Personzentrierte Beratung & Therapie; Band 16 Herausgegeben von der Gesellschaft für Personzentrierte Psychotherapie und Beratung e.V., Köln
Dr. med. Jobst Finke, Essen, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie für Neurologie-Psychiatrie, ist in eigener Praxis, Supervision und als Ausbilder u. a. für Gesprächspsychotherapie (GwG, ÄGG) tätig. Vom Autor außerdem im Reinhardt Verlag lieferbar: „Träume, Märchen, Imaginationen. Personzentrierte Psychotherapie und Beratung mit Bildern und Symbolen“ (1. Aufl. 2013; ISBN 978-3-497-02371-4).
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ISBN 978-3-497-02896-2 (Print)
ISBN 978-3-497-61277-2 (PDF-E-Book)
ISBN 978-3-497-61287-1 (EPUB)
ISSN 1860-5486
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Inhalt
1Zu den ideengeschichtlichen Voraussetzungen der Personzentrierten Psychotherapie
1.1Intuition und Vielfalt gegen rationales Planen und klassifizierendes Ordnen
1.2Das Menschenbild
1.2.1Der „Organismus“ und die „Aktualisierungstendenz“
1.2.2Die „fully functioning person“
2Die personzentrierte Persönlichkeits- und Störungstheorie
2.1Die Inkongruenz und ihre Folgen
2.1.1Das organismische Erleben und seine Symbolisierung
2.1.2Gefühle und Bedürfnisse als Aspekte des organismischen Erlebens
2.2Das Selbstkonzept und das Beziehungskonzept
2.2.1Die verschiedenen Aspekte des Selbstkonzeptes
2.2.2Das Beziehungskonzept
2.2.3Die Bindungstheorie
3Die Kernmerkmale in der Personzentrierten Psychotherapie
3.1Kernmerkmal Bedingungsfreie positive Beachtung
3.1.1Die Schwierigkeiten des Bedingungsfreien positiven Beachtens
3.1.2Die Funktionen des Bedingungsfreien positiven Beachtens
3.2Kernmerkmal Einfühlendes Verstehen
3.2.1Charakteristika des Einfühlenden Verstehens
3.2.2Das Vorverständnis des Einfühlenden Verstehens
3.2.3Das Verstehen des Unverständlichen
3.2.4Die Funktionen des Einfühlenden Verstehens
3.3Kernmerkmal Kongruenz/Echtheit
3.3.1Charakteristika von Kongruenz/Echtheit
3.3.2Funktionen von Kongruenz/Echtheit
4Die Beziehungskonzepte in der Personzentrierten Psychotherapie
4.1Die Alter-Ego-Beziehung
4.2Die Dialog-Beziehung
4.3Das Verhältnis von Beobachter- und Teilnehmer-Beziehung
5Das Problem des „Nicht-Direktiven“
5.1„Lenkung“ in der personzentrierten Gesprächsführung
5.2Die Verantwortlichkeit des Therapeuten/Beraters
5.3Die therapeutische Beeinflussung des Klienten
6Personzentrierte Praxis: Die therapiepraktische Vermittlung der Kernmerkmale
6.1„Therapietechnik“ gegen die Unmittelbarkeit der Begegnung?
6.2Die drei Ebenen: Kernmerkmale, Beziehungskonzepte, Handlungsmuster
6.3Einfühlen und Verstehen
6.3.1Formen und Stufen des Einfühlenden Verstehens
6.3.2Anwendungshinweise für das Einfühlende Verstehen
6.4Beziehungsklären
6.4.1Konzept-Beschreibung
6.4.2Anwendungspraxis
6.4.3Indikation und Funktion des Beziehungsklärens
6.4.4Die therapeutische Beziehung: Risiken und Chancen
6.5Selbstöffnen
6.5.1Konzept-Beschreibung und -Begründung
6.5.2Anwendungspraxis
6.5.3Indikation
6.5.4Risiken
6.6Abwehr-Bearbeitung
6.6.1Konzept-Beschreibung und -Begründung
6.6.2Formen der Widersprüchlichkeit und ihre Bearbeitung
7Weiter- und Parallelentwicklungen zur Personzentrierten Psychotherapie
7.1Focusing Von Hanke Deloch
7.1.1E. T. Gendlins Theorie der Persönlichkeitsentwicklung und therapeutischen Veränderung
7.1.2Focusing: Der Weg der Veränderung
7.1.3Focusing-orientierte Beratung und Therapie
7.1.4Beispiele aus Therapie-Gesprächen
7.1.5Weiterentwicklungen der Focusing-orientierten Psychotherapie
7.1.6Fazit
7.2Existenzielle Aspekte in der Personzentrierten Psychotherapie Von Gerhard Stumm
7.2.1Zur Entstehung von Inkongruenz aus existenzieller Sicht
7.2.2Praxisperspektiven
7.2.3Existenzielle Themen
7.2.4Zur Integration existenzieller Aspekte in die personzentrierte Praxis: ein Resümee
8Diagnostik, Indikation und Therapieziele
8.1Die Diagnose in der Personzentrierten Psychotherapie
8.1.1Das innere Bezugssystem und personzentrierte Diagnostik
8.1.2Formen und Funktionen der Diagnostik
8.1.3Kommunikation der Diagnose?
