Der Uttenschwalb
Vom geheimnisumwitterten Ursprung
eines uralten Adelsgeschlechts
Ein Mittelalter-Roman aus Bayern
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Mein Dank gilt Jürgen Stadler, Altbürgermeister von Landau/Isar, der mir das Closen-Epitaph zeigte, dessen geheimnisvolle Inschrift mich zu diesem Roman inspirierte.
ISBN 978-3-86646-771-2
© SüdOst-Verlag in der Battenberg Gietl Verlag GmbH, Regenstauf
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Titelbild: Burgruine Altenahr (www.pixabay.com), Wappen der Closen (www.wikipedia.de), Schwert (www.fotolia.com)
Epitaph des Grafen Anton von Closen
Prolog
ERSTES BUCH
Die Zeit der Liebe und des Hasses
Der Hexenbrand
Der Buhurt
Das Bankett
Die Isarburg
Das Gruftgewölbe
Die Kollbachburg
Die Botenreiter
Das Windwüten
Die Geburtsnacht
Der Nordwaldritter
Die Todesnachricht
ZWEITES BUCH
Die Zeit der Wasser und der Wälder
Der Maimorgen
Das Verlies
Die Menschenjagd
Die Verwüstung
Das Teufelsgemäuer
Die Hagazussa
Der Uttenschwalb
Die Plätte
Die Schwertleite
Das Wappenbild
Epilog
Glossar und Anmerkungen
Karte der Schauplätze des Romans
Text auf dem Epitaph des Grafen Anton von Closen in der Heilig-Kreuz-Kirche in Landau/Isar mit dem geheimnisvollen Hinweis auf den Ursprung des uralten Adelsgeschlechts.
Foto: Georg Wirth
Aus der Landshuter Gegend war der alte, fast schon siebzigjährige Baron isarabwärts gereist. Die vergangene Nacht hatten er und sein ebenfalls bereits betagter Kutscher im besten Landauer Gasthof am Oberen Stadtplatz verbracht, und nun, in der Vormittagsmitte, bestieg der Baron erneut seine wappengeschmückte Kalesche.
Nachdem sich der weißhaarige Adlige auf der lederbezogenen Sitzbank im Inneren des Reisewagens niedergelassen hatte, knallte der Kutscher mit der Peitsche. Die beiden kräftigen braunen Wallache stampften kurz; der eine drängte ein wenig von der Deichsel weg, dann zogen die Rösser an. Die Kalesche überquerte den von Fußgängern belebten Platz, rollte an einem Bierfuhrwerk vorbei und passierte die Stadtpfarrkirche. Ein kurzes Stück jenseits des Sakralbaues wurde am Ende einer Gasse die mittelalterliche Landauer Ringmauer sichtbar: vom Zahn der Zeit zerfressenes Stein- und Ziegelwerk, das unter verhangenem Himmel aufragte.
Die Pferde folgten dem Stadtwall bis zu einem halbverfallenen Torbau. Durch dessen unbewachten Schlund führte der Weg in den breiten, trocken daliegenden Stadtgraben hinab und erklomm sodann eine mäßige, schütter mit Sträuchern und einzelnen Bäumen bewachsene Anhöhe. Als die Rösser das Ende der Steigung erreichten, flatterten mit schwerfälligen Flügelschlägen ein paar Krähen davon: in Richtung eines eher unscheinbaren Kirchturmes, welchen der Baron, durch das Kutschenfenster spähend, jetzt weiter östlich ausmachen konnte.
Ein Ausdruck tiefer Trauer malte sich auf dem Antlitz des Adligen; wie in jähem Schmerz presste er die Lippen zusammen und wandte den Blick ab, um nun durch das andere Kaleschenfenster zu schauen. Ein Riegel ausgewucherten Gestrüpps wanderte an seinen Augen vorüber, dann sah er einen Bauernhof – und über dem Anwesen, auf einer flachen Hügelkuppe, lückiges, ruinöses Mauerwerk.
„Ahausen …“, murmelte der Baron; im nächsten Moment rief er dem Kutscher in einer spontanen Eingebung zu: „Fahr dort hinüber, nach links. Zu der Anhöhe hinter dem Hof.“
Der Wagenlenker gehorchte; wenig später kam die Kalesche am Hügelfuß zum Stehen, und der Adlige befahl dem Alten auf dem Bock: „Du wartest hier, bis ich zurück bin.“
Mit etwas verwundertem Gesichtsausdruck nickte der Kutscher; kurz darauf machte sich der Baron, auf seinen Gehstock gestützt, auf den Weg zum Hügelplateau. Einen Steinwurf von der Kalesche entfernt stieg er in einen halb verfüllten Graben hinunter, erreichte jenseits davon den steilen Hang der Anhöhe und folgte dort einem schmalen, nach oben führenden Pfad.
Aber schon nach ein paar Dutzend Schritten musste er innehalten und rasten. Sein Herz machte ihm zu schaffen; sein Atem ging schwer, und während er verschnaufte, dachte er: Die Jahre. Die vielen Jahre, die ich schon lebe. Weit ist’s nicht mehr hin, bis auch mir die letzte Stunde schlägt … Doch wenigstens geht’s mir heute besser als vor drei Wochen. Da hätte ich noch nicht einmal die Fahrt nach Landau auf mich nehmen können, geschweige denn den Aufstieg hier zur Höhe. Aber der Anton, der alte Freund, wird’s verstanden haben. Wird schon gewusst haben, warum ich nicht dabei war, als das Epitaph für ihn enthüllt wurde …
Nach einer Weile atmete der weißhaarige Adlige wieder regelmäßig, und sein Herzjagen hatte sich gelegt, sodass er den Aufstieg fortsetzen konnte. Knapp unterhalb der Hügelkuppe gönnte er sich nochmals eine Verschnaufpause, dann legte er das letzte Wegstück zurück und erreichte den Rand des Ruinenareals, das er von der Kalesche aus gesehen hatte.
Zu seiner Linken erhoben sich, noch zwei, drei Meter hoch, die Überreste eines Torturmes. Der teilweise zusammengestürzte Abschnitt einer Wehrmauer schloss sich an; weiter hinten waren von der einstigen Burgmauer nur noch graue Steinrelikte zu erkennen, die in unregelmäßigen Abständen aus der Erde ragten und zumeist von Gestrüpp überwuchert waren.
Langsam ging der Baron an dem zerstörten Festungswall entlang; einmal musste er einer halb mit Ziegeltrümmern gefüllten Erdgrube ausweichen, unter der womöglich ein eingestürztes Kellergewölbe lag. Schließlich kam er zum westlichen Saum des Hügelplateaus und erblickte einen mannshohen Schuttkegel, der vielleicht vom ehemaligen Bergfried übriggeblieben war. Seitlich davon stand eine noch relativ gut erhaltene Kapelle, der allerdings das Dach fehlte; auf ihrem steinernen Türsturz war ein Hinweis auf ihr Erbauungsjahr eingemeißelt: Anno Domini 1407.
