Ewalyn Piotrowska

Das Haus in der Wilhelmstraße

Eine sadomasochistische Liebesgeschichte

Roman

Edition Rotstreif, Köln, 2013

© 2013 Alexandra M. Hermann

© 2019 Alexandra M. Hermann

Satz und Publishing:

AMH-Publishing-Systems, Cologne

alexandra.m.hermann@gmx.de

Covergestaltung: Alexandra Melanie Hermann

unter Verwendung einer Zeichnung von Barbara Kratzer

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 9783749411900

Inhalt

Einladung

Ein Mann geht spazieren. Langsam schlendert er durch die Straßen. Es ist Samstag, ein schöner Morgen. Man spürt den Frühling der kommt, endlich, nach dem langen Winter. Die Sonne scheint noch etwas zögerlich, aber die Luft ist aufmunternd frisch und schon fast mild. Einige Autos fahren durch die Straße, meist Lieferverkehr. Vereinzelt sind einige frühe Einkäufer unterwegs. Der verrostete Kombi des kleinen Blumenladens ist quer über den Bürgersteig geparkt. Das Pflaster ist nass von dem übergeschwappten Wasser der in den Landen her eingetragenen Blumenkübel. In der Bäckerei sortieren zwei Verkäuferinnen gerade die frisch gelieferte Ware ein. Der Teeladen, ein paar Häuser weiter, ist noch geschlossen. Er macht erst um zehn Uhr auf. Earl Grey gibt es hier und eine spezielle Englisch-Breakfast-Mischung. Alles wird für jeden Kunden individuelle von Hand in kleine grüne Beutel verpackt. Einige dieser Beutel stehen im Schaufenster. Sie wurden wohl bestellt und dann doch nicht abgeholt, denkt der Mann. Auf einem der Etikette steht „Rhabarber-Sahne“. Der Mann hält einen Moment inne und schaut auf den Beutel und die goldfarbene Spange die ihn verschließt. Dann geht er weiter.

Es ist eine schöne kleine Einkaufsstraße, recht breit und mit großen Ahorn Bäumen, die jetzt noch keine Blätter haben. Die Straße liegt nicht wirklich im Zentrum, aber es ist ein altes Stadtviertel in einer großen Stadt.

Der Mann geht langsam. Offensichtlich hat er keine Eile, nichts das ihn drängt. Man könnte meinen, dass er ein entspannter morgendlicher Flaneur ist; aber er sieht nicht entspannt aus, eher so wie jemand, der etwas sucht aber noch nicht weiß was.

Wenn jemand jetzt in das Gesicht des Mannes schauen würde, sähe er neben verletztem Stolz auch Spuren von Traurigkeit in seinen Zügen. Einige kleine, stets nach unten verlaufende Falten um die Mundwinkel deuten darauf hin. Sie sind noch nicht sehr deutlich gezeichnet, aber sichtbar und offensichtlich auch durch die regelmäßige Anwendung straffender Hautcreme nicht zu glätten. Doch es schaut niemand in das Gesicht des Mannes.

Vor dem Schaufenster eines Schuhgeschäftes bleibt der Mann stehen. Handgemachte Schuhe mit voll durchgenähter Sohle sind dort ausgestellt. Dazu liegen die Leisten, auf denen das Leder geschnitten wird, und ein Schuhputzkästchen aus Zedernholz, hübsch dekoriert auf dunkelgrünem Filz, stramm gespannt. In dem Schuhputzkästchen liegen handgemachte Bürsten und englische Schuhkreme. Schwarz glänzende Metalldosen mit goldener Aufschrift, weiß umrandet die Buchstaben und ein schmaler, roter Ring um die Kante des Deckels. Etwas für den Gentleman von Welt, denkt der Mann und fragt sich, ob er das wohl würde, wenn er diese Schuhkreme für seine Schuhe benutzte. Dann schüttelt er innerlich den Kopf über diesen seltsamen Gedanken. Auch dieser Laden ist noch geschlossen.