8.2Indikation im Kontext der Wirksamkeitserwartung
8.2.1Die Störungsform
8.2.2Befindlichkeit und Persönlichkeitsstile
8.2.3Ansprechbarkeit auf das Therapieangebot
8.3Therapieziele
9Personzentrierte Psychotherapie verschiedener Störungen
9.1Die störungsbezogene Perspektive
9.2Die Depression
9.2.1Erscheinungsbild und Entstehungsbedingungen
9.2.2Therapiepraxis
9.3Angststörungen
9.3.1Erscheinungsbild und Entstehungsbedingungen
9.3.2Therapiepraxis
9.3.3Besonderheiten des Störungsbildes und der therapeutischen Aufgabe
9.4Somatoforme Schmerz-Störung
9.4.1Erscheinungsbild und Entstehungsbedingungen
9.4.2Therapiepraxis
9.5Persönlichkeitsstörungen
9.5.1Borderline-Persönlichkeitsstörung
9.5.2Narzisstische Persönlichkeitsstörung
9.5.3Abhängige (asthenische) Persönlichkeitsstörung
9.5.4Paranoide Persönlichkeitsstörung
9.6Paranoide Schizophrenie
9.6.1Erscheinungsbild und Entstehungsbedingungen
9.6.2Therapiepraxis
9.7Alkoholabhängigkeit
9.7.1Erscheinungsbild und Entstehungsbedingungen
9.7.2Therapiepraxis
9.8Essstörungen: Bulimie
9.8.1Erscheinungsbild und Entstehungsbedingungen
9.8.2Therapiepraxis
10Gruppen-Psychotherapie
10.1Grundmerkmale von Gruppenpsychotherapie
10.1.1Historische Entwicklung
10.1.2Personzentrierte Beiträge zu Forschung und Therapie
10.1.3Therapie- versus Encounter-Gruppen
10.2Stellung der personzentrierten Gruppenpsychotherapie innerhalb zentraler Gruppentherapie-Konzepte
10.2.1Psychotherapie in der Gruppe
10.2.2Psychotherapie durch die Gruppe
10.2.3Psychotherapie der Gruppe
10.2.4Die Perspektive verschiedener Therapiephasen
10.3Therapiepraxis
10.3.1Thema: Der Protagonist
10.3.2Thema: Die Reaktion auf den Protagonisten
10.3.3Thema: Die Reaktion des Protagonisten auf die anderen
10.3.4Thema: Die Gruppe
10.4Indikation der Gruppen-Psychotherapie
10.5Gruppensetting: Ambulante und stationäre Gruppentherapie
11Paar- und Familientherapie
11.1Paartherapie
11.1.1Ziele und Indikation der Paartherapie
11.1.2Personzentrierte Beiträge zu Forschung und Therapie
11.1.3Paarkonzept und Beziehungskonzept
11.1.4Therapiepraxis
11.2Familientherapie
11.2.1Diagnostik und Indikation
11.2.2Personzentrierte Beiträge zur Konzeptbeschreibung
11.2.3Familienkonzept und Beziehungserleben
11.2.4Therapiepraxis
12Der Traum und das Traumverstehen
12.1Der Traum in der Personzentrierten Psychotherapie
12.1.1Personzentrierte Beiträge zur Arbeit mit Träumen
12.1.2Die Funktionen des Träumens
12.1.3Personzentrierte Verstehensmuster bei der Arbeit mit Träumen
12.2Therapiepraxis
12.2.1Die Imaginationsphase
12.2.2Die Reflexionsphase
13Personzentrierte Psychotherapie und Pharmakotherapie
13.1Anwendungsbereiche und Art der Psychopharmaka
13.2Kombinationstherapie: Pro und Kontra
13.3Psychopharmakotherapie und die therapeutische Beziehung
Literatur
Nachwort
Sachregister
1Zu den ideengeschichtlichen Voraussetzungen der Personzentrierten Psychotherapie
1.1Intuition und Vielfalt gegen rationales Planen und klassifizierendes Ordnen
„Keine Theorie kann ohne Kenntnis ihrer kulturellen und persönlichen Grundlage richtig verstanden werden“ (Rogers 1959/1987, 11). Dieser Aussage von Carl R. Rogers, dem Begründer der Personzentrierten Psychotherapie (PZT) bzw. der Gesprächspsychotherapie (GPT), nachdrücklich zustimmend, sollen vor allem einige dieser kulturellen Grundlagen hier skizziert werden.
Das uns hier interessierende Verfahren wurde von Rogers (1902 — 1987) zunächst „Nicht-direktive Beratung“, dann aber bald „Klienten-zentrierte Therapie“ (Rogers 1951/1973a) genannt. Mit diesen Namen wollte Rogers jeweils auch eine „Gegenzentrierung“ (Waldenfels 1991) zu jenen Ansätzen anzeigen, die er als direktiv, d. h. den Klienten nach den Zielvorstellungen des Therapeuten/Beraters lenkend, also als „Therapeuten-zentriert“ ansah. Nicht nur in der Psychoanalyse der 1920er bis 1950er Jahre, sondern auch in der damals sich gerade entwickelnden Lebens- und Erziehungsberatung (Rogers 1942/1972), bestand noch eine starke Orientierung am Leitbild der modernen Wissenschaft, wie es sich besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausgebildet hatte. Diese Orientierung implizierte auch das Leitbild des unbeirrbaren, souveränen Forschers, des ebenso umsichtig wie objektiv und kompetent operierenden Experimentators. Diesem Ideal hatte in der Psychotherapie bzw. der Beratung der Therapeut bzw. der Berater insofern zu entsprechen, als von ihm erwartet wurde, dass er ebenso professionell wie souverän den vermeintlich in Ratlosigkeit und Irrtum befangenen Patienten zu Einsicht und angemessenem Verhalten führt. Der Therapeut/Berater wird also in der frühen Beratungspraxis der 1930er und 1940er Jahre (!) ganz selbstverständlich in der Rolle des allwissenden Experten gesehen, der die Problematik des Patienten systematisch analysiert und daraus fundierte Ratschläge oder erhellende Deutungen ableitet.
