2. revidierte und erweiterte Auflage (2019)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2019 Meinhard, Alexander

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 9783749415649

für

Susanne Pfaff-Grossmann
(1928-2019)

Ohne ihre Anregungen und ihre an mich gestellten
Herausforderungen wäre dieses Werk wohl noch lange nicht erschienen
– wenn überhaupt jemals.

Dr. Josephine Fallscheer, geb. Zürcher

Inhaltsverzeichnis

  1. ‚Briefe‘ von Frau Dr. F. an Alice Schwarz
  2. Weitere Notizen von Frau Dr. J. Fallscheer von Gesprächen mit ‘Abdu’l-Bahá
  3. Aussprüche von ‘Abdu’l-Bahá (Teil 1)
  4. Aussprüche von ‘Abdu’l-Bahá (Teil 2) zu Miss Stevens
  5. Aussprüche von ‘Abdu’l-Bahá (Teil 3)
  6. Weitere Erläuterungen ‘Abdu’l-Bahás
  7. Dr. Fallscheer in Stuttgart
  8. Anhang

Vorwort

Als ich 2017 für das Journal Sonne der Wahrheit ein Inhaltsverzeichnis, das alle Ausgaben umfasst, erstellte, hatte ich nicht die geringste Ahnung, was sich alles daraus entwickeln würde.

Dieses Journal erschien von 1921 mit Unterbrechung von 1938-1946 bis 1953. Darin sind noch immer aktuelle Beiträge und Berichte sowie Übersetzungen ganzer Bücher zu finden, die heute vergriffen sind oder erst gar nicht anderweitig publiziert wurden. Zur ersten Kategorie zählen auch die Beiträge von Dr. Josephine Fallscheer-Zürcher1; sie bestehen aus

Bereits Jahre zuvor hatte ich zwei unterschiedliche mit Schreibmaschine erstellte Abschriften von diesen Briefen und Aussprüchen erhalten. Sie besitzen jeweils einen unterschiedlichen Umfang und Inhalt und sie unterscheiden sich zudem auch von denen in der Sonne der Wahrheit.

Die große Überraschung erlebte ich jedoch, als ich in dem Archiv des Nationalen Geistigen Rates der Bahá'í weitere, handschriftliche Notizen von Dr. Fallscheer fand, die in gar keinem der mir bekannten Dokumente zu finden waren.

Und eine noch größere Überraschung ergab die Recherche in dem Nachlass von Dr. Fallscheer in der Züricher Zentralbibliothek: Dort fanden sich zwei von ihr verfasste Lebensläufe. Einer davon hatte einen zusätzlichen ‚Nachtrag zum Haifaner Aufenthalt‘, in dem Josephine Fallscheer aus ihrer Sicht die Umstände beschreibt wie, wann, wo und warum sie die Notizen anfertigte.

Gerda Sdun-Fallscheer, die Tochter von Dr. Fallscheer, erwähnt in der Biographie über ihre Mutter Jahre des Lebens diese Aufzeichnungen, und dass sie der Bahá'í-Gemeinde Stuttgart übergeben worden sind. Darüber hinausführt sie einen umfangreichen Artikel ihrer Mutter aus dem Jahr 1929 über die Bahá'í-Religion an.3

Meine ursprüngliche Absicht war eigentlich nur eine limitierte Auflage von wenigen Exemplaren zu erstellen und – wie der Widmung zu entnehmen ist – diese Zusammenstellung Susanne Pfaff-Grossmann als Geschenk zu ihrem 90. Geburtstag zu überreichen. Die restlichen Exemplare wollte ich nach diesem Ereignis einigen Freunden im Rahmen des ‘Irfán-Forums 2018 schenken. Dabei stieß ich auf ein vollkommen unerwartet hohes Maß an positiver Resonanz – ja, der Beschwerde, warum ich nur so wenig Exemplare gedruckt hätte.

Um dieser Nachfrage gerecht werden zu können, habe ich mich entschlossen statt des Drucks einer weiteren, begrenzten Anzahl an Exemplaren das Buch aufzulegen, sodass es im freien Handel zu erwerben ist.

Gleichzeitig nutzte ich diese Gelegenheit, um Stellen nochmals mit den Quellen abzugleichen, Fehler der Abschrift zu bereinigen und Verbesserungen in der Darstellung vorzunehmen.

Darüber hinaus habe ich eine Mitschrift von einem Gespräch am 12. April 1919 aufgenommen. Dr. Fallscheer berichtete damals über ihre Erinnerungen an ‘Abdu’l-Bahá und auch ihre allgemeinen Eindrücke aus dem Orient.

Das Buch enthält die Abschriften aller zum heutigen Zeitpunkt bekannten Texte. Obwohl ich alle denkbaren Quellen befragt und – wenn erfolgsversprechend – eingesehen habe, gebe ich die Hoffnung auf weitere, zurzeit unbekannte Funde nicht auf, die der Zufall zu Tage fördern möge.

Der Herzenswunsch von Dr. Josephine Fallscheer, ihre Notizen zu als Buch veröffentlichen, ging somit 86 Jahre nach ihrer Äußerung in Erfüllung4.

Den Anhang habe ich um das Kapitel „Miss E. S. Stevens“ erweitert – mit allem, was ich in Bezug auf sie und die Bahá'í-Religion fand. Dies ist – in Anbetracht, dass Miss Stevens5 mehrere Monate Tag für Tag mit ‘Abdu’l-Bahá verbringen durfte – inhaltlich nicht viel und leider auch in der Qualität nicht hoch. Aus diesen Gründen habe ich mir eine Übersetzung ins Deutsche erspart. Die Aufzeichungen, die Miss Stevens von ‘Abdu’l-Bahás Gespräachen machte, wurden laut dem Haifaner Nachrag nie gedruckt.

Zur Authentizität aller Texte darf ich auf den speziellen Abschnitt im Anhang verweisen.

Danksagen möchte ich an dieser Stelle Karin Derakhchan – nicht nur für ihre große Hilfe beim Abschreiben, sondern auch für ihre Ideen zu dem Buch – und vor allem dem Heraussuchen der Bedeutung von alten Begriffen, die heute kaum noch bekannt sind.

Alexander Meinhard


1 Im Folgenden Dr. Fallscheer genannt, es sei denn im Original ist eine andere Schreibweise oder Bezeichnung vorhanden.

2 24 Stück an der Zahl

3 Jahre des Lebens, S. 368-377. Näheres dazu im Abschnitt: Ein Artikel aus dem Jahr 1929 auf S. 227-228.

4 Siehe: Nachtrag zum Haifaner Aufenthalt, dort unter „P.S.“

5 Miss Stevens und Mrs. Stevens sind in diesem Buch synonym zu verstehen. Korrekt ist Miss Stevens, da sie im Jahr 1910 noch unverheiratet war.

