Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind
im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2021 Sonja Borowski, 1. Auflage

Gemeinschaftswerk, organisiert und ins Leben
gerufen von Sonja Borowski

Layout: Bettina Andresen

Korrektur: Liv Borowski,
Christina Löschner, Adrian Borowski

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-75348-784-7

Dieses Werk ist all
den Menschen gewidmet,
die für ihre Rechte und Anerkennung
kämpfen müssen.

Einleitung

Liebe interessierte Lesende,

wir sind 30 Menschen mit Dyskalkulie und / oder Legasthenie und dieses Buch umfasst unsere Biografien. Es ist von Betroffenen für Betroffene geschaffen. Wir hoffen, dass unsere Lebensgeschichten andere motivieren, nicht aufzugeben, den Kontakt sowie Austausch mit anderen zu suchen und sich vehement für die eigenen Rechte einzusetzen. Aus eigener Erfahrung können wir berichten, dass es bestärkend sein kann, die eigene Biografie zu Papier zu bringen. Hierdurch wird sichtbar, was wir in unserem Leben bereits erreicht haben und wo unsere Stärken liegen.

Außerdem möchten wir mit unseren individuellen Biografien interessierten Menschen die Möglichkeit geben, einen Einblick in das Leben mit Dyskalkulie und / oder Legasthenie zu erhalten. Nur so kann Toleranz wachsen, Sensibilisierung stattfinden und Verständnis für unterschiedliche Bedürfnisse, Stärken sowie Lebenslagen aufgebaut werden.

Das Motto dieses Buches entstammt Richard von Weizsäcker, der einmal sagte »Es ist normal, verschieden zu sein«. Dem folgend möchten wir die Echtheit der einzelnen Geschichten erhalten und aufzeigen, dass niemand perfekt ist. Entgegen der Erfahrungen aus der Schule, Ausbildung oder Universität möchten wir die Ursprünglichkeit der Beiträge bewahren. Es zeigte sich, dass es manchen von uns ein Gefühl von Freiheit und Akzeptanz verleiht, den Text in seiner Ursprünglichkeit zu belassen. Anderen ist hingegen die Vorstellung, dass ein eigener fehlerhafter Text abgedruckt wird, unangenehm. Deshalb stand es uns allen frei, zu entscheiden, ob die Rechtschreibung und der Satzbau des eigenen Beitrags korrigiert wird. Bei jedem Beitrag ist ein Hinweis darauf zu finden, inwieweit eine Korrektur stattgefunden hat, Hilfsprogramme genutzt wurden oder es sich um einen Originaltext handelt.

Wir wünschen beim Lesen sowie Betrachten der folgenden Werke viele Erkenntnisse, Inspirationen und Momente des Innehaltens.

Die 30 Menschen,

durch die dieses ganz besondere Werk entstehen konnte.

Inhaltsverzeichnis

Legasthenie

Was ist das?

Legasthenie ist auch als Lese- und / oder Rechtschreibstörung bekannt (Wird nach ICD-10 F81.0 definiert.). Die Störung besteht in einer umschriebenen Beeinträchtigung von Lese- und Rechtschreibfähigkeiten, die nicht allein durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder eine unangemessene Beschulung erklärbar ist. Das Defizit betrifft vor allem die grundlegenden Lese- und Rechtschreibfertigkeiten (Die isolierte Lese / Rechtschreibschwäche wird nach ICD10 F81.1 unterschieden.).

Wer ist betroffen?

3-8% der Gesamtbevölkerung, das ist ca. jeder 30. Mensch in Deutschland

Woran ist die Legasthenie beispielhaft in der Schulzeit zu merken?

Wie beeinträchtigt die Legasthenie im Alltag?

Was kann helfen?

In der Schule, Ausbildung, Studium:

Im Alltag

Stärken trotz Legasthenie?

(Es handelt sich hierbei um eine unvollständige Sammlung an Definitionen und Beispielen. Als Quellen wurden die Gespräche innerhalb der Selbsthilfegruppe der Jungen Aktiven vom Bundesverband für Legasthenie und Dyskalkulie e. V. sowie die Homepage des Bundesverbandes für Legasthenie und Dyskalkulie e. V. genutzt.)