Zu jener Zeit waren die Letzten aus dem Geschlecht der hiesigen Edelfreien, deren Ahnherren die Burg erbaut hatten, schon seit eineinhalb Jahrhunderten tot, und ihr Herrensitz war längst an das bayerische Herzogshaus heimgefallen, ging es dem alten Edelmann durch den Kopf. Behutsam, fast streichelnd, berührte er den rauhen Granit der Kapellenpforte; dann trat er bis direkt an den Westrand des Plateaus heran und schaute in eine mächtige Grabenschlucht hinab. Auch nach Süden hin setzte sich der tief eingeschnittene Burggraben fort – und nachdem der Baron zuletzt zum nördlichen Saum des Ruinengeländes weitergeschritten war, stellte er fest, dass die Hügelflanke dort halsbrecherisch steil ins Isartal abfiel.
Lange blickte der betagte Adlige versonnen über die Flussebene hin; endlich wandte er sich wieder ab und setzte sich, um Kraft für den Rückweg zu sammeln, auf einen verwitterten Quaderstein. Einmal mehr betrachtete er das Ruinenareal; nach einer Weile murmelte er zum zweiten Mal an diesem diesigen Märzvormittag: „Ahausen …“ Gedankenverloren lauschte er dem Wort zwei, drei Atemzüge lang nach; dann fügte er wie in entrücktem Selbstgespräch hinzu: „Der uralte Edelsitz aus der Kreuzzugszeit … Die Festung, die schon stand, als es die Landauer Stadt noch gar nicht gab. Untergegangen ist die Burg; untergegangen wie alles, das einstmals stolz und stark war. Denn jegliche Existenz unterliegt dem Gesetz des Aufblühens, Reifens und Vergehens. Und am Ende bleiben höchstens die Erinnerungen … Die Erinnerungen an meinen Freund Anton und an das, was er mir einst, vor vielen Jahren, über die ritterlichen Herren der Ahausener Feste erzählte …“
Der Weißhaarige verstummte; eine Fülle von Bildern aus längst vergangener Zeit stürmte plötzlich auf ihn ein. Wie in einer jähen Vision glaubte er, Zeuge wilder und blutiger Geschehnisse zu werden; er schien jedoch auch andere Dinge zu sehen: ein junges Paar, das in schrankenloser, aber verbotener Liebe verbunden war; dazu einen Burgherrn, der eine Grafentochter und einen Ritter ungeachtet großer Gefahr zum Altar führte.
Dann auf einmal verwich die Entrückung des Barons wieder; er kam, wie aus einem Traum herausgleitend, zu sich, und sein Blick ging nach Osten – dorthin, wo in einiger Entfernung der unscheinbare Kirchturm gen Himmel ragte.
Ein schmerzlicher Ausdruck malte sich in den Augen des alten Edelmannes, mit dem nächsten Atemzug erhob er sich und machte sich auf den Rückweg zur Kalesche. Der Kutscher war ihm beim Einsteigen behilflich; wenig später zogen die Rösser wieder an, und nach kurzer Fahrt erreichte das wappengeschmückte Gefährt den Landauer Friedhof mit seinem spätgotischen Sakralbau. Direkt vor dem Kirchenportal kam die Kalesche zum Stehen; kaum war der Baron ausgestiegen, eilte der Messner der Friedhofskirche von seinem kaum dreißig Schritte entfernten Häuschen herbei, warf einen Blick auf das Adelswappen am Kutschenschlag, verneigte sich vor dem Edelmann und sagte: „Es ist mir eine Ehre, Herr! Womit kann ich Euch dienen? Wie darf ich Euch behilflich sein?“
Der Baron schenkte ihm ein mildes Lächeln. „Lass nur, mein Freund … Ich benötige nichts. Will bloß eine Zeitlang in der altehrwürdigen Heilig-Kreuz-Kirche verweilen.“
„So kennt Ihr das Gotteshaus?“, fragte der Messner.
„Ja, ich war schon einmal hier“, erwiderte der Weißhaarige und dachte dabei an die Beisetzung seines alten Freundes Anton im Dezember des Vorjahres.
Der Messner nickte und zog sich ein paar Meter zurück. Der Kutscher, der mittlerweile vom Bock geklettert war, begleitete seinen Herrn zur Kirchentür, öffnete das Portal und blieb, nachdem der Baron eingetreten war, draußen stehen. Der Edelmann wiederum ging drinnen im Kirchenschiff langsam nach vorne bis in die Nähe des Altars, bekreuzigte sich und wandte sich dann nach rechts, wo sich nahe der Sakristeipforte ein steinernes, noch ganz neu aussehendes Epitaph erhob.
Der Sockel des Totenmales war aus hellem Marmor gefertigt und trug einen Aufsatz aus dunklem Stein; auf dem Sockelteil war eine Inschrift angebracht, und nun las der Baron halblaut den Text: „Hier am Ursprungsort aller Herren von Closen ruht der hochgeborene Herr Anton des Heiligen Römischen Reichs Graf von Closen, Königlich Baierischer Kämmerer, Herr zu Gern und Aufhausen, welcher den 6. Mai 1748 geboren, im Leben als Vater der Armen und Wohltäter seiner Untertanen bekannt, der Letzte aus der Gerner und Arnstorfer gräflichen Familie von Closen, den 18. Dezember 1805, seiner heiligen Religion getreu, sanft im Herrn entschlafen ist. Untertanen, wenn ihr hierher kommt, geht nicht ohne dankbare Träne bei dieser Asche vorüber.“
Als er die Schlussworte murmelte, wurden die Augen des Weißhaarigen feucht. Noch einmal vermeinte er, den toten Freund vor sich zu sehen: den beinahe noch im besten Mannesalter verstorbenen Reichsgrafen, wie er mit wachsbleichem Antlitz im noch offenen Sarg gelegen hatte. Jahrzehntelange und tiefe Freundschaft hatte den Baron und den Grafen Anton von Closen verbunden. Oft war der Freiherr gern gesehener Gast in der Hofmark von Arnstorf gewesen, wo der kinderlose Reichsgraf als letzter dort ansässiger Spross seines uralten Geschlechts residiert hatte; bei anderen Gelegenheiten wieder hatte Anton von Closen seinen Freund auf dessen Adelssitz in der Landshuter Gegend besucht.
Dann aber hatte völlig unerwartet der Tod zugeschlagen. Kurz vor Weihnachten des vergangenen Jahres war der Graf während einer Winterjagd wie in einem jähen Schwächeanfall vom Pferd gestürzt. Halbseitig gelähmt, der Sprache nicht mehr mächtig, hatte er im Schnee gelegen; nur wenige Stunden später, nachdem man ihn noch in sein Arnstorfer Schloss gebracht hatte, war er verstorben. Und am dritten Tag nach seinem Tod war er, so wie er es schon Jahre zuvor bestimmt hatte, in der Landauer Heilig-Kreuz-Kirche beigesetzt worden. Drei Priester hatten die Leichenmesse zelebriert; danach war der Sarg geschlossen und in eine Gruft nahe der Sakristeipforte hinabgelassen worden.
