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Für meinen Vater.
Meinen Helden.

Nicht wir, die Überlebenden,
sind die wirklichen
Zeugen. […] Vielmehr sind sie,
[…] die Untergegangenen,
die eigentlichen Zeugen, jene,
deren Aussage eine allgemeine
Bedeutung gehabt hätte.

PRIMO LEVI

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Joana

Die Schuld ist ein Jäger.

Mein Gewissen bedrängte mich, suchte Streit wie ein trotziges Kind.

»Alles deine Schuld«, flüsterte die Stimme.

Ich ging schneller, um wieder zu unserer kleinen Gruppe aufzuschließen. Sollten wir auf deutsche Truppen stoßen, dann würden sie uns vom Feldweg drängen, weil die Straßen für die Wehrmacht reserviert waren. Außerdem galt jeder, der aus Ostpreußen floh, als Volksverräter, denn die Evakuierung war noch nicht befohlen worden. Aber spielte das eine Rolle? Ich war ja schon vor vier Jahren durch meine Flucht aus Litauen zu einer Deserteurin geworden.

Litauen.

Ich war 1941 geflohen. Was ging zu Hause vor? Ob die schrecklichen Gerüchte stimmten, die ich gehört hatte?

Wir näherten uns einem Haufen am Straßenrand. Der kleine Junge, der mir vorausging, zeigte wimmernd darauf. Er war vor zwei Tagen mutterseelenallein aus einem Wald aufgetaucht und hatte sich uns angeschlossen, war einfach hinter uns hergetrottet.

»Na, Kleiner? Wie alt bist du denn?«, hatte ich gefragt.

»Sechs«, hatte er geantwortet.

»Mit wem bist du unterwegs?«

Er senkte den Kopf und schwieg eine Weile. »Mit meiner Omi.«

Ich drehte mich zum Wald um, aber dort war niemand zu sehen. »Und wo ist deine Omi?«, fragte ich.

Der kleine Streuner sah aus großen, blassen Augen zu mir auf. »Sie ist nicht mehr aufgewacht.«

Also zog er mit uns weiter, war uns oft einige Schritte voraus oder ließ sich etwas zurückfallen. Nun stand er da und zeigte auf ein dunkles Stück Wolle, das aus dem Schnee ragte.

Ich winkte die Gruppe weiter. Sobald sich alle in Bewegung gesetzt hatten, eilte ich zu dem Haufen. Der Wind wirbelte die eisige Schneeschicht auf und enthüllte das bläuliche Gesicht einer Mittzwanzigerin, deren Mund und Augen angsterfüllt offen standen. Ich durchwühlte ihre Taschen, aber man hatte sie schon ausgeplündert. Im Jackenfutter fand ich ihre Ausweispapiere, die ich einsteckte, um sie an das Rote Kreuz übergeben zu können. Dann schleifte ich ihren Leichnam aufs Feld. Sie war zwar tot und steif gefroren, aber die Vorstellung, dass sie von Panzern überrollt wurde, war mir unerträglich.

Ich verließ das Feld und lief zu unserer Gruppe. Der kleine Streuner stand mitten auf dem Weg im Schneegestöber.

»Auch nicht aufgewacht?«, fragte er leise.

Ich schüttelte den Kopf und ergriff seine im Fäustling steckende Hand.

In diesem Moment hörten wir das Geräusch in der Ferne.

Peng.

Florian

Das Schicksal ist ein Jäger.

Über mir dröhnten Motoren. Der Schwarze Tod, so wurden die Flieger genannt. Ich ging zwischen den Bäumen in Deckung. Die Flugzeuge waren nicht zu sehen, aber ich konnte sie spüren. Ganz nah. In der Dunkelheit wog ich meine Möglichkeiten ab. Eine Bombe explodierte. Der Tod pirschte sich an, griff mit Fingern aus Rauch nach mir.

Ich rannte los.

Meine Beine flogen, kamen mir aber träge vor, schienen mit meinen rasenden Gedanken nicht mithalten zu können. Ich zwang sie, sich zu bewegen, doch mein Gewissen legte mir Fußfesseln an, bremste mich aus.

»Du bist ein begabter Junge, Florian.« Das hatte Mutter zu mir gesagt.

»Du bist ein Preuße. Triff deine eigenen Entscheidungen, mein Sohn«, hatte mein Vater gesagt.

Hätte er meine Entscheidungen oder die Geheimnisse, die ich im Rucksack bei mir trug, gutgeheißen? Und würde Mutter mich, der ich in diesem Krieg zwischen Hitler und Stalin in der Klemme saß, noch begabt nennen? Oder würde sie einen Verbrecher in mir sehen?

Die Sowjets würden mich töten. Ob sie mich vorher auch noch folterten? Die Nazis würden mich auch töten, aber nur, wenn sie mir auf die Schliche kämen. Wie lange konnte ich den Plan geheim halten? Diese Fragen trieben mich an, peitschten mich durch das Unterholz des eisigen Waldes. Ich presste eine Hand auf meine Seite, mit der anderen umklammerte ich die Pistole. Jeder Atemzug und jeder Schritt weckten den Schmerz und ließen Blut aus meiner tiefen Wunde quellen.

Der Motorenlärm verebbte. Ich war seit Tagen auf der Flucht und meine Beine waren so schlapp wie meine Gedanken. Die Müden und Erschöpften sind die leichteste Beute des Jägers. Ich musste mich ausruhen. Die Schmerzen verlangsamten das Laufen zum Traben, schließlich ging ich nur noch. Im dichten Unterholz des Waldes entdeckte ich den mit Zweigen getarnten Eingang zu einem Keller, vielleicht ein Versteck für Vorräte. Ich sprang hinein.

Peng.

Emilia

Die Schande ist ein Jäger.

Nur kurz ausruhen. Eine kurze Pause war drin, oder? Ich rutschte auf dem gefrorenen Boden der Höhle nach ganz hinten in die Ecke. Die Erde bebte. Soldaten waren in der Nähe. Ich musste weiter, war aber hundemüde. Eine gute Idee, den Eingang zu diesem Keller im Wald mit Zweigen zu tarnen. Oder nicht? Niemand würde sich so weit vom Weg entfernen. Oder doch?

Ich zog die rosa Wollmütze bis über die Ohren, schloss den Mantel bis zum Hals. Obwohl ich mehrere Kleiderschichten übereinander trug, spürte ich die spitzen Zähne des Januars. Meine Finger waren taub. Wenn ich den Kopf drehte, riss ich mir Haare aus, die am Kragen festgefroren waren. Ich dachte an August.

Die Augen fielen mir zu.

Dann riss ich sie wieder auf.

Ein russischer Soldat stand vor mir.