Einleitung

Den ‚Briefen von Dr. F. an A. Schwarz6 und ‚Aussprüchen von ‘Abdu’l-Bahá‘ liegen Aufzeichnungen zu Grunde, die Dr. Josephine Fallscheer in Haifa während der Gespräche mit ‘Abdu’l Bahá in der Zeit von 1906 bis 1910 vornahm. Im letzten Jahr gesellte sich Miss E.S. Stevens7 dazu. Eine detaillierte Beschreibung, wie es sich zugetragen hatte, stammt von Dr. Fallscheer selbst und ist im Kapitel „Nachtrag zum Haifaner Aufenthalt“ zu finden.

Bei den Gesprächen mit ‘Abdu’l-Bahá fand sich stets ein anderes Publikum ein. Es handelte sich um Anhänger der Bahá'í-Religion und daran interessierten Personen – sowohl bedeutende Persönlichkeiten der Öffentlichkeit als auch ‚einfache‘ Menschen. Es waren oft Gruppen unterschiedlicher Größe. Es gab aber auch Einzelgespräche mit Dr. Fallscheer alleine. Meist war es notwendig, dass ein Dragoman (Dolmetscher) die Fragen und Antworten übersetzte.

In der Regel ging es um Themen, bei denen ‘Abdu’l-Bahá Fragen der Anwesenden beantwortete. Sie konnten religiöser oder philosophischer Natur sein, aus den damaligen, bewegten Zeiten herrühren oder die Zukunft betreffen.

Ihre Aufzeichnungen überarbeitete und übergab Dr. Fallscheer Alice Schwarz zum Teil schon in ihrem ersten Stuttgarter Aufenthalt zwischen 1919 und 1920 – spätestens nach der erneuten Rückkehr nach Deutschland 1930, denn sie wurden ab 1930 in der Sonne der Wahrheit veröffentlicht. Die Veröffentlichung erfolgte nicht vollständig. Die Gründe dafür mögen die behandelten Themen gewesen sein, das Verbot der Bahá'í-Religion durch die Nationalsozialisten (Juni 1937 – 1945) oder vielleicht nur auch der neue Zeitgeist nach dem 2. Weltkrieg.

Basis dieses Buches stellen fünf Quellen dar, deren Herkunft und Aufbau im Anhang näher erläutert sind. Diese Quellen unterscheiden sich – von Umfang, der Darstellung und der Rechtschreibung sehr stark. Keine von ihnen ist vollständig; sie ergänzen sich daher gegenseitig. Sicher ist auch, dass selbst mit der Summe aller Quellen diese Sammlung unvollständig bleibt; dies ergibt sich aus mindestens zwei Kriterien: Zum einen gibt es nummerierte Ausprüche ‘Abdu’l-Bahás, die zum Teil fehlen, und zum anderen legt das verwendete, durchnummerierte Papier, auf dem Dr. Fallscheer ihre Notizen aufarbeitete, den Verdacht nahe, dass noch wesentlich mehr davon vorhanden sein müsste. Leider fand ich bislang weder eine Liste noch ein Tagebuch von Dr. Fallscheer oder Miss Stevens, aus denen hervorginge wie viele dieser Treffen stattgefunden hatten und bei denen Notizen angefertigt hätten werden können. Wir müssen uns somit bis auf Weiteres mit diesem Minimum zufriedengeben.

Dr. Fallscheer fügt in ihren handschriftlichen Originalen mitunter erläuternde Skizzen ‘Abdu’l-Bahás ein; dies ist ein Novum in der Bahá'í-Literatur.

Sie fehlen bei allen bisherigen Abschriften und Drucken. Die gefunden sind erstmals als Bilder dem Text an den entsprechenden Stellen beigefügt.

In diesem Buch erfolgt die der Wiedergabe der in der Sonne der Wahrheit veröffentlichten Texten und den beiden Manuskripten mit der Rechtschreibung und der Schreibweise der Namen in Form und Weise, die heute üblich ist. Bei den mit grau hinterlegten Textstellen handelt es sich um originalgetreue Wiedergaben der handschriftlichen Aufzeichnungen.

Fußnoten stammen vom Herausgeber, es sei denn sie wären auch grau hinterlegt, dann sind sie Bestandteile der Texte von Dr. Fallscheer.


6 = Dr. Josephine Fallscheer-Zürcher an Alice Schwarz

7 Ethel Stefana Stevens, verh. Drower

‚Nachtrag zum Haifaner Aufenthalt‘ 8

1910 kam Miss E. St. Stevens9, engl. Schriftstellerin von Southhampton nach Haifa, um im Auftrag eines Amerikanischen Verlages, die Bahai Bewegung und ihren Führer an Ort und Stelle zu studieren. Sie hatte Empfehlungen an uns und wir besorgten ihr im Nachbarhaus ein Zimmer. Wir befreundeten uns mit ihr und nahmen lebhaften Anteil an ihren Studien. Sie wurde täglich von Abbas Effendi Abdul-Baha empfangen, welcher sie in besonderer Weise auszeichnete. Infolge dessen verkehrte sie auch in allen persischen Familien der persischen Colonie. Ihre Arbeiten brachte sie jeden Abend zu uns, wir sahen sie mit ihr durch, korrigierten sie – und zwar nicht nur ihre Studien über die Bahai-Lehre und die theosoph. Philosoph. und die sonstigen Aussprüche des Meisters, sondern auch ihren Roman: „The Mountain of God“, in welchem sie die Bahailehre verherrlichte. In der Folge begleitete ich sie öfters und öfters zu den Empfängen beim Meister. Alle Reden, Aussprüche, Tischgespräche etc. des Meisters wurden von einem Perser in nicht ganz fehlerfreiem Englisch übersetzt, welches wir abends – je nach dem – in gutes Englisch oder in gutes Deutsch (für mich) übertrugen. – Ich verstehe Arabisch und Türkisch, dagegen vom Persischen wenig. – Ein Dragoman war aber stets nötig, weil Miss Stevens nur Englisch beherrschte (wenig Persisch und wenig Deutsch verstand.) Auch die Gegenwart andrer Gäste machte stets einen Dragoman nötig.