Zusammen mit zahlreichen anderen Adligen hatte der Baron dem Verstorbenen die letzte Ehre erwiesen; zu jener Zeit hatte er sich ungeachtet seiner tiefen Trauer und seiner Herzschwäche stark genug gefühlt, um die Fahrt nach Landau auf sich zu nehmen. Doch später dann, als Ende Februar des neuen Jahres das Epitaph zum Andenken an den Reichsgrafen enthüllt worden war, hatte sich der weißhaarige Freiherr nicht unter den Zeugen dieser Zeremonie befunden, da ihm damals eine Erkältung und damit eine Verschlimmerung seiner Krankheit die Reise isarabwärts unmöglich gemacht hatte.
Jetzt jedoch stand er endlich vor dem Totenmal, das sich über der Grabstätte seines Freundes erhob, und konnte noch einmal ganz still und für sich allein Abschied von Anton von Closen nehmen. Abermals las er die Inschrift auf dem Epitaph und betrachtete das über ihr angebrachte Closen-Wappen mit den neun Ballen und dem geheimnisvollen, sagenumwobenen Uttenschwalb; dann kniete er nieder und berührte sanft eine der Bodenfliesen, welche die Gruft verschlossen. Danach betete er lange für den Verstorbenen, und schließlich ließ er sich in einer Kirchenbank unweit des Totenmales nieder, um sich seinen Erinnerungen an den heimgegangenen Freund hinzugeben.
Der Baron dachte an die Jagdausflüge, die sie zusammen in seinen jüngeren Jahren unternommen hatten; er entsann sich der stundenlangen Gespräche in den Rauchsalons oder den Bibliotheken ihrer Schlösser. Ebenso erinnerte er sich an so manchen Abend, den er zusammen mit Anton von Closen beim Wein verbracht hatte. Bei einer dieser Gelegenheiten, wenige Jahre vor dem Tod des Grafen, hatte dieser von den Begründern seiner Dynastie erzählt, und als der Freiherr jetzt daran dachte, ging sein Blick erneut zu den Schriftzeichen auf dem Epitaph.
„Hier am Ursprungsort aller Herren von Closen …“, flüsterte er wie in Trance – und kaum hatte er die Worte geraunt, war es ihm, als würde er in eine sehr ferne Epoche entrückt. Mit einem Mal schien er in eine ganz andere Welt einzutauchen; unmittelbar darauf dann hatte er das Empfinden, als würde alles, was er an jenem Abend aus dem Mund seines Freundes gehört hatte, zu sichtbarer und greifbarer Wirklichkeit …
Siguna, die einzige Tochter des Grafen Heinrich von Württemberg, wirkte an diesem Julivormittag verstört. Mit verspanntem Gesicht kauerte die Achtzehnjährige auf der Sitzbank im Fenstererker ihres holzvertäfelten Gemachs, das sich im obersten Geschoss des vierstöckigen Wohnturmes der Grafenburg befand. In Sigunas blauen Augen, die sonst oft in unbändiger Lebensfreude leuchten konnten, irrlichterte Furcht; ihr fülliges kastanienbraunes Haar, auf dessen Pflege sie gewöhnlich sehr achtete, hing ihr heute ungekämmt auf die Schultern und das Mieder herab.
Schuld an Sigunas beklommener Stimmung war ein Befehl ihres Vaters. Am Vortag hatte der Graf den Scharfrichter seines Herrschaftsgebietes zu sich rufen lassen und dem Henker die Anordnung gegeben: „Morgen, wenn die Sonne ihren Mittagsstand erreicht hat, bringst du die Teufelsanbeterinnen vom Leben zum Tod! Und zwar auf die blutige und heiße Art!“
„So, wie Ihr es letzte Woche in Eurem Urteil bestimmt habt, Herr“, hatte der Scharfrichter erwidert – und wenig später hatte sich überall in der Festung und in den umliegenden Dörfern die Kunde von der bevorstehenden Hinrichtung verbreitet.
Seitdem litt Siguna unter ihrem Mitleid mit den todgeweihten Frauen, die ihrer Ansicht nach keineswegs ein Verbrechen begangen hatten. Es handelte sich um drei weibliche Leibeigene aus einer Dorfgemarkung, die eine gute Reitstunde von der Grafenburg entfernt lag. Zwei der Frauen waren noch jung; dennoch hatten sie ihren bäuerlichen Ehemännern keine Kinder schenken können, und deshalb hatten sie ein altes Kräuterweib, das in der Nähe der dörflichen Ansiedlung einsam im Wald hauste, um Hilfe gebeten.
Dies hatten die beiden Dorffrauen und ebenso die betagte Einsiedlerin in der vergangenen Woche vor dem Württembergischen Gerichtsherrn, Sigunas Vater, ausgesagt. Und weiter hatte die Kräuterfrau zugegeben, dass sie bereit gewesen war, den Bäuerinnen zu helfen. Zunächst hatte sie den jungen Frauen bestimmte Pflanzenabsude gegeben, damit sie schwanger werden sollten. Diese Tränke freilich waren über Monate hinweg wirkungslos geblieben, und daher hatte die Alte den Dorffrauen zuletzt vorgeschlagen, es auf andere und mächtigere Art zu versuchen.
Was dann geschehen war, hatten die drei Frauen nur noch widerwillig gestanden, und mehrere Male hatte der Graf ihnen sogar mit der Folter drohen müssen, um die Einzelheiten aus ihnen herauszubekommen. Schließlich aber hatte Graf Heinrich in allen Details vernommen, wie das Kräuterweib und die jungen Frauen weiter vorgegangen waren. Zusammen mit den Bäuerinnen hatte die Einsiedlerin in einer Vollmondnacht ein Steinmal tief in den Wäldern aufgesucht, das seit der Zeit, da das Christentum ins Württemberger Land gekommen war, als verflucht galt.
Es handelte sich um eine ovale Felsplatte, die auf drei Tragsteinen ruhte. Auf ihrer Oberfläche waren neun Schüsselchen eingegraben; auch hatte einst ein christlicher Priester ein Kreuz in den Fels gemeißelt, um das Teuflische, das in seinen Augen mit dem uralten Steintisch verbunden war, zu bannen. Doch das Kreuzzeichen war längst wieder verwittert und kaum noch sichtbar; die Opferschüsselchen hingegen waren nach wie vor vorhanden – und unter dem leuchtenden Vollmond hatten die drei Frauen in den neun Mulden ihre Gaben dargebracht: Häufchen von Korn, Stücke von Honigwaben und rote Blütenblätter von Mohnblumen.