Bei der Frage, was nun im Ansatz von Rogers das Revolutionäre, das umwälzend Neue in den psychotherapeutischen Diskursen war, muss man sich diese Zeitumstände vor Augen halten. Die Entschlossenheit von Rogers, so etwas wie die Empathie zum zentralen Moment eines psychotherapeutischen Unternehmens zu machen, bedeutete beim Erscheinen seines Schlüsselwerkes „Client-Centered Therapy“ (Rogers 1951/1973a) etwas geradezu Unerhörtes. Die Vorstellung, dass nicht kenntnisreiche Ratschläge oder umfassende Interpretationen eines vermeintlich objektiv beobachtenden und mit einem unbeirrbaren Wahrheitsanspruch analysierenden und urteilenden Experten Heilung bringen sollten, sondern dass nur das intensive Sich-Einfühlen in die innere Welt des Klienten, das Nachempfinden seines Erlebens der entscheidende Wirkfaktor von Psychotherapie sein sollte, widersprach allen Denkgewohnheiten von wissenschaftlich begründeter Therapie. Ja, wurde nicht hierdurch auch die Bedeutung von objektiv urteilender Vernunft und rationalem Wissen zumindest für die Psychotherapie infrage gestellt? Wenn der Therapeut sich darauf beschränkt, nur das nacherlebende Alter Ego seines Klienten zu sein (Rogers 1951/1973a), wenn er nur aus der Rolle eines einfühlsamen, Anteil nehmenden Doppelgängers seines Klienten fungiert, kann dann der letztere davon überhaupt profitieren? Erfordert nicht die Korrektur dysfunktionaler Einstellungen und maladaptiver Interaktions- und Verhaltensmuster eine objektiv urteilende Distanznahme zum Erleben des Klienten?
Rogers würde diese Bedenken vielleicht mit der Begründung zurückweisen, dass zahlreiche Therapiestudien, seine eigenen und die seiner Schüler und Anhänger (Zusammenstellungen z. B. bei Frohburg 2009; Bierman-Ratjen/Eckert 2017), die Wirksamkeit seines Konzeptes belegen, in dem der Therapeut nicht als der allwissende Experte und der objektiv urteilende Beobachter fungiert, sondern als der anteilnehmende Begleiter des inneren Erlebens seines Patienten, den er lieber „Klient“ nennen möchte, um so auf dessen Autonomie und Selbstbestimmtheit zu verweisen. Damit weist Rogers implizit auch die tradierte Rollenaufteilung zwischen Therapeut und Patient zurück, die als eine Subjekt-Objekt-Beziehung das Paradigma der neuzeitlichen, „modernen“ Wissenschaft spiegelt: Das Subjekt (Therapeut) als Denkendes und das Objekt (Klient) als Gedachtes (Engelmann 1991). Die Kritik an solchen Denkmustern moderner Wissenschaft wird seit Lyotard (1979/1986) die „Postmoderne“ genannt, manchmal ist auch, besonders in Frankreich, vom „Poststrukturalismus“ die Rede.
Auch einen gewissen Anti-Rationalismus bzw. Anti-Kognitivismus könnte man manchmal bei Rogers herauslesen, wenn er seine Skepsis gegenüber einer wissensbasierten Erkenntnisvermittlung in der Psychotherapie deutlich macht:
„Das Misslingen eines jeden solchen intellektuellen Ansatzes hat mich zu der Erkenntnis gezwungen, dass wirkliche Veränderung durch Erfahrung in einer Beziehung zustande kommt“(Rogers 1961/1973b, 46).
Rogers sieht das Wirkprinzip von Psychotherapie also nicht so sehr in der scharfsinnigen Analyse von Problemen, sondern er sieht es vor allem in der korrigierenden emotionalen Beziehungserfahrung, wie dies der Analytiker Alexander nannte (Alexander/French 1946). Einem solch rationalitätskritischen Ansatz entsprechend beschreibt Rogers auch sein eigenes therapeutisches Vorgehen:
„Ich lasse mich ein in die Unmittelbarkeit der Beziehung; mein ganzer Organismus, nicht nur mein Bewusstsein, übernimmt die Beziehung und sensibilisiert sich darauf hin. Ich reagiere nicht bewusst auf eine planvolle oder analytische Art, sondern einfach unreflektiert auf das andere Individuum“ (Rogers 1961/1973b, 199).
Rogers will als Therapeut also nicht reflexions-, sondern intuitionsgeleitet reagieren.
Diese Zitate zeigen an, dass Rogers den Geist der Postmoderne in der Psychotherapie um 20 bis 30 Jahre vorweggenommen hat, bevor diese Bewegung in den 1970er und 1980er Jahren in den philosophischen und überhaupt geisteswissenschaftlichen Diskursen bestimmend wurde. (Einige Philosophen, so etwa Heidegger sowie Horkheimer und Adorno, haben freilich schon spätestens seit den 1940er Jahren im Sinne einer Modernitätskritik argumentiert.) Bei der Postmoderne handelt es sich um die Kritik am modernen Zweckrationalismus mit seiner Tendenz zur Instrumentalisierung der Vernunft; einer Vernunft, die die Tendenz zeigt, die Welt als Totalität zu durchschauen, um sie letztlich beherrschbar zu machen. Wegen dieser der Vernunft unterstellten Machtförmigkeit wurde in den postmodernen Diskursen auch vom repressiven Charakter der Vernunft gesprochen (Horkheimer/Adorno 1944/1969; Habermas 1996). Mit der Anwendung solcher Vernunft geht auch eine die Moderne kennzeichnende Subjekt-Objekt-Spaltung einher. Durch diese Spaltung, so die Kritik der Postmoderne, werde nicht nur die äußere, sondern auch die innere Natur des Menschen, also seine Psyche, zum Objekt emotional teilnahmsloser Beobachtung und kühl-distanzierter Forscherhaltung wie aber auch technischer Zurichtung und repressiver Überwältigung gemacht (Foucault 1969/1973).