Eine Nebenstraße, wie es einige gibt in diesem Stadtviertel. Altes, fast grobes Kopfsteinpflaster auf der Fahrbahn. Einige Stellen sind mit Asphalt geflickt. Der Bürgersteig ist mit schmucklosen, quadratischen Betonplatten gepflastert. Die Kanten der Platten schräg versetzt und am Rand eingefasst mit einem schmalen Streifen heller weißer Natursteine. Alle paar Meter ein Baum, vor den parkenden Autos mit kräftigen, in den Boden gerammten, verzinkten Stahlrohren geschützt. Die Häuser haben kleine Vorgärten, die durch eine Mauer und meist auch ein daraufgesetztes Metallgitter geschützt sind. Es sind vier- oder fünfgeschossige Häuser, viele aus der Gründerzeit, reichlich mit Ornamenten verziert. Dazwischen stehen schnell nach dem Krieg hochgezogene Sünden mit Waschbetonbalkonen, fantasielosen glatt verputzen Fassaden und langweiligen Fenstern. Der Versuch mit einem kräftigen Rot oder Blau, mit aufgemalten Streifen und Punkten, die Hässlichkeit der Architektur zu mindern, ist gründlich fehlgeschlagen. Da sind die wenigen funktionalen Backsteinbauten schon fast eine Entspannung, auch wenn sie blockartig Teile der Straße dominieren und an eine Anstalt für höhere Töchter erinnern.

Der Mann bleibt stehen und schaut in einen der Gärten. Etwas Rasen, direkt hinter der Mauer eine Buchsbaumhecke und davor einige schmale Beete. Auf der frisch umgegrabenen Erde liegt ein Pflanzspaten, einer dieser grellbunt lackierten Gartengeräte mit kräftigem Plastikgriff, die viel stabiler aussehen als sie sind. Offensichtlich hat hier gerade noch jemand gearbeitet. Der Mann greift zögernd in das Gitter und hält sich fest. Die Eisenstäbe sind kalt. Er geht mit dem Gesicht nahe an die Stäbe heran, fast so, als wolle er seinen Kopf durch das Gitter schieben. Es ist ein altes Gitter, sicherlich noch mit Bleimennige grundiert und dann mit einem hochglänzenden Schwarzlack überzogen. Der Lack ist ausgeblichen von einigen Jahren Sonne, aber ansonsten noch gut in Schuss. Für einen Augenblick berühren die Wangen des Mannes die Gitterstäbe. Als er die Kühle spürt, zuckt er zurück und schaut auf den Weg, der zum Haus führt. Kleine graue Fliesen, mit quadratischen Erhebungen, rutschfest. Solche Fliesen hatte man in den fünfziger Jahren in den Badeanstalten. Die Fliesen sind solide in ein Betonbett gelegt, sehr haltbar, aber mit wenig Gespür für Ästhetik und fremd auf einem Gartenweg. Am Ende des Weges führen zwei abgetretene Stufen zum Eingang. Die massive, schwarz lackierte Haustür ist offen und mit einem Keil festgeklemmt. Hier arbeitet jemand im Garten und holt gerade etwas aus dem Keller, denkt den Mann.

Er lässt das Gitter los und geht weiter, einige schnelle Schritte, er will nicht, dass man ihn hier vor dem Haus sieht. Doch dann bleibt er wieder stehen. Er dreht sich um und schaut auf das Gitter des Törchens, das vor dem Weg zum Haus ist. Der Griff hängt schräg nach unten. Offensichtlich ist die Feder im Schloss ausgeleiert. Der Mann drückt gegen das Gitter. Es öffnet sich ohne Widerstand. Der Schnapper war nicht eingerastet. Als er das Gitter weiter aufschiebt, quietscht es laut in der Angel. Der Mann erschrickt, bleibt stehen und geht dann schnell weiter zur Haustür. Er schaut auf die Klingelschilder. Vier Namen stehen da, alle direkt eingraviert in die Messingplatte. Die stehen schon lange dort. Neben dem obersten Klingelknopf ist über den ursprünglichen Namen ein sauber geschnittenes Stück Messingblech aufgeschraubt. Da steht kein Name. Der Mann fährt mit dem Finger über das Klingelschild.

Eigentlich müsste er jetzt umkehren. Er steht im Eingang eines fremden Hauses. Die Tür steht offen, aber das ist keine Entschuldigung, dass er hier eindringt. Der Mann weiß das. Schon das Törchen hätte er nicht öffnen dürfen. Er kann nicht sagen warum er hier ist. Er steht da und versucht sich an etwas zu erinnern, aber er weiß nicht an was.

