Den Begriff Kultur definieren wir für gewöhnlich als die Gesamtsumme aller geistigen Errungenschaften einer Zeit. Demgegenüber kann man auch sagen: Kultur ist Naturbeherrschung. Nur wer der Natur und ihren Gegebenheiten als Herr gegenübersteht, besitzt Kultur, die um so höher sein wird, je unumschränkter sich jene Beherrschung darstellt.
Tritt man von diesem Gesichtspunkt an eine Betrachtung der Menschheit heran, so stellen wir, wenigstens nach unserer Meinung, den Gipfelpunkt aller Völker und Zeiten überhaupt dar. Die weiße Rasse spielt förmlich mit den Elementen im chemischen Sinn; sie hat sich eine große Anzahl von Gesetzen der Physik untertan gemacht; sie verändert nach Belieben die Erdoberfläche durch Abtragung und Aufschüttung, fährt unter dem Wasser und in der Luft — kurz, sie macht mit dem Erdball, was sie will.
Soweit die technische Seite der Kultur in Frage kommt, wird man diesen Leistungen seine rückhaltlose Bewunderung nicht versagen können. Anders steht es hingegen um die moralische Seite. Vom gegenwärtigen Augenblick und der Zeit des Weltkrieges ganz abgesehen, wo durch Lüge und sittlichen Zusammenbruch ärger gesündigt worden ist als vielleicht jemals in der Menschheitsgeschichte, hat unsere Rasse nicht allzuviel Anlaß, auf ihr Verhalten in sich selbst und gegen die anderen stolz zu sein. Wollen wir also den Eindruck des Überragenden für uns bewahren, so bleibt nichts übrig, als vor allem eben jene technische Seite zu betonen.
Aber auch auf diesem Gebiete sind wir in höherem Grade das Opfer unserer Einbildung und Selbstüberschätzung als uns gemeinhin zum Bewußtsein kommt. Niemand wird den hohen Rang und die staunenswerten Leistungen unserer Chemie und Physik, soweit sie von der strengen Wissenschaft getragen werden, anzweifeln oder sie herabzusetzen wagen. Aber wenn wir im gleichen Atem auch von einer Chemie und Physik des täglichen Lebens, sozusagen unseres Haushaltes sprechen, so sieht die Sache sogleich wesentlich anders aus, soweit es sich um das Verständnis des einzelnen handelt. Jeder Großstadtbewohner fährt wohl täglich mit der Straßenbahn, aber wie wenigen sind die bei ihr zur Anwendung gelangenden physikalischen Gesetze geläufig! Genau das gleiche gilt, ob wir mit oder ohne Draht telegraphieren, durch das Opernglas schauen, durch das Telephon sprechen oder hören usw.
So ist es ganz allgemein bis zu den alltäglichsten Dingen herab. Wer überlegt sich, wenn er die Tür öffnet oder schließt, daß dabei bestimmte Hebelgesetze in Frage kommen; wer, wenn er eine Wanduhr aufzieht, daß für ihren gleichmäßigen Gang die Gesetze des freien Falles wie auch des Falles auf kreisförmiger Bahn in Wirksamkeit treten? Das Ansetzen des Wassers zum Kochen wird tagtäglich millionenfach wiederholt, aber welche von den Beherrscherinnen des Küchendepartements ist sich klar über das Wesen des Siedepunktes, über den atmosphärischen Druck und seine Überwindung? Welche über die physikalischen und chemischen Wirkungen, die durch den Koch-, Röst- oder Dünstprozeß im Äußern und Innern der Speisen hervorgerufen werden? Wir dürfen auch von uns ruhig sagen: Das alles ist selbstverständlich dem Fachmann vollkommen geläufig; über die eine oder andere Erscheinung denkt auch wohl der Laie einmal nach — dem Volke selbst indessen sind bei seinem Tun die Gesetze der Chemie und der Physik ebenso fremd wie gleichgültig, zumal es ja auch ohne diese Kenntnis auskommt.
Die gleichen geringen Anforderungen muß man nun aber auch an die Naturvölker stellen. Zwar verfügen sie, im Gegensatz zu uns, über keinerlei Wissenschaft im strengen Sinn, sondern wie unsere breite Masse nur über Empirie, über Erfahrung, aber in dieser haben sie es in vieler Beziehung weiter gebracht als man von vornherein erwarten darf. Ein Gang durch die anscheinend so einfache Welt dieser Völker wird uns in überraschender Weise darüber belehren.