Dyskalkulie

Was ist das?

Dyskalkulie ist auch als Rechenstörung bekannt. (Wird nach ICD-10 F81.2. definiert.) Die Störung besteht in einer umschriebenen Beeinträchtigung von Rechenfertigkeiten, die nicht allein durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder eine unangemessene Beschulung erklärbar ist. Das Defizit betrifft vor allem die Beherrschung grundlegender Rechenfertigkeiten (wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division), weniger die höheren mathematischer Fertigkeiten (die für Algebra, Trigonometrie, Geometrie oder Differential- und Integralrechnung benötigt werden).

Wer ist betroffen?

3-8% der Gesamtbevölkerung, das ist ca. jeder 30. Mensch in Deutschland

Woran ist die Dyskalkulie beispielhaft in der Schulzeit zu erkennbar?

Wie beeinträchtigt die Dyskalkulie den Alltag?

Was kann helfen?

Schulisch gesehen

Im Alltag

Stärken trotz Dyskalkulie?

(Es handelt sich hierbei um eine unvollständige Sammlung an Definitionen und Beispielen. Als Quellen wurden die Gespräche innerhalb der Selbsthilfegruppe der Jungen Aktiven vom Bundesverband für Legasthenie und Dyskalkulie e. V. sowie die Homepage des Bundesverbandes für Legasthenie und Dyskalkulie e. V. genutzt.)

Dieses Buch wurde unterstützt durch:

Das Deutsche Zentrum für barrierefreies Lesen (dzb lesen) und dessen Förderverein »Freunde des barrierefreien Lesens e. V.« förderten das Buchprojekt durch eine finanzielle Unterstützung.

Seit seiner Gründung 1894 ermöglicht das Zentrum mit Büchern, Zeitschriften und anderen Medien barrierefreies Lesen. Mit den Änderungen im deutschen Urheberrechtsgesetz im Januar 2019 erweitert das dzb lesen seinen Nutzerkreis und ist neben blinden und sehbehinderten Menschen auch für all jene da, die aufgrund einer körperlichen Einschränkung oder anderer Lese-Handicaps, wie Legasthenie, herkömmlich Gedrucktes nicht lesen bzw. handhaben können. Das Zentrum bietet auch Menschen mit Legasthenie eine vielfältige Auswahl an barrierefreien Hörbüchern und Großdruckliteratur zur Ausleihe an. Zukünftig werden neue Medienformate – wie z. B. barrierefreie E-Books – angeboten, um damit auch Menschen mit Legasthenie einen besseren Zugang zu Literatur zu verschaffen. Das dzb lesen freut sich auf eine gute Zusammenarbeit mit den Legasthenie-Verbänden und -Vereinen.

Den Landesverband Legasthenie und Dyskalkulie Hamburg e. V. und den Landesverband Legasthenie und Dyskalkulie Thüringen e. V. im Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e. V. In diesen Landesverbänden haben sich Eltern von betroffenen Kindern, Erwachsene und Fachleute, aus der Pädagogik, der Psychologie und der Medizin zusammengetan. Sie wollen z. B. durch Beratung und Aufklärung die Lage der betroffenen Kinder und Erwachsenen verbessern und u. a. durch Veranstaltungen die Situation der Betroffenen öffentlich machen.

Sowie durch engagierte Privatpersonen.

Der Erlös dieses Buches wird ausschließlich zu dessen Erhaltung und Fortbestand genutzt.

»Aufgeben
war nie die
Option und
wird es
nicht sein.«

Abdullah, 25,
Legasthenie,
Nordrhein-Westfalen

Mahlzeit,

ich bin Abdullah, 25 Jahre alt und studiere an der Ruhr-Universität Bochum. Ich fahre gerne Longboard, zeichne sehr gerne und arbeite neben meinem Studium als Werkstudent. Meine Eltern sind aus der Türkei nach Deutschland eingewandert und ich bin im Ruhrgebiet aufgewachsen.

In der ersten Klasse bekam ich eine Empfehlung für die Sonderschule. Meine Mutter entschied sich, dagegen und beantragte, dass ich die Klasse wiederhole. Davor begann meine Therapien. Ich besuchte die Logopädie und Ergotherapie für circa sechs Jahre. Meine damaligen Probleme bestanden darin, mir mehreren Dingen zu merken und einige Doppellautkonsonanten fehlerfrei auszusprechen. Hinzu kam, dass ich schneller gesprochen habe als ich gedacht habe.

