Ernst Georg Ferdinand Küster

Geschichte der Neueren Deutschen Chirurgie

Veröffentlicht im Good Press Verlag, 2020
goodpress@okpublishing.info
EAN 4064066116361

Inhaltsverzeichnis


Vorwort.
Erster Abschnitt . Der Zustand der Chirurgie vor Einführung der antiseptischen Wundbehandlung.
Kapitel I. Zustand der Gesamtmedizin vor der antiseptischen Wundbehandlung.
Kapitel II. Die Krankenanstalten vor der antiseptischen Wundbehandlung.
Kapitel III. Die ältere Wundbehandlung und die Wundkrankheiten.
Zweiter Abschnitt . Joseph Listers antiseptische Wundbehandlung.
Kapitel IV. Die Vorläufer Listers.
Kapitel V. Listers Übertragung der Keimlehre auf die Chirurgie.
Dritter Abschnitt . Der Einzug der antiseptischen Behandlung in die deutsche Chirurgie. Die Asepsis. Das Langenbeckhaus.
Kapitel VI. Einführung und Ausbau der antiseptischen Wundbehandlung in Deutschland.
Kapitel VII. Einführung der Asepsis.
Kapitel VIII. Die Gründung des Langenbeck-Hauses.
Vierter Abschnitt . Wandlungen und Eroberungen auf dem Gebiete der allgemeinen Chirurgie.
Kapitel IX. Wandlungen der allgemeinen Therapie.
Kapitel X. Wandlungen der Kriegschirurgie.
Kapitel XI. Wandlungen auf dem Gebiete spezifischer Infektionskrankheiten und bösartiger Neubildungen.
Fünfter Abschnitt . Eroberungen auf dem Gebiete der speziellen Chirurgie.
Kapitel XII. Ausbau der Eingriffe an schon bisher zugänglichen Organen.
Kapitel XIII. Neue Eingriffe in bisher unzugängliche Organe.
Sechster Abschnitt . Entwicklung der chirurgischen Literatur in Deutschland.
Kapitel XIV.
Schlußwort .
Namenverzeichnis.

Vorwort.

Inhaltsverzeichnis

Als mir im Jahre 1911 seitens meines Freundes Paulv. v. Bruns die Aufforderung zuging, eine Geschichte der neueren deutschen Chirurgie zu schreiben, da hat es erst längerer Überlegung bedurft, ehe ich mich zur Annahme des Anerbietens zu entschließen vermochte. Vor allen Dingen war es mein Alter, welches immer wieder neue Zweifel darüber wachrief, ob zu einem solchen Unternehmen noch die rechte Eignung in mir sei. Und zu diesen persönlichen gesellten sich weiterhin schwerwiegende sachliche Bedenken, die ich kurz berühren muß.

Geschichtschreibung ist nichts als die Wiedergabe des Bildes, unter welchem die Ereignisse früherer Zeiten sich in des Berichterstatters Seele spiegeln. Mit anderen Worten: Keine geschichtliche Darstellung kann rein objektiv bleiben, sondern sie muß immer, mehr oder weniger ausgeprägt, einen persönlichen Stempel tragen, und zwar um so deutlicher, je mehr sie sich der Gegenwart nähert. Handelt es sich aber gar um selbsterlebte Dinge, so wird es schier unmöglich, über der Parteien Haß und Gunst gänzlich hinwegzusehen, Licht und Schatten in gerechter Weise zu verteilen.

Wenn ich dennoch zu dem Entschlusse gekommen bin, die Arbeit zu übernehmen, so geschah es zunächst, weil ich als einer aus der sehr geringen Zahl der noch lebenden Begründer der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, unter denen ich nahezu der älteste bin, eine gewisse Verpflichtung fühlte, die noch sehr lebhaften Erinnerungen einer großen Zeit nicht mit mir zu Grabe tragen zu lassen. Aber es reizte mich auch, eine Geschichte zu schreiben, die ich selber als Geschichte erlebt habe, einem Zeitabschnitte und einer Anzahl von Männern gerecht zu werden, die ich noch heute von dem goldigen Schimmer der Größe und des Ruhmes umstrahlt sehe, ein Bild von dem gewaltigen Strome hingebender Begeisterung zu entwerfen, der vor wenigen Jahrzehnten unser ganzes wissenschaftliches Leben zu durchfluten begann. Wenn es mir gelungen sein sollte, in der Seele des Lesers davon eine Vorstellung zu erwecken, so würde ich meine Aufgabe als erfüllt ansehen.

