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ISBN 978-3-218-01052-8
Copyright © 2016 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschlaggestaltung: Sophie Gudenus, Wien
Fotos auf dem Schutzumschlag: Shutterstock/ClusterX und
Vampy1|Dreamstime.com
Satz und Layout: Sophie Gudenus, Wien
Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien
Österreich als Spionage-Hotspot
Verräterische Details
Große und kleine Geheimnisse
Ausländische Geheimdienste in Österreich
Warum ausgerechnet Wien?
Geheimdienst-Drehkreuz Schwechat
Die Pannen der Austro-Spione
Spionage-Alltag in Österreich
Einträgliche Geschäfte und die Lizenz zum Töten
Wie wird man Spion in Österreich?
Geld, Sex und andere Leidenschaften
Spione in der Öffentlichkeit
Ein Waffenschieber packt aus
Österreichs Geheimdienste
Informationsbeschaffung auf dem freien Markt
Die Kalten Krieger in Österreich
Die geheime Aufklärung in Kellern
Die Amerikaner in Österreich
Deutsche Agenten in Österreich
Die Spione aus der Steppe
Brennpunkt Wirtschaftsspionage
Die Araber und die OPEC
Spannungsfeld Politik – Nachrichtendienste
Journalismus und Spionage
Resümee
Schauplatz SAS-Hotel an der Wiener Ringstraße. Hinter dem Speisesaal liegt eine kleine Bar, in die sich Hausgäste zum Rauchen zurückziehen können. Zufallsgäste und externe Laufkundschaft sind selten. Das Service überlässt das Hotel wechselnden Aushilfskräften. Man kann sagen, die Bar fristet ein Schattendasein.
Es ist später Nachmittag. Drei asiatische Geschäftsleute lassen sich immer wieder Whisky einschenken und lachen hin und wieder laut auf. Aus den Boxen plätschert ein halblauter Soundteppich von ausgesuchter Belanglosigkeit. Am hintersten Tisch sitzt ein Mann mittleren Alters und behält die beiden zwischen Säulen gelegenen Eingänge der Lounge im Blick. Sein Name: Marc Michelob, sein Beruf: Geheimagent (oder wie er diplomatisch sagen würde: Mitarbeiter eines Unternehmens im Sicherheitsbereich). Ob der Name echt ist oder nicht, bleibt offen. Aber er verfügt über Visitenkarten, E-Mail-Adresse und sogar einen ausländischen Führerschein auf diesen Namen. Und sein maßgeschneidertes Hemd ziert ein Monogramm mit den Buchstaben MM. Auf die Details kommt es an. Wie man allerdings spätestens seit den Attentaten von Paris und Brüssel weiß, sind Personaldokumente wie Reisepässe, selbst wenn man nicht für eine Regierung arbeitet, auf dem Schwarzmarkt leicht zu haben. Egal: Gehen wir davon aus, dass er wirklich so heißt.
Er wird heute einen leitenden Angestellten eines führenden deutschen Industrieunternehmens aus dem Bereich der lasergesteuerten Präzisionsfertigung treffen. Und einen kleinen USB-Stick mit brisantem Inhalt von diesem ausgehändigt bekommen. Michelob soll nämlich Informationen über die Verbindungen dieser Firma in den Iran auskundschaften. Sein Dienst hat in der Tat den sehr konkreten Verdacht, dass sich das Know-how der Firma auch im militärischen Bereich einsetzen lässt. Und bei aller Entspannungspolitik und trotz aller freundlichen Worte: So recht traut den Ayatollahs keine westliche Regierung über den Weg. Militärtechnik und der Iran sind dabei im wahrsten Sinne des Wortes ein echtes Minenfeld. Zu unterschiedlich sind die Interessen und militärisch-politischen Machtambitionen der Großmächte und lokalen Player in dieser Weltgegend. Und die Pläne für einen Ausbau der Raketenmacht des Landes sind geeignet, Länder bis nach Südosteuropa in Angst und Schrecken zu versetzen – den Erzfeind Israel sowieso.