Er beugte sich über mich, eine Lampe in der Hand, tippte mit der Pistole gegen meine Schulter.

Ich zuckte zusammen, schob mich panisch bis an die Wand.

»Fräulein«, sagte er dreckig grinsend. »Komme, Fräulein. Du wie alt?«

»Fünfzehn«, flüsterte ich. »Bitte – ich bin keine Deutsche. Njet deutsch.«

Er hörte mir nicht zu, verstand mich nicht, vielleicht war es ihm auch egal. Er richtete die Waffe auf mich und zerrte an meinem Fußknöchel. »Pssst, Fräulein.« Er drückte den Pistolenlauf unter mein Kinn.

Ich flehte ihn an. Ich legte die Hände auf meinen Bauch und bat ihn, mich zu verschonen.

Er rückte noch näher an mich heran.

Nein. Das durfte nicht sein. Ich wandte mein Gesicht ab. »Erschieß mich, Soldat. Bitte.«

Peng.

Alfred

Die Angst ist ein Jäger.

Doch als tapfere Soldaten schütteln wir die Angst durch eine Handbewegung ab. Wir lachen der Angst ins Gesicht, kicken sie wie einen Stein durch die Straße. Ja, Hannelore, ich formuliere diese Briefe in Gedanken, weil ich meine Kameraden nicht so oft im Stich lassen kann, wie ich an Dich denke.

Du wärst stolz auf Deinen wachsamen Freund, den Matrosen Alfred Frick. Heute habe ich eine junge Frau vor dem Sturz ins Meer bewahrt. Eine Kleinigkeit, aber sie war mir so dankbar, dass sie sich an mich klammerte und mich nicht mehr loslassen wollte.

»Danke, Matrose.« Ihr süßes Flüstern hallte in meinem Ohr nach. Sie war hübsch und duftete nach frischen Eiern, aber ich bin schon vielen hübschen, dankbaren Mädchen über den Weg gelaufen. Oh, nur keine Sorge. Du und Dein roter Pullover, Ihr steht in meinen Gedanken an erster Stelle. Wie oft und wie gern denke ich an meine Hannelore und die Tage des roten Pullovers zurück.

Gut, dass Du weit fort bist, denn so bleibt Dir dieser Anblick erspart. Die verrückte Situation hier in Gotenhafen wäre zu viel für Dein watteweiches Herz. Ich bewache gerade gefährliche Sprengstoffe. Ich diene Deutschland vorbildlich. Ich bin zwar erst siebzehn, habe aber mehr Schneid als Männer, die doppelt so alt sind wie ich. Man spricht von einer Ehrung, aber ich habe zu viel damit zu tun, für den Führer zu kämpfen, um irgendeine Auszeichnung entgegenzunehmen. Ehrungen sollten den Toten vorbehalten sein, habe ich ihnen gesagt. Wir müssen kämpfen, solange wir noch atmen!

Ja, Hannelore, ich werde es ganz Deutschland beweisen. In mir steckt ein Held.

Peng.

Ich beendete den Brief, den ich in Gedanken schrieb, und kroch in die Vorratskammer. Hoffentlich fand mich niemand. Ich wollte nicht nach draußen.

Florian

Ich stand im Keller, die Waffe noch auf den toten Russen gerichtet. Die Rückseite seines Schädels war abgefetzt worden. Ich wälzte ihn von der Frau.

Doch es war keine Frau. Sondern ein Mädchen mit rosa Mütze. Und sie war ohnmächtig.

Ich durchwühlte die Taschen des Russen, nahm Zigaretten, Feldflasche und eine dicke Wurst in Papier an mich, außerdem seine Pistole samt Munition. Er trug an jedem Handgelenk zwei Armbanduhren, Trophäen, die er seinen Opfern abgenommen hatte. Ich rührte sie nicht an.

In einem Winkel hockend, suchte ich den eisigen Raum nach Essen ab, konnte aber nichts entdecken. Ich legte die Munition in meinen Rucksack, wobei ich darauf achtete, die kleine, in ein Tuch verpackte Schachtel nicht zu streifen. Unfassbar, dass etwas so Kleines so viel Macht besaß. Andererseits waren Kriege schon oft wegen Nichtigkeiten ausgebrochen. War ich wirklich bereit, mein Leben dafür zu geben? Ich kaute auf der trockenen Wurst herum, genoss den Speichel, der zu fließen begann.

Die Erde bebte leicht.

Der Russe war nicht allein. Er hatte Kameraden. Ich musste weiter.

Ich öffnete die Feldflasche des Russen und schnupperte daran. Wodka. Ich knöpfte meinen Mantel auf, danach das Hemd, und ließ den Alkohol über meine Seite laufen. Der Schmerz war so stechend, dass ich Sterne sah. Mein zerfetztes Fleisch wehrte sich pochend und pulsierend. Ich holte tief Luft, unterdrückte einen Schrei und quälte die Wunde danach mit dem restlichen Alkohol.

Das im Dreck liegende Mädchen begann sich zu regen. Sie riss ihren Kopf von dem toten Russen fort. Ihr Blick zuckte zu der Pistole vor meinen Füßen, dann zu der Flasche in meiner Hand. Blinzelnd richtete sie sich auf. Die rosa Mütze rutschte ihr vom Kopf und fiel zu Boden. Ihr Mantel war auf einer Seite voller Blut. Sie griff in die Tasche.

Ich warf die Feldflasche weg und schnappte mir die Pistole.

Sie öffnete den Mund und sprach.

Polnisch.

Emilia

Der russische Soldat starrte mich mit leerem Blick an, sein Mund stand offen.

Tot.

Was war geschehen?

Ein junger Mann in Zivil hockte in einer Ecke. Er hatte Mantel und Hemd geöffnet, seine Seite war blutüberströmt und ich konnte eine schlimme Wunde sehen. Er hielt eine Pistole. Wollte er mich erschießen? Nein, er hatte den Russen getötet. Er war mein Retter.

»Sind Sie wohlauf?«, fragte ich. Meine Stimme kam mir fremd vor und beim Klang meiner Worte verzog er das Gesicht.

Er war Deutscher.

Ich war Polin.

Er würde bestimmt nichts mit mir zu tun haben wollen. Adolf Hitler hatte die Polen zu Untermenschen erklärt. Wir sollten vernichtet werden, damit sich das Deutsche Reich unser Land einverleiben konnte. Hitler behauptete, die Deutschen seien eine Herrenrasse und könnten als solche nicht unter Polen leben. Wir konnten nicht germanisiert werden. Unser Land aber schon.

Ich holte eine Kartoffel aus der Tasche und hielt sie ihm hin. »Danke.«

Ein leises Beben erschütterte den Keller. Wie viel Zeit war verstrichen? »Wir müssen los«, sagte ich zu ihm.