Das Büchlein, welches sich Häsers im Jahre 1879 als erste Lieferung der „Deutschen Chirurgie“ erschienener, knapp gehaltener Geschichte der Chirurgie unmittelbar anschließt, umfaßt nur eine kurze Zeitspanne von kaum 50 Jahren. Angesichts des mehr als 2000 Jahre alten Bestehens unserer Wissenschaft mag es gewagt und selbst anmaßend erscheinen, eine zeitlich so begrenzte Entwicklungsperiode auch noch räumlich dadurch einzuengen, daß die deutsche Chirurgie in den Vordergrund gestellt und die fremdländische nur soweit berührt wird, als sie auf den Gang des Emporblühens in unserem Vaterlande von maßgebendem Einflusse gewesen ist; denn die geistigen Güter gehören allen Völkern gemeinsam und keines gibt es, welches in irgend einer Wissenschaft den ganzen Ruhm des Erfinders und Fortbildners für sich allein in Anspruch nehmen könnte. Trotzdem läßt sich diese doppelte Beschränkung wohl rechtfertigen. Zeitlich gewiß: denn die fragliche Periode ist nicht nur durch einen gewaltigen Wall des Erkennens von früheren Zeitläuften getrennt, sondern sie bringt auch eine so vollkommene Um- und Neuformung sowohl der Chirurgie wie der Gesamtmedizin, daß sich in deren ganzer Geschichte nichts auch nur entfernt Ähnliches vorfindet. Und räumlich gleichfalls, obwohl der Anstoß zu dieser geistigen Bewegung von einer Großartigkeit ohnegleichen nicht aus Deutschland, sondern aus dem Auslande kam; denn durch die schnelle Aufnahme, Weiterentwicklung und Vervollkommnung der Neuerung hat Deutschland sich vor allen anderen Ländern das Recht wenigstens der Patenschaft an der Wundbehandlung erworben, zumal da diese vielfach erst in deutschem Gewande und in deutscher Umformung den übrigen Kulturvölkern vertraut geworden ist. Alle übrigen Erfindungen, durch welche späterhin die Chirurgie bereichert wurde, sind fast ausnahmslos deutschen Ursprunges. So kann es denn unmöglich als Überhebung gedeutet werden, wenn der Deutsche die Geschichte seiner Wissenschaft in deutscher Umrahmung zur Anschauung zu bringen sucht.

Es mag auffallen, daß die in den Vordergrund tretenden Persönlichkeiten nicht überall in gleicher Ausführlichkeit behandelt sind, manche Verdienste sogar unbesprochen geblieben sein mögen. Insbesondere sind die noch lebenden Chirurgen meist nur kurz erwähnt, bei der Besprechung erheblicher Fortschritte ist oft nur ein Name genannt, des Mannes nämlich, der einen neuen Gedanken zuerst faßte, oder ihn zuerst in die Tat umsetzte, während spätere Umformungen und Erweiterungen ohne Nennung ihrer Urheber einfach aufgezählt werden. Man darf mir daraus nicht den Vorwurf machen, ein laudator temporis acti zu sein. Der geschichtliche Sinn verbietet eingehende Betrachtung noch lebender Persönlichkeiten, die als solche nicht historisch sein können, da sie den natürlichen Abschluß noch nicht gefunden haben, wenn auch ihre Taten schon der Geschichte angehören. Besprochen sind deshalb auch für gewöhnlich nicht die vorübergehenden Erscheinungen, selbst wenn sie für einige Zeit Aufsehen erregt haben, sondern nur die bleibenden Errungenschaften. Daß aber die Beurteilung dessen, was erheblich ist, mindestens teilweise dem subjektiven Ermessen des Berichterstatters überlassen bleiben muß, liegt auf der Hand. Wenn daher fehlerhafte Auslassungen auf der einen und Übertreibungen auf der anderen Seite gefunden werden, so hat es wenigstens nicht an meinem guten Willen gelegen, sie zu vermeiden.

Charlottenburg, den 17. Mai 1914.

Ernst Küster.


Erster Abschnitt.

Der Zustand der Chirurgie vor Einführung der antiseptischen Wundbehandlung.

Inhaltsverzeichnis

Das gegenwärtig lebende und wirkende Geschlecht der Chirurgen hat kaum noch eine Vorstellung von den Zuständen, welchen durch den bald nach der Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzenden gewaltigen Umschwung ein Ende gemacht wurde. Seine Bedeutung, welche darin besteht, daß er in dem kurzen Zeitraume eines Menschenalters alle Fehler und Irrungen von zwei Jahrtausenden in der Behandlung der Wunden gutzumachen gewußt hat, kann aber erst völlig erfaßt werden, wenn wir zunächst nicht nur auf den Zustand der Chirurgie, sondern auch auf den der gesamten Medizin jener Zeit einen prüfenden Rückblick werfen.

Kapitel I.

Zustand der Gesamtmedizin vor der antiseptischen Wundbehandlung.

Inhaltsverzeichnis

Die beschreibende Anatomie war seit Andreas Vesalius die selbstverständliche Grundlage der Chirurgie geblieben, so sehr, daß ein guter Chirurg ohne genaue anatomische Kenntnisse undenkbar gewesen wäre. Eine natürliche Folge war, daß nicht wenige der älteren Chirurgen rein anatomische Untersuchungen veröffentlichten, oder daß sie gar, wie Konrad Martin Langenbeck, Viktor Bruns und Adolf Bardeleben, erst von der Anatomie zur Chirurgie übergingen. Aber an Lehrbüchern der Anatomie war die deutsche Literatur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ziemlich arm; und auch die Lehreinrichtungen für dies Fach, sowie die Art des Unterrichtes ließen in Deutschland sehr viel, zuweilen fast alles zu wünschen übrig. Es waren zwei Männer, welche nahezu gleichzeitig Wandel schufen. Joseph Hyrtl in Prag, später in Wien, wurde mit seinem anziehend geschriebenen, aber in gedrängter Kürze gehaltenen Lehrbuche, welches von 1846 bis 1884 in 17 Auflagen erschienen ist, den meisten deutschen Studenten der Medizin ein zuverlässiger Führer durch die Geheimnisse des menschlichen Körpers. Neben ihm trat Jakob Henle in Zürich, später in Göttingen, im Jahre 1841 mit seiner Allgemeinen Anatomie und von 1855 an mit einem überaus fleißigen dreibändigen Werke auf, welches durch zahlreiche Abbildungen erläutert, für den Chirurgen eine unerschöpfliche Fundgrube anatomischer Anschaulichkeit geworden ist.