Bei Rogers finden wir diese Züge der Postmoderne, anders als in seiner Persönlichkeits- und Störungstheorie, in seiner Therapietheorie, schon insofern er hier ein Grundaxiom der modernen Wissenschaft zumindest für die Psychotherapie zurückweist, nämlich das Axiom, dass man die zu ändernden Phänomene in ihrem Bedingungsgefüge erst durchschaut bzw. intellektuell erfasst haben müsse, um sie verändern zu können. Aus dieser Kontra-Position ergibt sich dann auch der Verzicht auf eine Diagnostik (im Sinne einer „Status-Diagnostik“) und andere Urteils- und Ordnungsbildungen in der Psychotherapie. Rogers befürchtete, dass die Einmaligkeit des Klienten hinter dem diagnostischen Etikett verschwinden, d. h. durch die klassifizierende Gruppenzuordnung des Individuums nivelliert würde. Das Denken der wissenschaftlichen Moderne bedeutet nach Lyotard (1979/1986) einen Ausschluss von Heterogenität, bedeutet eine Reduktion von Vielheit zu Gunsten von Allgemeinheit und rational fassbarer Regelhaftigkeit. Denn der modernen Wissenschaft gehe es immer um die Gültigkeit von „allgemeinen“ Sätzen und Regeln, wobei das Individuelle, Vielgestaltige in Forschungsprojekten so zugerichtet werden müsse, dass es sich schließlich den auf Allgemeinheit zielenden wissenschaftlichen Erfassungsprozeduren füge und zu „verallgemeinerbaren“ Aussagen führe. Dies zeigt sich in dem für die Moderne typischen Klassifizieren und Kategorisieren vieler Phänomene. In Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie ist hier auf die jeweils eine umschriebene Allgemeinheit herstellende Gruppenzugehörigkeit der einzelnen Störungsdiagnosen sowie auf die entsprechenden genannten Vorbehalte von Rogers zu verweisen. Auch in der Zurückhaltung von Rogers gegenüber dem Nutzen eines geplanten, durchdachten und regelgeleiteten Vorgehens, dies auch im Sinne von definierten Handlungskonzepten, ist ein Signum der Postmoderne zu sehen. Denn deren Markenkern war ja u. a. die „Dekonstruktion“ von tradierten Ordnungs- und Regelkonstruktionen. Dies zeigte sich in besonders krasser Form in der so genannten Anti-Psychiatrie der 1970er und 1980er Jahre, in der nicht nur die psychiatrische Diagnostik als ein vermeintlich willkürliches Etikettieren verworfen, sondern auch die Konzeption psychischer Krankheiten als pure Konstruktion der traditionellen psychiatrischen Wissenschaft denunziert wurde, eine Konstruktion, die es zu „dekonstruieren“ galt.
Wir können diese eigentlich gegen die Grundtendenz der modernen Wissenschaft gerichtete Position auch als anti- bzw. postcartesianisch bezeichnen und würden damit auf den Philosophen René Descartes (1596 — 1650) Bezug nehmen, auf den die so genannte Subjekt-Objekt-Spaltung als Grundmerkmal dieser modernen Wissenschaft zurückgeführt wird. Gemäß diesem Wissenschaftsideal verbürgt erst die strikte emotionale und interaktionale Distanz des beobachtenden Subjekts gegenüber dem zu untersuchenden Objekt jene „Objektivität“, in der bekanntlich eine Voraussetzung der modernen Wissenschaft gesehen wird. Ein diesem Ideal der Moderne widersprechender Ansatz hat sich 30 Jahre nach Rogers, nämlich seit den 1980er Jahren, übrigens auch innerhalb der Psychoanalyse entwickelt in Form der Relationalen Psychoanalyse und der Intersubjektiven Selbstpsychologie (Mertens 2011). In diesen relativ neuen psychoanalytischen Strömungen kann man eine recht große Nähe zu manchen zentralen Aspekten der Personzentrierten Therapie sehen. Aber auch in den noch stärker an Freud und seiner „Metapsychologie“ (u. a. die Triebtheorie) orientierten Richtungen scheint in mancher Hinsicht die „postmoderne Wende“ nicht ganz ohne Wirkung geblieben zu sein.
Zu dem, was es für die Postmoderne zu dekonstruieren galt, gehörten auch die „großen Erzählungen“, mit denen Nationen, politische und wissenschaftliche wie künstlerische Bewegungen sich selbst feiern. In der programmatischen Absicht, auch diese großen Erzählungen zu dekonstruieren, sprach die Postmoderne auch vom „Tod der Geschichte“. Dieser war zu fordern, weil die großen Erzählungen dieser Geschichte interessegeleitet konstruiert und so völlig unglaubwürdig seien. Eine zumindest entfernte Korrespondenz dieser postmodernen Geschichtsskepsis zum Personzentrierten Ansatz (PZA) könnte man in dem weitgehenden Vermeiden systematischer Reflexionen zur Biografie der Klienten sehen. Solche lebensgeschichtlichen Bezugnahmen werden bzw. wurden im PZA leicht als ein therapeutisch unfruchtbares Ausweichen vor dem Hier und Jetzt in ein letztlich unbestimmbares Dort und Damals verstanden. Durch die starke Fokussierung auf ein Hier und Jetzt in der therapeutischen Situation könnte es vor allem für Außenstehende manchmal so scheinen, als würde im PZA das Leben eines Menschen nur aus Hier-und-Jetzt-Momenten bestehend gesehen, Momente, die völlig unverbunden durch mögliche Sinnlinien nebeneinander stehen.