Herbst 1910 verreist Miss Stevens. Der Meister trat 1911 eine Weltreise an. Miss E. St. Stevens heiratet 1911 einen engl. Verwaltungsbeamten des Sudans, Mr. Drawer10. Zur Zeit weiss ich ihre Adresse nicht. Ihre bekanntesten Werke sind: The Veil, Editors: Mills and Boon London! The Mountain of God, The Lure, The long engagement, The northern Drum, etc. The Veil erlebte etwa 12 Auflagen! Ihre Studien über die Bahailehre und den Meister wurden nie gedruckt – soviel ich weiß. Seit 10 Jahren hörte ich nichts mehr von Mrs. Drawer! –

Der Meister hat Mrs. Drawer 1911 in England besucht. Ich sah 1910 Dez. den Meister zum letzten Male, Mrs. Drawer 1913 in Nablus. Seit 1921 weiss ich nichts mehr von ihr.

Von 1919 – 1921 wohnten wir als Untermieter im Hause von Consul Schwarz. Dadurch lernten wir uns kennen. In diesen 2 Jahren arbeitete ich meine engl. und deutschen Notizen für Frau Schwarz aus mit der Absicht eines Tages ein diesbezügliches Buch herauszugeben.

Ich bin keine Bahai, sondern meiner ev. Reformierten Confession zugetan, doch bin ich eine Freundin der Bahailehre, deren weltweite Bedeutung ich voll anerkenne. Doch kann ich persönlich keinen Propheten neben Jesus Christus, geschweige denn über ihn stellen!

Abdul Baha Abbas Effendi, den ich lebhaft bewundere und verehre, gab 1910 die Erlaubnis zur Veröffentlichung meiner Notizen, wodurch sie als „authentisch“ anerkannt sind. Es ist möglich, dass die mangelhafte Übersetzung aus der gesprochenen orientalischen Sprache des Meisters ins Englische und die Rückübersetzung aus Englisch ins Deutsche (und event. Nochmals ins Englische) manches schwerverständlich und schwerfällig macht, aber mit verschwindenden Ausnahmen sind alle Aussprüche, Reden und Erklärungen des Meisters in Seinem Geiste und Sinne. Diese Behauptungen können leicht erhärtet werden, da viele Namen, Ereignisse und Daten nur aus des Meisters eigener Hand stammen können. Auch sind die philosophischen „termini technici“ (Fachausdrücke) nur von einer Person wiederzugeben, welche die orientalischen Sprachen wie Arabisch, Türkisch und teilweise auch Persisch versteht und noch Philosophie studiert hat – besonders auch die islamitische Philosophie und die griechische, was ich von mir behaupten kann.

Das ist für heute, verehrte Freundin, das Wesentlichste, für Rückfragen stehe ich gerne zur Verfügung.

P.S. Wie schön wäre es, wenn die amerikanischen Bahai sich berufen fühlten, diese einzigartigen und auch im Werte unüberbotenen Aussprüche ihres Meisters durch Drucklegung der Nachwelt zu erhalten. Ohne Buchform, in blossem Manuscript gehen die wertvollen Notizen bald zu Grunde. Meinen Sie nicht auch?

8 Dieser „Nachtrag“ ist dem Lebenslauf in Kapitel Lebenslauf von Fr. Dr. Fallscheer an eine Freundin im Anhang S. 231 angehängt. Zentralbibliothek Zürich, Signatur: Ms Z II 123-136.

9 es handelt sich um Ethel Stefana Stevens, spätere Lady Drower

10 sic, gemeint ist Edwin Drower

1. ‚Briefe‘ von Frau Dr. F. an Alice Schwarz11

Brief 1 über Shoghi Effendi (6. Aug. 1910)

Verehrte Freundin!

Die Begebenheit, für die Sie sich interessieren, trug sich folgendermaßen zu:

Als ich am 6. August 1910 gegen Mittag von einer ärztlichen Visite auf dem Karmel nach Hause zurückkehrte, sagte mir unsere alte Dienerin Hadtschile: „Soeben war ein Diener von ‘Abdu’l-Bahá12 hier und richtete aus, die Hekime13 möchte um ‚Asser‘ (3 Uhr) im Haremlik (Frauengemächer) des Meisters vorsprechen, eine Dienerin habe einen sehr schlimmen Finger.“ Es passte mir wenig, am Samstag schon zur frühen Nachmittagsstunde meine ärztlichen Visiten zu beginnen. Da ich aber wusste, dass der Meister mich nie ohne dringlichen Grund außer der Zeit bemühte, beschloss ich pünktlich hinzugehen. Ich wusste bereits, dass die kleine Feride, eine Aushilfsmagd, an einem schlimmen Panaritium14 seit Wochen litt. Ich hatte ihr schon verschiedene Mal zugeredet, es sich von mir aufschneiden zu lassen, aber sobald man nur vom Schneiden redete, hielt sie sich beide Ohren zu und schrie wie am Spieß. Sie behauptete, mit wechselnden Umschlägen von Zwiebeln, Tomatenmark und Hauswurzelblättern (eine Kaktusart) sei das Übel bereits viel besser geworden. Nun schien sich der Meister mit einem Machtwort eingemischt zu haben und das eigensinnige, messerscheue Hasenherz musste sich fügen. Als ich mich zur erbetenen Zeit auf den Weg machte, hatte ich alles bei mir, was ich für den kleinen Eingriff brauchen würde. Ich verfügte mich gleich in die hauswirtschaftlichen Räume des Erdgeschosses. Feride war wie ein Lamm, nur die verweinten Augen ließen auf einen vorausgegangenen Kampf und Unterwerfung schließen. Der Finger sah ungut aus und musste ergiebig mit Messer und scharfem Löffel15 behandelt werden. Als alles vorbei war, Finger, Hand und Arm verbunden und in der Schlinge, sandte Bahia Khánum die kleine Dulderin in ihr Bett und bat mich, mit ihnen, den Damen des Hauses, eine Erfrischung einzunehmen.16