Indessen trotz ihrer hohen Bedeutung für die Chirurgie hat die beschreibende Anatomie nur selten neue Anregungen gegeben, zumal seit sie nach der Mitte des Jahrhunderts in der Anthropologie ein neues Feld der Betätigung suchte; denn so sehr letztere und mit ihr die Urgeschichte auch durch sie gefördert wurden, so fiel doch für die Chirurgie ein sichtbarer Nutzen zunächst nicht ab. In erheblichem Maße geschah dies aber durch die topographische Anatomie, deren geschickte und durchweg praktischen Zielen zugewandte Bearbeitung durch Joseph Hyrtl (seit 1847) diesen Zweig der menschlichen Anatomie in Deutschland erst einführte, soweit nicht Chirurgen bereits stückweise Bearbeitungen geliefert hatten. Er hat sich für die Chirurgie als überaus fruchtbar erwiesen. — Auch die Entwicklungsgeschichte wurde seit Robert Remaks Keimblätterlehre durch den Nachweis ihrer Beziehungen zu dem Aufbau einzelner Organe von immer steigender Bedeutung für die praktische Chirurgie.

Nicht das gleiche läßt sich von der feineren Anatomie und der Physiologie sagen. Denn obwohl die gegen Ende der dreißiger Jahre durch Schleiden und Schwann aufgestellte Zellenlehre und die Vervollkommnung der optischen Werkzeuge, zumal des Mikroskopes, eine völlige Umgestaltung der biologischen Anschauungen hervorgerufen hatten, obwohl seitdem alle Körperorgane aufs fleißigste durchforscht wurden, so kamen doch diese Ergebnisse der Chirurgie erst auf dem Umwege über die Physiologie und mehr noch der pathologischen Anatomie zugute. Die Physiologie nämlich, deren Kenntnis zwar von jedem gebildeten Chirurgen vorausgesetzt werden mußte und deren Methoden man in den sechziger Jahren auch für chirurgische Versuche an Tieren bereits zu verwenden begonnen hatte, konnte doch erst darin den vollen, befruchtenden Strom ihres Wissens der Chirurgie zuführen, als sichere Wundbehandlungsmethoden zu Entdeckungsreisen in solche Körpergegenden den Anreiz gaben, die bisher der Hand des Chirurgen verschlossen geblieben waren. Seitdem ging eine Wechselwirkung des Erkennens nicht nur von der Physiologie zur Chirurgie, sondern auch von dieser zu jener.

Viel früher als die Physiologie übte die pathologische Anatomie einen anregenden und belebenden Einfluß auf die Chirurgie aus. Mit Recht sagt Häser (1879), daß die Chirurgie unserer Tage, d. h. im Beginne der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, gleich allen übrigen Zweigen der Heilkunde den größten Teil ihres wissenschaftlichen Zuwachses der pathologischen Anatomie verdanke. Zweier Männer Namen werden mit diesem Aufschwunge für immer verknüpft bleiben. Es sind das Karl Rokitansky in Wien, wo er seit 1841 bis zu seinem Tode den Lehrstuhl der pathologischen Anatomie innehatte, und Rudolf Virchow, der, seit 1849 in Würzburg, seit 1856 als ordentlicher Professor der pathologischen Anatomie nach Berlin zurückberufen, nunmehr endgültig die Führung in dieser Wissenschaft übernahm. War durch die Arbeiten beider, zumal des letzteren, die pathologische Anatomie zu dem Range einer echten Naturwissenschaft erhoben worden, so geschah dies in noch reicherem Maße durch den Ausbau der mikroskopischen Pathologie die, durch Virchow allerlei phantastischen Deutungen entrückt, in seiner im Jahre 1858 erschienenen und bis zum Jahre 1871 in vier Auflagen weiter ausgebauten Zellularpathologie, welche zum ersten Male den Lehrsatz: Omnis cellula e cellula aufstellte, eine feste und unverrückbare Grundlage erhalten hatte. Als eine weitere Frucht seiner Forschungen veröffentlichte der Verfasser vom Jahre 1863 an seine leider unvollendet gebliebenen „Krankhaften Geschwülste“. Eine Welle der Befruchtung ergoß sich von diesen Arbeiten aus auf die gesamte praktische Medizin, die, bisher im wesentlichen auf Erfahrungen am Krankenbette gestützt, nunmehr gleichfalls ihren Teil zu den die Medizin umgestaltenden naturwissenschaftlichen Bestrebungen beitrug. Auch für die Chirurgie gilt dies in vollem Umfange, seitdem der erst 29jährige Theodor Billroth als Assistent der Langenbeckschen Klinik und Privatdozent zu Berlin im Jahre 1858 zuerst den Versuch unternahm, in seinen „Beiträgen zur pathologischen Histologie“ die Forschungsergebnisse auf diesem Gebiete für die chirurgische Tätigkeit zu verwerten. In noch weiterem Umfange wirkte sein grundlegendes Werk: „Die allgemeine chirurgische Pathologie und Therapie in 50 Vorlesungen“ vom Jahre 1863, welches zahlreiche Auflagen erlebte und, in die meisten europäischen, selbst in asiatische Sprachen übersetzt, nicht wenig zu dem schnell sich steigernden Ansehen der deutschen Chirurgie im Auslande beitrug. In diesem Werke benutzte Billroth die durch Virchows Arbeiten gewonnenen Anschauungen in geistvoller Weise zu einer neuen Anordnung und Einteilung, sowie zu einer Zusammenfassung sämtlicher Erfahrungen der praktischen Chirurgie. Die hiermit angebahnten Fortschritte sind nur auf dem Unterbau der pathologischen Anatomie möglich geworden.