Ich bemühte mich um ein möglichst gutes Deutsch. In meinen Gedanken klangen die Sätze korrekt, aber ich war mir nicht sicher, ob ich die Wörter richtig aussprach. Manchmal lachten die Leute und dann wusste ich, dass ich etwas falsch formuliert hatte. Als ich den Arm senkte, sah ich das Blut des Russen auf meinem Ärmel. Hörte das denn nie auf? Tränen stiegen mir in die Augen. Aber ich wollte nicht weinen.

Der Deutsche starrte mich an. In seinem Blick lagen sowohl Erschöpfung als auch Frustration.

Seine auf die Kartoffel gerichteten Augen sagten: Ich bin hungrig, Emilia.

Das Blut auf seinem Hemd sagte: Ich bin verwundet, Emilia.

Doch die Art, auf die er seinen Rucksack umklammerte, war am vielsagendsten.

Ja nicht anfassen, Emilia.

Joana

Wir wanderten auf der schmalen Straße weiter. Fünfzehn Flüchtlinge. Mit der Sonne sank auch die Temperatur, tiefer und tiefer. Ingrid, das blinde Mädchen, hielt sich vor mir an einem Strick fest, der am Pferdekarren befestigt war. Ich konnte zwar gut sehen, aber in gewisser Weise war auch ich blind – wir bewegten uns in ein Kampfgebiet, ohne zu wissen, was uns dort erwartete. Vielleicht war Ingrids Blindheit eine Gabe, denn sie roch und hörte Dinge, die wir anderen nicht wahrnahmen.

Ob sie den letzten Seufzer des Alten vernommen hatte, der ein paar Kilometer zuvor unter die Räder eines Wagens gekommen war? Ob sie den Geschmack von Münzen im Mund hatte, wenn wir über frisches Blut im Schnee liefen?

»Schrecklich. Sie waren ihr Tod«, sagte jemand hinter mir. Es war der alte Schuster. Ich blieb stehen, damit er zu mir aufschließen konnte. »Die erfrorene Frau von vorhin«, fuhr er fort. »Ihre Schuhe haben sie umgebracht. Ich sage es immer wieder, aber niemand hört auf mich. Schlechte Schuhe sind eine Qual für die Füße und beim Gehen hinderlich. Am Ende bleibt man stehen.« Er drückte meinen Arm. Sein gütiges, gerötetes Gesicht lugte unter der Mütze hervor. »Und dann stirbt man«, flüsterte er.

Schuhe waren das einzige Thema des alten Mannes. Er sprach mit so viel Liebe und Gefühl davon, dass ihm eine Frau aus unserem Trupp den Spitznamen »Schuh-Poet« gegeben hatte. Die Frau verschwand tags darauf, aber der Spitzname blieb.

»Die Schuhe erzählen die ganze Geschichte«, meinte der Schuh-Poet.

»Nicht immer«, entgegnete ich.

»Doch. Immer. Nehmen wir Ihre Stiefel. Sie sind teuer und hochwertig. Das sagt mir, dass Sie aus einer wohlhabenden Familie stammen. Der Stil spricht jedoch für eine ältere Frau. Das wiederum sagt mir, dass sie Ihrer Mutter gehört haben. Eine Mutter hat ihre Stiefel für ihre Tochter geopfert. Sie werden also geliebt. Und dass Ihre Mutter nicht bei Ihnen ist, bedeutet, dass Sie traurig sind, meine Liebe. Die Schuhe erzählen die Geschichte.«

Ich blieb mitten auf dem hart gefrorenen Weg stehen und sah dem stämmigen alten Schuster nach, wie er davonschlurfte. Er hatte Recht. Mutter hatte sich für mich geopfert. Nach unserer Flucht aus Litauen hatte sie mich in aller Eile nach Insterburg gebracht und mir über eine Freundin eine Stelle im dortigen Hospital verschafft. Das lag vier Jahre zurück. Wo mochte sie jetzt sein?

Ich dachte an die zahllosen Flüchtlinge, die in langen Trecks vor den Russen flohen. Wie viele Millionen Menschen hatten Zuhause und Familie durch den Krieg verloren? Ich war mit Mutter darin übereingekommen, immer nach vorn zu schauen, sehnte mich aber insgeheim nach der Vergangenheit. Ob es Nachricht von meinem Vater oder meinem Bruder gab?

Ingrid hob das Gesicht zum Himmel und schwenkte warnend einen Arm.

Flieger.

Florian

Wir waren kaum aus dem Keller gekrochen, da brach das polnische Mädchen in Tränen aus. Sie wusste, dass ich sie nicht mitnehmen würde.

Ich hatte keine Wahl. Sie würde mich nur aufhalten.

Hitlers Ziel war die Vernichtung aller Polen. Sie waren Slawen und damit Untermenschen. Laut meinem Vater hatten die Nazis Millionen Polen ermordet. Polnische Intellektuelle wurden auf bestialische Weise öffentlich hingerichtet. Hitler ließ im besetzten Polen Vernichtungslager errichten, in denen das Blut unschuldiger Juden den Boden tränkte.

Hitler war ein Feigling. In diesem Punkt waren Vater und ich stets einer Meinung gewesen.

»Proszę … bitte«, flehte sie abwechselnd auf Polnisch und in gebrochenem Deutsch.

Ich mochte sie nicht anschauen, der Anblick des Blutes auf ihrer Kleidung war unerträglich. Es war auf ihren Ärmel gespritzt, als ich den Russen erschossen hatte. Ich marschierte los, verfolgt von ihren Schluchzern.

»Warten. Bitte«, rief sie.

Ihr Weinen war mir schmerzhaft vertraut. Es klang wie das meiner kleinen Schwester Anni, ihr Schluchzen ähnelte dem, das im Flur ertönt war, nachdem meine Mutter ihren letzten Atemzug getan hatte.

Anni. Wo mochte sie sein? Hockte sie auch in einem dunklen Vorratskeller im Wald, eine Pistole am Kopf?

Ein stechender Schmerz in der Seite ließ mich innehalten. Ich hörte, wie das Mädchen angerannt kam. Ich ging weiter.

»Danke«, rief sie hinter mir mit heller Stimme.

Die Sonne ging unter, die Kälte ballte ihre Fäuste. Nach meinen Berechnungen musste ich vor einer Rast noch zwei Kilometer zurücklegen. Entlang eines Feldwegs wären die Aussichten auf ein Nachtlager besser, aber ich würde auch riskieren, Soldaten in die Arme zu laufen. Deshalb hielt ich es für klüger, weiter dem Waldrand zu folgen.