In meiner Grundschulzeit hat mich folgende Motivationssatz meiner Klassenlehrerin geprägt: »Sage nie es geht nicht, bevor du es nicht versucht hast«. Diese Redewendung prägt mich bis heute.

In der Gesamtschule hatte ich von der fünften bis zur zehnten Klasse durchgehend dieselben Klassenlehrerinnen. Diesen war bekannt, dass ich Schwierigkeiten beim Erlernen von Sprachen hab, weswegen ich ab der 6. Klasse den Förderunterricht in Deutsch besuchte. In der Gesamtschule wurden die Schüler ab der siebten Klasse in Englisch und Mathe und ab der achten Klasse in Deutsch und in Chemie in Erweiterungskurse oder im Grundkurse eingeteilt. Die Anzahl der belegten Erweiterungskurse hatte direkten Einfluss auf den Schulabschluss, den man erlangte. Mir gelang es die maximale Anzahl von Erweiterungskursen zu erreichen.

In der siebten Klasse besuchte ich zusätzlich die Hausaufgabenbetreuung. Meine Englischlehrerin war von meinen Fortschritten positiv überrascht. In den Zentralenabschlussprüfungen in der zehnten Klasse schloss ich meine Prüfungen in Mathe mit gut (2), in Deutsch mit befriedigend (3) und Englisch mit mangelhaft (5) ab. Trotzdem erlangte ich einen Abschluss mit Fachoberschulreife mit Qualifikation.

Im Abitur holten mich meine Probleme erneut ein. Meine erste Note in Deutsch war ein Defizit, einer Leistung die einem ausreichend minus (4-) oder schlechter entspricht. Insgesamt habe ich von zehn Deutschklausuren acht mit Defizit abgeschlossen. Defizite in anderen Fächern kamen hinzu. Meine schriftlichen Defizite wurden mit meiner mündlichen Mitarbeit ausgeglichen, hierzu gehörten auch freiwillige Referate in den jeweiligen Fächern. Aus dem Zeugnis schaffte ich zu meiner Überraschung selbst in Deutsch ein gut (2) zu bekommen. Meine erste 2 in Deutsch auf dem Zeugnis, die ich jemals hatte. Es war ein Erfolgserlebnis für mich und eine Bestätigung für meinen Fleiß.

Meine Physiklehrerin erzählte mir von einem ehemaligen Schüler von ihr, der erst im Studium von seiner Lese- Rechtschreibschwäche erfuhr. Nachdem ich dahingehend recherchiert haben hielt ich es auch für möglich, dass ich an einer ähnlichen Erkrankung leiden könnte. Daraufhin schilderte ich meinem Arzt die Problematik, der mir eine Überweisung für die Logopädie ausstellte. Die Behandlung ergab, dass ich wie bereits vermutet eine Lese-Rechtschreibschwäche habe.

Meine Lese- und Rechtschreibschwäche beeinflusste die Wahl meiner Abiturfächer. Meine ersten beiden Prüfungsfächer waren Mathe und Sport. Dann musste ich eine Sprache wählen. Ich entschied mich für Italienisch als drittes Abiturfach, weil ich zu dem Zeitpunkt in Italienisch die wenigsten Defizite geschrieben hatte und die sprachlichen Anforderungen, verglichen zu Deutsch oder Englisch, geringer waren. Mein mündliche Abiturprüfung hatte ich in Sozialwissenschaften.

In meiner Schulzeit habe ich mit meiner Behinderung einige negative Erfahrungen gemacht, die mich im Nachhinein jedoch nur noch mehr motiviert haben, nicht aufzugeben. Andererseits habe ich durch meine Erkrankung auch meine Leidenschaft für Zahlen und Mathematik sowie für Kunst und Zeichnen entdeckt. An der Mathematik fasziniert mich, dass es mehrere Wege zur Lösung geben kann. Beim Zeichnen ist es ähnlich. Dort gibt es keine klaren Regeln, die ich einhalten muss.