Ein Lastwagen fährt langsam durch die Straße, ein kleiner kompakter Möbelwagen. Zieht hier gerade jemand um, fragt sich der Mann und sieht sich schon im Weg stehen, zwischen kräftigen Möbelpackern, die ihn in den Flur drängen. Aber der Möbelwagen fährt vorbei. Der Mann kann nicht einmal die Aufschrift lesen.

Er schaut in den Flur. Eine Steintreppe, ein gedrechseltes schweres Holzgelände, schwarz lackiert, und oben am Treppenabsatz zur ersten Etage ein großes Bleiglasfenster. Eine schöne Jugendstilarbeit.

Der Geruch des Hauses schlägt ihm entgegen. Eine Mischung aus dem vorbereiteten Mittagessen und zum Trocknen aufgehängter Kochwäsche, dazu die Schmierseife mit der der Treppenflur gewischt worden ist, wahrscheinlich am letzten Samstag noch und heute Abend wird er wieder gewischt. Es ist ja heute Samstag. So sieht es aus.

Der Mann geht hinein, geht in den Flur. Vom Boden bis auf Schulterhöhe Fliesen, dann eine gut geklebte Mustertapete, die eigentlich nicht zu den Fliesen passt, die aber schon lange da hängt. Der Mann tastet mit den Fingern an den Fliesen entlang, so als brauche er den Kontakt mit der Wand um nicht zu stolpern. Es sind alte schöne Fliesen. Der Mann mag Kacheln und Steingut. Er mag die Muster und die Farben und die glatt glänzende Oberfläche. Er war lange mit einer Frau zusammen, die solche Fliesen liebte. Erinnert ihn das daran?

Oben im Flur wird eine Etagentür geöffnet. Man hört das Klirren eines Schlüsselbundes, dann Schritte. Eine Tür fällt ins Schloss, die Schritte kommen die Treppe hinunter, eilig. Der Mann schaut zur Haustür, geht dann aber in die andere Richtung, rückwärts zunächst. Etwas zu spät dreht er sich um. Er stolpert, fängt sich gerade noch: Drei Stufen führen zum Absatz hinunter, vor die Tür zur Kellertreppe. Die Stufen hat er übersehen. Gegenüber ist die Tür zum Hof. Die Schritte kommen näher, noch ein Stockwerk, vielleicht auch zwei. Der Mann schaut sich um. Die Tür zum Hof ist zu. Die Tür zum Keller steht offen. Jemand hat das Licht angelassen. An einem Harken hängen ein blaugrauer Arbeits-Kittel und darüber ein Teppichklopfer aus Rattan. Daneben Besen und Kehrblech. Es sieht so aus, wie im Schuppen beim Onkel auf dem Land, den er als Kind immer in den Sommerferien besucht hat. Alles was man zum Saubermachen braucht hing da. Der Mann geht die Treppe hinunter in den Keller. Ein von einer Glühbirne hinter ovalem, vergittertem Glas nur schwach erhellter Gang. Die Wände, unverputztes Mauerwerk, gestrichen mit einer weißen Kalkfarbe. Der Stein atmet etwas Feuchtigkeit. Kellergeruch.

„Mutter?“, hört der Mann die Stimme einer Frau. Sie steht oben an der Tür zur Kellertreppe. Der Mann sucht nach einer Möglichkeit sich zu verstecken. Die Keller sind mit Verschlägen aus Holzlatten abgetrennt. Die Lattentür zu einem Verschlag ist offen. Er geht hinein. Hier wird ihn keiner sehen, denkt er. Seine Augen müssen sich erst an die Dunkelheit gewöhnen.

„Mutter?“ hört er die Stimme erneut. Sie klingt entfernt. Die Frau stehe immer noch oben an der geöffneten Tür. Schritte. Die Frau geht die Treppe hinunter. Ihre Schuhe haben harte Absätze. Sie steht im Kellerflur und sieht die offene Tür des Verschlags.