Michelob ist selbst Techniker und Ex-Militärangehöriger eines angelsächsischen Landes. Entsprechend gut ist er vorbereitet. Er kennt die deutsche Firma bis ins Detail. Geschäftsberichte, Personalstruktur, Eigentümer, Auftragslage, Kundennetzwerk und Leichen im Keller hat er über einen langen Zeitraum studiert. Auch dass er mit dem Rücken zur Wand sitzt, hat handfeste Gründe. Eine Art professionelle Paranoia lässt ihn stets Angriffe von hinten fürchten. Daher hat er gern eine massive Mauer hinter sich. Auch zieht er Marmortischchen dünnen Holzgestellen vor. Sie bieten im Ernstfall bessere Deckung. Zumindest so lange, bis Michelob die Angriffssituation einschätzen könnte. Die Wahl des Treffpunkts im Hotel ist ebenso nicht zufällig. Ein Kollege von ihm beobachtet die Örtlichkeit seit mehreren Wochen. Sollte doch etwas schiefgehen, wartet er draußen vor dem Hotel im Wagen. Selbstverständlich wird das Gespräch verdeckt mitgeschnitten werden. Das dient auch der Absicherung des Agenten gegenüber seinen Vorgesetzten. Wenn es eine Konstante in diesem Business gibt, dann ist es Misstrauen gegen alles und jeden. Das Treffen wird übrigens von Erfolg gekrönt sein. Am bereitliegenden Laptop werden die gelieferten Daten sofort auf Vollständigkeit geprüft: Kontaktleute, Konferenzprotokolle, Anruflisten, technische Spezifikationen und Anträge auf Exportgenehmigungen. Die Firma wird sich bald über die erhöhte Aufmerksamkeit des deutschen Bundesnachrichtendienstes BND freuen können – der in der Iran-Sache eng mit den angelsächsischen Kollegen kooperiert.
Das Motiv des Datenüberbringers ist übrigens simpel: Geld. Als der Verräter das Hotel verlässt, können beide Seiten zufrieden sein. In seinem Hotelzimmer wird ein dickes Kuvert mit Geldscheinen liegen. Nebeneffekt der Geheimaktion: Die Nachrichtendienste haben relevante Wirtschaftsinformationen erhalten, die sich für Unternehmen des eigenen Landes als vorteilhaft entpuppen können. Womit drei Fliegen mit einer Klappe geschlagen wären: Erschwernis des Exports von rüstungsrelevanter Technologie in eine geopolitische Krisenregion, massiver Informationsgewinn und möglicherweise die Stärkung der eigenen Wirtschaftsinteressen.
Für Michelob ist der Erfolg wichtig. Sein Dienst steht unter großem Rechtfertigungsdruck und braucht Ergebnisse. Zu oft schon sind (kriegs-)wichtige Technologien in instabile Länder gewandert und dort wiederum in falsche Hände. In diesem konkreten Fall winkt dem Agenten daher auch eine Erfolgsprämie. Die große Schweizer Fliegeruhr an seinem Handgelenk zeigt, dass er auch schon einige bekommen hat. Noch kann er seine Zeit in Wien genießen, wo er sich ein dichtes Kontaktnetz aufgebaut hat. Aber Sentimentalität zählt nicht in diesem Geschäft.
Szenenwechsel. Der Schießkeller eines bekannten Waffengeschäftes in Wien. Neben unauffälligen Sportschützen und Freizeit-Rambos haben zwei russisch sprechende Männer eine Stunde in der Anlage gebucht. Schüsse fallen. Es riecht nach Pulverdampf und Schweiß. Im Sekundentakt werden papierene Zielscheiben mit schwarzen Ringen oder die unter Sportschützen eher verpönten Silhouetten von Dunkelmännern durchsiebt. Die meisten hier sind hochkonzentriert. Es geht um eine ruhige Hand und um Millimeter. Den Schuss in Kopf oder Herz. Aber nur genauen Beobachtern fällt auf, dass die Trefferquote der beiden fremdartig sprechenden Männer weit über dem Durchschnitt liegt. Nahezu jedem Abzug folgt ein Volltreffer. Binnen einer Stunde verfeuern sie an die 350 Schuss mannstoppender Munition des Fabrikats Fiocchi 9 mm Luger aus ihren modifizierten Glock 17 Pistolen, Patronen, die hierzulande üblicherweise Spezialeinheiten wie die Wega (früher Wiener Einsatzgruppe Alarmabteilung) benützen.