Ich sprach eingangs von der „Gegenzentrierung“, die Rogers gegenüber den genannten Ansätzen seiner Zeit vorgenommen hat. So wichtig eine solche Gegenbewegung heute, besonders aus der Sicht eines personzentrierten Therapeuten, auch erscheint, so ist doch darauf zu achten, dass eine solche Entgegensetzung nicht auch zu Ungereimtheiten innerhalb der Theoriebildung oder in Bezug auf die eigene Praxis führt. Wie radikal darf eine anticartesianische bzw. postmoderne Position sein, ohne mit wichtigen Belangen einer Psychotherapie als einem Heilverfahren in Widerspruch zu geraten? Die Antworten auf diese Frage sollen im Folgenden an einigen Stellen erörtert werden, so bei der Darstellung der personzentrierten Beziehungskonzepte, der Aufgabe und Ziele des einfühlenden Verstehens, des Problems der Diagnostik und der Therapietechnik. Diese Erörterungen sollen einmal der Vertiefung der Theoriediskussion dienen, zum anderen aber auch der Klärung von Missverständnissen, die innerhalb wie außerhalb der Personzentrierten Psychotherapie bestehen. Dabei soll sich zeigen, dass das Verhältnis von „modernen“ und „postmodernen“ Positionen als das einer dialektischen Polarität zu verstehenden ist, die man nicht undialektisch auseinanderfallen lassen sollte, indem man einseitig nur der einen oder der anderen Position Geltung zuschreibt. Vielmehr sollte der personzentrierte Therapeut/Berater, wie zu zeigen sein wird, auch in seiner Anwendungspraxis beide Positionen berücksichtigen und die Mehrdeutigkeit therapietheoretischer Kriterien beachten (s. Kap. 5). Zwar ist die Postmoderne als ideengeschichtliche Epoche inzwischen verklungen, und die Moderne ist in Form der „Spätmoderne“ zurückgekehrt, aber so, dass in sie (auch bei anderen Psychotherapieverfahren) manche Gedanken der Postmoderne eingeflossen sind. Für die Personzentrierte Psychotherapie sollte das bedeuten, sich für eine präreflexive Unmittelbarkeit und kreative Intuition offenzuhalten, ohne dies mit einer Entdifferenzierung der Konzeptbildung und einer Absage an rationale Reflexivität zu verbinden. Im Sinne eines solchen Sowohl-Als-Auch versteht sich das vorliegende Buch.
1.2Das Menschenbild
Auf die in Kap. 1.1 angesprochene antirationalistische, auf ein intuitives Erfassen von Ganzheitlichkeit abzielende Tendenz des PZA treffen wir auch schon bei Bewegungen aus dem Beginn des 20. Jahrhunderts — die Lebensphilosophie und der Vitalismus —, Bewegungen, die Rogers sehr geprägt haben (und die ihn gewissermaßen zu einem der Begründer des postmodernen Denkens in der Psychotherapie werden ließen). So verwundert es nicht, dass sein Menschenbild und die Begrifflichkeit, mit der er es zeichnet, diese lebensphilosophisch-vitalistische Prägung zeigen.
1.2.1Der „Organismus“ und die „Aktualisierungstendenz“
Die beiden hier genannten zentralen Begriffe im Denken von Rogers entsprechen weniger der heute üblichen psychologischen Begrifflichkeit, so dass man vor diesem Hintergrund sagen kann, dass sie keine eigentlich psychologischen Konzepte benennen, sondern eher anthropologisch-philosophische (Stumm 2010), deren Bedeutung sich heute erst vor ihrem ideengeschichtlichen Hintergrund erschließt. Rogers scheint mit dem Begriff „Organismus“ so etwas wie den emotional-dynamischen Kern der Person zu meinen (Stumm et al. 2003). Dies zeigt sich, wenn er etwa sagt, dass der „totale Organismus oft klüger als das Bewusstsein ist“ (Rogers 1961/1973b, 191). Er zielt dabei wohl auf etwas, das man Instinkt, Intuition, Inspiration, überhaupt die eher präreflexiven, schöpferischen Kräfte im Menschen nennen könnte, ein Zwischending zwischen der biologisch-physiologischen und der psychischen Ebene, eine Art „Körperseele“.
Dieser Versuch, Körper und Seele/Geist als Einheit, als Ganzheit zu denken, hat Vorläufer zunächst in der romantischen Naturphilosophie. Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert entstand mit dieser „Naturphilosophie“ eine Gegenbewegung zur Körper-Seele-Spaltung sowohl bei Descartes (der den Körper als eine Art Maschine dachte), als sodann auch im Rationalismus der Aufklärung. Als Gegenmodell zur Maschine wurde in dieser romantischen Gegenbewegung der „Organismus“ angesehen, dem Selbstorganisation, Selbststeuerung und Selbsterzeugung, also Autopoiese, zugeschrieben und der so nicht nur als geistlose Materie gesehen wurde. „Die Organisation [des Organismus] aber producirt [sic!] sich selbst, entspringt aus sich selbst“, und dieser Organisation ist der Aufstieg zu immer komplexeren Zuständen inhärent (Schelling 1797/1995, 130). Durch den Organismus sollten Materie und Geist zur Synthese geführt werden: Im Sinne dieses Denkens (mit dem Rogers wohl durch Emerson bekannt wurde, Korunka 2001; Finke 2004) verstand eben auch Rogers den Organismus. In unserer Zeit hat die Grundidee vom selbstregulativen Organismus ihre Ausformulierung im eher naturwissenschaftlichen Gewand der Systemtheorie gefunden (Kriz 2004).
Gegen die streng rationalistische und positivistische Ausrichtung der aufblühenden Naturwissenschaften entstanden ca.100 Jahre nach der Romantik die „Lebensphilosophie“ und der Vitalismus, in denen sich manche Grundgedanken der Romantik und das enthusiastische, Neues erschließende Lebensgefühl wiederfanden. „Leben“ bedeutete hier die Einheit von Psyche und Körper, bedeutete Dynamik, Kreativität und ewiges Werden und war ein Kampfbegriff gegen Materialismus, mechanistischen Positivismus und den Zweckrationalismus der aufstrebenden Industriegesellschaft wie der Naturwissenschaften. Intuition wurde gegen rationale Analyse, Erleben gegen Verstandeserkenntnis gestellt, wobei man sich gerne auch auf Nietzsche berief.