Die im Beginne der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwar nicht zuerst, aber nunmehr systematisch auftauchenden Bestrebungen auf dem Gebiete der Gesundheitslehre blieben zwar zunächst für die Chirurgie anscheinend ohne große Bedeutung, da sie sich, noch ohne die erst einige Jahrzehnte später erworbene Kenntnis der Krankheitserreger, d. h. ohne die Grundlage einer wissenschaftlichen Bakteriologie auf die Bekämpfung der Seuchen durch Verbesserung der Lebensbedingungen beschränkte. Immerhin wurden aber wertvolle Erfahrungen über Ernährung, Bauweise der Häuser und Wohnungen, öffentliche und private Badeeinrichtungen, Kanalisation und Abfuhr, Benutzung der Abfuhrwässer zur Berieselung öder und unfruchtbarer Landstrecken gesammelt, die freilich erst unter den seit 1878 auftretenden Fortschritten der Bakteriologie ihre volle Bedeutung erkennen ließen. Aber schon früh begannen diese Bestrebungen doch auch auf die Chirurgie nach zwei Richtungen hin einzuwirken, da sie einerseits die so wichtigen Wundinfektionskrankheiten mit in den Kreis ihrer Betrachtungen zogen, anderseits die für die Behandlungserfolge höchst bedeutungsvolle Anlage von Krankenhäusern einer neuen Richtung entgegenführten.


Kapitel II.

Die Krankenanstalten vor der antiseptischen Wundbehandlung.

Inhaltsverzeichnis

Die alten Krankenhäuser stellten unter dem Zwange der meist nur geringen, von Staat, Gemeinde oder Körperschaft zur Verfügung gestellten Summen je ein einziges steinernes Gebäude dar, welches alle oder fast alle Räume für die Unterkunft und Behandlung kranker Menschen einheitlich oder nahezu einheitlich umschloß. So bequem dies für die in dem gleichen Gebäude untergebrachte Verwaltung war, so große Nachteile ergaben sich daraus für die Krankenbehandlung, indem genügende Zufuhr frischer Luft, sichere und unschädliche Beseitigung der Abfallstoffe und aller Unreinigkeiten, zuverlässige Absonderung ansteckender Krankheiten und manche andere Dinge ganz erheblich in den Hintergrund traten, auch bei der mangelnden Kenntnis von Entstehung und Übertragung solcher Leiden in den Hintergrund treten mußten. Vor allem machten sich diese ungünstigen Verhältnisse bei Verwundeten, insbesondere bei Kriegsverwundeten geltend. So konnte der englische Feldarzt Sir John Pringle schon im Jahre 1753 den Ausspruch tun, daß eine wesentliche Ursache der Krankheiten und Todesfälle bei einer Armee deren Hospitäler seien; und noch schärfer drückte sich das „Dekret des Nationalkonvents aus dem Jahre 1794 für die Hospitäler der französischen Armee“ in dem Satze aus: „Die Spitäler sind ebenso gesundheitswidrig wie die Moräste.“ Aber auch die öffentlichen Krankenanstalten des Friedens wiesen meistens derartige Zustände auf, daß die Menschheit sie als Pesthöhlen ansah und von einer fast wahnsinnigen Furcht vor ihnen erfüllt war. Es begreift sich das, wenn man von der Sterblichkeit höchst angesehener Anstalten hört. Die Langenbecksche Universitätsklinik zu Berlin hatte nach F. Busch im Jahre 1869 eine Sterblichkeit von 17⅓ % und nach Abzug der zahlreichen Fälle von Diphtherie immerhin noch eine solche von 10¾ %. J. Israel berichtet aus dem jüdischen Krankenhause von 1873 bis 1875, daß 62,5 % der operierten und 37,5 % der nichtoperierten Kranken von Pyämie befallen wurden. Im Berliner Diakonissenhause Bethanien starben nach eigenen Aufzeichnungen des Verfassers der Jahre 1868 und 1869 von 6 Amputationen des Oberarmes 5, von 5 Absetzungen des Vorderarmes 4, von 15 des Oberschenkels 11, meistens an Pyämie. — Noch schlimmer lauten ältere Erfahrungen aus dem Auslande. In einem 5jährigen Berichte aus den Pariser Hospitälern zählt Malgaigne 300 Todesfälle auf 560 Operationen und Pirogoff in seinem Jahresberichte von 1852/53 159 Todesfälle auf 400 große Operationen!