Das Mädchen hörte sie zuerst. Es packte meinen Arm. Hinter uns wurde das Dröhnen von Flugzeugmotoren rasend schnell lauter. Die Russen griffen deutsche Infanterie an. Standen die Soldaten vor uns oder befanden sie sich rechts oder links von uns?

Bomben fielen. Jede Explosion fuhr mir in die Knochen, im Glockenturm meines Körpers wurde lautstark Alarm gegeben. Kurz darauf erfüllte das Dröhnen von Flugabwehrgeschützen die Luft.

Das Mädchen versuchte, mich weiterzuziehen.

Ich stieß sie fort. »Lauf!«

Sie schüttelte den Kopf, deutete nach vorn und versuchte dann unbeholfen, mich durch den Schnee zu zerren. Ich wäre gern weggerannt, hätte sie am liebsten im Wald zurückgelassen und vergessen. Aber dann fiel mir auf, dass unter ihrem unförmigen Mantel Blut in den Schnee tropfte.

Und ich brachte es nicht über mich.

Emilia

Er wollte mich loswerden. Er verfolgte eigene Pläne.

Wer war dieser Deutsche in Zivil, noch grün hinter den Ohren, aber alt genug für die Wehrmacht? In meinen Augen war er ein Konquistador oder ein Ritter, den Märchen entsprungen, die meine Mutter oft erzählt hatte. Polnische Sagen wussten von einem König und dessen tapferen Rittern zu berichten, die in Gebirgshöhlen schlummerten. Wenn Polen in Not war, würden sie erwachen und dem bedrängten Land beistehen.

Ich redete mir ein, dieser junge Mann sei ein rettender Ritter. Er ging weiter, die Pistole im Anschlag. Er ließ mich allein.

Warum ließen mich alle allein?

Die Flugzeugstaffel brauste über uns hinweg. Ihr Brummen machte mich schwindelig. Eine Bombe fiel. Dann eine zweite. Die Erde bebte, sie drohte ihr Maul aufzureißen und uns zu verschlingen.

Ich verdrängte die Schmerzen und die Schande dessen, was sich unter meinem Mantel verbarg, und versuchte, den Ritter einzuholen. Mir fehlten sowohl Zeit als auch Mut, um ihm zu erklären, warum ich nicht rennen konnte. Stattdessen stapfte ich möglichst schnell durch den Schnee. Der Ritter lief voran, eilte von einem Baum zum anderen, schmerzgekrümmt, eine Hand auf seine Seite gedrückt.

Meine Beine wurden zusehends schwächer. Ich dachte an die näher kommenden Russen, an die Pistole, die mir im Keller unters Kinn gesetzt worden war, und zwang meine Füße, sich zu bewegen. Ich watschelte wie eine Ente durch den tiefen Schnee. Und dann musste ich plötzlich voller Wehmut daran denken, wie Mama mir oft vorgesungen hatte.

Alle meine Entchen

schwimmen auf dem See …

Wo waren die Entchen jetzt?

Alfred

»Was machen Sie da, Frick?«

»Munition aufstocken, Herr Obermaat.« Ich tat so, als wäre ich mit etwas im Regal beschäftigt.

»Was soll der Blödsinn?«, blaffte der Obermaat. »Sie werden im Hafen gebraucht, nicht im Vorratslager. Die Evakuierung wird bald beginnen. Wir müssen bereit sein. Wir werden jedes verfügbare Schiff einsetzen. Wenn wir den Arsch nicht hochkriegen, macht Sie irgendein Meuchelmörder aus Moskau zu seiner Mätresse. Wollen Sie das?«

Bestimmt nicht. Ich wollte die Rote Armee nicht einmal aus der Ferne sehen. Sie hinterließ eine gigantische Schneise der Verwüstung. Panische Dorfbewohner verbreiteten Geschichten von Russen, die Ketten aus Kinderzähnen um den Hals trugen. Und nun saß uns die Rote Armee im Nacken und Stalin bekam durch seine Verbündeten, die Briten und Amerikaner, auch noch mächtig Rückenwind. Ich musste auf ein Schiff gelangen. Würde ich in Gotenhafen bleiben, dann wäre das mein sicherer Tod.

»Taub oder was? Wollen Sie Moskaus Mätresse werden?«, bellte der Obermaat.

»Nein, Herr Obermaat!«

»Holen Sie Ihr Gerödel und dann ab zum Hafen. Dort erhalten Sie weitere Befehle.«

Ich rührte mich nicht vom Fleck, weil ich erwog, etwas aus der Vorratskammer mitgehen zu lassen.

»Worauf warten Sie, Frick? Raus hier, Sie erbärmlicher Wurm.«

Aber ja, Hannelore, die Uniform steht mir glänzend. Ich würde liebend gern ein Foto für Deinen Nachttisch machen lassen, aber mutigen Männern wie mir mangelt es hier an Freizeit. Wegen meines Heldenmutes werde ich sicher bald befördert.

Natürlich darfst Du es überall in der Nachbarschaft erzählen, Mäuschen.

Joana

Der kleine Streuner entdeckte weit abseits des Weges eine leere Scheune. Dort wollten wir die Nacht verbringen. Kraft und Moral schwanden, denn wir waren seit Tagen auf den Beinen. Die Bomben hatten alle stark mitgenommen. Ich behandelte einen nach dem anderen, versorgte Blasen, Wunden, Frostbeulen. Doch ich hatte kein Mittel gegen das, was uns am meisten zu schaffen machte.

Die Angst.

1941 hatte das Deutsche Reich die Sowjetunion überfallen. Während der letzten vier Jahre hatten beide Seiten unfassbare Gräueltaten begangen, nicht nur im Gefecht, sondern auch gegen harmlose Zivilisten. Flüchtlinge, denen wir unterwegs begegnet waren, hatten im Flüsterton Geschichten erzählt. Hitler tötete Millionen Juden und seine Liste »lebensunwerten Lebens« wurde immer länger. Stalin löschte Polen, Ukrainer und die Bewohner der baltischen Staaten aus.

Die Brutalität war entsetzlich. Die Unmenschlichkeit überstieg jedes Fassungsvermögen. Niemand wollte dem Feind in die Hände fallen, nur wusste man inzwischen nicht mehr genau, wer der Feind war. Vor einigen Tagen hatte mich ein alter Deutscher beiseitegenommen.

»Haben Sie Gift? Die Leute fragen danach«, sagte er.

»Ich verabreiche kein Gift«, antwortete ich.