Das Aufbruchshafte, Ungestüme und Vorwärtsdrängende, das man damals mit dem Leitbegriff „Leben“ verband, erhielt seine philosophische Gestalt besonders im „elan vital“ Henry Bergsons (1912). Dieser „elan vital“ ist eine Lebenskraft, ein vorwärtsstürmender, auf Entfaltung drängender, daseinssteigernder Lebensschwung, in dem man einen begrifflichen Vorläufer der „Aktualisierungstendenz“ von Rogers sehen kann. Natürlich teilt auch der „Organismus“, dem ja bei Rogers die Aktualisierungstendenz inhärent ist, manche Bedeutungsgehalte mit dem „Leben“ der Lebensphilosophie: Der Mensch findet erst dann zu sich selbst, wenn er sich seinem organismischen Er-leben, seinem dunklen Lebensgrund, dem tieferen Wissen und instinktsicheren Ahnen des Lebens anvertraut. Das „Erleben“ wird für Dilthey (1927/1958) zu einem Weg des philosophischen Erschließens der Welt. Die dynamistische Vorstellung Bergsons vom Leben als einem Prozess, einer ständigen Entwicklung, einem unaufhaltsamen Werden findet sich ebenso beim Organismus-Konzept von Rogers. Sie prägte sein Menschenbild und führte ihn zu der Vorstellung eines in der gesamten Natur und so auch im Menschen waltenden Prinzips einer aktualisierenden bzw. „formativen Tendenz“ (Rogers 1980/1981). Sie impliziert das ständige Streben des Menschen nach Weiterentwicklung, Ausdifferenzierung und Entfaltung all seiner Möglichkeiten (Rogers 1959/1987; Stumm 2010). Bei Rogers bedeutet die Aktualisierungstendenz auch die Berechtigung eines therapeutischen Änderungsoptimismus, da der Therapeut der Möglichkeit zur konstruktiven Entwicklung seines Klienten vertrauen darf, sofern er nur der Aktualisierungstendenz die Entfaltung ihrer Möglichkeiten erleichtert. Hiermit hat Rogers schon früh die heute vielberedete Ressourcenorientierung in der Psychotherapie angesprochen. Allerdings sollte man, wenn man auch die Leiden der Menschen verstehen will, dabei eine „Defizit-Perspektive“, in der nach den Gründen und der Verwobenheit dieses Leidens mit der Lebensgeschichte gefragt wird, nicht ganz unberücksichtigt lassen.
Hinsichtlich der Bezugnahme auf die Lebensphilosophie und den Vitalismus verwies Rogers selbst vor allem auf den aus Deutschland emigrierten Neurologen und Psychotherapeuten Goldstein (2014), der den Ideen der Lebensphilosophie nahestand. Von ihm hat Rogers den Begriff „Aktualisierungstendenz“ übernommen und auch bei ihm spielen der Begriff „Organismus“ und das Konzept der Selbstentfaltung sowie der Anerkennung des Patienten und der Gegenseitigkeit in der therapeutischen Situation eine zentrale Rolle. Über Driesch, dessen Seeigelexperimente er ausführlich erwähnt (Rogers 1962/1977) hatte er auch eine Beziehung zum Vitalismus, der ja ohnehin manche Parallelen zur Lebensphilosophie aufweist. Das Phänomen und das Geheimnis des „Lebens“ hatten Rogers schon als jungen Mann interessiert, studierte er doch zunächst Landwirtschaft (Rogers 1959/1987), und ihn faszinierte als Grundzug des Lebens das Phänomen des Wachstums. Er sah darin eine vorwärts und nach Entfaltung und Ausdifferenzierung drängende, aber auch auf Erhalt angelegte, bewahrende Kraft, eben die „Aktualisierungstendenz“ des Organismus (Rogers 1959/1987).
„Das Leben“ ebenso „der Organismus“ und „die Aktualisierungstendenz“ sind allerdings für eine Humanistische Psychologie, zu der sich der PZA rechnet, nicht ganz unproblematische Metaphern. Denn das Kernmerkmal des Humanismus ist die Betonung der Sonderstellung des Menschen gegenüber allen anderen Lebewesen. Diese Sonderstellung wird aber durch die genannten Metaphern gerade nicht angesprochen. Andererseits hat Rogers dem Menschen auch Merkmale zugesprochen, die für die genannte Sonderstellung kennzeichnend sind und unmittelbar auf eine humanistische Position verweisen, nämlich Selbstbestimmung, Selbstbeherrschung, Selbstverantwortlichkeit und die freiheitliche Wahl eigener Lebensziele (Rogers 1951/1973a).