Während wir noch Kaffee schlürften und türkisch parlierten, was mir geläufiger war als arabisch, kam eine Dienerin und sagte: „Abbas Effendi lasse die Hekime vor ihrem Weggang noch zu sich ins Selamlik (Empfangszimmer) heraufbitten“. Bahia Khánum führte mich bald darauf durch die innere Treppe hinauf in den ersten Stock, wo links von dem Haupteingang der größere Empfangsraum lag. Der Meister ließ sich von mir berichten, wie es jetzt mit dem Finger der Kleinen stehe und ob die Gefahr einer Blutvergiftung schon behoben sei. Ich konnte darüber beruhigende Auskunft erteilen. In diesem Augenblick betrat der Schwiegersohn (Mann der ältesten Tochter von Abbas Effendi) das Zimmer, um sich, wie es schien, vom Meister zu beurlauben. Zuerst hatte ich nicht bemerkt, dass hinter dem großen, stattlichen Manne dessen ältester Sohn, Shoghi Effendi, das Zimmer betrat und seinen ehrwürdigen Großvater mit dem orientalischen Handkuss begrüßte. Ich hatte das Kind schon einige Male flüchtig gesehen. Es war mir kürzlich von Bahia Khánum mitgeteilt worden, dass dieser junge Knabe von vielleicht zwölf Jahren, der älteste direkte männliche Nachkomme dieser Prophetenfamilie, zum einstigen Nachfolger und Sachwalter (Wesir) des Meisters bestimmt sei. Während Abbas Effendi in persischer Sprache mit dem vor Ihm stehenden Abu Shoghi über etwas verhandelte, verharrte der Enkel in ehrfürchtiger Stellung nahe der Türe, nachdem er auch noch uns höflich begrüßt hatte wobei er seiner Großtante den orientalischen Handkuss ebenfalls gegeben hatte. Indessen betraten noch mehrere persische Effendis (eine Pilgergruppe, die eben nach `Akká übersetzen wollte) den Raum, es war wohl eine Viertelstunde lang ein Begrüßen und Abschiednehmen, ein Kommen und Gehen. Bahia Khánum und ich hatten uns auf den abseits gelegenen Fensterplatz rechts zurückgezogen und setzten in gedämpfter Sprache unsere türkische Unterhaltung fort. Dabei wandte ich keinen Blick von dem noch sehr jugendlichen Enkel des Abbas Effendi. Er war in europäischer sommerlicher Kleidung, mit kurzen Hosen, aber langen Strümpfen über die Knie hinaus und kurzem Jackett. Der Größe und dem Körperbau nach hätte man ihn eher für dreizehn, ja vierzehn Jahre ansehen können, als etwa nur elf bis zwölf Jahre. In dem noch kindlichen Gesicht fielen mir sofort die dunklen, frühreifen, ja melancholischen Augen auf. Der Knabe verharrte unbeweglich in seiner ergebenen und abwartenden Haltung und Stellung. Als sich nun sein Vater und dessen Begleiter von dem Meister verabschiedet hatten, flüsterte ihm sein Vater im Hinausgehen etwas zu, worauf der Junge langsam und gemessen, wie ein Erwachsener, auf seinen geliebten Großvater zuschritt, die Anrede abwartete, dann bescheiden auf Persisch etwas erwiderte, worauf er lächelnd entlassen wurde, nicht ohne zum ehrfürchtigen Handkuss zugelassen worden zu sein. Es fiel mir auf, wie der Junge beim Hinausgehen rückwärts17 schritt und seine dunklen, treuherzigen Augen keinen Augenblick von den blauen, magischen Blicken des Großvaters wegwandte.

Abbas Effendi erhob Sich und kam zu uns herüber, wir standen sofort auf, aber der Meister nötigte uns auf die Sitze zurück und setzte Sich selbst zwanglos auf ein persisches Taburett18 neben uns, oder besser seitlich zu uns. Wie üblich erwarteten wir schweigsam Seine Anrede, die auch alsbald folgte: „Nun, meine Tochter“, hob der Meister an, „wie gefällt dir Shoghi Effendi mein künftiger Elisa?19“ (Altes Testament, 2 Könige, 2. Kap. Vers. 13)20 „Meister, wenn ich offen reden darf, so muss ich sagen, in seinem Knabenantlitz stehen die dunklen Augen eines Leiden, eines, der viel leiden wird!“21

Nachdenklich blickte der Meister über uns weg in eine weite Ferne, nach langer Zeit erst kehrte Sein Blick auf uns zurück und Er sagte: „Mein Enkel hat nicht die Augen eines Wegbereiters, eines Kämpfers, eines Siegers, aber in seinen Augen, in seinen Blicken liegt ein Abgrund (=Tiefe) von Treue, Ausdauer und Gewissenhaftigkeit. Und weißt du, meine Tochter, warum gerade er zu dem schweren Erbe meines Wesirs (Minister, Träger der Amtsgeschäfte) bestimmt wurde?“ Ohne meine Antwort abzuwarten, mehr auf Seine liebe Schwester blickend als auf mich, als ob Er meine Gegenwart vergessen hätte, fuhr Er weiter:22

„Bahá'u'lláh, die große Vollkommenheit – gesegnet seien Seine Worte,23 ehedem und heute und immerdar – hatte meine Wenigkeit zum Nachfolger bestimmt, nicht etwa, weil ich der Erstgeborene war, sondern weil Sein innerer Blick schon früher auf meiner Stirn das Siegel Gottes erschaute.

Vor Seiner Heimfahrt ins ewige Lichte ermahnte mich die gesegnete Manifestation, dass auch ich einst, ohne Rücksicht auf das Erstgeburtsrecht, auf das Alter – unter meinen Söhnen und Enkeln Ausschau halten soll, wen Gott für Sein Amt zeichnen würde. Meine Söhne versanken in die Ewigkeit im zartesten Alter, unter meiner Sippe und Blutsverwandtschaft trägt nur der kleine Shoghi die Schatten einer großen Berufung im Grunde seiner Augen.“ Wieder folgte eine lange Pause, dann wendete sich der Meister wieder zu mir und sagte: „Zur Zeit ist das britische Weltreich das größte und noch im Aufstiege, seine Sprache ist eine Weltsprache. Mein künftiger ‚Wesir’ soll die Ausbildung für sein schweres Amt in England selbst erhalten, nachdem er die Grundlage für die orientalischen Sprachen und für die Weisheit des Ostens – hier in Palästina erhalten hat.“ Hierauf wagte ich den Einwurf: „Wird nicht die westliche Erziehung, das englische Training sein Wesen ummodeln, seinen beweglichen Geist in starre, intellektuelle Banden fesseln, seine orientalische Irrationalität und Intuition ersticken in Dogma, Konventionalität, so dass er nicht mehr eine Diener des Allerhöchsten, sondern ein Sklave der Zweckmäßigkeit des westlichen Opportunismus und der seichten Alltäglichkeit wird?“ Lange Pause! – Dann erhebt sich Abbas Effendi – ‘Abdu’l-Bahá und sagt mit fester Stimme in feierlichem Tone: „Ich gebe meinen Elisa nicht den Briten zur Erziehung ich weihe und übergebe ihn dem Allerhöchsten. Gottes Augen wachen auch in Oxford über meinem Kinde. – In-sha'a'llah!“

Ohne Abschiedsgruß, ohne jedes weitere Wort wandelte der Meister hinaus.

