbeitern nach Flöha bei Chemnitz evakuiert worden wäre. Persönlich war er im Pfarrhaus des Bergortes Augustusburg untergebracht. Zu dieser Zeit arbeitete noch die Drahtseilbahn, welche uns hinauf brachte. Dort angekommen, versuchten meine Mutter und ich zu Fuß zum Gemeindehaus zu gelangen, um nach dieser langen Zeit endlich unser neues zu Hause zu erreichen. Am Abend konnten wir meinen Vater in die Arme schließen und waren froh, diese Odyssee überstanden zu haben. In Augustusburg haben wir dann das Ende des Krieges und damit die Besetzung durch die Amerikaner und kurz darauf durch die Russen erlebt. Ein Pochen mit Gewehrkolben an die Eingangstür des Pfarrhauses verriet uns das bevorstehende Eindringen der Soldaten in unseren Wohnbereich. Mit großer Unsicherheit und auch Angst vernahmen wir die Geräusche und mein Vater öffnete die Haustür. Ein Trupp russischer Soldaten verschaffte sich Einlass in unsere kleine Wohnung. Meine Mutter war total verängstigt und verschwand im Schlafzimmer. Mein Vater bastelte gerade an einem Radio herum und die Soldaten setzten sich zu ihm, um dies mit Erstaunen zu beäugen. Die Anspannung legte sich sehr bald, da diese ein großes Interesse an den Basteleien zeigten. Irgendwie war an diesem Abend der Bann gebrochen und wir konnten zunächst wieder aufatmen. Allerdings gab es in anderen Haushalten erhebliche Probleme.

Unser Quartier in der Pfarrei

Nachbarhaus

Am kommenden Tag fuhr ein Wagen vor und sie nahmen meinen Vater mit. Erneut erlebten wir Unsicherheit und Angst. Das hielt drei Tage an, bis mein Vater wieder gebracht wurde. Er erzählte uns, man hätte ihn Radiogeräte reparieren lassen. Das war der Anfang für eine Verständigung mit der russischen Kommandantur in Flöha. Mein Vater erzählte uns später, dass die Sowjets von ihm die Übergabe der Firma an die Besatzungsmacht erzwangen, nachdem er erklärt hatte, dass er weder Nazi, noch in der NSDAP gewesen war. Dies war die Voraussetzung dafür, den Betrieb fortführen zu können, allerdings unter russischer Administration. Die Verhandlungen sollen sehr hart geführt worden sein und immer hätte eine Bedrohung in der Luft gelegen. Auch sei mit einer Pistole, auf dem Tisch liegend, verhandelt worden. So jedenfalls schilderte es uns später mein Vater. Nachdem diese Hürde genommen war, begann ein wenig Normalität in der Firma, weshalb die Entwicklung und Herstellung fernmeldetechnischer Anlagen fortgeführt werden konnte. Es war nun der Aufbruch in die Nachkriegszeit mit allen Schwierigkeiten und Hoffnungen, welche damit verbunden waren. Die Menschen besannen sich wieder auf ihre eigenen Stärken und entwickelten Verhaltensweisen, der permanenten Verunsicherung zu begegnen.

Meine Eltern und ich mit Freunden

Mein Vater in seinem Firmenbüro

Zuvor hatten die Amerikaner im Burginnenhof Säcke mit Kakaobohnen, Weißbrot und Leberwurst in Büchsen aufgetürmt, um sie an die Menschen zu verteilen. Nach so langen Entbehrungen, eine ungeahnte Wohltat für die Einwohner in Augustusburg. Aber das hielt nicht lange vor. Die überraschend von den Amerikanern überlassenen Vorräte gingen zur Neige und wurden zum Schluss noch gestürmt. Gleich nach dem Einmarsch der russischen Soldaten lagen Waffen in allen Ecken und unter Büschen, welche jedoch am nächsten Tag wieder entfernt wurden. Dennoch spielten einige Jugendliche mit Munitionen und Geschossen und sprengten sich dabei leichtfertig in die Luft. Es waren Tragödien, die sich hier abspielten. Meine Eltern und ich gingen gerade zur Burg, als das passierte. Mit einem lauten Knall explodierten Flaschen, die mit Sprengstoff gefüllt waren. Ein Überleben gab es nicht. Die Menschen ergaben sich ihrem Schicksal und liefen mit weißen Armbinden durch den Ort. Ein Zeichen für die Kapitulation. Zuvor mussten wir mit ansehen, wie Chemnitz bombardiert und dem Erdboden gleich gemacht wurde. Ein roter Feuerball zeichnete sich am Himmel ab und die Einschläge waren deutlich zu hören. Augustusburg wurde verschont. Hier gab es bis auf den Gebäudeschutz keine militärische Abwehr, weshalb auch nicht angegriffen wurde. Aber die Menschen waren verunsichert, hatten Angst vor den patrouillierenden Soldaten und hilflos gegenüber der Militärmacht. Besonders auch Frauen trauten sich nicht auf die Straße, da es gelegentlich zu Übergriffen gekommen war.