Wer den Menschen in seiner Entwicklung verfolgt, muß den Blick über ihn hinaus rückwärts zur Tierwelt wenden, ganz gleich, ob es sich um die Entfaltung seiner körperlichen oder seiner geistigen Eigenschaften handelt. Mit dem schwierigen, aber über alle Maßen fesselnden Problem seiner körperlichen Entwicklung aus niedrigeren Formen haben wir uns im einschlägigen Kapitel der »Kultur der Kulturlosen« befaßt;[1] hier müssen und können wir uns damit begnügen, uns unsern Vorfahren als aufrecht stehenden, frei auf seinen Beinen schreitenden Homo sapiens vorzustellen, der die Anwartschaft auf eine unbegrenzte Gehirnentwicklung besaß, der über die Fähigkeit der artikulierten Sprache verfügte, und dessen jederzeit frei bewegliche Hände ihn zu allen jenen zahllosen Tätigkeiten befähigten, die ihn im Laufe der Zeit so himmelhoch über seine weniger glücklichen tierischen Gefährten von einst erhoben haben.
Aber stimmt dieses rosige Bild auch wirklich in allen Einzelheiten? Mit einer an Gewißheit grenzenden Wahrscheinlichkeit können wir annehmen, daß die Lebensführung des jungen Menschengeschlechts sich in ganz ähnlicher Weise abgespielt hat, wie sie bei den zurückgebliebensten Völkern der Erde noch heute erfolgt, d. h. daß man das Leben unsteter Sammler und Jäger geführt hat. Ihnen war noch alles fremd, was wir Produktion nennen: jeder Eingriff in die Natur zum Zweck der Vermehrung und der Veredlung von Pflanze und Tier. Man hob auf, was man an genießbarem pflanzlichem Material, Kerftieren und anderen leicht erreichbaren Lebewesen fand, und verfolgte an großem Getier, was einem erleg- und genießbar dünkte.
Bei dieser, äußerlich betrachtet, noch rein tierischen Lebensweise ist alsbald jener Fortschritt eingetreten, der unter der Bezeichnung der sexuellen oder geschlechtlichen Arbeitsteilung in der neueren völkerkundlichen und wirtschaftsgeschichtlichen Literatur einen so großen Raum einnimmt. Während der Mann auf Grund seiner ganzen körperlichen und geistigen Veranlagung dem Wilde folgte und den menschlichen Gegner bekämpfte, begnügte sich die Frau mehr mit dem Zusammentragen harmloserer Beute, deren Zubereitung ihr mit dem Augenblick mehr Sorge, aber auch mehr Befriedigung brachte, wo das Feuer in den Dienst der Menschheit trat. Mit Fug und Recht kann man ihr von diesem Moment an den Ehrentitel einer Hausfrau erteilen.
Doch wie vollzog sich diese Urform der Wirtschaft im einzelnen? Solange der Mann ohne Beute einherzog, war er mit seiner Urkeule oder dem Urspieß, oder welcher Waffe er sich sonst bediente, in jedem Augenblick abwehr- und angriffsbereit gegen Mensch und Tier. Anders hingegen, wenn die mehr oder minder umfangreiche Last des erlegten Wildes ihn behinderte; ein unvorhergesehener Überfall oder ein jäher Angriff von Mensch oder Tier fand ihn dann möglicherweise wehrlos, einfach weil er im entscheidenden Augenblick nicht freier Herr über Hand und Arm war. Die Sorge für beide ist also vom ersten Augenblick des Menschentums ab an ihn herangetreten.
Das gilt für beide Geschlechter auch noch aus einem friedlicheren Grunde. So sehr der Primitive auch das Kind des Augenblicks ist, das unverzüglich verspeist, was es vom Boden aufliest — ganz ohne Vorratsammeln geht es schließlich bei keinem von ihnen ab. Und da auf jenen Stufen auch der Mann neben der Jagd stets die Sammeltätigkeit betreibt, so ist das nächstliegende Erfordernis die Beschaffung eines Behälters, in den alles getan wird, was nicht sofort zum Mund und in den immer hungrigen Magen wandert. Dieser Behälter — ein Ledersack in Gebieten mit größerem Wild, ein geflochtenes Netz oder ein Beutel überall dort, wo jene Vorbedingung nicht erfüllt wird — ist in der Tat das Wahrzeichen beider Geschlechter auf allen niedrigen Kulturstufen. Ihn tragen Buschmann und Buschmännin auf allen ihren Zügen; er ziert den Australier und sein Weib, den Kubu von Sumatra, den Wedda von Ceylon, den alten Kalifornier, den Mela- und Mikronesier, kurz er ist, wie sein Gegenstück, der bald zu behandelnde Grabstock, die Grundlage aller menschlichen Kultur, sozusagen das Symbol ihrer Sonderstellung im Reich alles Organischen überhaupt.