Ich verabschiedete mich von Bahia Khánum und sah noch im Fortgehen den Meister im Garten stehen, wo Er augenscheinlich in tiefen Gedanken versunken einen früchtebeladenen Feigenbaum betrachtete.24

November 1921, als ich, in Lugano weilend, vom Hinscheiden ‘Abdu’l-Bahás in Haifa erfuhr, wanderte meine Erinnerung und mein Gedenken zurück zu der schon weit abgelegenen Stunde im August 1910 und ich wünschte in Gedanken dem Elisa-Shoghi alles Gute alles Heil. – In-sha'a'llah‘

Brief 2 Über das Verhältnis der Muttersprache zur künftigen Welteinheitssprache

von Frau Dr. med. J. Fallscheer an Frau A. Schwarz, Stuttgart

Ort: Belehrung des Meisters an zwei englische Damen, Miss St. und Miss Str. im Frauengemach (Haremlik) im Hause von ‘Abdu’l-Bahá, Haifa (persische Kolonie)
Zeit: 20. Januar 1910, 5 Uhr (Donnerstag)
Personen: Außer den o.g. noch Bahia Khánum, Monireh25 Khánum und deren persische Freundin von `Akká (Letztere übersetzte die Worte des Meisters aus dem Persischen ins Englische).
Anwesend ist auch die Hausärztin Dr. Fallscheer.

Miss Str.: Abbas Effendi, darf ich dem Meister der Bahá'í die Frage vorlegen: Warum hat Euer Prophet Bahá'u'lláh neben der jeweiligen Muttersprache Seinen Anhängern noch eine Welteinheitssprache empfohlen, sei es Volapück26 oder Esperanto oder wie alle die Kunstgebilde heißen? Ist nicht unser Englisch bereits eine wahre Weltsprache? Im britischen Reiche geht die Sonne nicht unter! Mit Englisch allein kann man in fünf Erdteile reisen, ohne eine andere Sprache zu benötigen! Was braucht also die Menschheit noch sich Mühe zu geben, eine schwere Kunstsprache neben der Muttersprache und neben der englischen Weltsprache zu lernen?“

‘Abdu’l-Bahá27: „Oh, meine Schwester, aus deinem Munde spricht der gewaltige Stolz des Briten. Überlege dir einmal, liebt nicht jeder Mensch die Sprache seines Stammes, seines Volkes, die Sprache seiner Väter, die Muttersprache seiner Heimat? Du weißt wohl, wie groß die Macht einer sprachlichen Verständigung ist – du rühmst selbst, mit ‚Englisch‘ allein kann man alle Erdteile bereisen! Also für den Weltfrieden, die Welteinheit ist ein gemeinsames Band der gedanklichen Verständigung, d.h. eine Einheitssprache dringend nötig, darüber sind sich Gelehrte und Laien aller Nationen einig. Würde aber unsere geheiligte Vollkommenheit Bahá'u'lláh – gepriesen sei Sein Andenken – eine bereits vorhandene Sprache, wie euer Englisch, empfohlen haben, so hätten sich gerade Vertreter der Kulturnationen: Deutsche, Franzosen, Italiener, Spanier, die Slaven, die Ungarn usw. dagegen gewehrt, noch mehr aber die Vertreter der östlichen Völker. Wir, würden sie sagen, wollen nicht die Sprache der Welteroberer schon von Kind an lernen, damit beugen wir uns im Voraus unter das britische Joch, das wir eines fernen Tages abschütteln wollen.

Soll ich dir an unserer köstlichen persischen Muttersprache das erklären? Wohlan, so höret, meine Freundinnen:

Unsere älteste Sprache ist das ‚Zend‘, welches dem indischen Sanskrit nahe verwandt ist. Im ‚Zend‘ sind die heiligen Bücher der Awesta (Zoroasters Lehrbuch) geschrieben. Während der Geschichtsperiode der Parther von 400 v. Chr. Geburt bis 300 n.Chr. (also während der ‚dunklen 700 Jahre‘) verfällt die altehrwürdige Sprache der ‚Awesta‘. Das ‚Zend‘ löst sich auf zu einem Gemisch mit benachbarten Sprachen. Unter der Herrschaft der Sassaniden drängt die aramäische Sprache Vorderasiens alle anderen Sprachmengsel zurück und verbindet sich mit dem Altpersischen zu einem neuen Sprachgebilde, dem ‚Pehlevi‘ oder ‚Huzvasesch‘, welches die lebende Volkssprache des ganzen mittleren und westlichen persischen Reiches wurde. Im östlichen Persien behauptete sich das Altpersische besser gegen das eindringende aramäische Sprachelement – es entwickelte sich zum ‚Parsi‘, zu der eigentlichen Durchgangssprache, zum Neupersischen. Selbst die arabische Fremdherrschaft, welche durch die Lehre des Propheten Moammed den uralten Zoroasterglauben der Licht- und Feueranbeter verdrängte, vermochte nicht das Wiederaufblühen der nationalen Sprache des Persertums zu verhindern. Solange die persische Sprache des Pehlewi und des Parsi herrschte, blühte auch das Nationalepos und die persische Lyrik28 in ursprünglicher und ungetrübter Reinheit. Im 11. Jahrhundert aber drang die arabische Sprache mehr und mehr in die Verwaltung und in die höhere Gesellschaft der Höfe, der Gelehrten und der Kaufleute ein. Das Arabische war die heilige Sprache, die Weltsprache des Islams, die Herzenssprache des Propheten Moammed, des Gesandten Gottes. Hatte nicht der Engel des Höchsten, Gabriel, in arabischer Sprache dem Heiligen Gottes, dem Propheten Moammed, seine Weltmission, der Verkündigung des „Einen Gottes", aufgetragen? Die nivellierende Kraft einer Sprachmischung, des Eindringens der arabischen Elemente in das Persische machte sich von nun an geltend. Bald nach dem glänzenden persischen Lichte, Firdawsi, verliert sich die Reinheit der persischen Sprache, letztere nimmt zahlreiche arabische Fremdwörter auf, die sie erst im Laufe von Jahrhunderten nationalisiert und assimiliert – zum Schaden der persischen Epik und Lyrik. In dem modernen persisch-arabischen Sprachgewand wird die reine Poesie zur Modedichtung, zur höfischen Lobhudelei; in äußerlich schöner Form wird ein leerer Inhalt geboten. Oh, meine Freundinnen, täuschen wir uns nicht: die Sprache ist das tiefste Merkmal eines Volkes, ja die Sprache ist das Gewand des Volksgeistes, die Sprache ist ein Maßstab des Kulturgrads einer Nation. Eine überwuchernde Sprachmengerei greift bald auf Kunst und dann auf die Moral eines Volkes über.29