Nachdem sie das Opferritual zelebriert hatten, waren die Kräuterfrau und die Bäuerinnen neunmal in Richtung des Sonnenlaufes um den Steintisch geschritten; anschließend hatte die Einsiedlerin den beiden jungen Frauen befohlen, sich ihrer Kleider zu entledigen. Als dies geschehen war, hatten sich die Bäuerinnen nackt auf die Felsplatte gelegt, und die Kräuterfrau war erneut im Kreis um das Steinmal gegangen und hatte bei jeder der wiederum neun Umschreitungen uralte magische Beschwörungen gesprochen. Zuletzt dann war die Alte ebenfalls auf den ovalen Stein geklettert und hatte den Bäuerinnen mit dem Finger ein Fruchtbarkeitszeichen in Form einer Odal-Rune auf den Leib gemalt; dies war mit Hilfe von eingedicktem rötlichen Pflanzensaft geschehen, den die Einsiedlerin in einem Lederbeutelchen mitgebracht hatte.
Damit war das Ritual beendet gewesen; die jungen Frauen hatten sich wieder angekleidet und hatten sich sodann zusammen mit dem Kräuterweib auf den Heimweg gemacht. Dabei freilich war den Bäuerinnen und der Alten nicht bewusst gewesen, dass sie bei ihrem Tun am Felstisch beobachtet worden waren – und zwar vom Priester des Dorfes, aus dem die beiden jungen Frauen stammten. Der Geistliche nämlich hatte mitbekommen, wie die Bäuerinnen bei Einbruch der Nacht die Ansiedlung verlassen hatten. Da er die Frauen ohnehin schon verdächtigt hatte, Satanswerk mit der unchristlichen Einsiedlerin zu treiben, die sich noch nie in der Kirche gezeigt hatte, war er den Bäuerinnen heimlich zur Hütte der Alten und den drei Frauen danach weiter zum Steinmal gefolgt und war anschließend, wenn auch aus einiger Distanz, Zeuge des Rituals geworden.
Dies aber war den Frauen zum grausamen Verhängnis ausgeschlagen, denn gleich bei Sonnenaufgang des nächsten Tages war der Dorfpriester auf seinem Maultier zur Grafenburg geritten und hatte die Bäuerinnen und das Kräuterweib dort der Hexerei und der Teufelsbuhlschaft beschuldigt. Schon wenige Stunden später hatten Büttel des Grafen von Württemberg die Frauen in Fesseln geschlagen und sie auf einem vergitterten Pferdefuhrwerk zur gräflichen Festung gebracht. Dort waren die Unglücklichen eingekerkert und bereits eine Woche danach vor Gericht gestellt worden.
Zunächst hatte der Priester seine hasserfüllte Anklage vorgebracht; anschließend waren die drei Frauen zu Wort gekommen und hatten letztlich bestätigt, was der Dorfpriester über das Ritual im Wald ausgesagt hatte. Siguna, die von ihrem Mitleid mit den Beschuldigten in den Gerichtsraum getrieben worden war, hatte gehofft, dass die Beteuerungen der Frauen, sie hätten doch nichts Böses gewollt und sich lediglich junges Leben in ihrer Dorfgemarkung gewünscht, den Gerichtsherrn, ihren Vater, milde stimmen würden. Aber das war nicht der Fall gewesen; Graf Heinrich hatte sich vom fanatischen Hass des Dorfpriesters auf die drei Frauen anstecken und aufhetzen lassen – und am Ende hatte er das fürchterliche Urteil gesprochen, das nun an diesem Tag zur Mittagsstunde vollstreckt werden sollte.
Als ihr bewusst wurde, wie wenig Zeit bis dahin noch blieb, krampfte sich Sigunas Magen zusammen. Im nächsten Moment dachte sie daran, wie sie ihren Vater nach dem barbarischen Urteilsspruch angefleht hatte, doch um Himmels willen Milde zu zeigen und die Delinquentinnen zu begnadigen oder sie wenigstens mit einer leichteren Strafe davonkommen zu lassen. „Die Frauen haben doch wirklich nichts getan, womit sie den schrecklichen Tod verdient hätten!“, hatte sie ihrem Vater vorgehalten. „Und früher wäre es dir bestimmt nicht eingefallen, dem vom Teufelswahn besessenen und vom Hass getriebenen Pfaffen nachzugeben. Doch seit vor vier Jahren Mutter verstarb und du zum Witwer wurdest, bist du so furchtbar hart und menschenfeindlich geworden. Ganz so, als ob du die Welt für den Verlust bestrafen wolltest, den du erlitten hast. Aber bedenke doch bitte, dass deine Härte und deine Herzlosigkeit dir selbst schaden – und ebenso deinen Kindern: mir und Walter, meinem noch unmündigen Bruder.“
Aber Sigunas Vater hatte sich nicht erweichen lassen; wütend, fast schreiend, hatte er seiner Tochter zu verstehen gegeben, dass er der Herr der Grafschaft sei und es niemand wagen dürfe, seine Entscheidungen anzuzweifeln. Danach hatte er Siguna barsch aus dem Gemach gewiesen; gestern dann hatte er den Scharfrichter zu sich befohlen, um ihn wegen der Hinrichtung zu instruieren – und jetzt sah die Achtzehnjährige, als sie durchs Erkerfenster in den von einer starken Ringmauer umgebenen Burghof hinabschaute, wie sich der Henker und seine Knechte dort unten mit einigen Waffenknechten besprachen.
Gleich darauf schritten der Scharfrichter und die übrigen Männer in Richtung des Torturmes, der im Westen über den Mauerring emporragte. Siguna sah, wie die Schar im Torbau verschwand; kurz darauf tauchten der Henker und seine Begleiter wieder auf dem Anger vor der Feste auf: dem flachen, schütter bewachsenen Areal, wo bereits der für die drei Frauen bestimmte Scheiterhaufen errichtet worden war.
Die Grafentochter floh ans andere Ende ihres Gemachs, warf sich dort aufs Bett und begann hilflos zu schluchzen. Lange konnte sie sich nicht beruhigen; am Firmament über der Burg stieg die Sonne höher und höher, irgendwann hörte die Achtzehnjährige schwere Schritte, die sich draußen auf dem Gang näherten.
Gleich darauf wurde die Eichentür des Raumes geöffnet; Siguna fuhr hoch und erblickte ihren Vater, der eine schwarze Robe mit blutrotem Gürtel trug. Sein kantig geschnittenes Gesicht mit den dichten dunklen Augenbrauen war unnatürlich gerötet, als hätte er getrunken; seine Rechte umklammerte die Schulter von Sigunas zwölfjährigem Bruder Walter, der unter dem harten Griff zu leiden schien.
Mit zusammengepressten Lippen musterte Heinrich von Württemberg seine Tochter; dann herrschte er sie an: „Was hockst du da auf den Bettpolstern?! Es ist Zeit für das Blutgericht! Also komm!“
In einer verzweifelten Aufwallung wollte Siguna sich weigern; mit dem nächsten Atemzug aber wurde ihr klar, dass ihr Vater sie notfalls zum Gehorsam zwingen würde. Daher erhob sie sich stumm, ging langsam zur Tür – und vernahm einen erstickten, hilflos wirkenden Laut, der aus der Kehle ihres halbwüchsigen Bruders drang.