Und dieses Symbol ist er geblieben durch alle Zeiten und alle Kulturstufen hindurch bis auf den heutigen Tag. Über den Urbeutel oder Ursack hinaus hat die Menschheit im Lauf unabsehbar langer Zeiträume und über die ganze Erde hinweg eine ebenso unübersehbare Zahl weiterer Trag- und Transportgeräte erdacht, einfache und komplizierte, praktische und weniger praktische — jenes Urgerät indessen hat sie beibehalten, wo immer es sei, hat es beibehalten müssen, schon weil es letzten Endes keine andere Möglichkeit gibt, die Hand für den Gebrauch dauernd frei zu halten. In diesem Sinne kann man das Handtäschchen unserer Damen und die Aktenmappe unserer Herren nur mit gemischten Gefühlen betrachten; ganz im Gegensatz zum Tornister des Soldaten und dem Rucksack des Touristen, sowie der Umhängetasche, erfüllen sie ihren Endzweck nur in recht fragwürdigem Grade. Zumal das Handtäschchen bedeutet, rein ethnographisch besehen, einen Rückschritt. Zunächst ist es für eine wirksame Entlastung der Trägerin viel zu klein, zwingt diese vielmehr, selbst winzige Pakete einzeln zu tragen. Geradezu verhängnisvoll wird es indes im modernen Verkehrsleben, wenigstens dort, wo, wie in Deutschland und Österreich, die Straßenbahnen rechts fahren. Die weibliche Gewohnheit, alles links zu tragen, verleitet beim Abstieg selbst die Kennerin des Trägheitsgesetzes zum Griff mit der Rechten an die nächstbefindliche hintere Griffstange. Der Wagen braucht nur noch oder schon wieder ein wenig in Bewegung zu sein, um für die Ärmste zu einer Sturzkatastrophe zu führen. Ob die links fahrenden Völker ihre den weiblichen Gewohnheiten besser angepaßte linksseitige Fahrweise aus bewußter oder unbewußter Galanterie eingeführt haben, bleibe dahingestellt.
Wir nennen die Gegenwart stolz das »Zeitalter des Kindes«. Das ist richtig, insofern die Allgemeinheit ein Interesse hat und es betätigt, dem Staat einen brauchbaren Nachwuchs zuzuführen. Im gegengesetzten Sinn, nach dem das nächstbeteiligte Einzelwesen, nämlich die Mutter, die größere Verantwortung hat, ist der Ausdruck hingegen falsch; nach ihm reicht die »Kinderfrage« im Gegenteil ebenfalls bis in die frühesten Jugendtage der Menschheit zurück. Welch unbegrenzte Hilfsmittel und welche Erleichterungen stehen der Mutter von heute zu Gebote! Weise Frauen und Kliniken, Ammen und Wärterinnen, die mit allen Vorsichtsmaßregeln gewonnene und behandelte Milch unserer Haustiere, Kindermehle aller Art, die hygienischsten Wohnungseinrichtungen und hundert andere Ausflüsse der Sorge um das junge Menschenkind mehr. Vor allem aber das eine, das wir ebenso gedankenlos hingenommen haben wie so viele andere grundlegende Erfindungen auch. Das ist der Kinderwagen. Heute ist er in den Ländern der Höchstkultur tatsächlich Gemeingut aller Schichten und gewährleistet somit der gesamten Weiblichkeit der weißen Rasse den freien Gebrauch ihrer Hände. Und wie rasch das gegangen ist! Jeder Landgeborene von uns Älteren ist bestimmt noch ein Schutzbefohlener des großen Umschlagmantels gewesen, in dem der Kleine zwar warm und mollig saß, der aber die Trägerin fast jeder Arbeitsfähigkeit beraubte.