Derzeit studiere ich Bauingenieurwesen im Master. Und somit bin ich offiziell ein Ingenieur, die Freude ist und war unbeschreiblich. Außerdem plane eine Kunstausstellung mit meinen gezeichneten Bildern zu veranstalten.

Mich fasziniert Streetart und ich lasse diese in meine Zeichnungen einwirken

In Zukunft möchte ich mich engagieren Menschen über LRS, Legasthenie oder Dyskalkulie aufzuklären. Ich danke allen Menschen, die mich auf meinem Weg unterstützt und mir mit Rat und Tat zur Seite gestanden haben.

Im Laufe der Jahre habe ich erfahren, dass es nicht schlimm ist sich Hilfe zu holen. Im Gegenteil es erfordert sehr viel Mut. Ich bewundere Menschen, die sich eingestehen können Hilfe anzunehmen und ein besseres Ergebnis zu erreichen. Durch die Hilfe meiner Mitmenschen, die mich unterstützt hatten, war ich in der Lage meine eigenen Methoden zu entwickeln, um meine Probleme zu lösen. Aufzugeben war nie eine Option für mich und wird es nicht sein.

Schöne Grüße

Abdullah

DIESER BEITRAG WURDE MIT DEM SCHREIBPROGRAMM WORD GESCHRIEBEN UND VON EINEM KOLLEGEN VORAB GELESEN.

»Habe
den Mut
unperfekt
zu sein.«

Adrian, 22,
Legasthenie,
Nordrhein-Westfalen

GESCHRIEBEN VON MUTTER TANJA

Unser Weg …
mit Lese Rechtsschreibschwäche (LRS)

Ich berichte aus der Sicht einer Mutter. Mein Sohn Adrian Jahrgang 1998 ist nun inzwischen 22 Jahre alt. Ich bin wirklich eine leidgeprüfte Mutter gewesen, die mit diesem Bericht allen Betroffenen Mut zusprechen möchte. Natürlich sind wir als 4-köpfige Familie während der Schulzeit oftmals durch die Hölle gegangen. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal entspannt und so stolz über die LRS meines Sohnes berichten kann.

Adrian war unser erstes Kind und natürlich wollten wir alles richtig machen. Die KiTa hatte als Schwerpunkt Kunst. Da mein Mann und ich eher »Kunst Banausen« sind, entschieden wir uns für diese Einrichtung, ohne jedoch einen Picasso zu erwarten. Adrian sollte einfach einen Einblick erhalten, den wir ihm nicht geben konnten. Dass er sich eher als kleiner Daniel Düsentrieb entwickelt, wussten wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Dennoch war es eine entspannte Zeit. Die drei Kindergartenjahre vergingen wie im Flug und wir dachten der Übergang zur Grundschule wird ebenso reibungslos und schön werden. Ab da ging die Odyssee los. Adrian tat sich unfassbar schwer mit dem Lesen lernen. Schreiben war eine Katastrophe. Wir übten und machten all das, was uns die Lehrerin empfahl.

Wenn wir ihn fragten: Buchstabiere »wir«, antwortete er: »W I R«. Dann sollte er es aufschreiben und auf dem Blatt stand »WIER«. Wir waren absolut verzweifelt. Er lernte in der Schule nach Sommer –Stumpenhorst und einem Lernhaus mit Karteikarten. Das war für unseren Sohn nicht das Richtige. Aber nun mussten wir da durch. Nach der zweiten Klasse und Förderunterricht ohne Ende, legte man uns ein Testverfahren an die Hand. Mehrere Male mussten wir Adrian »auf den Kopf« stellen lassen. Das Ergebnis lautete »anerkannte Legasthenie«. Die nette Rektorin der Grundschule sagte uns dann: »Wir werden das Ergebnis nicht bei der Benotung berücksichtigen!« Verwunderung und lange Gespräche folgten daraufhin mit meinem Mann. Schließlich hat NRW doch den Legasthenie Erlass! Was sollen wir nun machen, warum haben wir dann die ganze Maschinerie in Gang gesetzt, wenn es nicht berücksichtigt wird? Wir entschieden uns gegen eine Auflehnung, da wir befürchteten, dass unser Sohn dadurch einem weiteren Nachteil ausgesetzt sein könnte. Stattdessen bemühten wir uns privat um professionelle Hilfe.