1.2.2Die „fully functioning person“
Als Ziel menschlicher Entwicklung und Entfaltung, auch mit Blick auf den psychotherapeutischen Prozess, entwarf Rogers das Bild der „fully functioning person“, des voll sich entfaltenden Menschen. Diesen fiktiven Menschen zeichnet er als völlig offen gegenüber seinem eigenen Erleben, also ohne Abwehr und somit für sich selbst durchsichtig und kongruent. Deshalb verfügt dieser Mensch auch über eine hohe innere Freiheit, Selbstverfügbarkeit und Autonomie. Dieser Entwurf spiegelt natürlich das Menschenbild der Moderne bzw. das Ideal der Aufklärung vom souveränen Subjekt, das sich von allen inneren Abhängigkeiten emanzipiert hat und so frei genug ist, sich selbst zu wählen, sich selbst zu „setzen“ und zu verwirklichen, indem es sich entscheidet für „das Selbst, das man in Wahrheit ist“ (Rogers 1961/1973b, 167). Rogers entspricht hier also, anders als in seiner Therapietheorie, dem Menschbild der Moderne, ein Bild übrigens, das von einigen postmodernen Autoren als die vermeintliche Tendenz zu ständiger Selbstermächtigung und Selbsterhöhung, ja Selbstvergottung des Menschen kritisiert wurde (Böhme/Böhme 1996). Hier muss man zumindest für den Bereich der Psychotherapie jedoch die Kritik seitens der Postmoderne relativieren. Denn in der Psychotherapie, und Rogers anthropologische Perspektive ist natürlich von seinem Beruf geprägt, geht es ja häufig um Menschen, die gerade deshalb leiden, weil sie überangepasst zu sehr die Normen, Lebensziele und Werte anderer verinnerlicht haben und so nicht wagen, sie selbst zu sein. Deswegen muss es in der Psychotherapie auch ein Ziel sein, den Klienten zu ermutigen, nach sich selbst, nach seinen eigensten Gefühlen und Bedürfnissen zu fragen, um sich so mit verinnerlichten Normen und Wertungen anderer auseinandersetzen zu können. Diese aus einer psychotherapeutischen Perspektive formulierte Zielsetzung ist nur dann infrage zu stellen, wenn sie zu einem absoluten „Nicht-Beeinflussungs-Paradigma“ führt, wie man das manchmal bei Rogers herauslesen könnte. Ein solches „Paradigma“, nachdem der Therapeut nur der „Faszilitator“ der in der therapeutischen Situation sich vollziehenden Selbstentfaltung des Klienten wäre, würde verkennen, dass der Mensch als ein neugeborenes Wesen kein Samenkorn ist, das wie das eines Baumes alles Wesentliche, alles „Baumhafte“ schon in sich trägt und zum voll sich entfaltenden Wachstum nur ein halbwegs günstiges Klima braucht. Vielmehr ist der Mensch ein genuin vergesellschaftetes Wesen, das zu seiner Entwicklung Austausch- und Beeinflussungsprozesse in jeder Lebensphase braucht (Zurhorst 2007), was übrigens auch eine Grundidee des klassischen Humanismus ist. Die Aufgabe des Therapeuten ist es jedoch, seine kommunikationsbedingte Einflussnahme zu reflektieren und so zu kontrollieren, dass sie der Förderung dessen dient, was der Klient als sein Eigenes erlebt.
2Die personzentrierte Persönlichkeits- und Störungstheorie
2.1Die Inkongruenz und ihre Folgen
„Wenn der Organismus bestimmte Erfahrungen der Gewahrwerdung verweigert oder deren bewusste Wahrnehmung so stört, dass diese nicht exakt symbolisiert […] werden können, entsteht Inkongruenz zwischen dem Selbst und der Erfahrung“ (Rogers 1959/1987, 30).
Störungs- und Persönlichkeitstheorie sind in der PZT sehr verschränkt, denn die störungstheoretischen Vorstellungen (Rogers 1959/1987) basieren auf Annahmen über die Grundmerkmale einer Person, so dass bestimmte Störungskonzepte auf Vorstellungen über die Grundcharakteristika menschlichen Erlebens und Verhaltens zurückverweisen. Der zentrale Begriff der Störungstheorie der PZT ist die „Inkongruenz“. Damit ist gemeint ein Mangel an Übereinstimmung zwischen dem „Selbstkonzept“ (Kap. 2.2) und dem, was Rogers (1959/1987, 23) die „organismische Erfahrung“ bzw. das organismischen Erleben nennt. (Da im Deutschen der Begriff „Erfahrung“ stärker kognitiv bestimmt ist im Sinne des Auswertens von Beobachtungen, auch des eigenen Erlebens, ist der Begriff „experience“ in diesem Zusammenhang treffender mit „Erleben“ zu übersetzen, insofern damit stärker die unreflektierte Unmittelbarkeit des psychischen Vorgangs angesprochen wird.)
2.1.1Das organismische Erleben und seine Symbolisierung
Rogers (1959/1987, 23) spricht im Zusammenhang mit dem organismischen Erleben auch von „sensorischen und viszeralen Erfahrungen“. Wir können auch sagen, dass es sich hier um ein sehr ursprüngliches, körpernahes, oft nur diffus bewusstes Spüren, Fühlen, Ahnen, Anmuten und Wünschen handelt. Sofern diese Aspekte mit dem Selbstkonzept, d. h. mit dem Selbstbild und dem Selbstideal einer Person nicht vereinbar sind, werden sie u. U. ganz von der Wahrnehmung ausgeschlossen. Sie werden, wie Rogers sagt, gar nicht oder verzerrt symbolisiert, also nicht oder nur in entstellter Form auf den Begriff gebracht, und damit der eindeutigen Versprachlichung und so dem Bewusstsein vorenthalten. Wenn das organismische Erleben völlig von jeglicher Symbolisierung ausgeschlossen ist, kann die betreffende Person weitgehend beschwerde- bzw. symptomfrei sein, sie ist aber oft auch, wie Rogers sagt, „verletzlich“. Wenn in diesem Falle in bestimmten Krisensituationen das organismische Erleben die Schwelle zur Gewahrwerdung annähernd erreicht, wird die Person vielleicht eine innere Unruhe und ängstliche Spannung verspüren, da ihr Selbstkonzept durch dieses nun dunkel gespürte „unterschwellige“ Erleben „am Rande der Gewahrwerdung“ infrage gestellt wird. Wenn die dann verstärkt einsetzende Abwehr erfolgreich verläuft, wird die Person keinen direkten Leidensdruck mehr haben, sie wird aber, da im Zustand der Inkongruenz lebend, weiterhin „verletzlich“ bzw. leicht irritierbar sein, ohne um den Grund hierfür wissen zu können. Wird dagegen im zweiten Fall die genannte Spannung und Angst verzerrt symbolisiert, so könnte diese Angst etwa in Form einer Platzangst ihren (verzerrten) Ausdruck finden. Bei einem solchen Klienten würde vielleicht eine Agoraphobie mit oder ohne Panikattacken diagnostiziert. Im Therapieprozess könnte sich dann ergeben, dass der Klient schon seit einiger Zeit in seiner Partnerschaft insgeheim von diffusen Trennungsphantasien heimgesucht wurde, die aber mit seinem Selbstkonzept (z. B. seinen Vorstellungen von Bindung und Treue, aber auch seinen Bedürfnissen nach Sicherheit und Geborgenheit) unvereinbar waren. Durch sein Symptom, der Platzangst, war der Klient sodann verstärkt auf die Unterstützung seines/r Partnerin angewiesen und er konnte in diesem Erleben von Angewiesensein seine Trennungsphantasien erfolgreich abwehren.
