Louisa Dellert
WIR
Weil nicht egal sein darf, was morgen ist.
Originalausgabe
2. Auflage 2021
Verlag Komplett-Media GmbH
2021, München
www.komplett-media.de
ISBN: 978-3-8312-7097-2 (eBook)
ISBN: 978-3-8312-0592-9 (Print)
Redaktionelle Mitarbeit und Recherche: Nils Frenzel
Lektorat: Matthias Michel, Wiesbaden
Korrektorat: Ralf Dürr, München
Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München
Satz und Layout: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
Dieses Werk sowie alle darin enthaltenen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrecht zugelassen ist, bedarf der vorherigen schriftlichen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das Recht der öffentlichen Zugänglichmachung.
VORWORT
1. THEMENKOMPLEX:
FEMINISMUS
1.1 Wellen des Feminismus
1.2 »Egal wer, Hauptsache ein Mann«. Als Informatikerin in einem IT-Unternehmen
1.3 Alleine unter Männern: Frauen in der IT-Branche
1.4 Nach ihrer Pfeife: Schiedsrichterin Franzi
1.5 Marathon Women: Frauen im Sport
2. THEMENKOMPLEX:
DIE KLIMAKRISE
2.1 Was ist die Klimakrise?
2.2 Das Abkommen von Paris und das 1,5-Grad-Ziel
2.3 Das letzte Dorf. Der Garzweiler Tagebau und die Umsiedlung von Berverath
2.4 Klimaschutz konkret: Die Verantwortung der Politik
2.5 Wege aus der Klimakrise: Die Energiewende
2.6 Die Welt zusammen in die richtige Richtung bewegen. Ein Interview mit dem Meeresbiologen Robert Marc Lehmann
2.7 Extremwetter in Deutschland: Die Hochwasserkatastrophe vom 14. Juli 2021
3. THEMENKOMPLEX:
CHANCEN(UN)GLEICHHEIT IN DEUTSCHLAND
3.1 Teufelskreis Hartz IV. Ein Gespräch mit Nina aus Berlin
3.2 Kein Teil unserer Gesellschaft? Wie Menschen mit Behinderung benachteiligt werden
3.3 »Er hat es sich ja nicht ausgesucht, im Rollstuhl zu sitzen«. Ein Perspektivwechsel mit Kathrin und Marvin
4. THEMENKOMPLEX:
MIGRATION UND FLUCHT
4.1 Ghazal und ihr Weg vom Flüchtlingsheim zum Sportbund
4.2 Gastarbeit und Einwanderung
4.3 »Manchmal habe ich das Gefühl zu schweben«. Gastarbeiterkind Özlem zwischen den Generationen
4.4 Ali, der Sohn aus Pakistan
4.5 Moria und die europäische Verantwortung
5. THEMENKOMPLEX:
(ALLTAGS-)RASSISMUS IN DEUTSCHLAND
5.1 Wie die Corona-Pandemie (Alltags-)Rassismus verstärkt hat
5.2 Eine »gelbe Gefahr«. Lehrerin Daniela und Asian Hate
6. THEMENKOMPLEX:
DIGITALE GEWALT
6.1 Mit Medienkompetenz gegen Hass im Netz
6.2 Wenn digitale Gewalt zum Tod führt. Der Mordfall Walter Lübcke
6.3 »Dieses Land ist zu schön, um es Menschen zu überlassen, die Hass und Hetze verbreiten«. Im Gespräch mit dem SPD-Politiker Karamba Diaby
6.4 »Wie eine Faust, die aus dem Screen kommt«. Ein Interview mit Anna-Lena von Hodenberg, der Gründerin von HateAid, über digitale Gewalt
6.5 Über unsere Diskussionskultur und warum digitale Gewalt jeden gesellschaftlichen Fortschritt aufhält
7.
NACHWORT
ANMERKUNGEN
DANKSAGUNG
Stille. Niemand sagt mehr etwas. Der Vater meiner Freundin steht auf und verlässt den Küchentisch. Meine Freundin und ich sehen uns an. Wir denken wahrscheinlich dasselbe. Diese Unterhaltung war nötig. Vielleicht hätten wir nicht so ins Detail gehen sollen. Aber das Thema war uns nun mal wichtig. Es lag uns am Herzen, darüber zu sprechen.
