© 2019 Lukas Geiger

ISBN: 978-3-7494-8856-8

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

Inhaltsverzeichnis

Das große Erwachen

»Ich weiß nicht, ob Mama recht hatte, oder ob Leutnant Dan recht hatte. Ich weiß nicht, ob jeder von uns sein Schicksal hat, oder nur zufällig dahintreibt wie ein Blatt im Wind. Aber ich denke, es stimmt vielleicht beides. Vielleicht passiert ja beides zur selben Zeit. Du fehlst mir so, Jenny!« (Forrest Gump).

Ich kann Dinge sprechen hören. Natürlich haben sie keine reale Stimme, wie Menschen, die normal mit mir sprechen, eine haben. Das sind keine Frequenzen und es spielt sich auch nicht in meinem Kopf ab. Ich meine, das Ganze ist sowieso kompliziert und müsste wahrscheinlich ganz anders erzählt werden. Aber wer sollte die Geschichte anders erzählen, wenn sie kein anderer kennt? Und wenn nur ich sie erzählen kann, dann bleibt es zumindest fraglich, ob ich sie jetzt, in diesem Moment, anders erzählen könnte oder – für euch Lesende – anders erzählt haben könnte. Deshalb tue ich nun meine Pflicht und erzähle die Geschichte, von dort, wo ich meine, dass sie beginnen müsste.

Die Geschichte beginnt in einem Zimmer: Genauer gesagt meinem Zimmer. Ich lag in meinem Zimmer auf meinem Bett. Neben mir wachte die mehr oder weniger selbstgebaute Alarmanlage über meine größten Schätze. Sie arbeitete mit ferngesteuertem Infrarot und Batterien und wenn sich irgendwas bewegte, gab sie einen ohrenbetäubenden Krach von sich. Sie hatte die Form einer Scheibe, einer flachen Erde. Wenn ich so überlege: Ja, das passt gut, war sie es doch, die meine ganze Welt – zugegebenermaßen kleine Welt – beschützte. Sie sah wie ein runder Feuermelder aus, nur war sie breiter und auf Feuer reagierte sie nicht. Ich hatte die Alarmanlage auf einen ebenfalls runden kleinen Abstelltisch gesetzt und meine Schätze direkt auf sie gelegt. Dann hatte ich noch zur hermetischen Perfektion eine Glaskuppe darübergestülpt und die Alarmanlage aktiviert. Solchermaßen konstruiert, konnte man nun um den Tisch herumgehen, ohne, dass sofort der Alarm losschrillte. Aber wollte man die Glaskuppe entfernen, die eigentlich keine war und nur von einem spielenden Kind für eine solche gehalten werden konnte – genaugenommen handelte sich es nämlich um die glasige Lieblings-Salatschüssel meiner Mutter, die ich vor Monaten direkt vom Küchentisch gestohlen hatte, bevor ich mich des sich darin befindlichen Salates entledigte, der schon für das gemeinsame Mahl gezupft und geputzt bereitgestanden hatte. Dieses Verbrechen blieb für immer ungesühnt. Wir waren viele Kinder und damit viele potentiell Schuldige. Dankbar darüber dem Salat entkommen zu sein, wurde ich dieses Mal bereitwillig von meinen Geschwistern gedeckt. Doch darauf konnte man natürlich nicht immer hoffen. Klar war auch, zunächst würde die Glasschüssel verschwinden müssen. Diebesgut in meinem Zimmer wäre ein eindeutiges Schuldeingeständnis gewesen. Mittlerweile waren Gras, eine neue Schüssel und Berge neuen Salates über die Sache gewachsen. Im Fall der Fälle hätte ich nun behaupten können, die Schüssel gefunden zu haben, wahlweise im Zimmer des gerade bei mir unbeliebtesten Geschwisterleins. Die Glasschüssel, Sie ahnen es, fand nie den Weg zurück zu Mutter. Doch heute bin ich mir sicher, dass Mutter ihre Lieblingsschüssel nicht so schnell vergessen hatte, wie ich das zu glauben bereit gewesen war. Nein, als sie die Schüssel bei mir fand, da war ihr Ärger längst verflogen und mich liebte sie nun mal mehr als ihre Lieblingsschüssel. So ging die Schüssel stillschweigend in meinen Besitz über. Aus Diebesgut wurde Eigentum, wie es sich schon von Anbeginn der Zeit bei den ersten Menschen verhielt, und sei es, dass diese sich freimütig bei der Natur bedienten. Die, nennen wir es also Glaskuppe, war über meine scharf gemachte Alarmanlage gestülpt. Wollte man sie nun entfernen, oder gar einen der Schätze, die genau auf dem Sensor lagen, war die Hölle im Kinderzimmer los.

Ich lag also in meinem Bett und grübelte so über vieles nach. Ich war allein, aber nicht einsam und meine größten Schätze – und damit ich –waren bewacht von einer höheren Macht, einer in Technik gebannten Sicherheit, die sogar TÜV geprüft war, und die ich für zwanzig Deutsche Mark Taschengeld bei ALDI erworben hatte. Eltern, diese komischen Geschöpfe, hatten den Kauf für überflüssig erachtet. Was hatte ein so kleines Kind denn schon Wertvolles, was es zu bewachen galt?