Diese unerhörten Zustände wandten sich erst zum Besseren, als die Vertreter der Gesundheitslehre mit immer wachsendem Nachdrucke den Bau neuer und den Fortschritten ihrer Wissenschaft angepaßter Krankenhäuser forderten, die natürlich viel größere Mittel in Anspruch nahmen, als man bisher für nötig gehalten hatte. Auch auf diesem Gebiete haben wir Rudolf Virchow viel zu danken, der in Wort und Schrift bei jeder Gelegenheit für die Forderung eintrat und bei dem großen Einfluß, den er als Abgeordneter und Mitglied des städtischen Verwaltungskörpers besaß, zunächst die Stadt Berlin und demnächst den preußischen Staat zur Herstellung zweckmäßiger Krankenhäuser zu bewegen wußte. So entstand das Pavillonsystem. In dem Bestreben, die Zusammenhäufung kranker Menschen nach Möglichkeit zu vermeiden und beste hygienische Bedingungen zu schaffen, erbaute man zahlreiche kleinere, höchstens zweistöckige Häuser, die, von Gärten umgeben und über eine große Bodenfläche verteilt, unter einer gemeinsamen Verwaltung standen. Es war nunmehr möglich geworden, ansteckende Krankheiten sicher abzusondern und die leichter erkrankten Menschen vor Ansteckung zu schützen; ebenso die Genesenden durch langen Aufenthalt in frischer Luft einer schnelleren Erholung zuzuführen. Aber freilich brachte das Pavillonsystem neben seinen unleugbaren Vorzügen gegenüber dem alten Massivbau auch mancherlei Nachteile, ganz abgesehen davon, daß der Bau zahlreicher Einzelhäuser und deren zweckmäßige Einrichtung an sich erheblich größere Kosten verursachte. Der steigende Bodenwert großer und selbst mittlerer und kleiner Städte zwang Gemeinden und Verbände zu immer größeren und zuletzt fast unerschwinglichen Ausgaben, deren natürliche Folge es war, daß wenigstens die Neuanlagen in mehr oder weniger großer Entfernung vom Mittelpunkte der Stadt ihren Platz fanden. Macht eine solche Anordnung in Städten mit mehreren Krankenhäusern nicht viel aus, so treten bei wenigen oder gar sonst fehlenden Anstalten gleicher Art sofort große Übelstände hervor, da dann gleichzeitig für ausgiebige und leichte Verbindungen gesorgt werden muß; und selbst, wenn diese vorhanden sind, so bleibt die Notwendigkeit einer weiten und vielleicht umständlichen Krankenbeförderung nicht ganz ohne Bedenken. In den großen amerikanischen Städten, zumal in New York, ist man deshalb auf ein anderes Mittel verfallen, um den Massivbau hygienisch angemessener zu gestalten, als dies früher der Fall war: man baut die Krankenhäuser bis zu zwölf und mehr Stockwerken in die Höhe, legt die durch zahlreiche Aufzüge zu befördernden Kranken, nebst den Operationsräumen, in die obersten Stockwerke, um dem Straßenstaube zu entgehen, und benutzt die unteren Stockwerke als Verwaltungsräume. Das einzige schwere Bedenken gegen solche Anordnungen liegt in der nicht zu unterschätzenden Feuersgefahr. Auch in Deutschland ist man seit allgemeiner Einführung zuverlässiger Wundbehandlungsmethoden vielfach von der ganz strengen Durchführung des Pavillonsystems zurückgekommen und zu einem mehr gemischten Systeme übergegangen. Es geschieht dies in der Weise, daß ein großer Massivbau die Verwaltungsräume, die Poliklinik, die besonderen Untersuchungszimmer, zuweilen auch noch besser ausgestattete Einzelzimmer aufnimmt, während die meisten Kranken in steinernen Pavillons oder Baracken ihre Aufnahme finden.