Die Urmutter und alle ihre Nachfolgerinnen unter den Naturvölkern haben das Problem der Arbeitsfähigkeit ungleich besser gelöst, auch diesmal zweifellos, weil sie es einwandfrei lösen mußten. Die Rolle der Frau im Wirtschaftsleben der Menschheit hat es von Anfang an mit sich gebracht, daß sie, wenn auch nicht überall schwerer, so doch anhaltender hat arbeiten müssen als der Herr und Gebieter. Ihr hat der innere Betrieb obgelegen bis in die Gegenwart. Da ist es nun erstaunlich zu sehen, wie sie sich zwischen Pol und Äquator mit dem Neugeborenen abgefunden hat. Wärterinnen gibt es im besten Fall erst, wenn die älteste Tochter das kleine Brüderchen oder Schwesterchen zu tragen vermag; vorher heißt es »Selbst ist der Mann« vom Tage der Geburt bis zu dem Augenblick, wo das Kleine sich selbst behelfen kann. Wie ihn aber unterbringen, wo die Arbeit nur so treibt, wo aber die mütterliche Brust die einzige Nahrungsquelle darstellt? Das ganze Buch oder doch zum mindesten einen großen Teil von ihm könnte man mit der Darstellung der Mittel füllen, welche die Mütter aller Zonen ersonnen und entdeckt haben, um diese Frage, die für sie gewissermaßen die Frage aller Fragen ist, zu lösen.
Die einfachsten Tragweisen sehen noch von außerkörperlichen Geräten ab, indem das Kind mit Hilfe eines oder beider Arme an der Brust, auf der Hüfte (Abb. 1) oder auf der Schulter (Abb. 2) getragen wird. Eine Befreiung der Hand findet hierbei nur teilweise statt, weshalb die Bevorzugung einer bestimmten Körperseite noch nicht festzustellen ist; die Mutter trägt das Kind ebenso oft links wie rechts. Als Regel kann gelten, daß diese Methode gegenwärtig nur noch vorübergehend angewendet wird. Hier und da reitet das Kind auch auf dem Nacken der Mutter, mit den Beinchen nach vorn über deren Brust hinab (Abb. 3), oder es reitet »Huckepack« auf dem Rücken. Hierbei werden beide mütterliche Arme zum Tragen beansprucht, während sie dort zwar frei bleiben, aber zu lebhafter Arbeit gleichwohl kaum verwandt werden dürfen, da der kleine Reiter sonst leicht zu Boden stürzen könnte.
Besser als diese noch fast tierisch anmutende Maßnahme sind die weitverbreiteten Bänder und Gurte, mit denen der Säugling auf der Hüfte festgehalten wird (Abb. 4). Dadurch wird dann wenigstens der entgegengesetzte Arm für die Arbeit frei. Wie ungemein bedeutsam schon dieser geringe Fortschritt empfunden wird, geht daraus hervor, daß der Gurt stets über die rechte Schulter nach der linken Hüfte verläuft, so daß dadurch die rechte Hand frei bleibt. Unter den vielen Dutzenden einschlägiger Bilder im Leipziger Völkermuseum befindet sich nur eine Ausnahme. In diesem Fall aber werden wir es mit einer Linkshänderin zu tun haben.
Die endgültige Lösung des Problems bringen erst die höchst mannigfaltigen Tragvorrichtungen, bei denen das Kind am Körper der Mutter hängt, ohne überhaupt einen Arm in Mitleidenschaft zu ziehen. Für große Teile Afrikas ist die Unterbringung des Säuglings in dem bekannten Rückentuche bezeichnend, worin der ganze Körper warm und geschützt in der Höhe des mütterlichen Kreuzes kauert, während die Beinchen rechts und links heraushängen (Abb. 5). Das Kind nimmt in dieser Lage an jeder Bewegung der Mutter teil, ohne diese im geringsten zu behindern und auch ohne selbst den geringsten Schaden an Körper und Geist zu erleiden. Andere Rückentragvorrichtungen finden sich in den mannigfachsten Konstruktionen über die ganze Erde hin verbreitet bis zu der großen Pelzkapuze der Eskimofrauen (Abb. 6) und der kunstvollen Tragwiege vieler Amerikaner und Nordasiaten. Der Rücken hat sich bei den tastenden Versuchen der geplagten Mütter nach einer Befreiung der Hände schon aus dem Grund als der geeignetste Ort erwiesen, weil die Last hier dem eigentlichen Arbeitsbereich räumlich am weitesten entrückt ist. Außerdem gewährt die Unterbringung der Last auf ihm die beste Möglichkeit, den eigenen Körper im Gleichgewicht zu erhalten.
Schon dieser kurze Ausblick auf nur eine einzige Seite des