Was ist Barbarei? Barbarei ist die uneingeschränkte Herrschaft zügelloser Triebe.30 Zeigt die Volkssprache Zügellosigkeit und Willkür, Unterwerfung unter die Sprache der materiellen oder geistigen Eroberer und Sieger, so wird sie zum Grabgeläute der Freiheit eines Volkes! Die Geistesgeschichte jedes Volkes, sei es abend- oder morgenländisch, antik oder modern, beweist das. Die Wiedergeburt eines Volkes, das Widergewinnen seiner Freiheit beginnt bei der Disziplinierung und Pflege seines Sprachgutes. Ein Volk, das sich mit geborgten Flittern einer fremden Sprache sein ureigenes Sprachgewand verunziert, lebt – nein – vegetiert in absteigender Linie. Wenn die Gesegnete Vollkommenheit Bahá'u'lláh einer Weltsprache das Wort redet, so soll diese Welteinheitssprache nicht das Wunder der eigenen Sprache verdunkeln oder verdrängen. Wir, die persischen Bahá'í, wollen weder unsere eigene, in Jahrtausenden entwickelte Sprache, das lebende Zeugnis unserer Kämpfe und Leiden, unserer Geistesniederlagen und Geistessiege, weder preisgeben noch anderen aufdrängen.

Merket wohl auf, ihr Töchter des Abendlandes:

Die Pflege der eigenen Muttersprache ist Dienst an den Brüdern des eigenen Volkes. Das Erlernen und der Gebrauch einer Welteinheitssprache, z.B. Esperanto, ist Dienst an den Brüdern der Menschheit.

Die eigene Sprache ist die Heimatluft, der wir im Leben und Sterben bedürfen, die uns von der Wiege bis zum Grabe umgibt, die unser persönlichstes Eigentum ist und bleibt. Die Welteinheitssprache ist zu vergleichen einer Brücke in die übrige Welt, eines Dampfrosses des Verkehrs, eines Luftschiffes zur Menschen- und Güterbeförderung.

Gibst du, o Mensch, die eigene, die Muttersprache auf, so verlassen dich Glaube, Liebe und Hoffnung, fliehen dich Künste und Wissenschaften, so entweicht Recht und Gesetz, Moral und Sittlichkeit.

Was macht die Juden in Tat und Wahrheit heimatlos in der weiten Welt – der Verlust ihrer hebräischen Muttersprache. Darum beginnen sie ihren völkischen Wiederaufbau mit der Wiederbelebung und Wiedereinführung ihrer hebräischen Muttersprache! O, meine Freundinnen des Abendlandes: die Muttersprache ist und wird es immer sein, die Herrin im Hause eines Volkstums, die Welteinheitssprache darf und wird stets nur die gehorsame und nützliche Magd ihrer vorgesetzten Herrin sein und bleiben."

Alláh-u-Abhá! – mit dem Bahá'í-Gruß entfernt31 sich der Meister.

Schweigend tranken wir unseren grünen Persertee zu Ende und empfahlen uns den lieben Hausgenossinnen, die in der Gegenwart von fremden, abendländischen Damen nie ihre Zurückhaltung aufgaben. –

Wir hatten wieder einmal viel gelernt, sogar unsere stolze Britin Miss Str., zeigt sich sehr beeindruckt.

Brief 3 Wie stellt sich die Bahá'í-Lehre zu der islamischen Doktrin der Vorherbestimmung (Prädestination)

von Frau Dr. J. F. an Frau A. Schwarz, Stuttgart

Ort: Garten Riván in `Akká/Haifa
Zeit: April 1910, (1. oder 8. April, Freitag).
Anwesende: Außer ‘Abdu’l-Bahá32 sind zugegen: persische Bahá'í,33 eine Engländerin und ein französischer Konsulatssekretär von Aleppo.

Der Franzose fragt in fließendem Arabisch: „Teilt die Bahá'í-Lehre mit dem Islam die Doktrin der absoluten Vorherbestimmung und Gnadenwahl, so dass die menschliche Willensfreiheit sozusagen außer Frage kommt?“

Der Meister antwortet in Hocharabisch, welches von einem der Perser in leidliches Englisch übersetzt wird:

„Die Lehre Seiner Heiligkeit Moammed, des gesegneten Propheten wird gerade von den Okzidentalen (Europäern und Amerikanern) im Punkte der Vorausbestimmung und Gnadenwahl nicht verstanden. Die Abendländer sehen in ihrem christlichen Gotte vor allem den liebenden34 Vater aller Gotteskinder. Der Moslem ehrt in Gott dem Herrn, in erster Linie den Töpfer, welcher aus Seinem Lehm, nach Seinem Belieben Gefäße der Ehre oder der Unehre schafft. So entspricht die islamitische Lehre (Islam-Hingebung)35 ihrem Namen gemäß, der vollständigen Hingabe jedes Menschen in den unerforschlichen Willen Gottes. Wohl hat der Prophet Moammed das Vorauswissen Gottes gelehrt, aber nirgendwo hat dieser Gesandte Gottes das unbeugsame Gesetz der absoluten Prädestination im Koran fixiert; im Gegenteil, der Prophet kannte die schmale Grenze der menschlichen Willensfreiheit. Hat nicht Moammed, gesegnet seien Seine Worte, betont, dass der Mensch sich die von Gott angebotene Gnade aneignen oder fallen lassen kann? Gott der Herr kann einem Durstenden die Quelle zeigen, ja ihn hinführen, wie aber, wenn dessen Augen gehalten sind? Wenn er die Hand, die ihm den Becher Wasser anbietet, wegstößt, das Wasser in seinem Wahn verschüttet? Daher kam schon das lateinische Sprichwort: Quem perdre vult Deus, prius demantat. (In Deutsch: Wen Gott verderben will, den schlägt er zuerst mit Blindheit (Verstockung)). Es erhebt sich die ernste Frage:36