»Verstehe. Aber Sie sind eine hübsche Frau. Wenn der Russe kommt, werden Sie selbst etwas brauchen.«

Schwer zu sagen, was der Wahrheit entsprach und was Übertreibung war. Andererseits hatte ich manches gesehen. Ein Mädchen mit bis über den Bauch gerafftem Kleid, das tot in einem Graben lag. Eine Greisin, die unter Tränen erzählte, dass man ihr Haus niedergebrannt hatte. Der Schrecken lag draußen auf der Lauer. Er saß uns im Nacken. Aus diesem Grund zogen wir nach Westen, um den noch nicht besetzten Teil Deutschlands zu erreichen.

Und nun hockten wir in einer leeren Scheune und versuchten, ein Feuer in Gang zu bringen. Ich zog die Fäustlinge aus und rieb meine aufgesprungenen Hände. Ich hatte vier Jahre für den Chirurgen in Insterburg gearbeitet, und weil der Krieg immer länger tobte und die Zahl der Mitarbeiter immer weiter sank, war ich von einer Hilfskraft, die Material einsortierte, zur Operationsassistentin aufgestiegen.

»Sie haben ruhige Hände, Joana, und sind nicht so leicht umzuhauen. Sie wären eine gute Ärztin«, hatte der Chirurg zu mir gesagt.

Medizin. Das war mein Traum gewesen. Ich war wissbegierig und beflissen, vielleicht im Übermaß. Mein letzter Freund hatte mir vorgeworfen, er spiele nur die zweite Geige und das Studium sei mir wichtiger. Bevor ich ihm das Gegenteil beweisen konnte, hatte er sich eine neue Freundin gesucht.

Ich versuchte, meine Finger durch eine Massage zu wärmen. Meine Hände waren mir egal, unsere Vorräte aber nicht. Viel war nicht mehr übrig. Ich hatte gehofft, bei der toten Frau am Straßenrand etwas zu finden – Zwirn, Tee, vielleicht sogar ein sauberes Taschentuch. Doch an Sauberkeit war nicht mehr zu denken. Inzwischen war nichts mehr rein.

Vor allem mein Gewissen nicht.

Wir blickten alle auf, als sie die Scheune betraten – ein junger Mann mit Pistole, gefolgt von einem Mädchen mit blonden Zöpfen und rosa Mütze. Beide wirkten verhärmt. Das Gesicht des Mädchens war vor Erschöpfung gerötet. Auch der junge Mann hatte rote Wangen.

Er hatte Fieber.

Florian

Andere waren uns zuvorgekommen. Eine bunte Ansammlung stark mitgenommener Pferdewagen war im Unterholz versteckt, das nüchterne Porträt eines Trecks auf der Flucht in sichere Gefilde. Ein verlassener Ort wäre mir lieber gewesen, doch ich konnte nicht mehr weiter. Das polnische Mädchen zupfte an meinem Ärmel.

Sie blieb im Schnee stehen, betrachtete die vor der Scheune abgestellten Habseligkeiten, überlegte wohl, welchen Wert sie hatten und wem sie gehören mochten. Nichts deutete auf Militär hin.

»Ist gut, glaube ich«, sagte sie. Wir gingen hinein.

Fünfzehn bis zwanzig Menschen drängten sich um ein Feuer. Sie rissen die Köpfe herum, als ich eintrat und neben der Tür stehen blieb. Mütter, Kinder, ältere Leute. Alle körperlich und seelisch erschöpft. Die Polin ging schnurstracks zu einer freien Ecke und setzte sich, schloss die Arme schützend vor der Brust. Eine junge Frau kam auf mich zu.

»Sind Sie verletzt? Ich habe eine medizinische Ausbildung.«

Sie sprach fließend Deutsch, schien jedoch aus dem Ausland zu stammen. Ich schwieg. Ich hatte keine Lust auf ein Gespräch.

»Haben Sie Proviant dabei?«, fragte sie.

Was ich dabeihatte, ging niemanden etwas an.

»Hat sie vielleicht etwas zu essen?«, fragte sie und zeigte auf die Polin, die sich in der Ecke hin und her wiegte. »Sie wirkt ein bisschen verstört.«

Ich antwortete, ohne sie anzuschauen. »Sie war im Wald. Ein Russe wollte über sie herfallen. Sie ist mir gefolgt. Sie hat ein paar Kartoffeln. Lassen Sie mich jetzt in Ruhe«, sagte ich.

Bei der Erwähnung des Russen erschrak die junge Frau. Sie ließ mich stehen und eilte zu dem Mädchen.

Ich suchte mir weiter weg von der Gruppe einen Platz, stellte meinen Rucksack vor die Scheunenwand und lehnte mich vorsichtig dagegen. Am Feuer wäre es wärmer, aber ich durfte nichts riskieren. Ja kein Gespräch.

Ich aß etwas von der Wurst des toten Russen und sah zu, wie die junge Frau mit dem Mädchen aus dem Wald zu reden versuchte. Immer wieder baten Leute aus der Gruppe sie um Hilfe. Offenbar war sie Krankenschwester. Sie wirkte ein paar Jahre älter als ich. Und sie war hübsch. Auf eine ganz natürliche Art, die selbst im Zustand der Verwahrlosung – vielleicht gerade dann – reizvoll war. In dieser Scheune war jeder verdreckt. Der Gestank nach Erschöpfung, versagenden Blasen, vor allem aber nach Angst war schlimmer als der Mief in einem Schweinestall. Wäre dies Königsberg, dann hätte mir diese Krankenschwester bestimmt den Kopf verdreht.

Ich schloss die Augen. Ich wollte die hübsche junge Frau nicht anschauen. Ich musste im Stande sein, sie zu töten, sie alle zu töten, falls erforderlich. Mein Körper schrie nach Schlaf, aber mein Verstand warnte mich davor, diesen Leuten zu vertrauen. Jemand trat gegen meinen Fuß und ich riss die Augen auf.

»Sie haben verschwiegen, dass sie Polin ist«, sagte die Krankenschwester. »Und der Russe?«

»Tut nichts mehr«, entgegnete ich. »Ich muss jetzt schlafen.«

Sie kniete sich neben mich. Sie sprach sehr leise. »Und ich muss die Wunde sehen, die Sie verbergen.«

Emilia

Ich dachte an die Wagen vor der Scheune. Schwer beladen mit den Habseligkeiten der Flüchtlinge. Truhen, Koffer und Möbel. Sogar eine Nähmaschine wie die von Mama.

Ich erinnerte mich daran, wie ich in der Küche auf meinem Sonnenplatz gesessen und Mama gefragt hatte: »Warum nähst du kein Kleid für dich?«

Mama, die an der Nähmaschine arbeitete, drehte sich zu mir um. »Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?«

Ich nickte entschieden und ging zu ihr.

