In der Erkenntnis, daß die Anschauungen und die Denkweise, die Sitten und Gebräuche, kurz der ganze Charakter eines Volkes nirgends bündiger, deutlicher und nüancierter zum Ausdruck kommen als in seinen Sprichwörtern, haben als erste die Parömiographen derartige Sammlungen veranstaltet, von denen und aus der Zeit des zweiten Jahrhunderts nach Christi Geburt 3, nämlich die des Diogenianos, des Zenobius, und Plutarch (Sprichwörter der Alexandriner) erhalten sind.
Heute besitzt jede zivilisierte Nation ihre Sammlung. Wir Deutschen haben uns nicht damit begnügt, unsre eignen Sprichwörter zu sammeln, die in Dutzenden von Editionen vorliegen; wir haben vielmehr lateinische und griechische, französische, englische, italienische, spanische, persische, chinesische, japanische Sprüche ins Deutsche übertragen – nur die jüdischen hat man trotz der starken Einwirkung jüdischer Eigenart auf deutsches Wesen bis heute nicht aus ihrer Ghetto-Einsamkeit ans Licht des Tages gefördert.
Das geschieht hier – wenigstens in deutscher Sprache – zum ersten Male; indessen darf der Herausgeber wohl behaupten, daß auch in keiner anderen Sprache bisher eine derartige Sammlung vorliegt – außer im Jüdischen.
Das Jüdische, ein mit Slavischem und Hebräischem durchsetztes Mittelhochdeutsch wird noch heut von mehr als sechs Millionen Menschen gesprochen. Tagesblätter in dieser Sprache, deren Auflagen zum Teil nach Hunderttausenden zählen, erscheinen zu Dutzenden, und in den letzten 15 Jahren hat sich eine moderne jüdische Literatur entwickelt, für deren hohes Niveau die Leistungen von J. L. Perez und Mendaly Mocher Sforem beredtes Zeugnis ablegen. Ihre ins Deutsche übertragenen und hier und da veröffentlichten Erzählungen aus dem Leben des jüdischen Volkes können neben dem Besten, was deutsche Erzähler gaben, leben. Die jüdischen Volkslieder, die an Natürlichkeit und Innigkeit, wie an Unmittelbarkeit des Empfindens ihresgleichen suchen, denke ich demnächst herauszugeben.
Nun noch ein paar Worte zu der vorliegenden Sammlung:
Vor ein paar Jahren brachte mir der durch seine Romane bekannt gewordene galizische Schriftsteller Hermann Blumenthal zur Veröffentlichung in einer Zeitschrift eine Reihe von jüdischen Sprichwörtern, die er in Wien und Galizien gesammelt hatte. Ich bat ihn, seine Sammlung fortzuführen, und vor allem zu erforschen, ob eine große Reihe bei uns seit Menschengedenken gebräuchlicher Sprichwörter, die auch im Ghetto gebraucht werden, von dort zu uns gekommen sind, oder ob die Juden vor drei Jahrhunderten diese Sprüche bei uns gehört, übernommen und dann mit oft kaum merklichen Veränderungen ihren Gewohnheiten angepaßt haben. Diese Feststellungen sind nicht überall gelungen.
gesammelt. Lao-Tse, Confucius, Buddha, Christus, sein Liebling Ruskin, Pascal, Voltaire, Vauvernagues, Rot, Kant, Luther, Jean Paul, Gontscharow, Dostojewski sind vertreten; aber auch eine große Zahl von Talmudsprüchen befindet sich darunter, von denen ich etwa ein halbes Dutzend in diese Sammlung aufgenommen habe.