Die beiden haben eine militärische Vergangenheit im Kaukasus und waren vor ihrem Wechsel in die „Privatwirtschaft“ in einer Aufklärungseinheit des russischen Innenministeriums aktiv, einer Unterorganisation des Föderalen Sicherheitsdienstes FSB (Federalnaja sluschba besopasnosti Rossijskoi Federacii) mit Hauptsitz in der berüchtigten Moskauer Lubjanka. Heute sind sie als Berater und Informationsbeschaffer für einen international agierenden russischen Oligarchen tätig. Von Österreich aus operieren sie auch in Ungarn, Tschechien, der Slowakei und Polen. Selbstschutz und regelmäßiges Schießtraining sind Teil des Jobs. Die meiste Zeit nimmt allerdings die Beobachtung der österreichischen Aktivitäten eines anderen, konkurrenzierenden Oligarchen in Anspruch. Im Fokus stehen: Bankverbindungen, Geschäftspartner, persönlicher Umgang und seine Kontakte in die hiesige Politik. Auch nach der Waffenübung werden sie sich damit befassen. Auf dem Programm steht ein Wirtschaftsempfang in der alten Wiener Börse, wo auch Kabinettsmitglieder des Infrastruktur- und Wirtschaftsministeriums anwesend sein werden. Und ein Berater des im Visier stehenden russischen Geschäftsmanns. Dafür tauschen die beiden Osteuropäer freilich die Schießweste gegen den Nadelstreif. Ihre Glocks bleiben am Mann.
Die beiden haben für die „Schmutzarbeit“ noch einen Kollegen. Dieser leistet unverzichtbare Vorarbeiten und bringt nachgerade detektivisches Know-how ein. Nicht immer am schnurgeraden Weg. So angelt er mit Vorliebe Post aus Hausbriefkästen. Denn diese beinhaltet häufig persönliche Daten und Details. Auch Aufklärungsziele sind versichert und auf Infrastruktur wie Strom, Gas, Kabelfernsehen und Mobilfunk angewiesen. Sie erhalten Briefe von Energieversorgern, Rechnungen und Versicherungspolizzen. Da steht viel drinnen. Man muss es nur genau lesen. Einschlägige Husarenstücke: Gesundheitsfragebögen unter Vorwand von der Versicherung anfordern. Und die Königsklasse: Wer den Halter eines Kraftfahrzeugs nur anhand des Kennzeichens ermitteln will, geht so vor: Online wird beim Versicherungsverband eine fingierte Unfallmeldung eingegeben, worauf man die zuständige Versicherung mitgeteilt bekommt. Dort ruft man bei der Servicehotline an und gibt sich etwa als Rechtsanwalt, der mit der Schadensklärung beauftragt ist, aus. Mit Glück und mehrmaligem Probieren gerät man an einen Mitarbeiter, der blauäugig die Daten herausrückt. Profis rufen abends oder am Wochenende an, wenn unerfahrene Studenten die Hotline besetzen. Auf diese Art und Weise lässt sich im konkreten Fall der Fuhrpark des Oligarchen einzelnen Firmen und Strohmännern zuordnen. Klingt aufwändig – aber jede Information zählt. Auch dass der Oligarch seine Wagen regelmäßig auf Wanzen absuchen lässt, hat seinen Grund. Peilsender, die unter die Stoßstange geklebt werden, sind nämlich ebenfalls beliebt. Das gilt für misstrauische Ehefrauen – aber noch vielmehr für millionenschwere Geschäftsleute und ihre Verbündeten und Widersacher.