Nun musste Adrian zweimal pro Woche für eine Zeitstunde zusätzlich lernen. Das machte er fast ein Jahr lang mit, dann konnte er nicht mehr. Er sah keine Verbesserung, hatte kaum Zeit zum Spielen und fand alles richtig doof. Wenn man als Mutter sein Kind so leiden sieht, weiß man wirklich nicht weiter. Einerseits wollten wir doch alles aufholen, damit unser Kind eine gute und solide Basis für sein späteres Leben hat. Andererseits, soll er auch nicht überfordert werden und seine glückliche Kindheit genießen. Nach einigen schlaflosen Nächten, entschied ich mich für das Aufhören. Mein Mann war leider nicht ganz meiner Meinung, sah aber ein, dass das Leiden ein Ende haben muss.

Sodann suchten wir das Gespräch mit unserem Sohn und stellten sofort eine Erleichterung fest. Wir machten ihm Mut und sagten, dass er seine Sache einfach so gut machen soll, wie er kann. Und dass wir sehr großes Vertrauen in ihn haben, dass er ein großartiger Mensch wird. Wichtig war uns auch, dass sehr erfolgreiche Menschen wie Albert Einstein und Bill Gates ebenfalls eine LRS haben bzw. hatten. Das dies nichts über sein Wesen als Mensch aussagt. Hier klingt das jetzt so einfach, das waren wirklich mehrere Jahre an diesem Selbstbewusstsein und Vertrauen zu arbeiten. Eine begleitende Kinesiologin hat uns sehr geholfen und mit mir und Adrian gearbeitet.

Den letzten Rest gab uns die Deutschlehrerin zum Abschlussfest der vierten Klasse. Bei der Verabschiedung bedankte ich mich für die holprige Zeit und hatte wirklich noch warme Worte für die Dame auf den Lippen, da haute sie uns folgenden Kommentar vor versammelter Mannschaft raus: »Ach ja, ich habe Adrian in Rechtschreibung auch noch eine 5 auf dem Zeugnis gegeben, dass sie sich nicht wundern!« Ich kämpfte beim Gehen mit den Tränen, so eine Unverschämtheit. Das einzige was ich zu meinem Mann sagen konnte, war: »Claudius wird nicht auf diese Schule gehen!«

Die Realschulzeit wurde deutlich entspannter. Adrian bekam eine wundervolle Deutschlehrerin. Seine Aufsätze wimmelten von Fehlern und natürlich von roter Tinte, dennoch schaffte er es oft eine 3 zu bekommen. So hangelte er sich durch die Schuljahre. Er hatte mit seinen Freunden riesiges Glück, dass er nie deswegen gehänselt wurde. Er schaffte einen recht guten Realschulabschluss und machte sein Fachabitur in Technik mit dem zweitbesten Klassenzeugnis!

Nun studiert er in Venlo industrielles Produktdesign. Er macht seine Sache so unfassbar gut, dass ich froh bin ihm dieses Vertrauen geschenkt zu haben, ohne »du musst« oder Druck. Heute schreibt er noch lustige Sachen und ich schmunzle darüber, wenn die WhatsApp fehlerbehaftet ist. Wenn er Berichte im Studium schreibt, lese ich sie Korrektur und wundere mich immer, wie toll er sich entwickelt hat und welche Ziele er im Leben verfolgt. Er kann sogar Lesen, obwohl er nie ein Buch gelesen hat! Kaum vorstellbar, zumindest laut den Lehrern

Ich hoffe, ich kann mit diesem Artikel allen Eltern Mut machen, dem eigenen Bauchgefühl zu vertrauen. Niemand kennt euer Kind so gut wie ihr.

Alles Gute

Tanja & Adrian

»Glück
ist nur die
Fähigkeit
Gedanken
zu ordnen«

Ann, 25,
Dyskalkulie
Sachsen

GESCHRIEBEN VON MARC ALEXANDER HOLTZ

Beste im Menschen

Ann will zur Welt kommen, als ihre Mutter 19 km entfernt von Zuhause ihre Freundin in Wurzen besucht. Die Wehen setzen ein und Ann verlässt somit den Bauch ihrer Mutter am 04. August 1994. Mit Sauerstoffmangel, Herzfehler und einer Rechenschwäche in ein leistungsorientiertes Elternhaus hinein.