„Hat Gott der Herr vorausgesehen, dass dieser Mensch sich nicht retten lassen werde, oder hat Er ihn, aus uns unerforschlichen Gründen, von Anfang an in einem Wahn, in eine Verblendung sich verstricken lassen?“ Da aber Gott der Herr nicht nur der Allmächtige ist, sondern auch der Allbarmherzige – denn wahre Kraft und Stärke paart sich stets mit Milde und Güte – und zugleich der Gerechte und der Vergelter ist, so müssen wir niederen Geschöpfe uns beugen vor Seinem geheimnisvollen Ratschluss und glauben, dass der Töpfer in Seiner absoluten Weisheit und Güte, in Seiner Gerechtigkeit und Wahrheit, alles zum Besten des Einzelnen und des Ganzen schafft und zu Ende führt – auch da, wo unser Erkennen und Begreifen weithin versagt. Vergiss nicht, o mein Gast, dass die christliche Religion mehr im Glauben als im Handeln sich äußert, der Islam aber liegt mehr im Tun als im Glauben.“

Der Franzose antwortet, da der Meister eine Pause eintreten lässt: „Abbas Effendi, gestatten Sie mir die Erwiderung: Die absolute Hingabe des Moslems, zusammen mit der doch machtvollen Prädestinationslehre führt unleugbar zu einem indolenten Fatalismus, in dem der Orientale alles Gott überlässt und sich selbst nicht mehr hilft – oder was sagen die Bahá'í dazu?“

Der Meister: „In der Lehre der Prädestination (Vorherbestimmung) der Gnadenwahl und der menschlichen Willensfreiheit wird unser Herr Moammed und seine gesegnete Offenbarung, der Koran, viel zu wenig gelesen, studiert und im Leben beobachtet. Als der Prophet im März 629 an der Spitze von zweitausend Kamelreitern, alles ergebene Moslems, die bekannte Pilgerfahrt von Medina nach Mekka machte, wurde der Prophet von Seinem Diener gefragt, wie er vor allem Moammed berühmtes Kamel El-Kaswa sicher unterbringen solle, da antwortete ihm der Herr Moammed: „Erst tränke und füttere es, dann binde es an, hierauf befiehl es Gott dem Höchsten.“ Und hat nicht auch der Prophet im Koran gesagt (2, 191): „Stürzet euch nicht selbst ins Verderben“, und anderswo: „Hilfe kommt von Gott, dem Höchsten, demjenigen, der Ihn darum bittet – aber erst soll er versuchen, sich selbst zu helfen.“ (in Deutsch: Hilf dir selbst, so hilft dir Gott)37. Wahrlich, der Prophet Moammed hat wohl gewusst, dass das schwere, theologische Problem vom Verhältnis des göttlichen Vorwissens und der Gnadenwahl zur menschlichen Willensfreiheit unter dem Schleier des Dunkels steht, wie das Mysterium des Leidens und das Geheimnis des Übels, des Bösen. Deswegen hat der Prophet auch eingesehen, dass dieses Problem leicht für einfältige und ungelehrte Gemüter zum Stein des Anstoßes werden konnte und es ist zu begreifen, dass Moammed in Seiner Gegenwart nicht gerne müßige Disputationen darüber anhört38. Erinnern wir uns daran, wie der Prophet die klare Weisung im Koran gab: „Sitze nicht zusammen mit einem Streiter (Zänker) über das Schicksal und beginne keine Unterhaltung mit einem solchen.“

Der Abend hat sich gesenkt und es ist die Zeit gekommen zur Andacht und zum Gebet zu gehen. So Gott will, sprechen wir noch mehrmals von diesem wichtigen Problem und wie die Gesegnete Vollkommenheit – Bahá'u'lláh – Sich darüber geoffenbart hat!“

Die Gesellschaft empfiehlt sich und die Bahá'í bleiben bei ihrem Meister.

Brief 4 Reifestufen des Menschen vom Kind zum Manne

Verehrte Freundin: Sie möchten gerne wissen, wie sich Ihr Meister ‘Abdu’l-Bahá39 über die Ursache und Art der tiefgreifenden Zwiespälte und Trennungen im Hause des Religionsstifters Bahá'u'lláh, und in Seiner, des Meisters eigener Familie geäußert hatte?

Da fand ich denn unter meinen Notizen vom 27. Januar 1910 – Donnerstag40 – folgende Aufzeichnungen die ich Ihnen hier zusammengestellt (ins Deutsche übertragen) gerne übermittele:

Ort: Empfangssaal in ‘Abdu’l-Bahás41 Hause,
Zeit: 27. Januar 1910, nachmittags 3 Uhr
Personen: ‘Abdu’l-Bahá, drei persische Bahá'í, eine Engländerin, (Miss N.) und meine Wenigkeit. Ein Sekretär des Meisters, Ahmad Effendi, amtierte als Dragoman42 für Persisch, Türkisch, Arabisch und Englisch.

Die Engländerin (Missionarin der Church-Mission-Society) hatte in der Art der direkten, ja schroffen Fragestellung, wie es die Europäer, und besonders die Engländer, zu tun pflegen, den Meister herausgefordert, mit folgenden brüsken Worten: „Abbas Effendi, wie kommt es, dass sowohl Sie, der Verbreiter der Bahá'í-Lehre, als auch Ihr ehrwürdiger Herr Vater, der Bahá'í-Prophet, in Seinem eigenen Familienkreis keine ungeteilte Anerkennung finden durften?“

Langsam stieg eine feine Röte, vielleicht des schmerzlichen Unwillens, in das blasse Antlitz des Meisters und das Feuer in den blaugrauen Augen des greisen Meisters vertiefte sich, als Er nun zu der Fragerin gewendet erwiderte: „Ich könnte Dir, meine Schwester, mit den Worten unseres Herrn Jesu Christi – gesegnet sei Seine Weisheit – antworten: ‚Es ist kein Prophet in seinem Vaterland geehrt‘43, oder: ‚Es muss Ärgernis geben in dieser Welt, aber wehe demjenigen, der es bringt!44‘ Doch darüber hinaus will ich die Gelegenheit, die uns deine Frage bringt, benutzen, um über die tiefste Ursache aller Entweihungen auch einiges zu sagen:

Lehren nicht alle Propheten: es gibt zwei Welten, eine geistige das Malekút Alláhs – das Reich Gottes45 – und eine materielle Welt, das Naturreich im weitesten Sinne. Nun, in der physikalischen Welt im Reiche des Materiellen ist der Daseinskampf, das Ringen um die mehr oder weniger nackte Existenz, der alles beherrschende Unterton. In diesem Kampf siegt der Stärkere, der Geeignetere, der Mächtigste. Hierin liegt die Ursache aller Kriege, alles Hasses46, aller Feindschaft – die Gier nach Besitz, nach Macht, nach Geld und Reichtum, nach Ehre und Ruhm wirken47 sich aus in Tyrannei, Unterdrückungen, Ausbeutungen, ja Ausrottung des Schwächeren, des Unterlegenen.