Ein weiterer Schauplatz bringt ebenfalls wesentliche Erkenntnisse: Salzburg. Neben Wien ist Salzburg sicher die wichtigste Spionage-Gegend in Österreich. Ein Mann aus der Visa-Abteilung des hiesigen russischen Konsulats schlürft im riesigen Einkaufszentrum Europark am Stadtrand der Mozartstadt seinen Espresso. Ob er sich insgeheim über seinen bevorstehenden Coup freut, ist nicht ersichtlich. Der Mann hat ein Pokerface, dass die Wolga zufriert. Er wartet auf einen Unteroffizier des österreichischen Bundesheeres, der interessante Informationen angedeutet hat. Auch hier spielt das Motiv Geld eine Rolle, eigentlich die Hauptrolle. Als der Vizeleutnant auftaucht, hat er tatsächlich brisante Dinge zu berichten. Um ein Haar hätte vor einigen Jahren eine Übung einer in Süddeutschland stationierten US-Armeeeinheit auf dem österreichischen Truppenübungsplatz Hochfilzen stattgefunden. Das ist an sich nichts Besonderes – es ist jahrzehntelanger Usus, ausländische Soldaten in den österreichischen Bergen im Gebirgskampf auszubilden, gegen finanzielle oder logistische Gegenleistung, versteht sich. Die heimischen Alpenjäger genießen diesbezüglich tatsächlich großes internationales Renommee. Neben der Militärmusik eigentlich die einzige Visitenkarte der Streitkräfte Österreichs.
Im Fall dieser Gebirgsausbildung wäre aber die US-Truppe mit über zehn Apache-Kampfhubschraubern angerückt, was zumindest zu diplomatischem Erklärungsbedarf und zu großer Aufmerksamkeit der Bevölkerung geführt hätte. Unangenehm in jedem Fall. Denn auf dem Papier ist Österreich noch immer der immerwährenden Neutralität verpflichtet. Eingefädelt wurde die Aktion mit der US-Truppe übrigens fast im Alleingang von einem jungen österreichischen Offizier, der sich der Tragweite seiner Aktion wohl kaum bewusst war. In letzter Sekunde gelang es einem amerikanischen „Verbindungsmann“ im Verteidigungsministerium, die Aktion zu stoppen. Klar, dass die Russen an den genauen Hintergründen des geplanten Luftlandemanövers der US-Streitkräfte interessiert waren. Und im Speziellen an diesem „Verbindungsmann“. Auch hier waren die entsprechenden Notizen und Unterlagen auf einen USB-Stick gepackt. Die finanzielle Empfänglichkeit des Vizeleutnants wurde ebenfalls registriert und der Mann für weitere Aufgaben im Sold des Taiga-Imperiums vorgemerkt. Die Übergabeaktion dauerte knapp fünfzehn Minuten. Am Nebentisch futterte eine junge Familie Muffins und Marillenkuchen.
Noch einmal wechseln wir den Schauplatz und blicken aufs Parlament. Das Haus am Ring, der Hort der österreichischen Demokratie, soll ab Sommer 2017 komplett renoviert und umgebaut werden. Die Pläne hierfür sind in Vorbereitung. Allerdings auch die Pläne der Lauscher aus dem Ausland. Ein früherer Mitarbeiter des Abwehramts des Bundesheers (AbwA) berichtet über tiefgreifende Besorgnis. Denn im Umbau ist eine weitgehende Neuinstallation von Glasfaserleitungen, internem Computernetzwerk etc. – sprich der gesamten Kommunikationstechnologie – inbegriffen. Eine ideale Gelegenheit, ein paar unauffällige Zusatzverbindungen einzurichten. Solcherart erzwungene Datenlecks wurden in Deutschland bereits publik – die Gefahr ist auch in Wien evident. Diese Dinge passieren. Ein Fall für die Cyberabwehr des Abwehramts. Doch kann man zwar Wanzen leicht aufspüren – solche Untersuchungen werden beispielsweise vor Tagungen des geheimen Unterausschusses des Landesverteidigungsausschusses durchgeführt. Aber tief im System verborgene Lauschangriffe sind schwer zu entdecken. Die Staatsschützer drängen nun auf intensive Überprüfung der Installationsfirmen – bislang ungehört. Auch im bestehenden System gibt es diskrete Hintertürchen für den gewissen Informationsvorsprung. Wer am Parlamentscomputer oder hauseigenen Laptop schreibt, dessen Ergüsse können quasi in Echtzeit von der Parlamentsdirektion mitgelesen werden – und nicht nur von dieser. Nebenbei bemerkt: Im Zuge kleinerer Umbauarbeiten wurden bereits seltsame Leitungen, die nicht in Plänen verzeichnet sind, bemerkt. Viele davon waren veraltet und stammen aus der Zeit der Wiederrichtung des Gebäudes nach dem Zweiten Weltkrieg – die Alliierten haben also in punkto Spionage vorgesorgt. Das Unterwandern Österreichs hat Tradition.