Ich hatte mindestens Würde und dazu noch meine Geschwister. Und vor Geschwistern konnte eine Alarmanlage ganz sicher schützen, wie ich glaubte. Natürlich war es auch ein Abenteuerspiel. Ein Identifikationsfixpunkt. Oder wie andere sagen: Vorbereitung auf das Arbeitsleben. Als Kinder sind wir Schauspieler, Ärzte, Tierpfleger, Apotheker, Verkäufer, oder wie ich in diesem Fall Museumswärter. Wir lernen unsere Rollen zu spielen und noch bezahlt uns keiner dafür, wenn wir es gut machen. Aber wir brauchen auch noch keine Angst haben, es schlecht oder falsch zu machen. Noch droht uns keiner damit unsere Rolle im Stück zu verlieren. Es ist und bleibt ein Spiel! Wir konnten die Berufe noch wechseln wie Kleidungsstücke und wir konnten alles ausprobieren und simulieren, was in uns bereit war nach draußen zu dringen, freilich mit Konsequenzen, aber mit nur solchen von ebenfalls gespielter Natur. Dieses Spiel endet irgendwann und zwar da, wo die Angst vor unseren Fehlern beginnt.

Ich lag also in meinem Bett und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich gerade über so etwas in der Art grübelte. Es war kein trauriges Grübeln, sondern es war dieses Gedanken schweifen lassen, bei dem man die Gedanken einfach frei lässt und nicht weiß in welche Richtung sie gehen. Das merkte man auch daran, dass ich dabei in der Nase bohrte und genüsslich popelte. Nun, ich war ein Kind und es war niemand anderes im Zimmer. Ich war allein. Und ich weiß, dass die meisten Erwachsenen auch noch heute popeln, wenn niemand hinsieht.

Zu dieser Zeit begann ich, meine Popel an der Wand abzuschmieren. Vielleicht war es Bequemlichkeit? Vielleicht war es auch nur mangelndes Problembewusstsein. Ich tat es. Und es störte mich nicht weiter. Bis es mich dann eines Tages doch störte. Dieses Popeln ist es deshalb wert erzählt zu werden, weil es zunächst einmal mein Popeln ist und weil es zusammenfällt mit dieser neuen Zeit in meinem Leben, die ich das große Erwachen nenne. Davor war ich glücklich, lebte so als Kind – was Anderes blieb mir auch nicht übrig – vor mich hin. Probleme gab es, doch sie waren kurz. Wohingegen, wenn man Erwachsen wird, die Probleme weniger werden, aber dafür – wie bei Pinocchio die Nase – länger. Sie dauern dann an. Ich dagegen konnte also noch einfach ins Bett steigen und am nächsten Morgen war die Festplatte gelöscht und mein Betriebssystem neu installiert.

Bis das große Erwachen kam. Denn plötzlich begann ich darüber nachzudenken, wie ich diese Popel wieder loswürde, wie ich sie von der Wand bekäme, diese Ekelpfropfen! Ich machte mir Sorgen über das Morgen und über diese Kunstwerke an der Wand. Und davor waren sie auch nur das für mich gewesen: Kunstwerke. Statt irgendwelchen leuchtenden Plastiksternen, hatte ich eben Popel an der Wand, die angetrocknet auch für Erwachsene nur noch halb so eklig waren als im flüssigen Zustand, und, die mich, anstatt nachts zu leuchten, beim Darüber-Streichen haptisch hypnotisierten, sodass ich schnell einschlief, oder in tiefe Phantasie versank. Die Wand hatte vorher schon Erhebungen gehabt. Bis heute weiß ich nicht wie das heißt. Die natürliche Wand hatte kleine weiße Krümel als Belag. Und so war es für mich besonders schön über die Wand zu streichen mit meinen kleinen Adams-Händen und den Unterschied zu spüren, zwischen den naturgegebenen Erhebungen, die klein waren und einzeln kaum zu erspüren – erst in der Masse piekten sie – und den von mir Erschaffenen. Die Wand war Wildnis, Natur, Urwald, denn sie war schon lange vor mir da gewesen und die Popel, das war das was mich von der Natur unterschied. Erwachsene hängen Bilder auf und ich tat dasselbe mit Popeln. Bilder schaut man mit den Augen an, Popel kann man nur mit den Händen begreifen. Ich mochte einfach den Unterschied und ich mochte die Formen, die diese an die Wand geklatschten menschlichen Überreste annahmen. Manche waren klein und fast perfekt rund und andere hatten Ausläufer. Es gab auch welche, die hatte ich übereinander geschmiert und es gab dann unter diesen wieder welche, lassen Sie mich ehrlich sein, die waren in so vielen Popelschichten übereinander betoniert, dass es unmöglich schien, dass sie im Kern jemals trocknen würden.

Und anders als in echten Museen war meine Kunst dynamisch. Sie hing zwar schon dort an der Wand, aber war nicht fertig. Gegen Popel, die mir beim Anfassen nicht gefielen, wurde ich handgreiflich. Ich kratzte sie ab und verlegte sie neu bis sie meinen Fingern ausreichenden Halt gaben.

Das Große Erwachen, war jetzt einfach die berechtigte Sorge darüber, dass andere meine Popel nicht toll finden würden. Aber besonders schlau war ich wohl schon damals nicht. Denn Lösungen für Probleme, die ich zu kompliziert fand, beschränkten sich für mich darauf, Dinge zu beichten: Man stellt was Blödes an, dann beichtet man es und irgendwer löst dann das Problem für einen.