Die Baracken können aber auch für sich allein oder fast allein die Grundlage einer Krankenanstalt bilden und stellen dann die dritte Gruppe der Krankenhausbauten dar. Als Hilfsmittel für die Versorgung Kriegsverwundeter und Kranker sind sie hier und da, auch in Deutschland, schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts aufgekommen; so schildert der braunschweig-lüneburgische Feldarzt Michaelis in einer Schrift vom Jahre 1801 bereits ihre Herstellung und Einrichtung. Aber erst der amerikanische Bürgerkrieg von 1861 bis 1865 brachte sie zu allgemeiner Verwendung und zwar infolge einer Notlage, da die Unterbringung der zahllosen Verwundeten aus den überaus mörderischen Schlachten in steinernen Gebäuden eine Unmöglichkeit war. Denn die Landstriche, in denen der Krieg vorwiegend tobte, waren dünn bevölkert und enthielten sowohl auf dem Lande, wie selbst in kleinen und größeren Städten fast nur Holzbauten, deren sehr billiges Baumaterial überall mit Leichtigkeit zu beschaffen war. So entschloß sich denn die Militär-Medizinalverwaltung der nördlichen Bundesstaaten zur Herstellung hölzerner Baracken; und mit der dem Amerikanertum eigenen praktischen Energie wurden auf den Schlachtfeldern und in der Nähe der kämpfenden Heere wahre Lazarettstädte aus Holz erbaut, die schnell zusammengezimmert und deren Einzelbaracken möglichst einfach ausgestattet waren. Sie haben sich als eine so segensreiche Einrichtung bewährt, daß sie in den folgenden europäischen Kriegen, wenigstens von deutscher Seite, sofort Nachahmung fanden, wenn auch entfernt nicht in gleichem Umfange wie jenseits des Ozeans. Aus dieser ursprünglich nur für den Krieg gedachten Bauform ist eine Bereicherung des Lazarettwesens und der Krankenpflege auch für den Frieden hervorgegangen. Nur einmal freilich ist der Versuch gemacht worden, die Holzbaracke als Dauerbaracke zur Herstellung eines ganzen Krankenhauses zu benutzen und zwar in dem im Jahre 1869 von Esse errichteten Berliner Augusta-Hospital. Der Versuch hat sich als verfehlt erwiesen, da die Baracken, wenn sie auch mehr als 40 Jahre benutzt wurden, doch so viele Nachteile aufwiesen, insbesondere in der Notwendigkeit fortgesetzter Ausbesserungen und Umänderungen, welche die Verwaltung erheblich verteuerten, daß sie späterhin sämtlich durch Steingebäude ersetzt worden sind. Aber hiervon abgesehen hat die Holzbaracke sich auch im Frieden als ein sehr wertvolles Hilfsmittel in allen den Fällen erwiesen, in welchen Massenerkrankungen durch Ansteckung, Vergiftungen und Unglücksfälle die Gemeinden und Behörden zur schleunigen Errichtung von Nothospitälern zwangen. Auch Dauerhospitäler machen gelegentlich von dieser Aushilfe Gebrauch, zuweilen selbst für lange Jahre, bis Mittel zusammengebracht sind, um den Holzbau durch steinerne Gebäude zu ersetzen.

Ein wenn auch nicht gleichwertiges, so doch durch die schnelle Beschaffungsmöglichkeit vielfach unentbehrliches Hilfsmittel stellen die Leinwandzelte dar. Ihr Gebrauch ist erheblich älter als der der Baracken, da sie mindestens bereits in den Kriegen des 18. Jahrhunderts vielfach benutzt worden sind. Auch unter den entsetzlichen hygienischen Zuständen, welche sich nach der mörderischen Schlacht bei Leipzig am 16. bis 19. Oktober 1813 entwickelten und über die wir vom 26. Oktober einen wahrhaft schaudererregenden Bericht des Professors J. C. Reil, des edlen Ostfriesen, wie ihn Heinrich v. Treitschke nennt, besitzen haben die Leinwandzelte weiterhin die besten Dienste getan. Im Krimkriege von 1854/55 spielten Zelte und bewegliche Baracken gleichfalls eine erhebliche Rolle; die dabei gewonnenen Erfahrungen wurden insbesondere durch die Bemühungen der um die Kriegslazarettpflege hochverdienten Engländerin Florence Nightingale festgehalten und zu einem Gemeingute der Krankenpflege aller Völker umgestaltet.

Seitdem sind die Leinwandzelte zur Krankenbehandlung unentbehrlich geworden, zumal im Kriege. Preußen hat in seinen großen Kriegen von 1863 bis 1871 dauernd von ihnen Gebrauch gemacht und gegenwärtig sind alle deutschen Heereskörper so reichlich mit ihnen ausgestattet, daß Schwierigkeiten für die erste Unterbringung Verwundeter und Kranker nicht leicht mehr entstehen können, zumal da das auf eine hohe Stufe der Vollendung gebrachte Krankentransportwesen unausgesetzt für eine schnelle Entlastung der Umgebung des Schlachtfeldes und der stehenden Feldlazarette sorgt. Aber auch in Friedenszeiten hat die schnelle Aufstellbarkeit solcher Unterkunftsräume eine erhebliche Bedeutung gewonnen.

Ihr Hauptmangel liegt in dem Umstande, daß sie, als nicht oder doch nur unvollkommen mit Heizvorrichtungen versehbar, ausschließlich im Sommer und bei guter Witterung benutzt werden können. In ungünstigen Jahreszeiten tritt indessen eine andere Erfindung der Neuzeit an ihre Stelle, nämlich die v. Döckersche Zeltbaracke, die einen Übergang von der Baracke zum Leinwandzelte bildet, in vollem Umfange zwischen beiden steht. Der dänische Rittmeister v. Döcker führte seine neue Vorrichtung zur Krankenlagerung zuerst auf der Berliner Ausstellung von 1883 vor und schenkte das Modell späterhin dem Augusta-Hospital, in welchem es seit 1884 ausgiebige Verwendung fand. Ebenso hat die preußische Militär-Medizinalverwaltung sofort eine Prüfung ihrer Brauchbarkeit vorgenommen. In ihrer ersten Form war die Baracke freilich auch nur für die Sommermonate brauchbar. Sie besteht nämlich aus einer Anzahl genau zusammenpassender Holzrahmen, deren Lichtung nur von außen von einem sehr groben, segeltuchartigen Stoffe geschlossen wird, der an dem Holzrahmen durch Nägel befestigt ist. An der äußeren Seite ist der Stoff von einer dicken Schicht Ölfirnis überzogen. Die Rahmen sind mittels Haken und Ösen leicht zusammenfügbar, so daß ein solcher Bau in wenigen Stunden aufgestellt, in noch kürzerer Zeit wieder abgebrochen werden kann. Die leichte Brennbarkeit der benutzten Stoffe machte selbstverständlich irgendwelche Heizvorrichtungen unmöglich; allein durch eine wenig kostspielige Umänderung lernte man, wie es scheint zuerst im Berliner Augusta-Hospital, diesem Übelstande zu begegnen und die Zeltbaracke auch für den Winter bewohnbar zu machen. Die Wandflächen wurden nämlich durch Aufnagelung eines zweiten Stoffstückes an der Innenseite des Rahmens verdoppelt, der Stoff durch Aufstreichen von Wasserglas an beiden Seiten unverbrennbar gemacht, ein kleiner verschließbarer Dachreiter für die Ventilation aufgesetzt und endlich eiserne Öfen in dem nun nahezu feuersicheren Raume angebracht. In dieser Form ist die Döckersche Baracke für Friedens- und Kriegszeiten in allgemeinen Gebrauch gekommen.