Die vier willkürlich gewählten, aber realen Beispiele werfen ein Schlaglicht auf die Aktivitäten fremder Mächte, von Personen mit Verbindungen zu Geheimdienstkreisen und echter Spionage in Österreich. Solche Dinge passieren täglich. Freilich vollkommen unbemerkt von der Öffentlichkeit. Informationsbeschaffung, Wirtschaftsspionage und die Ausschaltung potenzieller Gegner ist Faktum in diesem Land. Hinzu kommen Terrorbedrohungen, Schnüffeln im Universum von Big Data und politische Einflussnahme. Ob gewollt oder nicht: Österreich wird (oder besser: ist) von Agenten unterwandert. Und wie dieses Buch zeigen wird, reden wir nicht von ein paar Einzelfällen, sondern von einem Tausende Menschen umfassenden Bereich. Einem Bereich, der alle Schlüsselpunkte unserer Gesellschaft umfasst: Sicherheit, Verwaltung, Bankwesen, Industrie, Forschung – ja bis hin zum Gesundheitssystem. Kurz: Österreich ist im Fadenkreuz der Spione.
Zeit für ein erstes Resümee und einen intensiveren Blick in das Milieu der Geheimdienste: Ja, das Riesenrad dreht sich noch immer und das Wiener Kanalsystem birgt wohl noch so manche dunklen Geheimnisse. Warum zeichne ich gerade dieses Bild? Spionagebücher nehmen gern Anleihen am Harry-Lime-Thema und an Dritter-Mann-Romantik. Vor allem im anglo-amerikanischen Raum ist die Vorstellung von Österreich als Spionage-Hochburg noch immer fest an Schlapphüte, aufgestellte Trenchcoat-Krägen und sinistre Hinterzimmer-Bars gekoppelt. An die Kalter-Krieg-Atmosphäre sowieso. Und die berühmte Melodie von Anton Karas’ Zitherspiel hallt im Ohr nach. Gleichgewicht des Schreckens zwischen Ost und West, und dazwischen steht der Stephansdom.
Die nüchterne Wahrheit ist: Davon ist fast nichts mehr übrig. Auch nicht in Wien oder Salzburg. Der Kalte Krieg ist vorbei und die Welt hat sich brutal verändert. Die Nachrichtendienst-Mitarbeiter gleich welchen Dienstes haben schlicht keine Zeit mehr für das nächtelange Umgarnen von Vorstadtschönheiten, durchzechte Nächte und klandestine Ausflüge in den Untergrund der Donaumetropole oder der Mozartstadt. Auch sogenannte „tote Briefkästen“ – Verstecke für Geheimunterlagen – haben weitestgehend ausgedient. Das geht heute alles elektronisch. Ein paar selbsternannte Spione stellen noch den Kragen ihres Trenchcoats hoch und tragen selbst in finsteren Bars verspiegelte Sonnenbrillen. Das sind absolute Ausnahmen und Teile selbstgewählter Attitüden. Der seriöse Geheimdienstler mit Arbeitsmittelpunkt Österreich vertraut lieber auf perfektes Zeitmanagement, Laptop, unauffälliges Erscheinungsbild und tadelloses Auftreten. Nach außen hin könnte man die meisten von ihnen für stinknormale Unternehmensberater halten – was sie bis zu einem gewissen Grad ja auch sind. Wölfe im Schafspelz.