Eigentlich läuft so ein Besuch bei meiner Freundin aus der Schulzeit immer ganz entspannt ab. Ich lasse die Großstadt Berlin hinter mir, um ein paar Tage ins niedersächsische Landleben einzutauchen. Es fühlt sich jedes Mal wie ein Stück Heimat an. Das Landleben kenne ich nur zu gut. Meine Freundin und ich haben uns immer viel zu erzählen und ich freue mich jedes Mal auf die gemeinsamen Abendessen mit ihrer Familie.
Der Vater meiner Freundin ähnelt einer Walnuss. Es dauert ein bisschen, bis man durch die Schale durchkommt, aber die Mühe lohnt sich allemal. Seine Standardbegrüßung, wenn ich ankomme: »Die Hauptstadt ist da! Achtung, jetzt müssen wir wieder politisch korrekt sein.« Ein Satz, den ich inzwischen mit einem müden Lächeln hinnehme. Denn ich weiß schon, was dann kommt. Es wird wieder heftig diskutiert werden.
Wir reden über die Gleichberechtigung von Mann und Frau, über Ungleichheiten zwischen dem Landleben und der Großstadt, darüber, wie die Klimakrise unsere Zukunft beeinflussen wird. Wir reden über unsere persönlichen Probleme und Herausforderungen im Alltag. Wir sind uns selten einig, der Vater meiner Freundin und ich. Aber immerhin hören wir jedes Mal einander zu und lassen uns gegenseitig ausreden – auch wenn das Essen darüber kalt wird.
Dieses Mal ist es anders. Die Unterhaltung ist angespannter als üblich. Wir sprechen über die »Flüchtlinge da hinten am Dorfrand«. Wir lassen einander nicht ausreden. Wir diskutieren, wir streiten. Unsere Ansichten gehen komplett auseinander. Ich, die in Berlin an Demonstrationen teilnimmt, um auf die Probleme und Herausforderungen geflüchteter Menschen aufmerksam zu machen, und der Vater meiner Freundin, der Angst davor hat, dass ihm die Menschen, für die ich demonstriere, alles wegnehmen.
Inzwischen schweigen wir am Tisch. Meine Freundin hat bereits aufgegeben, als ihr Vater das Wort »Flüchtlingsheim« ausgesprochen hat. Mein Gefühl sagt mir: »Wir sind uns einig, dass wir uns nicht einig sind.« Aber ich bin davon überzeugt, dass es hier mehr braucht als eine Einigung auf keine Einigung. Hier schweben ganz viele Vorurteile durch die Küche. Vorurteile gegenüber Menschen, die nicht anwesend sind. Vorbehalte gegenüber Menschen, mit denen der Vater meiner Freundin noch nie ein Wort gewechselt hat. An diesem Abend sind es Vorurteile gegenüber geflüchteten Menschen.
Die Unterhaltung ist zum Schluss emotional extrem aufgeladen. Das Essen ist kalt. Ich sage zu ihm, dass wir nicht über Menschen urteilen dürften, bevor wir nicht mit ihnen persönlich geredet hätten, und frage ihn, wieso er sich denn nicht einfach mal auf sein Fahrrad schwingt, zum Dorfrand fährt und sich dort mit den Menschen unterhält, über die wir die ganze Zeit gesprochen haben. Ich erzähle ihm von einer Frau aus meinem Heimatort, die aus ihrem Heimatland fliehen musste. Ich erzähle ihm, wie sehr sie darunter leidet, dass sie immer noch als »anders« wahrgenommen wird, und frage ihn, wie er es finden würde, wenn man ihn in einer Gemeinschaft ausschließen würde.