„Sei kein Rabenvater! Erspare das Grausame wenigstens deinem unmündigen Sohn!“, stieß die Achtzehnjährige hervor. „Walter ist doch noch zu jung, um …“
„Kusch!“, schnitt ihr Graf Heinrich rüde das Wort ab. „Dein Bruder kann nicht früh genug lernen, wie man mit verbrecherischen Untertanen umspringt! Und jetzt los! Zier dich nicht länger, du Jammersuse!“
Wenig später ließ sich der Württemberger Graf mit hoch erhobenem Haupt und strenger Miene auf dem Thronsessel nieder, der für ihn auf dem Festungsanger aufgestellt worden war. Siguna und Walter, der nun die Hand seiner Schwester umkrampfte, standen seitlich ihres Vaters; gegenüber der Adelsfamilie, ungefähr fünfundzwanzig Schritte entfernt, erhob sich der Scheiterhaufen, aus dem oben ein starker Holzpfahl herausragte. Direkt vor dem mächtigen Holzstoß hatten der Henker und seine Gehilfen eine Bretterplattform errichtet, und dorthin wurden jetzt von etlichen gräflichen Kriegsknechten die drei zum Tod verurteilten Frauen gezerrt.
Als der Scharfrichter und dessen Helfer zunächst die Einsiedlerin auf den Bretterboden niederzogen und die alte Frau, die sich angstvoll wehrte, anzuketten begannen, wurden unter den Burgleuten und den Hörigen aus den umliegenden Dörfern, die sich zu Hunderten an den Rändern des Angers drängten, blutgierige Rufe laut: „Schindet die Hexen, bis ihnen der Teufel aus den Mäulern herausfährt!“ – „Lasst die Luder den Lohn fürs Ficken mit dem Satan spüren!“ – „Glühende Eisenstangen sollte man ihnen in die Fotzen treiben!“ – „Den einzig wahren christlichen Glauben haben sie verraten, die verfluchten Heidinnen! Jetzt müssen sie ihre verdiente Strafe kriegen!“
Das hasserfüllte Geschrei hielt an, während auch die beiden Bäuerinnen auf die Bretter der Plattform niedergezwungen und festgekettet wurden. Zuletzt dann, als alle drei Frauen hilflos dalagen, gebot der Graf mit einer herrischen Geste Schweigen und wiederholte das Urteil, das er eine Woche zuvor im Gerichtsraum gesprochen hatte: „Weil diese von Gott verfluchten Weiber im tiefen Wald an einer unheiligen Stätte Teufelszauber getrieben haben, sollen sie unter scharfem Eisen büßen und danach in hoher Feuerlohe zur Hölle fahren!“
Begeistert johlte die Menge auf; einzig Siguna und ihr halbwüchsiger Bruder blieben stumm – dann sahen sie, wie sich der Henker von einem seiner Knechte ein schweres Haumesser reichen ließ. Zugleich näherte sich der Dorfpfarrer, der die Frauen denunziert hatte, der Bretterplattform. Unter bösem, sadistischem Feixen forderte er den Scharfrichter auf: „Bring die Hexenweiber zum Heulen und Zähneknirschen, so wie es die Bibel befiehlt!“ – und im nächsten Moment beugte sich der ebenfalls verworfen grinsende Henker vor und ließ die halbmeterlange Klinge auf die Einsiedlerin niedersausen.
Das Haumesser trennte der alten Frau den linken Fuß ab; erstickt schrie Siguna auf, packte ihren Bruder und presste ihm die Hand über die Augen. Gleich darauf hieb der Henker seinem sich panisch windenden Opfer den rechten Fuß vom Unterschenkel; dann, während aus den Beinwunden pulsende Blutfäden spritzten, raubte er der Kräuterfrau auch die Hände.
„Deus lo volt! – Gott will es!“, brüllte der Priester; die Burgleute und Dörfler tobten in widermenschlicher Lust. Der Graf hatte gleich einer blutgierigen Bestie die Zähne gefletscht; jetzt fing er einen fragenden Blick des Scharfrichters auf – und gab diesem durch einen befehlenden Wink zu verstehen, dass er weitermachen sollte.
Brutal trat der Henker mit dem Fuß gegen den Unterleib der Einsiedlerin, doch sie reagierte kaum; war unter dem Ansturm der Schmerzen und aufgrund des Blutverlustes in Ohnmacht gefallen. Verächtlich spuckte der Scharfrichter auf sie; sodann wandte er sich den beiden Bäuerinnen zu, die sich in wilder kreatürlicher Furcht gegen ihre Ketten aufbäumten.
Kurz darauf hatte der Henker auch die jungen Frauen an Armen und Beinen verstümmelt, und nach der fürchterlichen Tortur lagen sie ebenfalls mehr oder weniger besinnungslos auf den blutbesudelten Brettern der Plattform. Dann jedoch, als die Knechte des Scharfrichters mit Peitschen auf die Delinquentinnen einschlugen, kamen sie alle drei wieder zu sich und begannen vor Pein zu schreien.
Siguna, die nach wie vor ihren Bruder festhielt und sich bemühte, ihm den Blick auf das Grässliche zu verwehren, war nun von unsagbarer Abscheu und tiefstem Entsetzen erfüllt. Sie wollte wegrennen, wollte den zwölfjährigen Walter mit sich zerren, wollte sich irgendwo verkriechen – aber letztlich schaffte sie es nicht, sondern musste weiter mit ansehen, was ihr Vater durch seinen erbarmungslosen Urteilsspruch bewirkt hatte.
Unter heftigem Schluchzen wurde die Grafentochter Zeugin, wie der Henker und seine Gehilfen die Kräuterfrau und die Bäuerinnen losketteten und ihre Opfer danach mit Hilfe einiger Waffenknechte zum Scheiterhaufen schleppten. Eine nach der anderen wurden die Delinquentinnen, aus deren Arm- und Beinstümpfen noch immer Blut rieselte, auf den Holzstoß gehievt und oben erneut angekettet; diesmal an dem Pfahl, der aus der Mitte des Scheiterhaufens emporragte.
Dann, als die Frauen hilflos in ihren Fesseln hingen, zogen sich die Reisigen und die Gehilfen des Scharfrichters ein Stück weit vom Holzstoß zurück. Einzig der Henker blieb beim Scheiterhaufen stehen, und sein Blick richtete sich jetzt auf den Dorfpfaffen. Der hatte ganz offensichtlich schon darauf gewartet; er winkte dem Scharfrichter fast freudig zu, und gleich darauf brachte er dem Henker eine Fackel, die er bereits entzündet hatte. Der Scharfrichter ergriff die Pechkerze, und während der Pfaffe wie irrsinnig lachte und die Menge einmal mehr in frenetisches Johlen und Brüllen ausbrach, stieß der Henker die Fackel in das dürre Reisig am Fuß des Holzstoßes.