Der Ende April 2016 abgelöste Präsident des deutschen Bundesnachrichtendienstes (BND), Gerhard Schindler, erklärte einst, wie ein BND-Agent aussehen sollte: mit Sakko, aber ohne Krawatte, flotter Haarschnitt, hellwache Augen und ein kleines Lächeln auf den Lippen. In einem „Bild am Sonntag“-Interview vom 31. März 2013 erklärte er dazu, dass er damit keine Beschreibung von Sean Connery oder Daniel Craig als James Bond abgeben wollte, sondern: „Ich wollte mit dieser kleinen Skizze nur sagen, dass bei uns im Bundesnachrichtendienst ganz normale Menschen arbeiten, die Freude an ihrer Tätigkeit haben.“ Und zur Ausbildung seiner Mitarbeiter merkt Deutschlands Chef-Spion an: „Er braucht eine gute Ausbildung, die ihn in die Lage versetzt, in schwierigen Regionen Erkenntnisse zu gewinnen. Und er braucht Ausdauer, analytische Fähigkeiten sowie einen Schuss Mut.“ Erstaunlich: Sämtliche Leute aus diesen Kreisen, die der Autor je getroffen hat – und es sind ziemlich viele –, entsprechen diesem Bild bis auf ein paar nuancierte Abweichungen genau.
Ein paar ganz kleine Details gibt es indes doch noch, die sich aus dem Spionage-Mythos in die Gegenwart herübergerettet haben. Vor allem bei Leuten, die unter falscher Identität und falscher Flagge unterwegs sind, können diese Dinge verhängnisvoll sein und geübten Beobachtern bei banalen Alltagserledigungen auffallen. Auf diese Weise ist schon so manche Tarnung aufgeflogen. Russen über 40 nähen ihre Knöpfe mit zwei parallelen Stichen an – Amerikaner immer kreuzweise. Russen schlagen Eier mit einem Messer über der Schüssel auf – der Rest der Welt tut dies an der Schüssel selbst. Und aus der Art, wie Menschen sich in Warteschlangen verhalten, etwa beim Einchecken am Flughafen, kann man durchaus Rückschlüsse auf die Herkunft ziehen. Wer in Polen oder in der Tschechoslowakei in den 1980er Jahren (und in dieser Zeit wurden die meisten Aktiven sozialisiert) – ja in jedem beliebigen Ostblock-Land – stundenlang vor leeren Geschäftslokalen gewartet hat, benimmt sich beim Schlangestehen anders als Westeuropäer oder Amerikaner. Ja, es gibt sogar eigene Kurse im unauffälligen Benehmen in (West-)Europa. Amerikanern aus der Provinz des Mittleren Westens wird beigebracht, dass man hierzulande das Fleisch nicht in viele kleine Stücke vorschneidet, sondern immer nur den Bissen, den man zum Mund zu führen gedenkt. Russen hingegen sollen bei Buffets nicht alles auf einmal auf den Teller häufen, sondern lieber schön beschaulich eines nach dem anderen nehmen. Was zählt, ist perfekt angepasste Verhaltensweise.
Nicht immer sind solche Lehrgänge von Erfolg gekrönt. In skurriler Erinnerung ist ein junger Kasache, der als Geheimdienstler alias Pressebetreuer bei der Botschaft in Wien akkreditiert war. In Nachahmung gehobener britischer Lebensart stieg er zunächst von postsowjetischen Zigaretten auf Pfeife um, deren Rauch er freilich inhalierte. Dann ließ er sich ein Dandy-Bärtchen wachsen und stürzte seinen Espresso in einem einzigen Schluck hinunter, um nachher genüsslich laut aufzuseufzen – alle Blicke im Lokal wandten sich zu ihm. Unauffälligkeit geht anders.