Aber mit der Zeit kehrte leise Hoffnung zurück, rückten die Menschen näher zusammen und halfen denen, die in Not gekommen waren. Die Nahrungsengpässe versuchte man durch Aktionen, wie Kartoffeln lesen auf abgeräumten Feldern und Getreide sammeln auf geernteten Flächen, auszugleichen. Um heizen zu können, wurden die Äste der Bäume mit langen Baumsägen bis zu den Kronen abgesägt und zu Kleinholz verarbeitet. Auch gab es Bezugsscheine für drei Baumwurzeln pro Familie, welche in mühevoller und kräftezehrender Arbeit aus der Erde geholt werden mussten. Dies geschah mit großen Hämmern und Metallkeilen. Eine besondere Art des Heizens bestand auch darin, Sägespäne in eine Blechtrommel zu pressen und anzuzünden. Diese brannte dann einige Stunden und erhitzte den Raum. Das Kinderzimmer hatte keine Heizung. Im Winter glitzerten die Wände und der Atem schien zu gefrieren. So bekam ich Asthmaanfälle und konnte öfters nur im Sitzen schlafen. Für meine Eltern und für mich waren es anstrengende Tage. Fieberschübe und Schüttelfrost waren die Folge. Der Winter 1945/46 war im Erzgebirge sehr kalt und hatte meinen Eltern alles abverlangt. Schnee und Eisglätte wollten nicht weichen. Im Frühjahr zogen wir in eine kleine Wohnung am Rande des Ortes und so genossen wir zum ersten Mal seit langer Zeit wieder ein richtiges zu Hause.

Unsere Wohnung in der Buschgartensiedlung am Wald

Umgeben von Wald und der nahen Drahtseilbahn, wurde mir ein vielfältiges Umfeld zum Spielen und Herumtoben geboten. Hier begann meine richtige Kindheit. Vergessen waren die Ängste und Unsicherheiten, die Entbehrungen der letzten Monate sowie die Verluste meines geliebten Spielzeugs. Die Natur hatte so viel zu bieten, angefangen vom Schloss Augustusburg und den kleinen Gassen darunter, aber auch die unendlichen Möglichkeiten der Freizeitbeschäftigung, dem „Räuber und Gendarm“ spielen und den vielfältigen sportlichen Betätigungen im Sommer, wie auch im Winter. Schlagballweitwurf und Wettrennen sowie weitere Straßenspiele wurden von uns Kindern mit Begeisterung durchgeführt. Im Winter banden wir Schlitten zusammen, um gemeinsam die Naturrodelbahn ins acht Kilometer entfernte Tal nach Erdmannsdorf zu fahren. Viel wurde improvisiert und zusammengeschraubt. Für Fahrräder gab es keine Schläuche. So wurden Spiralfedern auf die Felgen gespannt und einer Höllenmaschine gleich, glitt das Gefährt über die Straßen. Kinderwagen sahen aus wie Festungen auf Rädern. Sie waren dazu geeignet, mit ihnen Wettrennen zu veranstalten, oft auch mit Personen an "Bord". Unser Spielplatz wurde unter uns Kindern aufgeteilt und jeder bekam seine Ecke. Ein großer Baum diente uns zum Verstecken und zum Klettern. 1946 wurde mein Bruder Claus geboren und er wuchs mit gesundheitlichen Problemen durch eine Mangelernährung, beziehungsweise durch verunreinigten Rohzucker, auf. Ein Krankenhausaufenthalt wurde für ihn dringend notwendig und damit zur Belastungsprobe für meine Eltern. Nur mit großer Mühe konnten die Ärzte helfen und den kleinen Organismus wieder stabilisieren. Die Erleichterung war meinen Eltern anzusehen und so konnte mein Bruder bald wieder nach Hause geholt werden. Das Schlimmste war überstanden. Dennoch gab es noch Jahre danach viele Engpässe bei der Versorgung der Menschen. Oft musste improvisiert und auf Vieles verzichtet werden.

Ich erinnere mich noch an einen Pferdewagen, auf dem mehrere Säcke Rohzucker transportiert wurden. Durch den Verzehr dieses ungereinigten Süßmittels, besonders in Kinderspeisen, gelangte dieses in den menschlichen Kreislauf und verursachte damit erhebliche Magenprobleme. Mein Bruder musste nach Flöha ins dortige Krankenhaus gebracht werden, was nur unter großen Schwierigkeiten gelang. Busse fuhren nicht und andere Verkehrsmittel waren schwer erreichbar. So mussten meine Eltern mit der Drahtseilbahn nach Erdmanndorf fahren, um von dort weiter mit dem Zug in die größere Kreisstadt. Hier bekam mein Bruder Claus die nötige Behandlung durch die Ärzte und es dauerte Tage des Bangens und Hoffens, bis der kleine Körper alles überstanden hatte. Zu Hause wieder angekommen, erholte er sich schnell und wuchs zu einem quicklebendigen Jungen heran. Meine Mutter wünschte sich eigentlich ein Mädchen als Kind, weshalb dem kleinen Jungen öfters Kleider angezogen wurden.