Sie legte die Hände auf ihren dicken Bauch und lächelte. »Ich glaube, es ist ein Junge. Ich weiß genau, dass es ein Junge ist.« Sie schloss mich fest in ihre Arme, drückte die warmen Lippen auf meine Stirn. »Und weißt du was, Emilia? Du bist bestimmt die beste große Schwester auf der ganzen Welt.«

Nun hockte ich in einer eiskalten Scheune, einsam und weit fort von zu Hause. Diese Leute hatten noch packen können. Das war mir nicht möglich gewesen. Stattdessen hatte ich mein Leben in Fetzen zurücklassen müssen. Wer saß jetzt an Mamas Nähmaschine?

Der Ritter hatte nicht in die Scheune gehen wollen. Wie lautete sein Name? Lief er vor jemandem davon? Ich hatte Wagen und Habseligkeiten betrachtet, alles auf seinen Wert untersucht und überlegt, wer die Besitzer sein könnten. Aber uns blieb keine Wahl. Draußen zu schlafen wäre der sichere Tod.

Ich saß in einer Ecke und stopfte Stroh unter meinen Mantel, um es wärmer zu haben. Die Schmerzen waren abgeflaut, sobald ich mich hingesetzt hatte. Ich vergrub das Gesicht in den Händen.

Jemand berührte mich an der Schulter. »Geht es dir gut?«

Als ich den Kopf hob, erblickte ich eine junge Frau. Sie sprach Deutsch, aber mit leichtem Akzent. Ihre braunen Haare trug sie straff nach hinten gebunden. Ihr Gesicht wirkte gütig.

»Bist du verletzt?«, fragte sie.

Ich versuchte mich zusammenzureißen.

Ich kämpfte dagegen an.

Dann rollte eine einsame Träne über meine Wange.

Sie trat nahe an mich heran. »Wo tut es weh?«, fragte sie leise. »Ich bin Krankenschwester.«

Ich wickelte mich fest in den Mantel und schüttelte den Kopf. »Nein. Danke.«

Die junge Frau neigte skeptisch den Kopf. Mein Akzent hatte mich verraten.

»Bist du Deutsche?«, flüsterte sie.

Ich schwieg. Die anderen glotzten mich an. Ob sie mich in Ruhe ließen, wenn ich ihnen zu essen gab? Ich kramte eine Kartoffel aus dem Mantel und gab sie der Frau.

Kartoffel gegen Stillschweigen.

Joana

Die Ankunft des Deutschen und des Mädchens beunruhigte mich. Keiner von beiden war offen. Der Blick des Mädchens zuckte traumatisiert hin und her, ihre Schultern bebten. Ich ging zu Eva. Sie war in ihren Fünfzigern, hatte die Statur eines Wikingers und größere Hände und Füße als mancher Mann. In unserem Trupp wurde sie manchmal »leidvolle Eva« genannt, denn sie gab immer wieder die entsetzlichsten Dinge von sich, ergänzt oder eingeleitet durch die Worte »Tut mir leid, das so sagen zu müssen …«, die ihre Direktheit mildern sollten.

»Du sprichst doch ein paar Brocken Polnisch, Eva«, flüsterte ich.

»Wäre mir neu«, antwortete sie.

»Ich behalte es für mich. Aber die Kleine leidet. Ich glaube, sie ist Polin. Versuchst du mal, mit ihr zu reden? Sie sollte sich von mir helfen lassen.«

»Wer ist ihr deutscher Begleiter und warum trägt er keine Uniform? Wir dürfen eigentlich noch nicht fliehen. Wenn Hitlers Schergen uns mit einem Fahnenflüchtigen ertappen, verpassen sie jedem von uns einen Kopfschuss. Tut mir leid, das so sagen zu müssen.«

»Vielleicht ist er fahnenflüchtig, vielleicht auch nicht. Ich weiß nicht, wer er ist, aber er ist verwundet. Er hat das Mädchen im Wald entdeckt.« Ich senkte meine Stimme. »Ein Russe wollte über sie herfallen.«

Eva wurde kreidebleich. »War das weit von hier?«, fragte sie.

»Weiß ich nicht. Bitte sprich mit ihr. Du musst ihr ein paar Informationen entlocken.«

Evas Mann war zu alt, um in der Wehrmacht zu dienen, aber man hatte ihn zum Volkssturm eingezogen. Hitler rief inzwischen alle verfügbaren Männer und Jungen zu den Waffen. Trotzdem war der junge Mann, der hinten in der Scheune saß, kein Soldat. Warum nicht?

Eva war von ihrem Mann gedrängt worden, sich einem Treck nach Westen anzuschließen. Er war überzeugt, dass Hitler den Krieg schon verloren hatte und dass die Russen Ostpreußen besetzen und in diesem Zuge alles zerstören würden.

In der Schule hatten wir gelernt, dass Ostpreußen ein wunderschönes Land war, aber für Flüchtlinge hatte es sich als heikel erwiesen. Im Norden grenzte es an Litauen und im Süden an Polen, war ein Land tiefer Seen und dunkler Wälder. Eva hatte den gleichen Plan wie alle anderen – sie wollte in den noch nicht besetzten Teil Deutschlands fliehen, um sich nach dem Krieg dort mit ihrer Familie zu treffen.

Ich hatte mich so gut wie möglich um die Leute in der Scheune gekümmert. Viele waren eingeschlafen, sobald sie sich gesetzt hatten.

»Ihre Füße«, ermahnte mich der Schuh-Poet milde, als ich an ihm vorbeiging. »Sie müssen ihre Füße behandeln, sonst ist es aus und vorbei.«

»Und Ihre Füße?«, fragte ich. Mit seiner konvexen Figur sah der Schuh-Poet aus, als hätte er einen Medizinball gefangen und nie mehr losgelassen.

»Ich könnte tausend Kilometer laufen, meine Liebe«, sagte er grinsend. »Eins-a-Schuhe.«

Eva nahm mich beiseite.

»Du hattest Recht – sie ist Polin und heißt Emilia. Sie ist fünfzehn und stammt aus Lwów. Aber sie hat keine Papiere.«

»Wo liegt Lwów?«, fragte ich.

»In Südostpolen. Galizien. Auf Deutsch heißt es Lemberg.«

Viele Galizier waren blond und blauäugig. Die Nazis würden das Mädchen vielleicht für arisch halten und verschonen.

»Ihr Vater ist Mathematikprofessor oder so, und er hat sie nach Ostpreußen in Sicherheit geschickt. Sie hat dort auf einem Bauernhof gearbeitet.« Eva senkte die Stimme. »In der Nähe von Nemmersdorf.«

»Oh, nein«, hauchte ich.