Ihre Eltern stecken sie in einen Montessori-Kindergarten, dessen Credo lautet: »Hilf mir, es selbst zu tun«. Weil die Eltern es wünschen beginnt sie Leistungssport im Verein. Dem Glauben der Eltern nach fördert das die Gesundheit ihrer Tochter. Sie sind seit ihrer Geburt und dem festgestellten Sauerstoffmangel in Sorge. Man will der Furcht vor sich einstellender Schwächen mit Leistung entgegnen.

Vor der Einschulung lernt sie Lesen und besucht, da ihre Eltern es sich so wünschen, Förderprogramme, um besser zu sein als sie ohnehin ist. Die Eltern wollen ihre Tochter vor einem zukünftig schwerem Leben schützen. Später denkt Ann oft, dass sie nicht gut genug ist – wenn etwas unerwartet schlecht ausgeht, findet Ann die Schuld in der Regel bei sich.

In der Schule fällt auf, dass sie nicht musikalisch ist. Aufgrund der Rechenschwäche, die man Dyskalkulie nennt, ist sie weder rhythmisch noch kann sie Takt zählen. In Heimatkunde sieht sie sich gezwungen Landkarten auswendig zu lernen, da Dyskalkulanten auch das räumliche Vorstellungsvermögen fehlt. In Mathematik erhält sie die gesamte Grundschulzeit über eine Eins, weil sie Aufgaben auswendig lernt. Ann Leistung erscheint makellos.

Ab der fünften Klasse geht Ann auf das Gymnasium. Ihr Ehrgeiz fängt Feuer, zumindest um dieselben Ergebnisse wie andere zu erzielen. Anders als ihre Freunde muss Ann nachmittags dafür lernen. Für Hausaufgaben, die Freunde in den Pausen machen, benötigt sie Stunden. Sie formuliert die Englisch-Hausaufgaben anderer und erhält dafür von ihnen Mathe-Lösungen. Wenn Lehrer die Rechenwege erfragen, schweigt sie bis andere antworten müssen oder wird, wenn das nicht ausreicht, hyperaktiv. Ihre Verhaltens-Note weicht von denen der Klassenkameraden ab. Ann bemerkt das Andersartige, weiß aber nicht wie sie es nennen und mit wem sie darüber sprechen soll.

Bei ihrem Bruder diagnostiziert man zu dieser Zeit Legasthenie. Eine Leseschwäche, die auch beim Onkel und dessen Tochter auffällt. Eine zusätzliche Belastung für das leistungsorientierte Elternhaus.

Ann wird in die sechste Klasse versetzt. Taschenrechner und Geografie sind neu. In Geografie fällt ihr auf Landkarten die Orientierung schwer. In Kunst kann sie Räumlichkeit nicht zeichnen. In ihrem Kopf entstehen Bilder, die sie nicht wie andere aufs Papier bringen kann. Das Gehirn eines Dyskakulanten hat kein räumliches Vorstellungsvermögen, kann Räumlichkeit nicht auf Papier übersetzen. Lineal und Dreieck sind für Ann sinnlos, keine Hilfsmittel. Als sie in Hauswirtschaft einen dreidimensionalen Raum zeichnet, erhält sie dafür eine Sechs. Heute zeichnet sie digital – auch dreidimensional.

In Mathematik, Biologie und Chemie werden die Rechnungen komplexer. In Geografie ist die Weltkarte eine Herausforderung. Bisher hatte sie auf der Deutschlandkarte Bundesländer nach Formen auswendig gelernt. Doch die Weltkarte überfordert sie – schon Polen und Tschechien sind schwer zu finden. Sie weiß dass Russland das größte zusammenhängende »Ding« ist. In Mathematik, Biologie und Chemie erhält sie zu Ende des Schuljahres ein »befriedigend«. Ihr Lernpensum erhöht sich drastisch. Ihre Eltern streichen den Sport, in der Hoffnung den Leistungsabfall zu beheben.