Eines eint nämlich die Spione aus allen Ländern. Sie sind stockkonservativ. Homosexualität geht gar nicht, und politisch stehen sie leicht rechts von Dschingis Khan. Tätowierungen sind unüblich. Piercings ein Entlassungsgrund. Beim Wein greifen sie lieber zu teurem französischen Bordeaux statt zu einem österreichischen Blaufränkisch. Sicher ist sicher. Wer bei Bewährtem bleibt, macht weniger Fehler. Das gilt auch für eine spezielle Marotte in diesem Milieu. Stets mit überraschenden Angriffen rechnend, haben nicht wenige der einschlägigen Männer kleine Gewichte im unteren Saum ihrer Jacketts oder Jacken eingenäht. Damit gleitet die Kleidung im Ernstfall schneller nach außen und man kann rascher zur Waffe greifen. Wahre Experten entfernen diese Gewichte vor der Röntgenkontrolle am Flughafen.
Noch ein offenes Geheimnis der Szene: Österreichische Nachrichtendienstler sind üblicherweise daran zu erkennen, dass sie am schlechtesten gekleidet sind. Ausgetretene, unpolierte Schuhe, schwarze Jeans und ein Sakko aus dem Jahre Schnee zählen quasi zur Standardgarderobe. Leider geht der Direktor des BVT, Peter Gridling, mit schlechtem Beispiel voran. Unvergessen der mittägliche „Zeit im Bild“-Auftritt am Tag der Brüsseler Anschläge im März 2016: offenes Hemd von undefinierbarer Farbe kombiniert mit einer angeranzten Trachtenjoppe. Vertrauensbildung geht anders – so stellt sich die Bevölkerung höchstens einen Osttiroler Sägewerks-Besitzer vor. Sei’s drum. Die Behörde arbeitet besser, als ihr Ruf ist. Und auch Gridling hat für offizielle Veranstaltungen ein paar schönere Anzüge im Kasten.
Die an Langeweile grenzende Unaufgeregtheit des Geschäfts mit der Informationsbeschaffung darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Österreich noch immer – oder besser: so intensiv wie nie zuvor – im Mittelpunkt zahlreicher Interessen östlicher, westlicher und arabischer Geheimdienste steht. Ja, geradezu von deren Agenten unterwandert wird. Das ist kein Hirngespinst von Verschwörungstheoretikern, sondern offizielle Lesart. Der Verfassungsschutzbericht 2014 des Innenministeriums hält dazu wörtlich fest: „Das österreichische Bundesgebiet ist für fremde Nachrichtendienste attraktiv, die Gründe liegen in der geopolitischen Situation des Landes und haben auch historische Wurzeln.“ Und der Bericht nimmt auf echte Spione Bezug: „Die konspirative Beschaffung umfasst die klassische Spionagetätigkeit, wie beispielsweise das Anwerben von menschlichen Quellen, den Einsatz von Agenten/Informanten, die Einschleusung von nachrichtendienstlichen Mitarbeitern in Zielbereiche, das Eindringen in Informationssysteme oder die Überwachung der Telekommunikation.“ Das klingt ernst – vor allem vor dem Hintergrund, dass das Innenministerium in Sachen Spionage nicht unbedingt zu übertriebenem Alarmismus neigt. Noch bedenklicher, wenn man bedenkt, dass kein Ende dieses Spionage-Booms in Sicht ist. Im Gegenteil.