Eva nickte. »Sie will nicht darüber reden. Hat nur erzählt, sie sei zu Beginn ihrer Flucht durch Nemmersdorf gekommen und seither unterwegs.«

Nemmersdorf.

Alle kannten die Gerüchte. Vor einigen Monaten hatten die Russen das Dorf erobert und dabei unsägliche Grausamkeiten begangen. Sie hatten Frauen an Scheunentore genagelt und Kinder verstümmelt. Die Nachricht des Massakers hatte sich in Windeseile verbreitet und Panik ausgelöst. Viele hatten sofort ihre Sachen gepackt und waren nach Westen geflohen, weil sie befürchteten, auch ihr Dorf könnte der Roten Armee bald in die Hände fallen. Und das Mädchen war dort gewesen.

»Armes Ding«, flüsterte ich. »Der Deutsche hat erzählt, sie sei im Wald von einem Russen belästigt worden.«

»Und wo ist der Russe jetzt?«, fragte Eva besorgt.

»Ich glaube, er hat ihn getötet.« Ich bedauerte das Mädchen aus tiefstem Herzen. Was mochte sie erlebt haben? Doch ich ahnte die Wahrheit. Hitler vertrieb junge Polinnen wie Emilia, um Platz für »Baltendeutsche« zu schaffen, Menschen mit deutscher Abstammung. Menschen wie mich. Mein Vater war Litauer, aber meine Mutter hatte deutsche Vorfahren. Deshalb hatten wir vor Stalin in die Stacheldrahtarme Hitlers fliehen können.

»Die Kleine hat noch Glück im Unglück«, sagte Eva.

»Wie meinst du das?«

»Mein Mann erzählt, dass Hitler die polnischen Intellektuellen für politische Gegner hielt. In Lwów wurden alle Professoren hingerichtet. Bestimmt auch der Vater des Mädchens. Tut mir leid, das so sagen zu müssen, aber er wurde bestimmt mit einer Klaviersaite erdrosselt und …«

»Hör auf, Eva.«

»Wir können das Mädchen nicht mitnehmen. Ihr Mantel ist voller Blut. Sie hat eindeutig Ärger am Hals. Und sie ist Polin.«

»Ich bin Litauerin. Willst du mich auch loswerden?« Ich hatte genug davon. Dieses Nur für Deutsche ekelte mich an. Durften wir unschuldige, entwurzelte Kinder im Stich lassen? Sie waren Opfer, keine Soldaten. Aber manche Leute sahen das natürlich anders.

Ich warf dem Mädchen, das mit tränenüberströmten Wangen in der Ecke saß, einen Blick zu. Sie war fünfzehn und allein. Ihre Tränen erinnerten mich an jemanden. In meiner Erinnerung tat sich ein Türchen auf und eine tiefe Stimme drang heraus.

Alles deine Schuld.

Florian

Ich sah zu, wie die junge Krankenschwester die Leute der Reihe nach mit Medikamenten behandelte, die sie in einer braunen Ledertasche bei sich trug. Ich wusste, dass ich nur weiterziehen konnte, wenn mein Fieber abklang. Die Wunde zog sich bis auf den Rücken, deshalb konnte ich sie weder ganz sehen noch kam ich heran. Das hier war keine Frage des Vertrauens, denn ich würde die junge Frau niemals wiedersehen. Als sie mir einen Blick zuwarf, nickte ich.

»Anders überlegt?«, fragte sie.

»Sobald alle schlafen«, flüsterte ich.

Das dauerte nicht lange. Bald darauf waren in der kalten Scheune alle eingeschlafen. Muskeln zuckten, Atem pfiff aus Nasen. Die junge Frau briet eine Kartoffel über dem Feuer. Sie aß langsam und kultiviert, biss trotz ihres Hungers nur kleine Stückchen ab. Sie stammte aus gutem Hause.

Danach kam sie mit ihrer Tasche zu mir.

»Schusswunde?«, flüsterte sie.

Ich schüttelte den Kopf. Schälte mich aus einem Ärmel, wobei ich mir ein Stöhnen verkniff. Dann legte ich mich auf die Seite, den Kopf von ihr abgewandt. Sie löste behutsam mein Hemd, das wegen des geronnenen Blutes auf der Haut klebte.

Im Gegensatz zu anderen Mädchen, denen sich ein grässlicher Anblick bietet, keuchte oder kreischte sie nicht, sondern blieb ruhig. Als Krankenschwester war sie dergleichen wohl gewohnt. Ich sah über die Schulter, weil ich wissen wollte, ob sie noch da war. Sie hatte sich tief über die Wunde gebeugt, untersuchte sie gründlich und flüsterte mir etwas ins rechte Ohr.

»Schrapnell. Zwei Tage alt. Sie haben die Blutung durch Druck gestoppt, die Splitter dadurch aber tiefer ins Fleisch gedrückt, was den Schmerz verstärkt hat. Die Wunde hat sich entzündet. Sie haben etwas daraufgekippt.«

»Wodka.«

Sie flüsterte weiter in mein Ohr. »Es sind mehrere Splitter. Ich muss sie entfernen, habe aber kein Betäubungsmittel.«

»Haben Sie etwas zu trinken?«, fragte ich.

»Ja, aber ich brauche den Alkohol, um die Wunde zu säubern, bevor ich sie verbinde.« Ich spürte ihre Hand auf der Schulter. »Ich fange gleich an, damit sich die Entzündung nicht weiter ausbreitet.«

Da tauchten kleine Stiefel in meinem Blickfeld auf. Das polnische Mädchen ging vor mir in die Knie, wischte mir die Haare aus dem Gesicht und drückte mir zur Kühlung ein Taschentuch auf die Stirn, in das sie einen Klumpen Schnee gewickelt hatte.

»Verschwinde«, befahl ich ihr.

»Moment.« Die Krankenschwester sah die Polin an. »Holst du mir einen dicken Stock?« Sie nickte. Sobald sie fort war, hockte sich die Krankenschwester vor mir auf den Boden. Ich beobachtete ihre Lippen, während sie flüsterte.

»Sie heißt Emilia. Sie stammt aus Südostpolen. Ihr Vater hat sie in Sicherheit gebracht … nach Nemmersdorf.«

»Oh Gott«, hauchte ich.

Sie nickte und öffnete ihre Tasche. »Ich heiße Joana. Ich habe mehrere Jahre einem Arzt assistiert. Ich bin Litauerin. Ich hoffe, das ist kein Problem.«

»Ist mir egal, wer Sie sind. Haben Sie das schon mal gemacht?«

»Ich habe vergleichbare Eingriffe vorgenommen. Wie heißen Sie?«, fragte sie.