Die besprochene Vielgestaltigkeit der Krankenunterkunftsräume, unter denen bis zum heutigen Tage das Pavillonsystem als das beste, zugleich aber auch kostspieligste anerkannt werden muß, hatten auf die Gesundheitsverhältnisse großer Krankenhäuser einen sehr merkbaren Einfluß in günstiger Richtung ausgeübt: die Sterblichkeitsziffer sank erheblich, solange die Krankenräume frisch und neu waren. Allein es war unmöglich sich der Erkenntnis zu entziehen, daß in den gleichen Krankenhäusern die Verhältnisse sich von Jahr zu Jahr wieder verschlechterten, so daß nur ausgedehnte Erneuerungen und jährliche Neuanstriche, welche die Unterhaltungskosten wesentlich in die Höhe trieben, imstande waren, zumal auf chirurgischen Abteilungen, die Wundkrankheiten auf erträglicher Höhe zu erhalten. Das Gespenst des unbekannten Etwas, welches die Erfolge der Chirurgen seit Jahrhunderten beeinträchtigt hatte, begann wieder drohend sein Haupt zu erheben. Da aber in kleinen Krankenanstalten der Krankheitsverlauf sich viel länger günstig gestaltete als in großen, da insbesondere sich zeigte, daß Kranke und Verletzte, die in ihrer eigenen Wohnung behandelt wurden, viel seltener von schweren Wundstörungen heimgesucht wurden als die Insassen großer Hospitäler, so blieben die Chirurgen bei dem uralten System der Operationen in Privathäusern, so viele Unbequemlichkeiten damit auch verknüpft waren; und als das sich immer enger ziehende Eisenbahnnetz es auch dem weniger Bemittelten möglich machte, angesehene Chirurgen in fernen Städten aufzusuchen, ging man zu dem Krankenzerstreuungssystem über, welches zwar schon seit Jahrhunderten hier und da benutzt, doch erst in sehr eigenartiger Weise von Nicolai Pirogoff angewandt und bekannt gemacht worden war.

Unter dem Eindruck sehr schlechter Erfahrungen, welche dieser bedeutendste und mit der Entwicklung der westlichen Medizin genau vertraute russische Chirurg in der chirurgischen Klinik zu Dorpat und in St. Petersburger Krankenhäusern gemacht hatte, begann er auf seinem großen Gute in Podolien um 1860 ein System einzurichten, das ihm schon aus seinen Kriegserfahrungen im Kaukasus geläufig geworden war. Die zahlreichen Kranken, welche hilfesuchend von allen Seiten ihm zuströmten, verteilte er nach vorgenommener Operation in die elenden Hütten seiner leibeigenen Bauern, die gegen Bezahlung seitens der Kranken diese einzeln in den gemeinsamen Wohnraum der Familie aufnahmen und verpflegten. Dort lagen sie in einem Winkel auf Stroh, oft wochenlang in der gleichen, mit Blut und Eiter beschmutzten Wäsche, die Wunde tagelang ohne Verband, oder nur mit eitergetränkten, übelriechenden Lappen bedeckt. Der Verbandwechsel wurde entweder von den Kranken selber oder von einem rohen, unwissenden Feldscher vorgenommen; Pirogoff selber konnte seine Operierten höchstens zweimal in der Woche besuchen. Trotzdem sah er im Laufe von 1½ Jahren niemals Wundrose oder „purulente Diathese“ und verlor unter einigen Hunderten von Leuten, an denen große Operationen vorgenommen waren, nur einen Fall nach einer Lithothrypsie. Diese erstaunlichen und von den Erfahrungen der Behandlung in Hospitälern himmelweit verschiedenen Ergebnisse führt Pirogoff ausschließlich auf die strenge Verteilung der Kranken zurück, so daß Hospitalmiasmen und Kontagien, von denen er wiederholt als von den eigentlichen Ursachen der Krankenhausseuchen spricht, nicht zur Entwicklung kommen konnten. Ob freilich die verblüffend guten Ergebnisse, welche er mit seinem Systeme auf dem Lande erzielt hatte, ihm auch im weiteren Leben treu geblieben sind, ist aus seinen Schriften nicht sicher zu ersehen; doch darf daran um so mehr gezweifelt werden, als späterhin kaum noch davon gesprochen wird. Zumal in großen Städten sicherte auch die Krankenzerstreuung keineswegs ausreichend vor dem Auftreten von Wundkrankheiten, unter denen die Wundrose auch in Privatwohnungen eine besonders unliebsame Rolle spielte. Es bedurfte erst der Entdeckung der letzten Ursachen für Wundeiterung und Wundkrankheiten bevor man in zweckentsprechender Weise ihre Bekämpfung in die Hand nehmen konnte.