Sein Gesicht ist jetzt knallrot. Er faselt irgendwas von wegen »wenn wir Hilfe von denen bräuchten, bekämen wir sie auch nicht«. Eigentlich ist der Vater meiner Freundin ein guter Kerl. Er ist hilfsbereit, ab und zu auch mal ganz witzig, und hat immer ein offenes Ohr für seine Nachbarn und die anderen Dörfler. Ich frage ihn, ob er die Menschen im Flüchtlingsheim am Dorfrand nicht zur Dorfgemeinschaft zähle. Keine Antwort. Er steht auf, schaut mich vorwurfsvoll an und verlässt den Tisch.
Eine Woche später ruft mich meine Freundin an. Sie ist ziemlich aufgeregt. Was sie erzählt, kann ich kaum glauben. Ihr Vater hat eine Familie zum Grillen eingeladen. Eine Familie vom Dorfrand. Oft sei er, erzählt meine Freundin, mit dem Fahrrad unterwegs gewesen und habe tagelang mit niemandem darüber gesprochen. Wo genau er war, will ich wissen. »Meine Mutter hat sein Fahrrad am Flüchtlingsheim stehen sehen.« Ich grinse am anderen Ende der Leitung. Er scheint sich unser Gespräch zu Herzen genommen zu haben.
Nach diesem Telefonat kam mir die Idee zu diesem Buch. Denn wenn wir mal ehrlich zu uns selbst sind, fällt uns der Blick über den eigenen Tellerrand manchmal ziemlich schwer. Statt uns mit anderen Menschen, die mit unserer Lebensrealität wenig bis gar nichts zu tun haben, und deren Gefühlen zu beschäftigen, bleiben wir lieber in unserer Komfortzone, bei unseren eigenen Themen und Problemen. Und dadurch entstehen oft Vorurteile. Aber wie überwindet man Vorurteile und löst sie auf? Indem man Brücken baut. Aufeinander zugeht. Genau das möchte ich mit diesem Buch tun. Ich möchte Brücken zwischen unterschiedlichen Lebensrealitäten bauen. Brücken, auf denen wir uns begegnen können. Brücken, auf denen wir nicht nur einander zuhören, sondern auch voneinander lernen können. In meinem Kopf kreisten die unterschiedlichsten Fragen: Was sind die größten Herausforderungen, vor denen wir als Gesellschaft stehen? Was sind Themen, die in Gesprächen am Küchentisch oft polarisieren? Mit welchen Vorurteilen haben Menschen zu kämpfen? Und zwar nicht nur diejenigen, die von ihnen betroffen sind, sondern auch diejenigen, die sie mit sich herumtragen. Wo braucht es Lösungen? Wie kann ein gemeinsames Morgen aussehen? Kurz: Welche Brücken müssen gebaut werden?
Ich startete einen Aufruf im Internet auf meiner Instagram-Seite und fragte nach.
Das Feedback auf meinen Post war überwältigend. Sehr viele User:innen meldeten sich und erzählten mir von den Problemen und Missständen, denen sie tagtäglich ausgesetzt sind. So las ich mich durch beinahe 1.000 Nachrichten, die sich mal kürzer, mal länger fassten. Sechs Themen tauchten darin immer wieder auf: Feminismus bzw. Gleichberechtigung, die Klimakrise, Chancenungleichheit, Migration, Alltagsrassismus, digitale Gewalt. Kurze Zeit später fand ich mich auf meiner digitalen Reise an vielen verschiedenen Küchentischen in Deutschland wieder und hörte einfach nur zu.
Auf der Suche nach den großen Herausforderungen von morgen, denen wir heute schon begegnen sollten, wollte ich mich ganz bewusst zurücknehmen und vor allem die Menschen, mit denen ich mich unterhalten durfte, und die Fakten zu den unterschiedlichen Themenkomplexen sprechen lassen. Die Kombination aus den Interviews betroffener Personen und dem Faktenteil ist deshalb so wichtig, weil wir beides benötigen, um uns eine vorurteilsfreie Meinung bilden zu können.
Manchmal wird, ja soll dieses Buch auch mal wehtun, weil es bewusst in Wunden fasst, die wir bisher noch gar nicht gespürt haben. Doch ein erhobener Zeigefinger soll dieses Buch nicht sein. Es ist eine Einladung dazu, ein neues gemeinsames WIR zu definieren. Und das geht nur, wenn wir einander zuhören.