Beinahe augenblicklich schoss die Lohe empor; wenig später stand der aus zundertrockenem Holz aufgeschichtete Scheiterhaufen in vollen Flammen – und in der furchtbaren Feuersbrunst wanden sich die drei Frauen und schrien ihre unsäglichen Qualen heraus, bis sie im Sterben verstummten und danach zu schwarzen Bündeln verbrannten, die kaum noch etwas Menschenähnliches an sich hatten.
Erst als das Feuer in sich zusammengefallen war, erlaubte der Graf von Württemberg seiner Tochter und seinem noch minderjährigen Sohn, den Anger zu verlassen. Die beiden flüchteten in Sigunas Gemach; dort hielt die Grafentochter ihren zutiefst verstörten Bruder lange in den Armen und dachte dabei wieder und wieder: Nach allem, was heute passiert ist, kann ich meinen Vater nur noch hassen!
Wieder saß Heinrich von Württemberg auf einem Thronsessel; diesmal stand der schwere, mit reichem Schnitzwerk verzierte Eichenstuhl auf einer breiten Tribüne am Nordrand des Turnierplatzes der Donaustadt Regensburg. Auch für Siguna hatte der Rat der mächtigen bayerischen Handelsmetropole einen hübschen, mit kostbarem Stoff gepolsterten Sessel aufstellen lassen, und so konnte die Grafentochter aus nächster Nähe beobachten, wie die Edelfreien, die teils von weither zum Buhurt angereist waren, ihrem Vater die Ehre erwiesen.
Um seine Macht und seine Bedeutung zu demonstrieren, hatte der Württemberger Graf bereits im Frühsommer zum ritterlichen Turnier nach Regensburg geladen. Jetzt, am Morgen des ersten Septembertages, hatten sich um die achtzig kampflustige junge Adlige auf dem Haidplatz im Nordwesten der ummauerten Stadt versammelt, und soeben paradierten sie hoch zu Ross und jeweils zwei, drei Pferdelängen Abstand voneinander haltend an dem protzig herausgeputzten Grafen, dessen Tochter und den hinter ihnen sitzenden Regensburger Patriziern vorüber.
Siguna, deren blaues Gewand höchst vorteilhaft mit ihrem kastanienfarbenen Haar kontrastierte, genoss den Anblick der bereits zum Kampf gerüsteten Reiter. Sie sah Kämpen, die teure Kettenhemden und schön gearbeitete Nasalhelme trugen; die Schutzwehr anderer, ärmerer Ritter bestand aus Lederpanzern, die mit Metallplättchen verstärkt waren, und schlichteren Eisenhelmen. An Waffen führten die Kämpfer Schwerter und Streithämmer; die Klingen der Turnierschwerter waren allerdings stumpf, und dasselbe galt für die Dornen der Kriegshämmer. Was die Pferde betraf, so saßen die reicheren Edelfreien in den Sätteln schwerer und großer Rösser, während die weniger Betuchten leichtere und kleinere Tiere ritten. Allen Kämpen aber leuchtete die verwegene Lust auf den Buhurt aus den Augen, und sie schienen es gar nicht erwarten zu können, ihren Mut und ihre Geschicklichkeit im Massenkampf unter Beweis stellen zu dürfen.
Bis es soweit war, verging allerdings noch geraume Zeit, denn jeder der Edelfreien hielt sein Pferd vor den beiden Thronsesseln an, um den Grafen von Württemberg und dessen anmutige Tochter zu grüßen. Wieder und wieder nickte Graf Heinrich gnädig, manchmal wechselte er auch ein paar Worte mit dem einen oder anderen Turnierkämpfer. Siguna wiederum schenkte den Kämpen ein Lächeln und winkte ihnen zu, doch nach dem vierzigsten oder fünfzigsten Ritter fing sie an, sich zu langweilen und wünschte sich, dass die Parade ein Ende nehmen und der Buhurt beginnen sollte.
Dann jedoch war ihr leichter Überdruss plötzlich wie weggeblasen. Denn nun näherte sich ein Reiter in schimmerndem Kettenpanzer, bei dessen Anblick das Herz der Grafentochter unwillkürlich schneller zu schlagen begann. Der vielleicht fünfundzwanzigjährige Edelfreie war hochgewachsen und ungewöhnlich gutaussehend; sein Antlitz war markant geschnitten; seine Augen – graugrün, wie es Siguna schien – drückten starken Willen, aber auch Wärme aus. Den Helm hatte der junge Ritter am Sattelhorn hängen, weshalb sein schulterlanges rotblondes Lockenhaar leicht im Wind wehte, und als der Edelfreie seinen prachtvollen Rapphengst jetzt vor der Tribüne zum Stehen brachte, musste die Grafentochter die Leichtigkeit bewundern, mit der er das mächtige Streitross bemeisterte.
Gleich darauf, weil sein Blick den ihren traf, errötete Siguna heftig; es war ihr, als wäre bei dem Augenkontakt etwas in ihr Inneres gedrungen, das sie in ihrem tiefsten Wesen berührte. Sie fühlte sich verwirrt, fast verstört; zugleich empfand sie eine Art berauschender, nie zuvor gekannter Freude – und auch der Rotblonde wirkte plötzlich verändert; wie erstarrt saß er im Kampfsattel des Rappen und konnte die Augen nicht von der Achtzehnjährigen lösen.
Graf Heinrich bemerkte von alldem nichts; zwei Rösser, die ein Stück entfernt gegeneinander auskeilten, lenkten ihn ab. Doch dann, als Siguna mit jagendem Puls überlegte, ob sie es wagen könnte, den jungen Edelfreien anzusprechen, wandte sich ihr Vater dem Ritter zu und sagte: „Einen großartigen Hengst habt Ihr unter dem Sattel! Aus welcher Zucht stammt er denn?“
„Aus jener … der Herren von Ortenburg“, antwortete der Rotblonde, wobei er offensichtlich Mühe hatte, seine Aufmerksamkeit ganz auf den Württemberger zu richten.
„Dann seid Ihr also ein Angehöriger dieses Geschlechts, dessen Ländereien an die Latifundien des Hochstiftes Passau grenzen?“, wollte der Graf nunmehr wissen.
Der Edelfreie schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin weder verwandt noch verschwägert“ – kurz zuckte sein Blick zu Siguna – „mit den Ortenburgern. Bin vielmehr nach dem frühen Tod meiner Eltern und als ihr einziger Nachkomme der Burgherr von Mühlberg. Einer Herrschaft, die einen Tagesritt westlich von Ortenburg liegt …“ Er deutete auf seinen nach unten hin spitz zulaufenden Schild, der an der Flanke des Rapphengstes hing. „Hier seht Ihr mein Wappenbild: neun schwarze Ballen auf goldenem Grund.“
„Mühlberg … wohl eher ein bescheidenes Rittergut“, versetzte Heinrich von Württemberg. „Doch wenn Ihr Euch heute beim Buhurt tapfer schlagt und womöglich sogar als Bester aus den Kämpfen hervorgeht, könnt Ihr den Siegespreis einsacken, sodass ihr reicher als zuvor auf Eure Burg heimkehren werdet.“
„Euer Wort in Gottes Ohr“, schmunzelte der Edelfreie; mit dem nächsten Lidschlag zog er den Hengst ein Stück in Sigunas Richtung herum und fragte: „Der Turniersieger soll den Preis aus Eurer Hand erhalten, nicht wahr?“
Stumm, nach wie vor verwirrt, nickte die junge Frau – dann nahm sie all ihren Mut zusammen und sagte: „Der Herr von Mühlberg seid Ihr. Das wissen wir jetzt … Aber wie lautet denn Euer Taufname?“
„Jörg“, erwiderte der Ritter; in weichem Tonfall fügte er hinzu: „Und wie heißt Ihr?“
Siguna nannte ihm ihren Namen; er wiederholte ihn leise, und für einen Moment schien etwas wie tiefe Sehnsucht nach näherem Kennenlernen zwischen der Grafentochter und dem Edelfreien zu schwingen.