Beginn der Schulzeit in Augustusburg im Vorerzgebirge

Im September wurde ich eingeschult. Meine Eltern konnten mir keine Zuckertüte schenken und sie schämten sich dafür. Als Flüchtlinge war es für sie unmöglich, diese aufzutreiben. Ich war der einzige Schüler, dem dies widerfahren war. Auch die Einschulungsfeier konnte nicht stattfinden, da die Möglichkeiten hierfür, wegen der akuten Umstände, nicht gegeben waren. Dies alles war aber zu verschmerzen, vielmehr waren es die Schule, das Klassenzimmer und die Lehrer, welche mein Interesse fanden. Neben der Schule erlebte ich die ganze Fülle spielerischer Aktivitäten in einem für Kinder einzigartigen Umfeld. Im Sommer wurde das ganze Gelände mit allen seinen Möglichkeiten erobert, ob es das Fußballspielen auf dem Platz war oder das Bauen von Höhlen, in denen wir Kinder gehockt haben. Im Wald hatten wir unendlich viele Bewegungsmöglichkeiten und haben das auch reichlich genutzt. Eine schöne Zeit, die nie zu Ende gehen sollte. Während mein Vater von früh bis spät abends in der Firma arbeitete, war meine Mutter vorwiegend damit beschäftigt, das notwendige Essen heranzuschaffen, es zuzubereiten und am Abend zu servieren. Eine recht mühevolle und aufreibende Tätigkeit angesichts der Mühsal des stundenlangen Anstehens nach Milch und nach anderen spärlichen Lebensmitteln. Die meisten Leute transportierten ihre Einkäufe in Handwagen, da andere Verkehrsmittel nicht vorhanden waren. In Erinnerung ist mir geblieben, dass es bei uns zumeist eine „eingebrannte Grießsuppe“, nach schlesischer Art, gegeben hat, aber auch Kartoffeln mit Soße und Weißkohl. Viel mehr gab es nicht, es wurde variiert und in vielfältiger Weise zubereitet. Einmal im Monat bereitete meine Mutter „Marinierten Hering“ zu, der mir aber nicht geschmeckt hatte. Ich erinnere mich noch deutlich daran, dass mein Vater und ich ein schönes Radio einem Bauern gebracht hatten, um im Austausch dazu einen Sack Kartoffeln zu bekommen. Diesen schleppten wir dann mit dem Schlitten einige Kilometer weit durch den Schnee. Es war ein ständiges Bemühen um das „tägliche Brot“, denn Hunger kann unerträglich sein und das Leben stark beeinträchtigen. Meine Eltern haben in dieser Zeit stark abgenommen, was nicht verwunderlich war. Denn die Sorge um die tägliche Existenz raubte ihnen oft den Schlaf und ließ sie manchmal daran zweifeln, ob das alles zu schaffen wäre.

Aber es gab auch positive Lichtblicke und aufmunternde Begegnungen mit beheimateten Menschen in Augustusburg. Meine Eltern erfuhren eine vielfältige Zuwendung einheimischer Familien und erlebten Freundschaften und geselliges Zusammensein mit vielen Persönlichkeiten des Ortes. Besonders mit Theo Friedrich, dem Besitzer des gleichnamigen Hotels „Kaffee Friedrich“ verband sie eine enge Vertrautheit, was sich sehr oft auch in Einladungen zum Essen widerspiegelte. Noch heute ist dieses Haus ein wunderbarer Ort zum Genießen und sich verwöhnen zu lassen. Der Krieg war zu Ende, man fühlte sich befreit und konnte wieder Hoffnung schöpfen. Dies drückte sich auch im persönlichen Leben aus. Es verging keine Woche, in der nicht gefeiert oder ins Kino gegangen wurde. Besonders die Abende bei Theo Friedrich waren für meine Eltern immer ein besonderes Erlebnis. In der Konditorei gab es für mich viel zu sehen, aber noch mehr zu Naschen. Beim Abschied bekamen wir viele Süßigkeiten und Gebäck. Eine Wohltat für uns in diesen schlechten Tagen. Meine Eltern waren gerne zu Gast in diesem traditionsreichen Kaffee.

Hotel Cafe Friedrich in Augustusburg (Foto Friedrich) und Hotel Waldfrieden

Man gab uns durch Zuwendung eine neue Heimat. Bald lernten wir den Ort und sein Wahrzeichen, die Augustusburg, näher kennen. Kurfürst August von Sachsen ließ 1567 auf dem Schellenberg ein gewaltiges Jagdschloss bauen, um seine Stellung in der Region zu festigen. Im Kirchentrakt der Schlosskirche malte Lukas Cranach das Altargemälde und stellte darin den Kurfürst August und seine Familie mit seinen 14 Kindern dar. Bemerkenswert dabei ist, dass die Mitglieder der Fürstenfamilie auf dem Bild die Besucher intensiv ansehen, unabhängig vom jeweiligen Standort des Betrachtens. Man wird von den Blicken der Kurfürstenfamilie geradezu verfolgt. Eine besondere und einzigartige Darstellung des großen deutschen Künstlers Lukas Cranach aus Coburg.

Kurfürst August um 1570 Porträt von Lukas Cranach in der Schlosskirche und das Altarbild des Kurfürsten mit Ehefrau und seinen 14 Kindern.