Österreich, wie auch andere mitteleuropäische Länder, werden mittelfristig noch weiter in den nachrichtendienstlichen Fokus geraten. Das hat mit dem zunehmend feindlichen Kräftemessen zwischen den Vereinigten Staaten in Kooperation mit deren engsten Verbündeten auf der einen Seite und Wladimir Putins Russland auf der anderen zu tun. Terrorismus, Ukraine-Konflikt, Spannungen im Baltikum, massive Migrationsbewegungen und arabische Investitionstätigkeit verschärfen die Situation zusätzlich. Hinzu kommen auch vordergründig wenig naheliegende Themen, wie versuchte (und gelungene) Embargo-Brüche Nordkoreas unter Zuhilfenahme österreichischer Gewährs- und Geschäftsmänner. Oder der Transfer von Atom-Technik in unfreundliche Weltgegenden via Wien. Sagen wir so: Trotz vergleichbarer Größe ist es in München oder Hamburg spionagemäßig deutlich ruhiger als in Wien. In Berlin sicher nicht …
Häufig stellt sich die Frage, was es denn in Österreich an politisch so interessanten Dingen gibt, die ausspioniert werden könnten. In der Wirtschaft gibt es deutlich mehr – dazu aber später. Die Wahrheit: relativ wenig. Es geht vielmehr um diskrete Treffen und Datenübergaben oder schlicht um Beobachtung der Aktivitäten anderer Länder und deren Diensten. Österreich selbst steht meist nicht als Spionage-Ziel im Mittelpunkt, sondern vielmehr seine Organe, seine Rechtsinstitute, seine im Land beheimateten Organisationen, die gebraucht und missbraucht werden. Österreich ist weniger Ziel- als Drehscheibe.
Es gibt in der Bartensteingasse im 1. Bezirk eine alte Tankstelle, die so eng ist, dass tankende Autos auf eine drehbare Platte fahren müssen, um die Zapfsäulen und dann wieder die Ausfahrt erreichen zu können. Österreich ist gewissermaßen diese Drehscheibe auf der geopolitischen Bühne der Geheimdienste. Das Land ist weder Tankwart noch Zapfsäule, sondern lediglich der Hilfsarbeiter, der die Scheibe dreht und selbst bei auffälligen Wagen wegschaut. Und es kommen viele Wagen. Einzig das Trinkgeld muss stimmen. Und die Öffentlichkeit soll möglichst wenig davon mitbekommen. Das klappt im Großen und Ganzen recht gut.
Kommen wir dennoch kurz zu Spionage-Interessen an Österreich selbst. Die meisten Informationen in über das Land sind verhältnismäßig leicht zu erlangen. Trotz Amtsgeheimnis und Datenschutz ist Österreich nämlich im Vergleich, vor allem zu seinen östlichen Nachbarn, ziemlich transparent. Und wer sich einmal in den Vereinigten Staaten (und sei es nur auf dem Konsulat) auf einen Papierkrieg eingelassen hat, wird das Service heimischer Magistratsabteilungen und Gemeindeämter hoch schätzen. Schlussfolgerung: Wer Auskünfte will, bekommt sie in der Regel auch.
Zudem ist Österreichs Militär spätestens seit den 1990er Jahren unbedeutend. Feste Verteidigungsanlagen sind demontiert oder verrottet. Die Luftstreitkräfte werden von Militärs anderer Länder in Anlehnung an einen einstigen Austrian-Airlines-Werbeslogan als „Friendly Airforce“ bezeichnet. Die Miliz ist am Boden, und über den Zustand der (gepanzerten) Fahrzeugflotte bleibt besser ein vornehmes Schweigen gebreitet. Österreich bedroht niemanden. Es kann sich nicht einmal selbst ausreichend schützen. Es verwaltet sich – und das gilt insbesondere für das Bundesheer.
Eine gewisse Nachfrage gibt es bisweilen nach nicht öffentlichen Informationen der Wirtschaftskammer. Vor allem die Listen von an Wirtschaftsmissionen und Staatsbesuchen teilnehmenden Firmen sind für einige nebenberufliche Agenten von Interesse. Denn dabei geht es wirklich um Geld, viel Geld. Und eine Bemerkung sei noch erlaubt: Um das sagenumwobene Maturazeugnis von Ex-Bundeskanzler Werner Faymann hat sich offenbar noch kein Nachrichtendienstler bemüht.
Freilich sind Nachrichtendienste in Einzelfällen auch an Gerichtsakten, Vorstrafen und Führerscheinabnahmen von Einzelpersonen interessiert (der Grund ist schlichte Erpressbarkeit), doch es gibt noch einen Gegenstand von quasi übergeordneter Wichtigkeit.