Ehe sich die beiden aber weiter austauschen konnten, mischte sich Sigunas Vater ein: „Genug getändelt, Mühlberg. Ab mit Euch jetzt. Es sind noch eine Menge anderer Ritter da, die mir ihre Aufwartung machen möchten.“
Es sah so aus, als wollte Jörg von Mühlberg zu einer Erwiderung ansetzen; letztlich jedoch besann er sich und nahm die Zügel auf, um wieder anzureiten. Und dann, im selben Augenblick, da sich der Rappe in Bewegung setzte, hörte der junge Edelfreie noch einmal die Stimme der Grafentochter: „Ich wünsche Euch von ganzem Herzen den Turniersieg … Jörg.“
Nachdem der Mühlberger Burgherr außer Sicht gekommen war, nahm Siguna kaum noch Notiz von den Reitern, die an der Tribüne vorbeiparadierten. Die meiste Zeit saß sie wie traumverloren da; zwischendurch schaute sie suchend über den weiten Haidplatz hin, aber sie vermochte den Rotblonden nirgendwo auszumachen. Erst als der letzte Turnierteilnehmer davongetrabt war, schreckte die Grafentochter jäh aus ihrer inneren Versunkenheit auf – schuld daran waren schmetternde Trompetenstöße, die in ihrem Rücken erschallten.
„Es geht los!“, rief der Graf seiner Tochter zu. „Die Signalbläser fordern die Turnierkämpfer auf, die beiden Streitscharen zu bilden. Und sobald die …“
Die Stimme Heinrichs von Württemberg wurde von lautem Jubelgeschrei übertönt, das unter den Tausenden Zuschauern auf brandete, die sich im Osten, Süden und Westen um das Turnierfeld drängten. Lediglich am Nordrand des Platzes, wo sich die Tribüne erhob, hatten die Regensburger Stadtknechte dafür gesorgt, dass der Graf, dessen Tochter und die Patrizier für sich bleiben konnten – und daher war es den Hochgestellten nun möglich, das Geschehen auf dem Haidplatz unter besten Voraussetzungen zu verfolgen.
Siguna sah, wie die rund achtzig Ritter ihre Pferde auf das Kampfareal im Zentrum des Haidplatzes lenkten; auf das Turnierfeld, das mit einer Sandschicht bedeckt und bis auf den Durchlass, den die Rösser passierten, von Balkenschranken umgeben war. Kurz vermeinte die Grafentochter, den Mühlberger Edelfreien ausmachen zu können; gleich darauf aber verlor sie ihn wieder aus den Augen, weil sich die Kämpen jetzt unter einiger Konfusion zu zwei großen, gleichstarken Streithaufen zu formieren begannen. Eine Weile später nahmen diese Reiterpulks einander gegenüber am östlichen und westlichen Saum des Kampfplatzes Aufstellung – dann, nachdem die Trompeten abermals erklungen waren, preschten die beiden Streitscharen in vollem Galopp los.
In der Mitte des Turnierfeldes erfolgte der Zusammenprall der Pulks; als sie den schmetternden, ungeheuerlichen Schlag und unmittelbar darauf das Krachen von Metall auf Metall vernahm, erbleichte Siguna. Sie verspürte kreatürliche Angst um den Rotblonden von der Burg Mühlberg; sie fürchtete, ein Schwert- oder Streithammerhieb könnte ihn verwundet oder gar getötet haben. Nur mit Mühe gelang es ihr, den panischen Anfall zu überwinden; selbst als sie es geschafft und sich klargemacht hatte, dass der Kampf ja mit stumpfen Waffen ausgetragen wurde, musste sie sich dennoch beinahe zwingen, den Buhurt weiter zu verfolgen.
Nachdem sich die beiden Scharen der Panzerreiter ineinander verbissen hatten, maßen die Ritter ihre Kräfte und ihre kriegerische Geschicklichkeit in Einzelkämpfen Mann gegen Mann. Die Zugehörigkeit zu der einen oder anderen Reiterformation, die bei der Massenattacke über das Turnierfeld noch gegolten hatte, zählte jetzt nicht mehr. Vielmehr war nun jeder Kämpe auf sich allein gestellt und hatte nur ein einziges Ziel: sich im Chaos des Buhurts im Sattel zu behaupten und zugleich möglichst viele Gegner kampfunfähig zu machen oder sie dazu zu zwingen, den Kampfplatz zu räumen.
So kam es, dass bald zahlreiche Ritter halb oder völlig besinnungslos im Sand lagen und von ihren Knechten, die vom Rand des Turnierfeldes herbeigerannt waren, weggeschleppt werden mussten, wobei auch diese Helfer so manchen derben Schlag oder Stoß einzustecken hatten. Andere Kämpen, die im Getümmel des wilden Streits lediglich den Halt auf dem Pferderücken verloren hatten und zu Boden gestürzt waren, verließen das Kampfareal aus eigener Kraft; sie waren verpflichtet, so zu handeln, weil es die Regeln des Buhurts verlangten.
Nach einiger Zeit hatte sich die Zahl der Kämpfer drastisch verringert; nur ungefähr ein Drittel der Ritter behauptete sich noch auf dem Feld. Umso heftiger aber tobten nun die Zweikämpfe, denn einzig die härtesten Streiter waren jetzt noch übriggeblieben. Unter ihnen befand sich auch Jörg von Mühlberg, wie Siguna nunmehr erkannte. In einer heißen Aufwallung rief sie seinen Namen; im nächsten Moment sah sie, wie der hochgewachsene Edelfreie einem Gegner den Schild zerhieb und ihn gleich darauf mit einem mächtigen Schwerthieb gegen den Helm aus dem Sattel räumte.
Betäubt blieb der von Jörg überwundene Kämpe auf der Erde liegen; sein Ross galoppierte wild kapriolend davon, und ein Knappe des Besiegten bemühte sich, das verschreckte Tier einzufangen. Jörg von Mühlberg wiederum ließ seinen Rapphengst steigen; sodann preschte er auf einen Ritter zu, der herausfordernd den Kriegshammer in seine Richtung schwang – und abermals erklang aus Sigunas Mund der Name des Rotblonden.