Kapitel III.

Die ältere Wundbehandlung und die Wundkrankheiten.

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Ehe wir uns indessen der Schilderung dieses Entwicklungsganges zuwenden, soll eine Darlegung der Wundbehandlungsmethoden, mit denen unsere Altvordern arbeiteten, sowie eine Würdigung der damit erzielten Ergebnisse Platz greifen, die uns erst über den ungeheuren Abstand zwischen den Verfahren beider Zeiträume aufklären.

Die Salben und Pflaster, welche noch bis zum Beginne des 19. Jahrhunderts den Hauptbestandteil der dem Chirurgen zur Verfügung stehenden Hilfsmittel für die Behandlung von Wunden bildeten, waren durch die Bemühungen Vinzenz v. Kerns in Wien in den Jahren 1805 bis 1828 einer einfacheren und naturgemäßeren Behandlung gewichen, wenn sie auch nicht ganz ausgeschaltet werden konnten. Das Kernsche Verfahren war das gleiche, welches in den fünfziger und sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts unter dem Namen der offenen Wundbehandlung noch einmal eine gewisse Rolle gespielt hat. Bartscher und Vezin in Osnabrück 1856, Burow in Königsberg 1859, Volkmann in Halle bis Ende 1872, Rose und sein Assistent Krönlein in Zürich 1872 waren die späten Vertreter dieser Richtung, die erst bei dem allmählichen Aufkommen der antiseptischen Wundbehandlung, wenn auch nicht ohne scharfen Kampf, völlig ihren Boden verlor. Vor Kern wurden die Wunden mit allerlei Deckverbänden behandelt unter der Vorstellung, daß sie die verletzten Gewebe vor unmittelbarer Berührung mit der Luft, insbesondere mit dem als überaus schädlich angesehenen Sauerstoffe, zu schützen, zugleich aber eine Beschmutzung der Leib- und Bettwäsche durch den ausfließenden Eiter zu verhindern hätten mittels der Anwendung eines die Wundflüssigkeiten aufsaugenden Verbandmateriales. Als solches diente seit dem 18. Jahrhundert die aus der französischen Chirurgie übernommene Charpie, Fäden aus alter weicher Leinwand gezupft und zu großen und kleinen Bündeln vereinigt. So stark hydrophile Eigenschaften dieser Stoff auch besitzt, so gefährlich wurde er durch die Art seiner Herstellung und seiner Anwendung. Denn die Herstellung geschah vielfach in den Krankenräumen selber durch die vorher nicht gewaschenen und gereinigten Finger der Kranken; und nirgends fand ein besonderer Abschluß, eine zuverlässige Aufbewahrung des aus den allerverschiedensten Quellen stammenden Verbandmateriales statt. So kam denn eine nicht einmal äußerlich rein aussehende, jedenfalls mit Keimen aller Art überladene Charpie auf die Wunden, und zwar meistens in der Art, daß diese ausgestopft, durch Binden zusammengehalten und zugleich unter einen nicht immer unbedeutenden Druck gestellt wurden. Die Notwendigkeit eines mehrmaligen Verbandwechsels täglich, um die beschmutzten und durchweichten Verbandstücke zu ersetzen, vermehrte nur das Übel, da jeder Neuverband eine starke Beunruhigung und Reizung der Wunde, zuweilen selbst mit erheblichen Blutungen aus den üppig wuchernden Granulationen hervorrufen mußte.

Es begreift sich, daß unter solchen Umständen das Vorgehen Kerns, das verwundete Glied nur zweckmäßig zu lagern, die Wunde nur mit Kaltwasserumschlägen zu behandeln, sie offen zu lassen und nur ausnahmsweise einige wenige Nähte anzulegen, als ein großer Fortschritt angesehen werden mußte. Aber auf die Dauer vermochte sich dies einfache Verfahren nicht durchzusetzen. Die große Mehrzahl der Chirurgen suchte immer noch ihr Heil in den alten, schnell schmutzig werdenden Deckverbänden und nach Kerns Tode ist auf Jahrzehnte hinaus von der offenen Wundbehandlung nicht mehr die Rede. Nur die einfachen Kaltwasserumschläge zur Linderung des brennenden Wundschmerzes blieben als einzige Erinnerung an die Kernsche Behandlungsmethode bei den Ärzten bis zur Einführung der Antisepsis, bei den Laien bis zum heutigen Tage in Gebrauch. Die alte Behandlung kehrte in vollem Umfange zurück. So forderten denn in großen chirurgischen Abteilungen nach wie vor die Wundkrankheiten allwöchentlich ihre Opfer; zumal die Kriegslazarette wurden Brutstätten endemischer Seuchen, die so manchem Krieger einen Soldatentod auf dem Schlachtfelde gegenüber dem Aufenthalte in solchen Pesthöhlen als das erheblich kleinere Übel erscheinen ließen.


Die Wundkrankheiten