Ich schwieg. Was sollte ich sagen? »Wozu der Stock?«

Sie antwortete nicht, sondern wiederholte ihre Frage. »Wie lautet Ihr Name?«

Ich hatte hohes Fieber, das mich schwächte und meinen Kopf schwirren ließ. Mein Name. Ich hieß nach einem Maler des 16. Jahrhunderts, den meine Mutter vergöttert hatte. Nein. Ich würde nichts sagen. Keine Gespräche.

Die Krankenschwester seufzte. »Ich klemme Ihnen den Stock zwischen die Zähne, denn es wird schmerzhaft.«

Ich schloss die Augen.

Florian, hätte ich gern gesagt. Ich heiße Florian.

Und bald bin ich tot.

Emilia

Die Riesin, Eva, erzählte mir, die Krankenschwester sei Litauerin. Sie heiße Joana. Sie wirkte nett, aber konnte ich ihr wirklich vertrauen? Wenn sie den Ritter behandelte, musste ich auf ihn aufpassen. Immerhin stand ich in seiner Schuld.

Er sagte, ich solle verschwinden. Noch eine Stimme im Chor all jener, die uns Polen aus der Welt schaffen wollten. Für immer. Nach meiner Flucht durch Nemmersdorf war ich auf der Straße einer alten Frau aus Lwów begegnet, in deren Augen der Sturmwind des Todes toste. Sie erzählte mir, dass die Nazis in Lwów Tausende polnischer Juden ermordet hatten.

»Was ist mit den Weigels?«, fragte ich.

»Tot.«

Ich senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Die Lempels?«

»Warum fragst du noch? Ich habe doch gesagt, dass alle tot sind. Bestimmt Hunderttausende.«

Warum ich fragte? Weil Rachel und Helena meine Freundinnen gewesen waren. Als Vater beschloss, mich nach Ostpreußen zu schicken, schlichen sie in der Nacht vor meiner Abreise mit Süßigkeiten und Geschenken zu mir.

Tot. Woher wollte sie das so genau wissen? Ich mochte das nicht glauben.

Joana, die hübsche Litauerin, hatte mich gebeten, einen dicken Stock zu suchen. Ich verließ die Scheune. Der Wind peitschte mir Schnee ins Gesicht. Wegen des übergroßen Mantels und der vielen Kleiderschichten kamen mir meine Bewegungen ungelenk vor.

Sollte ich mich Joana anvertrauen? Vielleicht konnte sie mir helfen. Andererseits wusste ich, wie sie reagieren würde. Sie wäre angewidert.

Da hörte ich ein Geräusch und hob den Kopf. So kam es, dass ich es entdeckte – auf dem Scheunendach sah ich das größte Nest, das ich je gesehen hatte.

Alfred

Hallo, meine herrliche Hannelore!

Ich muss nur Deinen Namen schreiben, schon bin ich besser gelaunt. Wenn ich auf meiner Pritsche liege, murmele ich ihn manchmal langsam, ganz langsam ins Dunkel. Han-ne-lo-re. Kleine Lore.

Es ist spät am Abend. Ich stelle mir vor, wie Du zu Hause in eines Deiner geliebten Bücher vertieft bist und dabei Dein Haar um einen Finger zwirbelst. Ob es bei Euch auch schneit?

Heidelberg scheint so unendlich weit fort zu sein. Im Schutz der sicheren Entfernung fühle ich mich gedrängt, Dir ein Geheimnis anzuvertrauen. Vielleicht ist es frech, aber war Dir je bewusst, dass Euer Küchenfenster im Erdgeschoss unserem Badezimmerfenster gegenüberliegt? Wie oft habe ich im Bad die Ente gerochen, die Deine Mutter im Ofen brutzeln ließ! Ja, ich habe Dir oft beim Frühstücken zugeschaut, bevor Du Dich auf den Schulweg machtest. Oh, das muss Dir nicht unangenehm sein, Lore. Nachbarn sind einander sehr nahe. Und wir zwei ganz besonders. Diese Erinnerungen sind wie Kohlen, die mein Herz vor Eis und Frost beschützen.

Ich habe allerdings kaum Zeit zum Nachdenken. Ein mutiger Matrose der Kriegsmarine kennt keinen Müßiggang. Wie Du weißt, bin ich auf Wache ein Ass. Ich hatte schon immer einen Riecher für Kleinigkeiten, das ist eine meiner größten Stärken, und so notiere ich alles, was für Dich von Interesse sein könnte. Man munkelt von einer Massenevakuierung per Schiff und wir bereiten im Hafen alles vor. Nicht mehr lange, dann bin ich auf See und werde – wie die Abenteurer, von denen Du so gern in Deinen heiß geliebten Romanen liest – über Wellen und Wogen bis zu den Ozeanen schippern.

Ja, das wird ein Abenteuer, Lore. Schon treffen Leute im Hafen ein, um auf eines der großen Schiffe zu kommen. Einige haben ihre gesamten irdischen Besitztümer auf Pferdeschlitten und Kutschen mitgenommen, ganze Berge – kostbare Teppiche, Uhren, Stühle, Porzellan. Sie haben alles dabei, werden aber manches zurücklassen müssen, weil auf den Schiffen nicht genug Platz ist. Heute habe ich auf einem Wagen einen herrlichen Schmetterling aus Kristall gesehen. Bei seinem Anblick musste ich sofort an Dich denken – an Dein seidiges, dunkles Haar, das wie Gaze in der Luft schwebt. Wenn der Schmetterling nicht mit an Bord darf, nehme ich ihn an mich, denn es ist doch am sinnvollsten, das Prachtstück an eine Person weiterzugeben, die es verdient.

Beim Anblick der Menschen im Hafen würde Dir Dein weiches Herz brechen. Nach dem langen Treck sind alle erschöpft und schmutzig. Manche sind aus so fernen Ländern wie Estland geflohen. Unvorstellbar, oder? Stalin hat den Menschen nicht nur das Land, sondern auch die Würde geraubt, Hannelore. Das erkenne ich an den gebrochenen Blicken und hängenden Schultern. Alles die Schuld der Kommunisten. Sie sind wie Tiere.

Und nun rücken Stalins Armeen weiter vor und alle geraten in Panik. Nein, nein, nur keine Angst. Ich bin sehr zuversichtlich und baue auf meine Fähigkeiten. Niemand kann uns auf solche Situationen vorbereiten. Man muss dafür geboren sein und zum Glück ist das bei mir der Fall.

Ich rollte mich auf die andere Seite und zog den Seesack unter der Pritsche hervor. Als ich die abgegriffene Ausgabe von Mein Kampf herausholte, sah ich das Briefpapier, das Mutter mir geschenkt hatte. Vielleicht würde ich morgen tatsächlich einen Brief schreiben.