Betrachten wir nun die geistige Welt, das Himmel- oder Gottesreich, welches uns alle Propheten des Allerhöchsten verkündet und nahegebracht haben, das ewige Reich der Wahrheit. Alle Propheten, von Abraham, dem Freunde Gottes, an bis zu Bahá'u'lláh der heiligen Vollkommenheit, waren Herolde der Wahrheit. In der Wahrheit liegt die Einheit und Einigkeit der Menschheit beschlossen. Wahrheit bedeutet zugleich Gerechtigkeit. Wahrheit wirkt sich aus und findet Gestalt in der Liebe und Güte, in Barmherzigkeit und Mitleid. Wahrheit ist die Wurzel aller Gleichheit und Brüderlichkeit. Wahrheit umfasst Selbstlosigkeit, Selbsthingabe, Selbstentäußerung. Wahrheit allein gibt Kraft, ewige Jugend und ewiges Leben. Du wirst einwerfen, meine Schwester: wie kommt es dann, dass so oft, ja fast möchte man sagen, von jeher die Wahrheitssucher sich über und um die Wahrheit streiten und dadurch der materiellen, gottfernen und gottfremden Welt – das größte Ärgernis – 48 das stärkste Hindernis für das Finden und Halten der Wahrheit geben?

O meine Schwester, hier stoßen wir auf das Mysterium des Bösen, das Mysterium des Übels, das unser begrenzter Verstand, unsere erdgebundenen Sinne in dieser Zeitlichkeit nicht enträtseln können. Wenn wir aber mit brennenden Augen in das Dunkel dieses Abgrundes starren, so wird es – wenigstens dem aufrichtigen Gottsuchenden – gegeben, hie und da einen aufklärenden Schimmer des Begreifens, des Verstehens in der Finsternis des Übels wahrzunehmen. Wir haben vorhin behauptet, dass in der materiellen Welt, in der Natur, ein unaufhörlicher, rücksichtsloser Daseinskampf herrscht und wenn nicht die Prinzipien der geistigen Welt sich auswirken können, so liegt eben in dem brutalen und mehr oder weniger nackten Kampf ums Dasein, um Macht und Besitz, um Ehre und Ruhm – die Wurzel aller Kriege, aller Zwietracht, aller Tyrannei, Ausbeutung und Unterdrückung des Schwächeren. Aber, meine Schwester, du wirst fragen: was haben die grob-materiellen Kriege der Nationen, die Kämpfe der Religionen, die soziale Unterdrückung und Ausbeutung zu tun mit den geistigen Spaltungen, den religiösen Zerwürfnissen in den Kreisen der Frommen, der Gerechten, der Gottsucher und Gottfinder, den Trägern der Wahrheitsfackeln?

O meine Schwester! Gewiss finden wir unter den Nachfolgern der Propheten, unter den Jüngern, zwischen den Herolden der Wahrheit keine Kämpfe um die materielle Existenz. Das tägliche Brot, ein gewisses Ansehen, einen kleinen Besitz, etwas Macht über die Nächsten und Untergebenen, alles dies ist mehr oder weniger gleich verteilt, erregt nicht die Gier oder den Durst nach mehr oder nach dem, was der Mitjünger hat und besitzt – nein, im Reiche der geistigen und geistlichen Werte wird nicht mit grob-materiellem Maße gemessen, nicht um derbe Güter gekämpft, nicht sichtbare, brutale Waffen werden angewendet, sondern das Niederringen des andern geschieht nicht mit den aufgedeckten Karten, mit sichtbaren Mitteln, mit leicht erkennbaren Waffen, sondern mit dem Gift der Verkleinerung, mit dem heimlichen Dolchstoß der Verleumderzunge, mit der feinen Frage, die so alt wie die Welt ist: ‚Sollte Gott gesagt haben – sollte Gottes Wille so sein und nicht viel mehr anders – so wie Er Sich mir geoffenbart hat?

Jeder natürliche Mensch ist als Kind völlig egozentrisch, sein kleines Ich ist ihm der Mittelpunkt und das Maß aller Dinge. Je mehr der kindliche Mensch heranwächst, sehnt er sich und streckt sich nach einem höheren Wesen, nach einem Führer zur Wahrheit, in dem das Gute und Schöne vereint beschlossen liegen.

In den Jugendjahren von 14 - 24 wird der Mensch bewusst oder unbewusst zum Wahrheitssucher, zum Gottsucher, alsdann wird er zum Jünger eines Glaubens, zum Verfechter einer Idee, zum Träger höherer Ziele, zum Nachfolger eines Führers, zum Anhänger eines Propheten. Es kommt aber die Zeit der endgültigen Entscheidung, bei dem einen früher oder später, meist mit dem 25. und 50. Lebensjahr, wenn es sich zeigt – ob der Mensch, der doch zeitlebens ein Kämpfer genannt werden muss – oder diese kämpfende, ringende Seele sich ganz entäußern kann und will, denn jede Religion, ja jede große Idee, selbst weltliche Ziele, verlangen eine Selbsthingabe und Opferbereitwilligkeit an das eine, das man erkürt hat, an das eine, das nottut. Von Abraham, dem Freund Gottes, an49 über alle Propheten des Höchsten bis hinunter zu Bahá'u'lláh,50 der Gesegneten Vollkommenheit, 51 steht geschrieben über dem engen Tor der Buße und Selbsthingabe: Du kannst nicht Gott dienen und zur gleichen Zeit andere Götter oder dich selbst anbeten! Hat nicht jeder Prophet der ewigen Wahrheit seinen Judas Ischariot, seinen Verräter gehabt? Litt nicht Abraham, der Freund Gottes, unter dem Widerspruch seines Neffen Lot, unter dem Unglauben der Hagar und des Ismael? Wurde nicht seine Heiligkeit Jesus Christus von Judas Ischariot mit einem Kuss an seine Häscher verraten? Hat nicht der Prophet Moammed den Verräter Abdu‘lláh ibn Ubayy von Medina wie einen Pfahl im Fleisch lange Jahre ertragen müssen? Hätte nicht die Lehre des heiligen Wegbereiters unseres Propheten Báb noch einmal so rasch das Land Persien überflutet, wenn nicht der egoistische und eitle Verräter Moammed ‘Alí von Bárfurúsh52 die Gläubigen verwirrt und die Gegner des Propheten angefeuert hätte? Wir, die getreuen Nachfolger Seiner Heiligkeit Bahá'u'lláh, wir wissen, ja viele sind Augenzeugen gewesen, wie der Sekretär von der heuchlerische Mírzá Assadu‘lláh Dayyán von Täbris53