In der Folge wurde die Grafentochter Zeugin, wie der Mühlberger mit äußerster Tapferkeit weitere Gegner überwand; schließlich befanden sich bloß noch der Rotblonde und vier andere Kämpfer auf dem Turnierfeld. Und dann, während etliche Knechte ein Rudel lediger Pferde einfingen und sich anschickten, sie wegzubringen, geriet der Mühlberger plötzlich in eine scheinbar ausweglose Situation. Die vier Kämpen nämlich, die außer ihm noch übriggeblieben waren, verständigten sich untereinander durch ein paar heisere Zurufe – und im nächsten Augenblick gingen sie gemeinsam zum Angriff auf den Rotblonden über.
Im schnellen Anreiten teilten sie sich auf; offenbar wollten sie den Mühlberger von zwei Seiten her in die Zange nehmen. Dies freilich glückte ihnen nicht, weil Jörg, blitzschnell auf die Gefahr reagierend, seinen Rapphengst jetzt ebenfalls zum vollen Lauf antrieb. In gestrecktem Galopp jagte er den Feinden entgegen; es sah so aus, als wollte er den direkten Zusammenprall mit den beiden Gepanzerten suchen, die ihn von rechts her bedrohten – doch im letzten Moment riss er den Rappen scharf herum, sprengte auf jene Kämpfer zu, die von links her attackierten, preschte haarscharf an dem vorderen Ritter vorbei und traf dessen vom Kettenhemd bedeckte Brust so hart mit der Klinge, dass der Mann hintenüber vom Ross flog.
Unmittelbar darauf fällte der Mühlberger auch den Kumpan des Gestürzten, indem er ihm das Schwert gegen die eiserne Nasenschiene des Helms hämmerte – und wiederum einen Augenblick später zwang er seinen Hengst zu einer weiteren halsbrecherischen Wendung und griff die beiden anderen Kämpen an, die sich soeben bemühten, ihre Pferde ebenfalls herumzubringen.
Weil eines der Rösser dabei störrisch wurde, hatte Jörg mit dessen Reiter leichtes Spiel. Der Rotblonde stieß zunächst einen gellenden Schrei aus, welcher das scheuende Tier noch mehr verstörte, wodurch der gegnerische Ritter die Kontrolle über das Pferd verlor – dann schlug der Mühlberger mit seiner schweren Klinge zu, und der Hieb, der den Sattelbug des Panzerreiters traf, war so heftig, dass das Ross auf der Vorderhand niederbrach und seinen Reiter abwarf.
Damit hatte es Jörg nur mehr mit einem Gegner zu tun: einem grobschlächtigen Kerl, der einen schwarzen, mit Bronzeplatten besetzten Lederpanzer und einen schon arg zerhauenen Rundschild trug. Bewaffnet war er mit einem Kriegshammer, und den schleuderte er jetzt auf den Rotblonden, der noch drei, vier Pferdelängen von ihm entfernt war.
Der Mühlberger riss seinen Spitzschild hoch; er hoffte, den heranwirbelnden Streithammer damit abfangen zu können, doch da stolperte der Rapphengst auf dem vom Massenkampf tief aufgewühlten Boden des Turnierfeldes. Jörg musste fest in die Zügel greifen, um den Hengst wieder auf den Hufschlag zu bringen; dadurch aber gab er sich eine Blöße mit der Schildwehr – und einen Lidschlag später streifte der Kriegshammer den oberen Rand seines Schildes, prallte seitlich ab und traf den Rotblonden an der rechten Schulter.
Der Aufprall war so hart, dass Jörg im Sattel wankte; der Schmerz, der durch sein Schultergelenk schoss, lähmte kurzfristig seinen Schwertarm. Der Grobschlächtige wiederum brüllte seine Freude über den gelungenen Wurf heraus; im nächsten Moment war er an der Flanke des Mühlbergers und drosch mit der Kante seines Rundschildes auf den Rotblonden ein. Während die Rösser jetzt mit verschreckt angelegten Ohren an Ort und Stelle stampften, musste Jörg mehrere schwere Schläge einstecken; zur Gegenwehr war er kaum fähig, weil er seinen rechten Arm nur noch eingeschränkt bewegen konnte. Der andere Ritter hingegen hieb nun mit äußerster Kraft zu, und schon sah es so aus, als könnte der Mühlberger jeden Augenblick besiegt vom Pferderücken stürzen.
Dann aber – nach einem blitzschnellen Blick Jörgs zur Tribüne im Norden des Haidplatzes – wendete sich das Blatt. Urplötzlich gewann der Rotblonde seine volle Kampffähigkeit zurück, und er setzte sie meisterlich ein. Mittels einer raschen Finte mit dem Schwert irritierte er seinen Gegner; unmittelbar darauf ließ er den Rapphengst steigen, täuschte den Grobschlächtigen neuerlich mit der Klinge und ließ einen Herzschlag später seinen hochkant gehaltenen Spitzschild auf das Helmdach seines Widersachers krachen. Der Hieb war so gewaltig, dass der Grobschlächtige auf den Pferdehals niedergeworfen wurde; sofort attackierte Jörg erneut, schlug nun zwei-, dreimal mit dem schweren Schwert auf den Gegner ein und stieß ihn zuletzt mit einem Fußtritt aus dem Sattel – womit der finale Kampf des Buhurts entschieden war.
Die Regensburger, die sich zu Tausenden außerhalb der Schranken des Turnierfeldes drängten, brachen in ohrenbetäubenden Jubel aus. Der junge, hochgewachsene Edelfreie, der über alle seine Gegner triumphiert hatte, war ihnen im Verlauf des Ritterturniers wegen seines Mutes und seiner Waffenkunst mehr und mehr ans Herz gewachsen, und jetzt feierten sie ihn frenetisch als den Sieger des Buhurts. Wieder und wieder riefen sie seinen Namen, winkten ihm begeistert zu, ließen ihn freudig hochleben. Und Jörg von Mühlberg dankte es ihnen, indem er dreimal rund um das Turnierfeld trabte und die Bürger der Donaustadt mit erhobener Klinge grüßte.
Nach dem dritten Umritt sodann verließ er den Kampfplatz und lenkte seinen Rapphengst zu der Tribüne, auf welcher der Graf von Württemberg, dessen Tochter Siguna und die Patrizier saßen. Als Jörg das Ross vor ihnen zügelte, trat ein Ratsknecht neben ihn hin und bot ihm einen mit Wein gefüllten Silberbecher dar; nachdem der Rotblonde den Pokal an sich genommen hatte, rief ihm der Sprecher der Ratsherren zu: „Leert diesen Becher mit edlem Rheinwein bis zur Nagelprobe, denn das habt Ihr Euch als Sieger des heutigen Turniers wahrhaftig verdient. Und wenn Ihr Euren Durst gestillt habt, wird Euch die schöne Grafentochter Siguna Euren wohlverdienten Ehrenpreis überreichen.“