Ihre Mutter wird – aufgrund der Legasthenie ihres Bruders – Leiterin einer Selbsthilfegruppe. Wodurch sie später zur Vorsitzenden eines Verbandes für Menschen mit Legasthenie wird. Um die Mutter zu unterstützen, liest sich Ann in das Thema ein. Sie will ihrem Bruder und ihrer Mutter helfen und sich an der Aufklärungsarbeit für Informationsabende beteiligen, weil ihre Mutter nicht gerne alleine vor Fremden spricht. Sie hält als Schwester eines legasthenen Bruders Vorträge über ihre Erfahrungen mit ihm.

Wenn im Unterricht Seitenzahlen genannt werden, damit die Schüler ihre Bücher entsprechend aufschlagen, fragen die Lehrer Ann oft, warum sie so lange blättert. Ihre Antwort lautet dann, dass sie die Zahl vergessen hat. Die Lehrer schreiben die Zahl an die Tafel. Aber auch das hilft Ann nicht. Also bringt Ann, um die Situation zu umgehen, keine Schulbücher mehr mit zur Schule.

Die sechste Klasse des Gymnasiums muss Ann wiederholen. Sie lernt wie zuvor auswendig was sich auswendig lernen lässt und erhält daraufhin ein Einser-Zeugnis. Die siebte Klasse bietet nicht viel Neues. In der Achten muss sie einen Leistungskurs wählen. Das kleinste Übel für sie ist Chemie. Erstmals beginnen Schulkameraden sie zu mobben für das was sie nicht kann – Zahlen.

Haben Mädchen Rechenschwächen, halten das viele für normal aber nicht für Dyskalkulie. Die Erwägung sich einer Diagnose zu unterziehen, verzögert sich. Die Erleichterung nicht dumm zu sein, ebenfalls. Legasthenie taucht statistisch häufiger bei Jungen auf, denen man eine unleserliche Handschrift eher verzeiht, wodurch Schreibschwächen Diagnosen sich gleichermaßen verzögern. In Anns Fall dauert die Feststellung der Dyskalkulie darum 20 Jahre. Man sagt ihr lange, sie sei ein Mädchen und das es in der Natur der Mädchen läge, dass diese Probleme mit Naturwissenschaften haben. Die sich wiederholende Annahme manifestiert sich in Ann: Mädchen können keine Zahlen.

Nachdem das Mobbing am Gymnasium Überhand nimmt, die Eltern zunächst keinen Schulwechsel billigen wollen, Ann sich aber bei ihnen durchsetzt, wechselt sie in die neunte Klasse einer Mittelschule. Doch in der neuen Schule wird sie wieder gemobbt. Dieses Mal weil sie vom Gymnasium kommt, von der Achten direkt in die neunte Klasse kommt – das missfällt den Mitschülern.

Ihre Noten werden dennoch besser, außer die Mathematiknote. In der Sportklasse ist sie das einzige Mädchen. Man klaut ihre Klamotten, ihre Mathebücher. »Die brauchst du doch nicht«, heißt es boshaft. Ihre Freunde sind räumlich andernorts. Ann muss sich selber helfen. Aufgrund des stetigen Mobbings mancher Mitschüler, distanzieren sich immer mehr Klassenkameraden und erstmals auch Freunde von ihr. Sie erträgt die Situation in dem Glaube, dass das richtige Leben erst nach der Schule beginnt. Das man Mathe, Geografie und viele andere Inhalte dafür nicht braucht. Sie glaubt an eine bessere Zukunft für ihr Leben.

Sie glaubt dass sie anderen helfen kann. Sie glaubt an das Beste in jedem und das jeder eine zweite Chance verdient.

Eine einzige Freundschaft aus dieser Zeit überlebt: Die zu jenem Jungen, den sie später ihren Partner nennt. Er weiß nichts von ihrem Schicksal, der Dyskalkulie, nichts vom Mobbing oder dem Anspruch der Eltern. Er geht auf eine andere Schule. Sie treffen sich an den Wochenenden. Sein Steckenpferd: Mathematik. Er versucht ihr alles zu erklären. Sie fragt ihn bei Rechnungen nach seinem Lösungsweg, weil sie verstehen will. Er sagt, die mache er im Kopf.