Inkongruenz ist nicht Ambivalenz
Aus dem Gesagten geht auch hervor, dass man von „Inkongruenz“ nur reden sollte, wenn der hier gemeinte Widerspruch bzw. Zwiespalt nicht bewusst ist. Wenn jemand sagt, „einerseits liebe ich sie, andererseits habe ich aber oft auch Wut auf sie“, so liegt hier keine Inkongruenz vor, sondern eben Kongruenz, d. h. die ausdrückliche Wahrnehmung und Anerkennung einer Ambivalenz, eines emotionalen Zwiespalts, der nach Rogers (1961/1973b) zur Komplexität der Person gehört. Wenn dagegen jemand immer wieder beteuert, wie sehr er sie doch liebe, so will er mit dieser u. U. penetrant erscheinenden Beteuerung möglicherweise seine „unterschwellig“ gespürten, aber nicht bewussten Aversionen an der akkuraten Symbolisierung, d. h. an der vollen Gewahrwerdung hindern. Damit schützt er sein Selbstkonzept vor peinlicher Infragestellung (und seinen „Seelenfrieden“) um den Preis der Inkongruenz.
Die Inkongruenz ist typischerweise für Außenstehende oft eher erfahrbar als für den Betreffenden selbst (Rogers 1959/1987). Denn sie geht, so lange die Abwehr ihre Funktion erfüllt, zunächst gerade nicht mit einem subjektiven Erleben von „Inkongruenz“ einher. Dieses Erleben kann nur in jenen krisenhaften Situationen eintreten, in denen das bisher erfolgreich Abgewehrte an „den Rand des Gewahrseins“ (Rogers) drängt. Aber hier spürt der Betreffende nur eine gewisse Spannung oder Angst, ohne um deren Gründe zu wissen. Nur wenn es der dann meist verstärkt einsetzenden Abwehr nicht gelingt, die volle Gewahrwerdung zu verhindern, wird die Person beginnen, unter einem quälenden Zwiespalt bis hin zur „Desorganisation“ zu leiden. Aber damit ist auch so etwas wie Inkongruenz als ein der Selbstwahrnehmung entzogener Selbstwiderspruch nicht mehr gegeben, da sich jetzt die Person ihres inneren Widerspruchs voll bewusst ist und so ihr Selbstkonzept mit dem bisher vom Gewahrsein Ausgeschlossenen konfrontiert wird. Der nun bewusst erlebte Zwiespalt, das explizite Erleben von Hin-und-Her-Gerissen-Sein, ist gerade ein Zeugnis von Echtheit, Authentizität und Wahrhaftigkeit. Aus demselben Grunde ist auch die manchmal quälende Diskrepanz von Selbstbild und Selbstideal keine Inkongruenz.
Dies bedeutet, Selbstwiderspruch bzw. Selbstentzweiung von Inkongruenz zu unterscheiden. Der explizit erlebte Selbstwiderspruch ist ein quälender Zustand, den die betreffende Person meist möglichst bald aufzuheben trachtet. Da das klärende Austragen eines solchen Widerspruchs aber meist doch einige Zeit beansprucht, könnte die Person versucht sein, den explizit erlebten Widerspruch dadurch aufzuheben, dass die eine Seite dieses Widerspruchs von der „exakten Symbolisierung“ ausgeschlossen wird. Nun erst besteht eine Inkongruenz, die als solche eben nicht explizit erlebbar ist. Da in diesem Zustand eine bedeutsame Seite der „inneren Welt“ der Person dem Gewahrsein entzogen ist, hat Inkongruenz auch immer etwas mit Unechtheit und Inauthentizität zu tun. Denn Inkongruenz ist der implizite und so auch unbemerkte Selbstwiderspruch. Ein Bespiel wäre der genannte „Liebende“, der in seinem expliziten Beziehungserleben seine aggressiven Gefühle ausblendet.
Manchmal wird im PZA jedoch nicht zwischen Inkongruenz und bewusst erlebtem Selbstwiderspruch bzw. Diskrepanz unterschieden (z. B. Speierer 1994). Dies könnte insofern naheliegend sein, als die vollbewusste Ambivalenz oft aus einer vorher verdeckten Ambivalenz, also einer Inkongruenz, hervorgegangen sein kann. Das Problem sehe ich bei der genannten Definition von Inkongruenz aber einmal in der Abkehr von der Konzeption Rogers, nach der Inkongruenz mit gestörter Symbolisierung zusammenhängt (Stumm/Keil 2002). Zum anderen wird damit eine phänomenologische wie normative Gleichsetzung eines eigentlich authentischen Erlebens nicht verleugneter Ambivalenz/Diskrepanz mit der Inkongruenz als einem der Tendenz nach psychopathologischen Zustand vorgenommen, der mit Selbsttäuschung, Unechtheit und Inauthentizität assoziiert wird. Durch die damit verbundene begriffliche Ausweitung verliert zudem der Begriff die Spezifität seiner Bedeutung, so etwa auch wenn von „interpersonaler Inkongruenz“ gesprochen wird (Gaylin 2002