„Licht anlassen und alle Türen auf“, murmelt die Frau: „Mutter, Mutter.“ Sie schüttelt den Kopf. Die Frau zieht die Lattentür des Kellers, in dem der Mann sich versteckt hat, zu, hängt das Vorhängeschloss ein und schließt es. Der Mann hört das Klacken. „Mist“, denkt er. Das war ein Fehler. Er sitzt fest. Die Schritte entfernen sich, das Licht geht aus, die Tür oben vor der Kellertreppe wird abgeschlossen. Noch ein Schloss, denkt der Mann. Jetzt ist er gleich zweimal eingeschlossen.

Langsam gewöhnen sich die Auge des Mannes an das schummrige Licht des Kellers. Ein paar alte Schränkt stehen hier, in der einen Ecke ein Bettgestell in dem Gartenmöbel gestapelt sind. An den Wänden Bilder, meist gerahmt. Einige Kinderzeichnungen aber auch richtige Ölgemälde und großformatige Fotografien, schwarzweiß, einige auch koloriert. Eine Welt der vergangenen Dinge. Man wollte es oben in der Wohnung nicht mehr haben, es musste Neuerem Platz machen. Aber man konnte es auch nicht einfach in den Sperrmüll geben. Hier unten leben die Bilder und die Dinge, ineinander gestellt und aufgestapelt, weiter.

Der Mann schaut auf das Portrait einer jungen eleganten Frau. Gemalt im Stil des Rokoko, schon sehr professionell gemacht und auf den ersten Blick fast museumstauglich. Erst beim genaueren Hinsehen werden einige handwerkliche Mängeln sichtbar. Der Gesichtsausdruck der porträtierten Frau spricht den Mann an. Er geht näher zu dem Bild. Neben dem Bild hängt ein runder Durchschlag aus Email, schwarz, eine Kordel, deren Ende sich hinter den beiden ausrangierten Kommoden verbirgt, die unter dem Bild stehen, und eine lederne Gerte, eine Hundepeitsche aus den 1920er Jahren. Der Mann stutzt. Ja, das ist eine richtige Hundepeitsche. Die hatte man damals, und sein Vater hat ihm erzählt, dass die Kinder immer mit so einer Peitsche ausgehauen wurden, wenn sie nicht spurten. Das war damals so.

Der Mann dreht sich um. In der gegenüberliegenden Ecke hängt neben dem Foto eines streng blicken Mannes mit Bart und einer markanten Nase, ein Stieltopf mit einem langen Griff. Waren die Griffe so lang, weil man die Töpfe damals noch direkt ins Feuer eines großen Kohleherdes stellte, denkt der Mann. Doch dann kommt ihm ein ganz anderer Gedanke. Das sind die Erziehungsinstrumente, die in diesem Haus angewendet wurden. Blut schießt dem Mann ins Gesicht. Da hat jemand die Peitsche mit der er den Po ausgehauen bekommen hat aufbewahrt, hier in diesem Erinnerungskeller, so wie die Kinderbilder und die Gemälde, die einmal im Wohnzimmer der Eltern hingen. Man konnte die guten Stücke doch nicht einfach wegwerfen, sie waren Erinnerung, und das waren die Strafinstrumente ja auch. Sie waren gefürchtet, die Schläge, die es damit gab. Sie brannten, sie taten weh, man schrie und weinte. Aber die Schläge waren auch eine sehr intensive Form dominant praktizierter intimer elterlicher Zuwendung. Nacktheit war ein Tabu, aber zu Erziehungszwecken zog man einem Kind ohne weiteres die Hose herunter um den nackten Po auszuhauen und das konnte auch in Anwesenheit von Geschwistern und Hauspersonal geschehen. Selbst auf der Straße konnte es Schläge geben. Über die erste Tracht Prügel, die ersten Schläge auf den nackten Po, oder wenn es zum ersten Mal Peitsche oder Stock gegeben hatte, darüber wurde offen in der Familien und in der Nachbarschaft gesprochen. Das war Erziehung und darüber unterhielten sich die Mütter. Und diese Gespräche wurden wohl auch deshalb so gerne geführt, weil sie versteckt mit ebensolchen erotischen Implikationen durchzogen waren, wie die hinter der vorgehaltenen Hand geführten Gespräche über den ersten Kuss oder ein vermutetes Schäferstündchen.

Das alles weht ihn hier an, den Mann, in diesem Keller. Natürlich weiß er, dass es seine Erinnerungen sind, seine Assoziationen, die von ihm aufgeschnappten Geschichten, die in diesem Keller solche Gedanken in